Flugmediziner tragen eine große Verantwortung. Sie entscheiden, wer als Pilot fliegen darf und wer nicht. Bei den Ermittlungen und Überlegungen rund um die Germanwings- Katastrophe fällt auf, dass just der gesetzliche Rahmen für diese Entscheidungsposition der Flugmediziner zum Sicherheitsrisiko werden kann: ein Fehler in der Flugmedizin, oder die Täuschung von Fliegerarzt und Luftfahrtamt durch einen Piloten auf einem rechtlich möglichen Umweg, und die gesamte technische Flugsicherheit ist ausgeschaltet, Passagiere werden tödlichem Risiko ausgesetzt. Viele Flugmediziner fühlen sich mittlerweile in ihrer exponierten Lage gar nicht mehr wohl; im Gegenteil, manche sehen sich mit einem Verantwortungsumfang dorthin gesetzt, dem sie in der gegebenen Situation keinesfalls gerecht werden können.

Aber welche Veränderungen kann man in dieser Klemme zwischen ärztlicher Schweigepflicht und Auftrag zum Schutz der Öffentlichkeit fordern? Der Autor sammelt dazu Meinungen und Vorschläge - und Gesetzeslücken, die es zu schließen gilt.

1.Auflage 2016

Copyright © 2016 Michael Anders

Alle Rechte vorbehalten

Autor: Michael Anders

Umschlaggestaltung: Michael Anders

Herstellung und Verlag: -1

BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN 978-3-7386-8114-7

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Inhalt

Vorwort und Einleitung

Mit dem Fliegen, mehr als mit allen anderen Hilfsmitteln der Mobilität, hat der Mensch seine Welt zu verlassen begonnen, entsprechend dem bewussten Denken, mit dem die biologische Evolution ihren bisherigen Weg zu verlassen scheint. Erdenken, Erträumen, Erfinden vor dem Erproben sind die neuen Lehrmeister. Besonders dieses Eine, dass Fliegen denn möglich sei für den Menschen, hat eine Welle des Glaubens an die Technik ausgelöst. 1891 Otto Lilienthal, 1903 die ersten Motorflieger, die Gebrüder Wright, und ihre Jünger, „Die tollkühnen Männer in ihren fliegenden Kisten“, vermochten der Welt zu zeigen, dass über der Möglichkeit, wenn schon nicht über der Begeisterung, die Gefahr zum vergessbaren Risiko werden kann. So verwirklicht sich der Traum für immer größere Menschenmassen.

Die Pioniere hatten jedoch gleich zu Anbeginn weiter geträumt, über die Atmosphäre hinaus in den Weltraum, damals, am Beginn des 20. Jahrhunderts, als der Amerikaner Robert Goddard erste Raketen steigen ließ, und am Ende des Ersten Weltkrieges, als Hermann Oberth, der Vater der deutschen Raumfahrt, Antriebsarten für Raketen zum Flug in unser Sonnensystem und jenseits davon vorschlug. So wie der 12 Jahre ältere Robert Goddard in USA, der unabhängig von Oberth im Kopf Raketen und ihre Antriebe entwarf, wurde auch er zunächst nicht ernst genommen. Der erste Pionier war jedoch der Russe Konstantin Tsiolkovsky1, der, ebenso wie Oberth inspiriert von Jules Verne’s Roman „Von der Erde zum Mond“, bereits 1903 über Raumfahrt und die damit verbundenen physiologischen Probleme für Menschen zu publizieren begann.

Für Viele meiner Generation erreichte dieser Glaube an die schier grenzenlosen Möglichkeiten mit perfekter Technik ihren ersten Höhepunkt, als Stanley Kubrick’s Film “2001, Odyssee im Weltraum“ zur Musik von Richard Strauß, Johann Strauß und J.S. Bach in die Kinos mit Großleinwand und 16-Kanal rundum-Ton kam. Wie weit in der Zukunft war damals, 1968, das Jahr 2001: die Begeisterung war kaum zu halten und die Überzeugung, dass dann, im Jahr 2001, solche Szenarien unser Alltag sein würden, ungeachtet der dort diskutierten Probleme mit Computern, die in Konkurrenz mit unserem Wollen treten, ungeachtet der Erfahrung in jedweder Kultur, dass wir niemals alles erreichen werden, dass wir nur allzu rasch an die Grenzen des Erfahrbaren stoßen. Die Mondlandung im Jahr 1969 war nur eine Bestätigung dafür, dass das Zeitalter der Raumfahrt unaufhaltsam gekommen war; die Pannen und Katastrophen unterdrückte man willig, z.B. die Fast-Katastrophe von Apollo 13 im April 1970. Ich blieb zunächst ebenso unbelehrbar, fest entschlossen, sofort nach meiner Promotion nur noch Raumfahrtmedizin zu betreiben und mit abzufliegen in das Weltall. Doch schon im Januar 1972, anlässlich eines Weltkongresses für Raumfahrtmedizin, an dem auch Wernher von Braun teilnahm, der Schüler von Hermann Oberth, wurde ich sehr eindringlich eines besseren belehrt: die amerikanische Regierung kürzte das Raumfahrtbudget, von Braun drohte mit seinem Austritt, in Florida arbeiteten bereits viele von der NASA entlassene Raketentechniker als Tankwarte. Es dauerte noch bis zur Challenger Katastrophe im Januar 1986, als die Realität die Weltöffentlichkeit endgültig eingeholt hatte. Ich jedoch hatte bereits 1972 nach weiteren Erkundigungen meine Raumfahrtpläne aufgegeben, hatte mich für die medizinischen Wissenschaften zu interessieren begonnen. Aber ich blieb soweit am Fliegen begeistert, dass ich zumindest die Pilotenausbildung bis zum Berufspiloten machte. Zehn weitere Jahre blieb ich voll des nahezu blinden Vertrauens, dass Flugsicherheit bedeute, so gut wie nichts könne geschehen, wenn man nur alle Regeln und Vorkehrungsmaßnahmen verlässlich einhält. In diesem Vertrauen genoss ich auch Linienflüge aus meiner damaligen Heimatstadt: morgens bei Walzer-Musik, duftendem Kaffee und frischen warmen Brötchen saß ich regelmäßig links vorne am Fenster; bei schönem Wetter hatte man vollen Blick auf die Alpen; manchmal verließ dann sogar der Kapitän die übliche IFR-Route und flog direkt über die schönsten Gipfel und Gletscher im gleißenden Morgenlicht.

Dann kam dieser Unfallbericht aus Washington DC, es war am 13. Januar 1982: der Flughafen dort war schon am Vortag wegen starken Schneefalls geschlossen gewesen, und am Morgen des Unfallstages erneut. Danach kam die Maschine der Air Florida herein. Aber bald darauf musste der Flugbetrieb wieder eingestellt werden, bis zum Nachmittag. Beide Piloten aus dem Süden hatten kaum Erfahrung mit Fliegen unter diesen winterlichen Bedingungen. Für die Rückreise wurde die Air Florida, Flug 90, wieder aufgetankt, neue Passagiere kamen an Bord, und das Flugzeug wurde schon vor Wiederöffnen des Flughafens mit Vereisungsschutz besprüht. Wegen des tiefen Schnees konnte die Maschine zunächst nicht von ihrem Dockplatz zurückgeschoben werden, bis ein Spezialfahrzeug mit Schneeketten es schaffte. Danach folgte eine dreiviertel Stunde in einer endlosen Warteschlange von Flugzeugen, die alle aus Washington weg wollten. Der Schneesturm nahm zügig Formen eines Blizzards an – also eigentlich mehr als grenzwertige Bedingungen fürs Fliegen, und erst recht riskant für eine unerfahrene Crew. Schnee begann sich wieder auf den Tragflächen festzusetzen. Als sie endlich an der Reihe zum Start waren, stellten sie fest, dass die Wirkung der Besprühung weitgehend wieder verloren war. Sie entschlossen sich trotzdem kurzerhand, nicht zum Terminal zurückzukehren für eine weitere Sprüh- und Warterunde, und starteten .....

Die Unfalluntersuchung ergab später, dass sie obendrein vergessen hatten, die Enteisungsanlage an den Tragflächen einzuschalten: beim Start war Schnee an den Flügeln festgefroren. Die Triebwerke konnten wegen der Vereisung nicht auf volle Touren kommen. Trotz warnender Kommentare des Copiloten brach der Kapitän den Start nicht ab, das Flugzeug konnte nach 100 Metern nicht weiter steigen, kam ins Trudeln und stürzte nach 30 Sekunden Flug auf die Autobahnbrücke der 14th Street, nahm dort sieben Autos mit, brach in mehrere Teile, stürzte in das Bett des dick zugefrorenen Potomac River, durchbrach das Eis und begann einzusinken: das Heck blieb zunächst am weitesten über Wasser, mit Passieren und Crew darin, von der Brücke und vom Ufer aus konnte man sie dort stehen sehen. Der Hauptteil des Flugzeuges ging sofort zwischen den Eisschollen unter.

78 Menschen starben.

Die Untersuchungskommission fand später außerdem noch heraus, dass das Flugzeug mit einem falschen Enteisungsgemisch besprüht worden war: zwei verschiedene Firmen hatten je eine Seite besprüht, mit Gemisch unterschiedlicher Zusammensetzung, und dies noch dazu fehlerhaft. Der Kapitän hatte nicht nur auf die erneute Enteisung verzichtet sondern war stattdessen, vermeintlich als Ersatz, vorschriftswidrig nahe an das Flugzeug vor ihm herangerollt in der Erwartung, die heißen Abgase der Triebwerke der vorderen Maschine würden den festgefrorenen Schnee schmelzen. Er erreichte damit nur das Gegenteil: der Schneematsch auf den Tragflächen gefror während des Starts zu umso härterem Eis. Dass er auch noch die Warnungen seines Copiloten wegen zu geringer Geschwindigkeitszunahme ignorierte, passte in sein Persönlichkeitsprofil, dessentwegen er schon zweimal zuvor vom Dienst suspendiert gewesen war.

Als ich davon erfuhr, bekam mein Vertrauen einen entscheidenden Knick – und drei Wochen darauf geschah gleich ein weiteres unfassbares Unglück in Japan: ich war damals gerade in Osaka und las davon in den „Japan Times“ (siehe Japan Airlines 1982* im Sachregister). Noch nie zuvor hatte ich von einer derartigen Anhäufung von Schlamperei, Disziplinlosigkeit, Fehlern und mangelnder Kontrolle in der Zivilluftfahrt gehört. Und da war noch ein Detail, das meinen vertrauensblinden Fluggenuss schlagartig beenden sollte: 5 der Personen an Bord der Air Florida konnten lebend gerettet werden; sie alle waren im hintersten Teil des Flugzeugs, der vom Rumpf abgebrochen war 2, 3. Jahrelang setzte ich mich danach nur in die rückwärtigen Reihen. Selbstverständlich ist das keine objektiv relevante Reaktion von mir (siehe Anmerkung A1); aber wir entscheiden in Sicherheitsfragen eben meist gefühlsmäßig.

In jedem Fall war dieser Tag im Januar 1982 ein Wendepunkt für mein Fluggefühl in Linienmaschinen - und für meine Einstellung zur Flugsicherheit: ich begann mich für die Kehrseite dieser strikten und nahezu nahtlosen Reglementierung des Flugverkehrs zunehmend zu interessieren, die Gefahr, das Risiko, und die Logistik der Maßnahmen dagegen: die Flugsicherheit eben. Nicht nur, dass ich mich seither als Passagier in jeder wachen Minute in meinem Sitz wie im Cockpit fühle und jeden Vorgang mitvollziehe. Dazu kommt mein leidenschaftliches Interesse, einem Ereignis mit kriminalistischem Sinn für Details auf den Grund der Ursache zu gehen – eine Tätigkeit, die ich bei manchen medizinischen Gutachen in haftungs- oder strafrechtlichen Verfahren hilfreich fand und jahrzehntelang praktizierte. So kam es, dass ich begann, mich nach jedem Unfallbericht in den Medien selbst in die Lage des Unfallszenarios zu versetzen, zu versuchen, den Hergang zu verstehen, hinter die Ursache zu kommen und die eigene These mit dem offiziellen Unfallbericht zu vergleichen. Denn jeder Flugunfall wird durch eine Unfallkommission bis ins letzte Detail analysiert, natürlich mit der Zielsetzung, aus den Ursachen für alle Anderen zu lernen und eventuell an einem Flugzeugtyp oder einer Verfahrensregel etwas zu ändern, um künftig Unfälle dieser Art zu vermeiden. Darin ist die Zivilluftfahrt seit Jahrzehnten beispielgebend für alle anderen Lebensbereiche mit weitreichenden Gefahrenquellen. Unweigerlich beginnt man sich dadurch auch mit Statistiken zu befassen und Kommentare in den Medien mitzuverfolgen; dabei wird man auch zum Kritiker von vorschnellen Meinungen und falschen Feststellungen in Meldungen. So zum Beispiel ist im Zusammenhang mit der Frage, „welche Sitzplätze im Flugzeug sind die sichersten“, der Hinweis irreführend, dass 95,7% aller Passagiere bei Flugzeugunglücken überlebten: gemeint waren dabei nämlich „Bruchlandungen“ 4; es gibt jedoch auch andere Unfallarten in der Fliegerei, wie Jeder weiß. Verführerisch für Leser - und wir alle sind geneigt, Gedrucktes zunächst einmal zu glauben - ist auch die Aussage „dass man 29.000 Jahre am Stück fliegen muss, bevor man einem Unglück zum Opfer fällt4– man muss also bei Statistiken genau prüfen, welche Aussagen die Daten tatsächlich hergeben - aber diese und weitere Irrungen in der Diskussion um das Fliegen und seine Gefahren und Risiken sind ja eines der Ziele mit diesem Buch.

Ich möchte nach all den Jahren der eigenen Erfahrung als Privatpilot und als Passagier, und den in Medien und Publikationen mitverfolgten Ereignissen um die zivile Luftfahrt nicht nur auf die dramatische Zunahme der Sicherheit dank technischer und strategischer Entwicklungen hinweisen, sondern eben auch auf die Kehrseite, auf Probleme als Folge des Massentourismus und des Schattens, den die aktuelle Entwicklung auf die Zukunft wirft.

Da waren glücklich verlaufene Unfälle seit Anfang der 1980er Jahre, Katastrophen aller politischen und menschlichen Tönung, vor allem jedoch ein unerwarteter Boom der zivilen Luftfahrt und ein stetiger Fortschritt der technischen Sicherheit der Airline- Jets und der aus Erfahrungen gefilterten Strategien für Sicherheitsmanagement in den Fluggesellschaften: viele von uns steigen in das Flugzeug wie in Bus, Bahn oder eigenes Auto, selbstverständlich ohne vordergründigen Gedanken an die Möglichkeit eines Unfalls. Täglich durchkreuzen zehntausende Flugzeuge den Himmel mit Millionen von Passagieren.

Gewiss, da waren diese geheimnisvoll anmutenden Abstürze ins Meer, 2009 die Air France Maschine am Rückweg aus Rio de Janeiro, 2014 das Verschwinden der Malaysia Airlines im Indischen Ozean, aber auch unwirklich klingende Nachrichten über Abschüsse von Verkehrsmaschinen mit Kampfflugzeugen und Raketen, wie 1983 die KAL-Maschine über der Insel Sachalin oder 2014 die Malaysia Airlines Maschine über der Ukraine. Aber das war alles weit weg, zu unwirklich, um konkrete Sorgen und Ängste zu wecken.

Und dann die Katastrophe gleich nebenan:

Der Absturz der Germanwings- Maschine am 24. März 2015 hat in Deutschland eine noch nie dagewesene Reaktion ausgelöst und alle Medien wochenlang ungewöhnlich intensiv beschäftigt. Noch länger hielt diese Welle des medialen Entsetzens in anderen Ländern weltweit an – allerdings häufiger mit kritischen Stimmen, die näher bei den relevanten Fakten blieben als die deutschen Medien. Zu nahe war diese Bombe eingeschlagen, zu direkt waren wir fast alle betroffen in einer Zeit, da mehr als die Hälfte von uns per Flugzeug in den Urlaub reisen A2, sofern sie nicht beruflich hin und wieder oder routinemäßig ohne weitere Bedenken geflogen waren. Ein Grundvertrauen wurde mit diesem Ereignis plötzlich tiefer erschüttert, als man es bei dem kontinuierlichen medialen Beschuss mit Katastrophen aus aller Welt erwartet hätte. Aber der Ort des Ereignisses lag ganz einfach zu nahe an der gefühlten eigenen Erlebniswelt. Die Zufriedenheit über das eigene Überleben und Wohlbefinden angesichts des fremden Leids war beunruhigend getrübt.

Recht besehen ist es ja ein sonderbares Thema zum Schreiben oder Lesen, denn eigentlich wollen wir davon gar nichts wissen, fühlen wir uns der Situation doch ohnehin ausgeliefert, entkommen ihr ebenso wenig wie beim Autofahren: jeden Tag gehen wir bekannte Risiken ein, ohne diese eigentlich tatsächlich in unserer Lebensplanung zu berücksichtigen: was, wenn ich jetzt wegfahre und nicht ankomme? – Wir fahren dennoch los, meist ohne an die damit verbundene Gefahr zu denken – warum? Weil wir wissen, dass das Risiko „verschwindend“ gering ist, so gering, dass wir es im Alltag ganz verschwinden lassen und die Gefährlichkeit der Geschwindigkeit, mit der wir ein vergleichsweise lächerlich unbedeutendes Ziel erreichen, gar nicht mehr bedenken– das Risiko für das Eintreten einer Katastrophe ist gering genug dafür. Wir hoffen allenfalls, dass schon nichts passieren wird, doch nicht ausgerechnet uns, just an diesem Tag......

Eigentlich sind Menschen mit Flugangst die einzigen, die empfinden, wie weit wir uns in den letzten hundert Jahren aus unserem ursprünglichen Lebensraum entfernt haben. Dennoch: unentrinnbar, aber gleichzeitig von Wünschen und Träumen getragen, gleichsam also freiwillig, lassen wir unseren Alltag, ja unsere Lebensplanung, von den neuen technischen Möglichkeiten der Werkzeugentwicklung formen, von der Kommunikation und der Mobilität. Alle Menschen drängen zu diesem neuen Lebensstil, ungeachtet der zivilisatorischen Entwicklungsstufe, von der aus sie diesem immer schneller rasenden Trend folgen: kaum ein Elendsviertel ohne Fernsehapparat, kein Entwicklungsland ohne Verkehrschaos und Mobiltelephone, und schon gar nicht ohne eigene Airlines. Wir spüren auch, und viele von uns wissen es aus der konkreten Lebenserfahrung, dass es ohnehin nur den Weg nach vorne gibt. Wozu also an die damit verbundene Gefahr denken, und vor allem bei dem geringen Risiko? Nun ja: es gibt zumindest mahnende und wegweisende Stimmen, auch Hinweise und mögliche Schlussfolgerungen aus der Entwicklung selbst. Mit die ersten Reaktionen kamen von den Umweltaktivisten: sie weisen seither vorwurfsvoll auf den zunehmend von Jetspuren zerkratzten Himmel. Anrainer um Flughäfen kämpfen gegen den zunehmenden Verkehrslärm. Es gibt auch Opfer dieser Entwicklung, die, wenn auch meist ausgegrenzt und verstummt, mit ihrem Schicksal zu Vorsicht und Umsicht mahnen.

Es gibt also mehrere Gründe, deretwegen das Thema, zumindest aus theoretischer Sicht, interessieren kann, wenn wir vom Umgang damit erfahren: da kämpfen Betroffene, Geschädigte und Hinterbliebene um Wiedergutmachung, werden dabei aber von Verursachern, anderen Verantwortlichen in jahrelange Prozesse verwickelt, deren Ausgang von wirtschaftlichen und politischen Einflüssen nicht unberührt bleibt. Da spielen Medien bei der Berichterstattung eine bedenkliche Rolle, sei es, dass sie den Eindruck erwecken, die Interessen von Verursachern zu vertreten und die Hintergründe verbergen zu helfen, sei es dass sie die Sensationslust und Neugier der Leser missbrauchen und haltlose Gerüchte zu Stories ausschlachten, sei es, dass sie die Betroffenen verfolgen und belagern .....

Und da sind seit dieser Germanwings- Katastrophe Fragen unbeantwortet geblieben, die dann doch tiefer reichen und länger beunruhigen, als uns dies sonst so ergeht in der medialen Hetzjagd durch die Katastrophenmeldungen unserer Zeit. - Was ist da eigentlich tatsächlich geschehen? War es denn wirklich ein absonderlicher Einzelfall, den wir als „Schicksal“ mit in die Liste sonstiger nicht vermeidbarer Risiken in unserem Alltag halbbewusst mitschleppen? War nicht die oft wiederholte Versicherung in vielen Zeitungen und Talkshows über den unvermindert hohen Sicherheitsgrad des Fliegens schon gar zu auffällig, das Abschirmen des Vorzeigeunternehmens Lufthansa, die unverrückbare Position aller Befragten zur ärztlichen Schweigepflicht – lag das wahre Problem also nicht in Wahrheit an ganz anderer Stelle, einer, über die keiner geschrieben hat, und wenn doch, an einer, die kaum beachtet wurde? Irgendwie stimmte nicht zusammen, was von Journalisten und Experten in Deutschland überwiegend kommentiert wurde: oder konnte es tatsächlich sein, dass bei all dem massiven Aufwand, den Airlines treiben müssen, um Fliegen auf akzeptiertem Niveau sicher zu halten, so dass daraus ein Massentransportmittel werden konnte, dass der Mensch als Glied in der Kette der Sicherheitsmaßnahmen überschätzt und selbst zur Sicherheitslücke wurde?

Einige Bemerkungen von Piloten in Interviews machten aufhorchen, brachten Interna über das heutige Pilotenleben ans Licht, die gar nicht beruhigen, nein, die sogar äußerst beunruhigen, die darauf hinweisen, dass sich die Situation von Piloten regulärer Airlines an jene der Billig- Fluglinien anzunähern beginnt – die Piloten der Lufthansa haben angeblich unter anderem deshalb im letzten Jahr 13-mal gestreikt. Damit taucht sofort die Frage wieder auf, die viele von uns schon seit Jahren unterschwellig beschäftigte: wie sicher sind eigentlich diese Billig-Fluglinien im Vergleich? Und unabhängig davon interessiert nun – konkreter als je zuvor – die allgemeine Frage: wie sicher ist Fliegen eigentlich wirklich, jetzt mal abgesehen von jenen Statistiken, die im Interesse der Airlines glänzen und beruhigen? Immerhin erfahren wir so etwa einmal im Monat von einem Flugzeugunfall irgendwo.

Somit sammelte sich eine Reihe von Fragen an, denen nachzugehen lohnt. Mir sind sie im Laufe der Jahre zur spannenden Aufgabe geworden. Ich hoffe, dass auch die Lektüre des Ergebnisses dieser Arbeit lohnend genug ist.

Hinweise

Alle Übersetzungen englischsprachiger Zitate stammen vom Autor.

Hochgestellte arabische Zahlen wie 21 weisen auf Zitate im Abschnitt „Literatur“ hin.

Hochgestellte römische Zahlen mit vorangesetztem A wie A21 weisen auf ergänzende Kommentare im Abschnitt „Anmerkungen“ hin.

Viele Bezüge im Text auf Stellen in anderen Kapiteln können auch mit Hilfe des Stichwortes mit * im Sachregister gefunden werden. , z.B. „Air Canada Flug 624 * “

Auch wenn ich bemüht war, alle statistischen Daten fehlerfrei zu ermitteln und Informationen wahrheitsgetreu wiederzugeben, so besteht dennoch keinerlei Gewähr betreffend deren Richtigkeit, schon allein deshalb, weil die einzelnen Daten aus anderen Quellen stammen, deren Richtigkeit für mich nicht überprüfbar waren. Darüber hinaus übernehme ich auch für eigene Rechenfehler keine Gewähr. Jegliche Verwendung von Daten in diesem Buch erfolgt daher auf eigenes Risiko des Lesers und/oder Anwenders dieser Daten und auf der Basis des Einverständnisses dieser Leser und/oder Anwender mit diesem Warnhinweis.

Ist die Germanwings- Katastrophe tatsächlich ein Einzelfall?

Viele von uns haben diese Katastrophe miterlebt – in Gedanken und im Fernsehbild so nah wie vor der eigenen Haustür - , die Hinterbliebenen müssen sie weiter erleiden. Alle versuchten wir, sie zu verstehen und damit verarbeiten zu können. Staatstrauer, Medien und Fluggesellschaft vermittelten vordergründig einen unvermeidbaren Schicksalsschlag. Der unmittelbare Verursacher wurde darin zum unverstandenen Täter, Ärzte zu gesetzlich gezwungenen Handlangern; die rhetorisch manipulierte Schuldzuweisung landete letztlich sogar bei Gott (siehe A3, letzter Abschnitt: „Gott ist schuld“). Tiefe Unzufriedenheit und Unbehagen blieben - und Fragen.

Wenn die Germanwings-Katastrophe ein Sonderfall ist, die Ausnahme von der Regel 5, oder ein Einzelfall, wie die Fluggesellschaft wiederholt zu versichern versuchte (siehe interviews 6), was war das Einzigartige daran? Der Frage werden wir nachgehen und nach Antworten und Erklärungen suchen. Bevor wir zu Antworten gelangen, werden wir zuvor einen weiten Bogen spannen müssen, um die Ereignisse einordnen, die Geschehnisse verstehen zu können, denn die Erklärungen verbergen sich in und hinter vielen rechtlichen, organisatorischen und logistischen Details der modernen Zivilluftfahrt. Wir werden also das Thema „Germanwings“ nach dieser einleitenden Positionierung verlassen müssen, und kommen wieder darauf zurück, wenn wir die Voraussetzungen zum Verständnis gebührend beleuchtet haben werden.

Was war geschehen?

Wieder einmal war ein Flugzeug aus heiterem Himmel abgestürzt, ohne erkennbare Vorzeichen einer Störung, jedenfalls des Flugzeuges. Das war am 24.März 2015 in den südfranzösischen Alpen, gerade mal drei Flugminuten von Chateau Arnoux-Saint-Auban. Dort fand im Moment des Unfalls ein Fortbildungskurs der deutschen Fliegerärzte statt, vielleicht sogar ein Vortrag eines jener Fliegerärzte, die mit dem Flugtauglichkeitszeugnis jenes Copiloten zu tun hatten. Ein sonderbares Zusammentreffen von Ereignissen.

Tags darauf wurde bekannt, dass der Copilot die voll besetzte Linienmaschine, mit einer ganzen Schulklasse an Bord, absichtlich in den Berg gerammt hatte. Es bedurfte keiner psychiatrischen Experten um zur Überzeugung zu kommen, dass der Mann psychisch krank gewesen sein musste.

„Fassungslos“ 6 war eines der ersten Worte der Airline-Manager. Das für sich alleine hat manche Zuseher und Leser fassungslos gemacht, als sie die Nachricht aus dem Interview erfuhren. Denn zwischen ihnen und einer Fluggesellschaft besteht ein bedeutender Unterschied: während die Mehrzahl der Menschen, davon wiederum die meisten immer wieder Passagiere in einem Flugzeug, tatsächlich keine Ahnung hatten, dass ein derartiger Vorgang überhaupt geschehen kann, dass er nicht von vornherein verhindert werden würde, wussten die Vertreter der Airline in zweifacher Hinsicht sehr wohl davon: die Fassungslosigkeit der Verantwortlichen war vermutlich zwar dennoch nicht vorgetäuscht, hatte jedoch vermutlich andere Gründe als die der Zuseher bei diesem Interview. Diese Art von Flugunfall hat nämlich eine lange Vorgeschichte; sie erstreckt sich über mehr als 30 Jahre: das Problem des erweiterten Suizids von Piloten ist in der Luftfahrt also bekannt, reicht zurück – jedenfalls soweit Unfallberichte sich damit befassten – bis in das Jahr 1982:

Damals, am 9. Februar 1982, stürzte eine DC-8 der Japan Airlines kurz vor der Landung in Tokyo Haneda in das flache Wasser der Tokyo Bucht, 24 Menschen starben. Der Pilot hatte im Landeanflug die Schubumkehr von 2 Triebwerken betätigt und damit das Flugzeug zum Absturz gebracht7. Seine medizinische Diagnose war nach Angaben im Zwischenbericht der BEA im Untersuchungsfall Germanwings8 „Schizophrenie“, also eine psychiatrische Erkrankung, deretwegen laut Empfehlungen der ICAO9 dem Japaner keinesfalls ein ärztliches Flugtauglichkeitszeugnis und schon gar keine Pilotenlizenz hätte ausgestellt werden dürfen. Dieser Vorerkrankung wegen wurde der Pilot, der den Absturz überlebte, nicht strafrechtlich verfolgt; aber auch sonst niemand - Auftakt zu einer Serie derartiger Ereignisse:

21. August 1994, Royal Air Maroc Flug 630: zehn Minuten nach dem Start in Agadir stürzt das Flugzeug ab, keiner der 44 Menschen an Bord überlebt. Als Ergebnis der Untersuchung kam das marokkanische Transportministerium10 zur Überzeugung, dass der Pilot die Maschine willentlich zum Absturz gebracht haben musste. Gegen diese Aussage protestierte die Pilotenvereinigung. Gerüchten über den Inhalt des voice recorders zufolge habe es sich um die Folge einer Auseinandersetzung zwischen dem Kapitän und seiner Geliebten gehandelt, die zu diesem Zeitpunkt als Copilotin direkt neben ihm gesessen sei11, 12. Ihr Hilferuf über Funk kam jedoch nicht über den voicerecorder hinaus: „Hilfe, Hilfe, der Kapitän will ...13, 14

19. Dezember 1997 in Indonesien: in einer Maschine der SilkAir von Djakarta nach Singapore überwältigt der Pilot seinen Copiloten, schaltet die Flugdatenschreiber ab und lässt das Flugzeug abstürzen. Alle 104 Menschen kommen zu Tode.15

31. Oktober 1999, ein EgyptAir Flug von Los Angeles über New York nach Kairo stürzt 100 km nach dem Start aus New York mit 203 Passagieren ins Meer, alle 217 Insassen sterben; die Tat wird dem Copiloten angelastet, der die Maschine in den Sturzflug brachte, während der Kapitän auf der Toilette war.7

27. März 2012, JetBlue Flug 191* New Nork - Las Vegas 16: der Kapitän beginnt kurz nach dem Start wirr über Religion, al Qaida und eine Abänderung des Flugzieles zu deklamieren. Dem Copiloten gelingt es, den Kapitän aus dem Cockpit zu locken, schließt sich dort ein und führt eine Notlandung durch. Der Kapitän wird inzwischen von Passagieren überwältigt und kommt in psychiatrische Behandlung.

29. November 2013 in Afrika: ein Pilot der Air Mozambique, Flug 480, schließt sich auf dem Flug von Maputo nach Luanda im Cockpit ein, während der Copilot auf der Toilette ist, leitet den Sinkflug ein, die Maschine zerschellt mit 34 Menschen an Bord17. Auch dort trommelte der ausgesperrte Pilot verzweifelt gegen die Tür, bevor der bewusst eingeleitete Sinkflug mit dem Aufprall am Boden endete18, 19.

17. Februar 2014 - Ethiopian Airlines Flug 702: der Copilot sperrt seinen Kapitän aus dem Cockpit, entführt die Maschine, landet sie jedoch sicher ohne Schaden von Passagieren und Crew in der Schweiz.20

08. März 2014: Malaysian Airlines Flug MA370 verschwindet von den Bildschirmen, wochenlange Suchaktionen über dem Pazifik bleiben erfolglos; eine vergleichbare Pilotentat wird vermutet, aber eben doch nur vermutet, wohingegen die Fälle davor erwiesen sind.21

Diese Vorgeschichte wird im Handbuch für Flugmedizin der International Civil Aviation Organisation (ICAO) direkt angesprochen als drohender Endpunkt unbeachteter psychischer / psychiatrischer Probleme insbesondere unter den jüngeren Piloten22. Das Problem wurde in den deutschen Medien weitgehend verschwiegen (Ausnahme Artikel im Fokus vom 26. 03. 2015); es wurde nur in anderen Ländern (z.B. Großbritannien, Frankreich, USA, Österreich23) im Zusammenhang mit Germanwings erwähnt.

Es fällt auf, dass in dieser Liste kein folgenreicher Unfall einer Airline der USA oder EU steht – außer die neu hinzugekommene Germanwings – so gesehen in der Tat ein Einzelfall. Zufall?

Was bedeutet diese Zahl von 7 nachweislich durch Piloten bewusst herbeigeführten Abweichungen vom geplanten Flug, mit fatalen Flugunfällen bei 6 der 7 Ereignisse? Experten haben sie in öffentlichen Diskussionen in deutschen Medien als „extrem selten“ eingestuft. Vergleicht man diese Zahl aus der statistischen Gesamtsicht von Flugunfällen, so sieht die Situation anders aus: im Zeitraum seit 1982, dem Jahr des ersten solcher Unfälle in der Liste hier oben, gab es laut Unfallstatistik24 559 fatale Flugunfälle in der zivilen Luftfahrt; davon betragen die hier zitierten, von Piloten bewusst herbeigeführten, Fälle etwa 1% - „extrem selten“ ist also schon bei diesem Vergleich eine untertriebene Einordnung. Die Zahl der Flugunfälle wegen „menschlichen Versagens“ lag in den letzten 20 Jahren bei knapp 60%; dies bedeutet, dass mehr als 2% davon durch Pilotenselbstmord verursacht wurden – das ist keineswegs „extrem selten“. Aus der Sicht gegenwärtiger Flugunfallstatistik wird diese „Ereigniskategorie“ nochmal auffälliger: der Unfall der Germanwings- Maschine ist die erste fatale Flugunfallkatastrophe im EU-Bereich seit 2011, denn laut EASA*-Sicherheitsbericht 2013 ereignete sich in den Jahren 2011 bis 2013 im EU-Raum kein derartiger Unfall mit Linienflugzeugen25 - was also bedeutet der Ausdruck „extrem selten“, solange es sich um den einzigen fatalen Unfall im Bereich der EU seit 2011 handelt? Hier werden also zwei Verständnisinhalte miteinander vermischt: richtig ist, dass fatale Flugunfälle extrem selten geworden sind; unter diesen sind jedoch die durch psychisch kranke Piloten verursachten Unfälle ebenso häufig wie die Mehrzahl aller anderen Unfallursachen, z.B. technische Defekte, Wetter, wenn man sie im Detail aufgliedert. Diese Art von Unfallursache ist also in die Liste der „gängigen“ Unfallursachen aufgerückt, ohne dass man im Sicherheitsmanagement darauf reagiert hätte.

Etwas anderes mischte sich noch in die Verunsicherung, die aufblitzenden Fragen am Rande des Bewusstseins in uns als Passagieren: der plötzliche, ernüchternde, sogar erschreckende Einblick in die Wirklichkeit des Pilotenlebens der heutigen zivilen Luftfahrt. Rasch wird er von Verantwortlichen abgedeckt mit dem Hinweis, wie sicher die Fliegerei doch ist, und wieviel dafür getan werde, Fliegen immer sicherer zu machen, und umgekehrt, wie selten heutzutage ein Unglück geschehe. Wir spüren: das ist kein Trost. An diesem verbalen Bemühen stimmt etwas nicht. Etwas ist hier verkehrt. In der Tat: denn die Verantwortlichen gehen intern umgekehrt vor: Ein Flugzeugabsturz ist aus der Sicht des Risikomanagements vergleichbarmit einer Komplikation bei einem chirurgischen Eingriff: spricht man über die Komplikationen, dann geht es nicht darum, wie selten sie auftreten, sondern wie und warum jede einzelne geschieht, und mit welchen Maßnahmen man sie vermeiden kann. So ist es auch in der Fliegerei.

Erschreckend an diesem Einblick in die Wirklichkeit ist auch die Tatsache, dass zur Beruhigung der Bevölkerung bzw. Stabilisierung des Geschäfts der Fluglinie Fakten verzerrt dargestellt erscheinen - der Copilot der Germanwings hatte eben keine völlig uneingeschränkte Fluglizenz, wie der Chef von Lufthansa im Interview am Tag nach dem Unfall versicherte. Darin legte er möglicherweise auch ein Stück Wirklichkeit offen, als er im Interview antwortete, er dürfe der Schweigepflicht wegen den Grund für die Ausbildungsunterbrechung des Copiloten nicht bekanntgeben – womit er nur die ärztliche Schweigepflicht gemeint haben kann6.

Fassungslosigkeit als erste Reaktion der Airline26 ist also kein erfreuliches und schon gar nicht beruhigendes Signal, es ist auch nicht tröstlich, sondern beunruhigend. Die Verantwortlichen scheinen von einer eigentlichen Ursache abzulenken. Jeder Zeitgenosse, dessen Erinnerung über die ein- bis zwei-Wochenfrist der medialen Skandallandschaft 27 hinausreicht, versteht, dass sich ein Unfallmuster mehrfach wiederholt hat, ohne dass man gezielte Vermeidungsstrategien als Lehre aus der Vergangenheit erkennen könnte– eine Neuheit angesichts des allseits bekannten und vielfach gelobten hohen Sicherheitsniveaus und –bewusstseins in der zivilen Luftfahrt.

Da stehen nun also lauter Fassungslose einander gegenüber: jene, die durch das Ereignis Angehörige verloren, jene, die es nicht mit Gegenmaßnahmen zu verhindern suchten und sich jetzt fassungslos zeigen, und jene, die fassungslos vor der Erkenntnis stehen, dass sie als Passagiere blind auf Verantwortungsbereiche im Sozialgefüge vertraut haben und jetzt feststellen müssen, dass aus den Vorerfahrungen nicht die selbstverständlich erwarteten Konsequenzen gezogen wurden.

Entrüstung angesichts der Leere statt Lehren nach einer Reihe vorangegangener Katastrophen und den nachfolgenden Enthüllungen. Es ist nun einmal so: was erregt, ist die Katastrophe, nicht die erfolgreich verhinderte Katastrophe.

Dabei stimmt es gar nicht, dass frühere Flugzeugabstürze durch Piloten-Selbstmord unbeachtet geblieben wären; es wurden lediglich keine Konsequenzen daraus gezogen: der Absturz der marokkanischen Maschine 1994 hatte bereits eine umfassende Debatte ausgelöst: während die damaligen europäischen Behörden psychologische Kontrollen ähnlich den ärztlichen Attesten vorschlugen, wehrten sich Pilotenverbände dagegen vehement mit dem Argument, dass damit eine unkontrollierbare Instanz zu ungunsten der Piloteninteressen eingeführt würde; überdies gäbe es in Ländern wie USA und Großbritannien ohnehin bereits ein Sicherheitsnetz innerhalb der Pilotenverbände: demnach könnten Kollegen jeweils auffälliges Verhalten melden und damit eine Beratungsinitiative durch den Verband auslösen28. In der Folge änderte sich nichts.

Erst 18 Jahre später, anlässlich des Vorfalls mit dem verwirrten, an Bord überwältigten und sodann psychiatrisch behandelten Kapitän des JetBlue* Fluges im Jahr 2012, löste die mediale Debatte zwar die Bildung einer Expertenkommission der Aerospace Medical Association (AsMA) aus, jedoch wieder ohne zielführende ÄnderungenA4. Ein Kommentar des AsMA– Präsidenten enthält den Hinweis, dass die Mehrzahl der Airlines nach der initialen Kandidatentestung keine regelmäßigen Kontrollen des psychischen Zustandes ihrer Piloten durchführen; sog. safezones hätten sich jedoch bewährt (damit ist gemeint, dass sich Piloten in einer vertraulich arbeitenden Stelle ihrer Standesvertretung beraten lassen können)29. Doch die 2014 gestartete Initiative der European Society of Aerospace Medicine mutet angesichts der Germanwings- Katastrophe fast prophetisch an: in einer Initiative „Fly safe fly well“ sollte ein neues Modell medizinischer und psychologischer Unterstützung für Alle in der Luftfahrt gefördert werden – so als spürte man bereits die Gefahr einer weiteren Katastrophe. Zudem könnte man den Titel des Jahreskongresses 2014 dieser Gesellschaft „Mind the gap“ nachgerade als Hinweis auf die bestehenden Lücken an den Schnittstellen zwischen Medizin und Administration verstehen. 30

Dennoch: drei weitere Selbstmordabstürze nach der Air Maroc 1994, zwei weitere Aussperrungen eines Kapitäns und einen weiteren Absturz von äußerst dubiosem Hergang A5 später war es am 24. März 2015 wieder einmal soweit, und die Vertreter der Airline, wissend um die Problematik, gaben sich fassungslos.

Indes fragen sich nun Viele – und angesichts der Vorgeschichte fragen wir Passagiere uns: wie konnte es erneut geschehen, dass ein derart offensichtlich psychisch Leidender, ein Patient also, noch dazu mit der dokumentierten Vorgeschichte von Selbstmordgefahr, vorbei an der Flugmedizin und an seinem Arbeitgeber, der Airline, allein im Cockpit einer voll besetzten Linienmaschine zu sitzen kommt?

Dazu gab es in der medialen Öffentlichkeit zuallererst eine Gegenfrage, danach rasch zwei Antworten:

Die Gegenfrage kam vom Lufthansa-Sprecher Boris Ogursky 31:

„....Wenn ein Pilot ein voll gültiges Tauglichkeitszeugnis hat, sehen wir keine Veranlassung, ihn nicht fliegen zu lassen. Oder sollen wir die Entscheidung der Ärzte in Frage stellen?

Ich meine: dieser Frage sollten wir nachgehen.

Die erste der danach folgenden zwei Antworten ist zu trivial um sie zu diskutieren: es gibt keine absolute Sicherheit; welche Sicherheitsstrategien auch immer erfunden, eingesetzt und per Verordnung oder gemeinschaftlich kontrolliert und umgesetzt werden: Mensch, Maschine und Umwelt ergeben miteinander eine unendliche Zahl von Komplikationsmöglichkeiten. Von vielen davon wissen wir nicht einmal, dass es sie gibt.

Die andere Antwort besteht in dem wortkargen Verweis auf das Recht des Menschen auf sein Geheimnis, heftig verteidigt besonders in unserer Zeit der zunehmenden digitalen Überwachung und Durchleuchtung von uns allen: es geht um die ärztliche Schweigepflicht, jenen Eid, der auf den griechischen Arzt Hippokrates zurückgeführt wird, und heute im Strafgesetz verankert steht: eine unüberwindliche Hürde für das öffentliche Interesse, das „Gemeinwohl“? Ein allgemeines Problem bei allen Piloten, oder nur ein „Einzelfall Germanwings“?

Die Medien konzentrierten sich überwiegend auf zwei Punkte: die Jagd auf den Täter, und die Unschuld aller Beteiligten. Meine Auseinandersetzung mit den Berichten resultierte in Kritik und sogar Vorwurf, ähnlich jenem anderen Vorwurf, der weit verbreitet und immer noch vielfach zu hören ist, in Vorträgen und im persönlichen Gespräch:

“ … dass die Presse sich in diesem Fall ähnlich präjudizierend und damit verantwortungslos verhalten hat wie schon bei vielen, vielen Unglücken zuvor und leider auch danach. Den Schuldigen – aus der Sicht der Presse ....... hatten die Reporter nämlich schnell ausgemacht.“ 32

Sie mögen nun überrascht sein, aber dieses Zitat betrifft nicht den Absturz der Germanwings-Maschine, sondern den Airbus-Absturz (Air France Flug 296) am 26. Juni 1988 33. Der bittere Kommentar, schon vor 30 Jahren nicht ganz ohne Ausdruck von Medienverdrossenheit und –misstrauen, spielte auch auf den Auftrag der Medien an. Es würde den Rahmen des unmittelbaren Themas sprengen und die Linie meiner Erörterungen zu sehr unterbrechen, würde ich gleich hier meinem Herzen Luft machen und meine Kritik vorbringen; also habe ich mich entschlossen, sie in einen gesonderten Abschnitt zu verlegen und hier nur die oben stehenden Sätze als Vorgeschmack einzufügen – ich behandle den Umgang der Medien mit der Germanwings-Katastrophe dafür umfassend im Anhang A3.

Hier wollte ich nun die Frage aufgreifen und untersuchen, wie es möglich ist, dass sich in unserem Zeitalter von Linienflugautomaten und komplexen „Safety Management Systems“, regelmäßigen Kontrollen bis in die letzten Details, eine derartige Katastrophe ereignen kann. Wie einleitend erwähnt, werden wir das Thema „Germanwings“ nun für einige Kapitel verlassen und tiefer in Bereiche der Zivilluftfahrt einsteigen müssen, bevor wir die konkreten Fragen zu diesem Absturz sinnvoll beleuchten können. Darüber hinaus hatte ich mir, wie aus dem Buchtitel erkennbar, vorgenommen, bei dieser Gelegenheit die Risiken des Fliegens insgesamt zu beleuchten: es geht zuallererst um „Flugsicherheit“ ganz allgemein, was sich dahinter verbirgt, wie dort alles läuft, was in einem Cockpit normalerweise läuft, und wo sich dieser Unfall insgesamt in die Reihe der Flugunfälle einordnen lässt, um am Ende verstehen zu können, was da passiert ist, und wie man dieses Risiko künftig gezielt bekämpfen kann:

Flugsicherheit und ihre Entwicklung

Wer versucht, bei der Erörterung dieses Themas mit der Begriffsbestimmung zu beginnen, wird bald auch im deutschsprachigen Raum damit konfrontiert, dass viele Ausdrücke in der Fliegerei aus dem Englischen entnommen sind: „Sicherheit“ kann dort sowohl mit „safety“ als auch mit „security“ übersetzt werden. Man kann es kurz und einfach machen, indem man „safety“ mit „Sicherheit“ und „security“ mit „Sicherung“ übersetzt; sieht man jedoch genauer hin, merkt man schnell, dass hier innerhalb der, und zwischen den, Sprachen ein Durcheinander von Bedeutungen herrscht; wer Lust verspürt, sich an dieser Stelle etwas verwirren zu lassen, kann gerne in der Anmerkung weiterlesenA6.

Hier wollen wir zunächst einen Blick auf die Entstehung der zivilen Luftfahrt und ihrer Sicherheit werfen:

Kurze Geschichte des Linienflugs und der Flugsicherheit

Die Anfänge der zivilen Luftfahrt standen ganz im Zeichen des Verkehrswesens auf dem anderen nichtfesten Element an der Erdoberfläche, der Schifffahrt: man flog auch nicht mit Flugzeugen, sondern mit Luftschiffen: Graf von Zeppelin mit seiner Deutschen Luftschifffahrtgesellschaft beförderte ab November 1909 Passagiere zwischen deutschen Städten, ab 1912 auch Post, letzteres allerdings mit einem Doppeldecker mit dem Spitznamen „Gelber Hund“. Nach Unterbrechung der Entwicklung durch den Ersten Weltkrieg startete Frankreich die internationale Luftfahrt mit Flügen nach Spanien, unmittelbar danach folgte England mit Flügen zwischen London und Paris, sowie Deutschland im Februar 1919 mit der „Deutschen Luftreederei“. Bald entstanden mehrere weitere Gesellschaften, unter ihnen die KLM als eine der ersten, und 1926 die Deutsche Luft Hansa AG. Der Aufschwung der amerikanischen Luftfahrt begann mit dem kühnen Vorstoß Lindberghs, der im Jahr 1927 den Atlantik überquerte. Bereits 3 Jahre später gab es in USA wesentlich mehr Fluglinien als in Europa.

In den allerersten Jahren stand allemal das Abenteuer im Vordergrund; das Gefühl bei der Entscheidung damals, statt mit der Bahn mit dem Flugzeug zu reisen, ist wahrscheinlich nicht weit entfernt von der heutigen Vorstellung der Teilnahme an einem Raumflug. Flüge mussten häufig wegen Schlechtwetters durch Zwischenlandungen unterbrochen werden und konnten damit länger dauern als die Bahnfahrt.

Jedoch - was für ein Triumphzug: 2010 gab es in Europa und USA ca. 30 Millionen Flüge34. Weltweit wurden im Jahr 2014 3,3 Milliarden Passagiere in 33 Millionen Flügen transportiert, 32% davon im asiatisch-pazifischen Raum, 27% in Europa und 25% in USA, 2% in Afrika. Mit 900 Millionen Passagieren machten die Billig-Fluglinien davon einen Anteil von 27% aus. Die Zahl der jährlichen Flugreisekilometer hat sich allein in den letzten 10 Jahren fast verdoppelt, betrug 2014 über 6 Billionen Passagierkilometer. Seit 1977 beobachtete man alle 15 Jahre eine Verdoppelung des Flugaufkommens35, 36. 2013 wurde der Rekord-Langstreckenflug New York – Singapore, mehr als 15.000 km in weniger als 19 Stunden, aus Rentabilitätsgründen eingestellt.

Beginnend mit ungleich höherem Risiko, hat die Zivilluftfahrt in einem ungeheuren Siegeszug das Risiko eines fatalen Unfalls um Faktoren senken können – die Gefahr bei Unfällen in der Luft ist dabei selbstverständlich unverändert geblieben, denn unter „Risiko“ verstehen wir die Wahrscheinlichkeit, mit der sich eine „Gefahr“ verwirklicht. Die Gefahr beim Fliegen ist zweifellos, dass man einen Absturz aus großer Höhe nicht überleben kann, ja dass sogar schon allein die atmosphärische Umgebung in der sog. Tropopause, in 10 bis 13 km Höhe, binnen kurzer Zeit wegen Sauerstoffmangels und geringen Luftdrucks tödlich ist. Die Gefahr ist also in 100 Jahren eher größer geworden, das Risiko jedoch sehr wesentlich geringer: ereigneten sich in den frühen Jahren des Massenflugverkehrs, etwa 1950 bis 1970, noch bis zu 40 fatale Flugunfälle pro Jahr37, so sind es derzeit weniger als 10. Die durchschnittliche jährliche Gesamtzahl fataler Flugunfälle weltweit von Flugzeugen mit 19 oder mehr Passagieren – also Kleinflugzeuge ausgenommen - ist von ca. 35 um das Jahr 1970 auf ca. 7 im letzten Jahrzent zurückgegangen24. In den letzten 10 Jahren ereigneten sich 14 fatale Unfälle mit mehr als 50 Toten pro Unfall, insgesamt mit 1.567 Todesopfern. Im Vergleich dazu waren es in den Jahren zwischen 1970 und 1980 noch 117 Unfälle mit 11.967 Toten, also etwa 8-mal so viele.

Demgegenüber ist die Zahl der Flugpassagiere heute etwa 100-mal höher als 1950 – damals beginnend mit etwa 350.000 38, 39.

Methoden der Flugsicherheit heute

Internationale Einrichtungen und Behörden

Fliegen ist also seit den Anfängen nachgerade exponentiell sicherer geworden. Das ist selbstverständlich kein Zufall sondern Ergebnis massiver Anstrengungen und konsequenten Lernens aus jedem einzelnen Unfall, kanalisiert über eine internationale Einrichtung:

Die International Civil Aviation Organisation, ICAO

Mit dem „A6A40