Haus von Anita
Roman
Aus dem Englischen übersetzt
und mit einem Vorwort
von Joachim Kalka
Wallstein Verlag
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© Wallstein Verlag, Göttingen 2021
www.wallstein-verlag.de
In Kooperation mit Boris Lurie Art Foundation
www.borislurieart.org
© Boris Lurie Art Foundation
Umschlaggestaltung: Marion Wiebel, WSV
unter Verwendung eines Ausschnitts der Collage von Boris Lurie:
Railroad collage (Railroad to America), ca. 1963
Paper collage, pencil and varnish
on photo emulsion on linen, 46 × 69 cm
BLAF: 000001, © Boris Lurie Art Foundation
ISBN (Print) 978-3-8353-3887-6
ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-4608-6
ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-4609-3
Vorbemerkung
ERSTER TEIL
DAS HAUS
1 Ein modernes erzieherisches Sklaveninstitut der Avantgarde
2 Vier Herrinnen, vier Bedienstete
3 Hans’ Gesicht
4 Hände Anitas
5 Tischbedienung
6 Disziplin per Sarkophag
7 Kapo Aldo
8 Grauer Satin
9 Künstlerappell
10 Fickperformance
11 Unsere Wissenschaft
12 Jude Schwanz Scheiße
13 Elektrische Vagina
14 Das Spiel vom Kleinen Tod
15 Selbsteinschätzung
16 Über die Jagd im Central Park
17 Rabbi Buchenwald
18 SS-Picknick
19 Eine kurze Geschichte des modernen Juden
20 Nach dem Jüdischen Krieg
21 Der Sturz der Judy Stone
22 Das Objekt Judy
23 Herrin Scheißjüdin
24 Glaubensverlust
25 Erschaffung der Judy
26 Nutzlosigkeit
27 Vision zerstückelter Frauen
28 Diskussion über meinen Status
29 Abstumpfung
ZWEITER TEIL
DIE BESUCHER
30 Doktor Geldpayer kommt zu Besuch
31 Geldpayers Sitzung
32 Weitere intellektuelle Qualen
33 Die Inferiorität männlicher Kunst
34 Der berühmte Künstler
35 Avantgardistischer Anatomieunterricht
36 Die Judy erwacht
37 Herrin Anita, literarisches Genie
38 Der Besuch der Künstlerhändlerin
39 Der Jude im Schrank
40 Unsere Erziehung
41 Dienerperformance
42 Herrinnenkühe
43 Mäuse, Menschen, Herrinnen
44 Operationsperformance
45 Wölfin im Wald von Anita
46 Operationsperformance II: Verschlingen des Sklaven
47 Ich rette Die Judy
48 Toilettenpflichten
49 Herrin Beth Simpsons Kur für Depression
50 Die Reisenden
51 Enthüllung meiner Biographie
52 Einstürzendes Haus
53 Stalins Besuch in New York
54 Die Deutsche Schäferhündin
55 Der Gestank
56 Jude aus dem Schrank
DRITTER TEIL
FERNE ORTE
57 Auf Fire Island
58 Ohne Anita
59 Judys Regiment
60 Der Brand New Yorks
61 In Judäa
62 Albanien träumt
63 Genosse Kühner Adler
64 Der Jaschavogel
65 Die Allee der blühenden Zitronen
66 Judys Sprung
67 Endlich ganz frei
68 Coda: Ein Brief von Hannah Polanitzer an Judy Stone
Impressum
ERSTER TEIL
DAS HAUS
ZWEITER TEIL
DIE BESUCHER
DRITTER TEIL
FERNE ORTE
He says No! in thunder; but the Devil himself
cannot make him say yes. For all men who say yes, lie …
Der Roman House of Anita von Boris Lurie darf als singulär bezeichnet werden. Das Auffälligste an ihm ist, daß der Text Züge einer tiefernsten Blasphemie trägt: Er konstruiert ein unauflösliches Ineinander von Holocaust und Pornographie, wie es der Titel eines zwei Jahre vor Luries Tod fertiggestellten Fernsehfilms über sein Schaffen fixiert: Shoah and Pin-ups (2006). Dieses In-Eins hatte Lurie – ein Künstler, der erst spät und offenbar nach Erlöschen des bildnerischen Impulses seinen Roman begonnen hat – bereits in den frühen sechziger Jahren in einer Reihe von Collagen hergestellt, deren lakonische Verstörungskraft außerordentlich ist.
Ein prinzipielles Mißtrauen gegen biographische Interpretationen von Bildern und Texten ist gewiß notwendig; angesichts von Boris Luries Œuvre ist es jedoch unumgänglich, dessen biographische Sättigung zu begreifen. Ein Holocaust-Überlebender, der wie so viele andere, die ein solches Schicksal erlitten, jahrzehntelang quasi niemals über diesen Teil seiner Lebensgeschichte redete, schuf sich hier ein Laboratorium für die Analyse – vielleicht auch: den Bann – seiner Alpträume. Es kann nicht darum gehen, dem Autor (und dem Maler) gegenüber die gönnerhafte Haltung einzunehmen, daß es sich hier eben um ein psychologisch interessantes document humain handele; House of Anita ist ein Roman mit seiner eigenen komplexen und verwirrenden Form. Trotzdem ist der Versuch, diesen Roman zu verstehen, ohne einen konzentrierten Blick auf den biographischen Subtext kaum möglich.
Boris Lurie wurde 1924 in Leningrad geboren. Sein Vater, ein Industrieller, floh schließlich mit der Familie nach Riga, der Hauptstadt des unabhängig gewordenen Lettland. 1934 wurde dort eine nationalistische Diktatur errichtet, 1940 mit dem Hitler-Stalin-Pakt wurde Lettland eine Sowjetrepublik, 1941 marschierten die Deutschen ein. Bereits im November und Dezember dieses Jahres wurden »Aktionen« durchgeführt: Fünfundzwanzigtausend Juden wurden im Rumbula-Wald bei Riga erschossen, darunter Luries Mutter, Großmutter, Schwester und seine Jugendliebe. (Rumbula kehrt ab einem gewissen Punkt als basso ostinato des Romans immer wieder; die kommentarlos erwähnte »Mrs. Michelson« hat die Geschichte der lettischen Judenvernichtung erforscht.) Sein Vater und Boris überlebten als Zwangsarbeiter den Weg durch eine Reihe von Arbeits- und Konzentrationslagern in Lettland und Deutschland; bei Kriegsende waren sie in den Polte-Werken Magdeburg inhaftiert, in einem Außenlager von Buchenwald. Über das Riga seiner Kindheit, das sich in der Erinnerung zu einer glanzvollen Metropole verklärte, und das Riga seiner Besuche in den sechziger Jahren (schäbig, klein geworden, erstarrt) sowie über den ganzen komplexen und fürchterlichen Erinnerungsprozeß schrieb Lurie in dem vor kurzem aus dem Nachlaß veröffentlichten Erinnerungsband In Riga, der mit der Zeile beginnt: »Vergesse ich dein, o Jerusalem …«.
Nach der Befreiung durch die Amerikaner reisten Vater und Sohn nach Amerika, wo es Verwandtschaft gab. Boris Lurie begann eine künstlerische Laufbahn, deren frühe Ergebnisse – mehr oder weniger realistische Bilder aus der Welt des Lagers, des Kriegs, des Nachkriegs – erst Jahrzehnte später öffentlich gezeigt wurden. Schließlich begann er mit jenen Arbeiten, die ihm eine späte Berühmtheit eintrugen, bei ihrer Entstehung jedoch kaum eine Rolle auf dem Kunstmarkt spielten; immerhin hatte er eine loyale Galerie in New York, die Gertrude Stein Gallery. Nach dem Tod des Vaters 1964 war Boris Lurie durch dessen erfolgreiche Börsenspekulationen wie durch die eigenen finanziell unabhängig.
Das Trajekt seines zweifellos höchst bedeutenden künstlerischen Werks kann hier nicht weiter nachgezeichnet werden. Doch ist es wichtig, festzuhalten, daß der grelle Kontrast, welcher der Komplexität seines Romans zugrundeliegt, jener Collagetechnik eng verwandt ist, die Lurie als Künstler immer wieder verwendet hat. Die vielleicht berühmteste und jedenfalls typische Arbeit – die auch als Umschlag für die amerikanische Ausgabe des Romans wie für diese Übersetzung verwendet wurde – klebt ein Pin-up-Foto auf eine Fotografie der Leichenberge, wie man sie nach der Befreiung der Konzentrationslager fand, beispielsweise vor dem Krematorium in Buchenwald. Die Fotografie ähnelt stark jener, die Margaret Bourke-White nach der Befreiung des Lagers Buchenwald gemacht hatte. Durch den Collageprozeß entsteht eine Art Triptychon, in dem der mittig placierte Rückenakt einer dunkelhaarigen Frau (die, ansonsten nur mit einem Strumpfgürtel bekleidet, ihr Höschen herunterzieht, so daß man den Arsch sieht) links und rechts flankiert wird von den auf einen Waggon geworfenen starren, nackten Leichnamen ermordeter Juden. Dieselbe Fotografie von dem Leichenwaggon hat Lurie 1961 lithographiert und mit dem Titel »Flatcar, Assemblage, 1945 by Adolf Hitler« versehen, in dessen Bezeichnung »Assemblage« man so etwas wie eine sardonische Hommage an Marcel Duchamp erkennen kann.
Diese Bilder gehören zu einem antiästhetischen Programm, das Lurie (mit Sam Goodman und Stanley Fisher zusammen) seit 1959 unter dem Titel NO!art entwickelte; die Gruppe arbeitete in den sechziger Jahren in radikaler Verweigerung von »Kunst« unter anderem mit simulierten Exkrementen (Goodmans No!sculpture-Ausstellung). Zu den Provokationstechniken einer stark auf den Holocaust bezogenen Anti-Kunst gehörte auch die Selbstbezeichnung als jew art, Judenkunst. Was das NO bedeutet, das vielen von Luries Bildern – manchmal in balkendicken Lettern, welche die gesamte Bildhöhe ausfüllen – eingeschrieben ist, scheint in mancher Hinsicht deutlich und ist vielleicht doch nicht ganz so einfach auszumachen, wie es scheinen möchte. Widerstand gegen jegliche Gefälligkeit in der Kunst (Luries besonderer Haß galt deren Kommerzialisierung der Kunst und in diesem Zusammenhang besonders der Pop Art); ein kategorischer Einspruch gegen die Reproduktion von Bildern des Ungeheuerlichen, gegen Reproduktion überhaupt; Negation von Kunst schlechthin, jener Kunst, die am Ende doch nur einverständige Dekoration eines furchtbaren Zeitalters ist; oder eben – wie es in einer etwas saloppen Interview-Äußerung Luries formuliert wird – »Scheißen auf alles«? Zeigt sich in diesem NO das Dilemma einer absoluten Radikalität, so hat Lurie doch Werke von ungeheurem (und zwangsläufig eben doch: ästhetischem) Verwirrungspotential hinterlassen.
Die Kombination von Todesgreuel und Laszivität soll nicht lediglich die Wahrnehmung schockhaft intensivieren; aus Luries Aufzeichnungen und Meditationen geht hervor, daß die ständige Verwendung des Künstlers einer Ikonographie suggestiver Nacktheit auch auf die allgegenwärtige Stimulation durch trivialisierte Sexualität zielt. Kulturkritisch, aber vermutlich auch aus persönlicher Irritation durch die unausweichliche Insistenz des geschlechtlichen Reizes, dem nirgendwo auszuweichen ist. Die Verwicklung in sexuelle Phantasien dürfte ebenso wie die Lagererfahrung ein stark autobiographisches Element enthalten. Das obsessive Nebeneinander, Aufeinander von Pin-up und Judenstern wäre (spekulativ) so etwas wie der Versuch der wechselseitigen Erhellung zweier verschiedener Formen von Obszönität: eine Meditation über die Aufzehrung des menschlichen Körpers durch mörderische Zwangsarbeit beziehungsweise sein Verschwinden in der zwanghaft wiederholten Lustsimulation.
*
Gemessen an der unmittelbar evidenten konzeptkünstlerischen Modernität der NO!art-Bilder wirkt der Roman zunächst in seiner Faktur, vom schockierenden Inhalt abgesehen, fast traditionell. Er bedient sich klassischer Mittel der fetischistischen Pornographie – die Herrin tut dem Sklaven in elaborierten Ritualen Gewalt an (aber der Sklave erzählt und überlegt). Der Text beginnt mit einer ausführlichen Schilderung des House of Anita, einem (wie die Überschrift des ersten Kapitels es nennt) »modernen erzieherischen Sklaveninstitut der Avantgarde« in einem mondänen Viertel von New York. Die ersten Kapitel geben eine festgefügte, quasi ewig unveränderliche Ordnung wieder; zur wachsenden Irritation der Sklaven verändern sich jedoch nach und nach die Grundbedingungen der sadomasochistischen Einrichtung (es gehört zu den subtilsten Beobachtungen Luries, daß der Sklave ungehalten reagiert, wenn die Bedingungen des Rituals nicht eingehalten werden). Und das implizite Versprechen einer geschlossenen Darstellung des »Instituts« bleibt uneingelöst. Es schieben sich in die pornographische Zentralphantasie von Anitas Haus (die ihre perverse Energie aus einer zusehends expliziten Parallelisierung des Instituts und des Konzentrationslagers gewinnt) immer weitere Elemente, die einerseits die Komplexität erhöhen, andererseits wie eine Art gezielter, zwanghafter Frustration des ordentlichen Ablaufs der Phantasieinszenierung wirken. Dazu gehören eine ausführliche Satire auf den Kunstbetrieb, eine andere auf die (Kunst)psychologie, eine apokalyptische Vision vom Untergang New Yorks, ein Kulissenspiel mit zeitgenössischen linken Ideologemen (unheimliche Echos politischer Slogans der sechziger-siebziger Jahre; es kommt hier unter anderem zu einer grotesken Apotheose Albaniens), eine Invasion von Wiedergängern aus der Shoah und eine melancholische Beschwörung Israels. Die anfänglich angekündigte Geschichte läßt der Roman entgleisen; das zentrale Gelenk der sadomasochistischen Phantasie knickt weg. Die Herrinnen gehen alle unter. Übrig bleibt als Coda eine etwas hölzerne Reprise der Kunsthandelssatire, die noch einmal ein zentrales Haßobjekt Luries sarkastisch ausstellt. Aus dem Zerfall der eigentlichen Phantasie jedoch (wie sie der Autor zu Anfang tagtraumförmig geplant hatte) und aus den eklektisch verworrenen, sich verzweigenden Anschlußgeschichten ist so etwas wie eine halluzinatorische, eine grotesk verzweifelte Schönheit entstanden, ein Scheitern, dessen unschuldiger Erzähler so gerne JA sagte.
*
Wer gewohnt ist, nur mit dem Gefühl zu urteilen, begreift nichts von dem, was allein der Verstand erkennt, denn er will mit einem Blick alles durchdringen und versteht es nicht, die Prinzipien zu suchen. Die anderen dagegen, die es gewohnt sind, prinzipiell zu denken, begreifen nichts von dem, was das Gefühl erkennt, denn sie suchen Prinzipien und sind nicht imstande, etwas mit einem Blick zu erfassen.
Luries sprödes Werk enthält zwar oft eine Erzählerdiktion, die etwas Rhapsodisches, Blumiges anstrebt, aber seine eigentliche stilistische Signatur ist eine gewisse Unbeholfenheit. (Von der man meinen könnte, sie sei programmatisch im Titel ausgestellt, der nicht Anita’s House lautet oder The House of Anita, sondern eben House of Anita, vielleicht mit Anklängen an die Benennungen von Jahrmarktsbuden – oder an ein Traditionsfragment wie House of David). Die Übersetzung hatte auf den idiosynkratischen Charakter des Werkes unbedingt Rücksicht zu nehmen. Mehr noch als sonst verboten sich alle glättenden, ordnenden Eingriffe. Ich habe versucht, dem Duktus des Originals bis zur Pedanterie zu folgen; alle Anstrengungen, »gut«, »schön« usw. zu übersetzen, waren naturgemäß zu unterlassen. Während man beispielsweise ansonsten wörtliche Wiederholungen meist zu vermeiden versucht (da sie dem Leser als Unbeholfenheiten der Übersetzung erscheinen können), wurden sie in diesem Fall strikt respektiert, auch wenn sich nicht immer genau entscheiden läßt, ob es sich um Flüchtigkeiten des zu keinem endgültigen Abschluß gekommenen Texts oder um ein bewußtes Stilmittel handelt. Entscheidend ist der sich, so oder so, in diesen Wiederholungen ausdrückende Charakter des Obsessiven. Dasselbe gilt für etwas ungefüge Konstruktionen wie »Durchführung einer Erfahrung« oder »in Befreiung«. Auch hier scheint es wichtig, das stark aufgeladene begriffliche Vokabular selbst in seinen befremdenden Kombinationen beizubehalten. Ebenso stehengeblieben sind (unfreiwillige? beabsichtigte?) Unrichtigkeiten wie »homini sovieticae«.
Der Roman, der nicht eigentlich »vollendet« wurde (ob es dem Autor je gelungen wäre, ihn abzuschließen, darüber läßt sich lange nachdenken), enthält also vielerlei Anzeichen des Unfertigen. Es gibt kleine Ungereimtheiten der Zeitenfolge; es gibt Figuren, die nur einmal, unerklärt, evoziert werden und nie wieder erscheinen (das Dienstmädchen in Kapitel 45, das kleine Mädchen in Kapitel 46). In einem anderen Zusammenhang würde man hier eine auktoriale Strategie vermuten; hier scheint es plausibel, daß es sich um Flüchtigkeiten handelt. Trotzdem gehören auch diese zum Charakter des Textes. Überhaupt ist das non finito des Romans ein prägender Zug: Es wäre wohl ebensowenig auszuschließen, daß es Lurie gar nicht möglich war, das Buch zu runden und zu beenden, wie es auch denkbar bleibt, daß manches an Widersprüchlichkeit gewollt war und daß die unvollkommene vorliegende Form doch weitgehend seiner Intention entspräche.
Die amerikanische Erstveröffentlichung enthält einige kleine Herausgebereingriffe, die in dieser Übersetzung rückgängig gemacht wurden: Wo beispielsweise ein »Übergang« zwischen zwei Handlungsblöcken ergänzt oder ein Widerspruch beim Gebrauch von wiederkehrenden Namen korrigiert wurde, schien es richtiger, die übergangslose Schroffheit und den Widerspruch zu belassen.
House of Anita wurde 2016 von NO!art Publishing, New York, dem Verlag der Boris Lurie Art Foundation, herausgegeben. Das künstlerische Schaffen Luries ist unter anderem in folgenden Ausstellungskatalogen dokumentiert: Boris Lurie Art Foundation / NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln, KZ – Kampf – Kunst. Boris Lurie: NO!art, NO!art Publishing, New York 2014, und: Jüdisches Museum Berlin, Keine Kompromisse! Die Kunst des Boris Lurie, 2016.
Den ersten Hinweis auf House of Anita gab den deutschsprachigen Lesern ein umfangreiches Dossier in dem von Norbert Wehr herausgegebenen Schreibheft. Zeitschrift für Literatur (Heft 91 /2018), das auch einen von Ingolf Hoppmann übersetzten Auszug aus dem Text enthält (S. 135-148).
Joachim Kalka
Im durchschnittlichen fortschrittlichen Institut wird gewöhnlich den Räumlichkeiten, wo die Herrinnen leben, größte Bedeutung beigelegt – wo sie ihre Mußestunden verbringen, studieren und Pläne für unsere Erziehung machen. An dem Ort, wo ich vorher angestellt war, waren Studier- und Arbeitszimmer mit einem besonders kreativen Dekor ausgestattet.
Anders im Haus von Anita, wo aus einem – sicherlich schlüssigen – Grunde alle ausstatterische Kreativität reichlich dort eingesetzt wird, wo sie am wenigsten hingehört, nämlich in den Dienerschaftsquartieren.
Das übrige Apartment ist schlicht und streng, eingerichtet im Zen-Stil der Leere, lediglich räumliche Beziehungen, ein Nicht-Stil, der (seinen Vertretern zufolge) sowohl alles wie gar nichts umfaßt, eine simultane Ewigkeit.
Dienerquartiere waren gewöhnlich an den unauffälligsten Orten untergebracht, unter zugigen ungeheizten Dachfirsten, als Nebenräume der Küchen oder – in Instituten auf dem Lande – jenseits von Innenhöfen in für sich gelegenen kleinen Gebäuden. Errichtet auf extrem billige Weise, was Isolierung und Heizung betraf, ausgestattet lediglich mit nackten Zementböden und -wänden, waren diese trotzdem immer vom Tageslicht gut beleuchtet, das durch große Fenster fiel. Das machte die Räume im Winter eiskalt, hatte aber den Vorteil, die Stromrechnungen niedrig zu halten und außerdem die Dienerschaft an das Auf- und Untergehen ihres Arbeitstages zu erinnern.
So waren Dienerschaftsquartiere seit unvordenklichen Zeiten angelegt; diese Tradition setzt sich im modernen kulturerzieherischen Sklaveninstitut der Avantgarde fort.
Derartige moderne Bildungshäuser sind mit Sklavenbadezimmern eingerichtet, die schlichte Zementwannen enthalten. Es gibt kein heißes Wasser, und dies aus einem schlüssigen Grund: Diener werden gerne träge, wenn sie warmes Wasser zum Duschen und Baden benutzen. Nichts verhindert so gut wie das kalte Wasser, daß das Sklavenblut langsam wird, nichts ist insbesondere stimulierender im Hinblick auf ihre überaus wichtigen Dienstkörperteile.
In unserer Abteilung bei Anita stehen acht Kojen in zwei Viererreihen. Diese Unterkunft hat keine Wände, die sie vom Rest des Etablissements trennen würden. Um sie vom Territorium der Herrinnen zu isolieren, sind große Schiebetüren mit Einwegglas installiert worden. Den Korridor entlang, der unseren Raum begrenzt, sind Scheinwerfer angebracht, welche, sobald sie eingeschaltet sind, das Abteil in kristallklaren Umrissen erhellen, genau wie auf einer Bühne. Diese durchdringenden Lichtquellen lassen sich mit dem Schnippen eines Schalters bewegen und auf einzelne Kojen richten.
Auf einem elektrischen Bildschirm sowohl vor wie innerhalb jeder Koje blinkt der Name des Insassen, wobei ihm manchmal eine falsche Identität zugeschrieben wird, absichtlich natürlich.
Farbige Lampen, die an und aus flackern, erleuchten die Leitern und die Kojen von innen, wobei ihre pulsierende Konfiguration Muster erzeugt, welche die Herrinnen mit Vorliebe beobachten. Hinter der Glaswand bilden die farbigen Lampen, die an- und ausgehen, ferner die Körper der Bediensteten, die auf und ab und zur Seite zucken, wenn sie gestochen oder gekniffen werden, und die in verschiedenen Einstellungen die Szene beleuchtenden Scheinwerfer eine wunderbare Interaktion variabler Elemente.
An der Wand entlang im Korridor stehen bequeme Sessel, in deren sich darreichende Weichheit die Herrinnen sich zu jeder Tages- oder Nachtzeit (meist mitten in der Nacht) hineinplumpsen lassen können, um uns zu beobachten – allgemein, und insbesondere unsere Schlafgewohnheiten. Wir müssen ständig achtsam sein, was unser Benehmen betrifft, weil man uns jederzeit zusehen kann.
Das Dienerschaftsquartier scheint oberflächlich gesehen schlicht und einfach – eine Fortsetzung des minimalistischen Stils bei den Herrinnen (Anitas Schlafzimmer einmal ausgenommen), wie er bei den Neoaristokraten New Yorks so beliebt ist. Doch tatsächlich ist das Design unseres Abteils extrem komplex, während es einfach wirkt – eine solche Anmutung von Einfachheit ist ja das Markenzeichen aller Kunst.
Beispielsweise ist die Koje eines jeden Dieners aus anderem Material, so wurden etwa bei der untersten Koje Ziegelsteine verwendet, mit Formica beschichtet, während die oberste aus dehnbarem Plastik besteht, das mit den Vibrationen des Raumes schwingt und sich biegt. Glücklicherweise bleibt diese Koje meist unbelegt. Einige der Sprossen der Kojenleitern sind mit Fell bezogen, während in anderen von unten eingeführte Nadeln stecken.
Ein Mechanismus ist in den Kojen installiert: nagelartige Stäbe, die durch die Matratze des Dieners dringen und ihn während seines Schlafes sanft anstoßen. Eine weiche, faustförmige Vorrichtung kann den Schläfer jederzeit unerwartet schlagen.
Alle Kojen sind zur Glaswand hin geneigt, um die Beobachtung zu erleichtern. Es erfordert eine gewisse Geschicklichkeit, in ihnen zu schlafen, denn ein Sklave könnte leicht hinabrollen, was inkorrekt wäre, und aus der Koje fallen. Doch recht bald wird es einem zur zweiten Natur, sich vor derartigen Vorfällen zu hüten – und mittlerweile kann ich mir nicht einmal mehr vorstellen, wie jemand auf einem gewöhnlichen horizontal ebenen Bett schlafen kann. Es muß furchtbar unbequem sein.
Richtige Schlafgewohnheiten sind bei der Ausbildung eines Sklaven von besonderer Wichtigkeit. Der Sklave darf nicht auf dem Bauch schlafen, noch darf er sich von den gläsernen Sichttüren wegdrehen. Der Diener muß, selbst wenn er schläft, stets eine Haltung einnehmen, in der man ihn leicht beobachten kann. Es wurde uns erläutert, daß diese Regel in unserem eigenen Interesse sei – denn Privatheit im Schlaf, ein innerer Rückzugsbereich, steht der Erziehung des Sklaven entgegen: Dies führt zu individuellem Träumen und Nachsinnen und damit zum Rückzug aus der Kontrolle seines Herrn.
Ein Sklave muß so schlafen, daß die Hände an den Seiten des Leibes gerade anliegen, was der Position eines grüßenden Mannes entspricht, oder aber er muß knien, während er schläft – es gibt keine anderen Positionen. Er muß nackt schlafen, damit das Eigentum der Herrschaft angemessen belüftet wird. Er erhält zwei Decken, doch er muß die Geschlechtsteile unbedeckt lassen, so daß er eine Decke über Brust und Bauch legt, die andere über die Beine, damit zwischen den Decken Genitalien und After sichtbar bleiben.
Aufzeichnungen über die Schlafrhythmen der Bediensteten, insbesondere die Häufigkeit nächtlicher Erektionen, werden routinemäßig von den Herrinnen angelegt. Sie geben die Grundlage für die Beurteilung des Sklaven ab, zusammen mit den in Dienst oder Erziehung erreichten Leistungen oder deren Fehlen; all dies beeinflußt seine Behandlung. Seiner Beurteilung entsprechend wird er befördert oder degradiert oder kann sogar entlassen werden – ein Schicksal, das viel schlimmer ist als körperliche Eliminierung. Beispielsweise könnte das Erwachen morgens ohne angemessene Erektion – was als ganz schlimmer Fehler gilt – zu einer solchen Verstoßung in die äußere freie Welt führen.
Am Fuße der untersten Koje befindet sich ein großer Spind mit drei gleich umfangreichen Sektionen für unsere Habe. Der Grund für einen einzigen Spind für uns drei liegt, wie man uns sagt, nicht im Wunsch nach Sparsamkeit noch in dem Versuch, Streitigkeiten und Reibereien unter den Bediensteten herbeizuführen, sondern es geht darum, ein Gefühl kameradschaftlicher Gemeinsamkeit zu fördern und die Bedeutung zu verringern, die ein Bediensteter dem Privatbesitz beilegt.
Eine derartige Anordnung gibt den Bediensteten die unvermeidliche Möglichkeit, einander zu kontrollieren, was Ordnung und Sauberkeit angeht. Sie verschafft uns auch Einblicke in die Aktivitäten unserer Kameraden.
Doch frage ich mich, weshalb die Herrinnen nicht eine ähnliche Anordnung für ihren eigenen Besitz getroffen haben, der auf individualistische Weise verwahrt wird. Man könnte dann die Frage stellen, wer in dieser Hinsicht weiter fortgeschritten ist, die Bediensteten oder die Herrschaft. Aber ich bin sicher, daß in unserem schönen Garten alles zum Nutzen aller eingerichtet und vorbereitet ist. Um eine vollkommene Harmonie zu erzeugen, bedarf es genau wie in der Musik unterschiedlicher Behandlungen.
Die musikalische Begleitung sowohl für unseren Schlaf wie für die Stunden unseres Wachens erreicht unsere Ohren durch ein Lautsprechersystem; abwechselnd laut und unhörbar leise besteht sie aus Versionen historischer Melodien – etwa Marschlieder der radikalen amerikanischen Gewerkschaftsbewegung oder des Spanischen Bürgerkriegs sowie die einstmals populäre Internationale, allesamt im zeitgenössischen Acid-Rock-Stil. Diese subtile Kombination, die ein selbstwidersprüchliches Unisono bietet, lehnt sich an die elaborierten Arrangements der avantgardistischen Orte des Kultus in New York an: Diskotheken, Kunstgalerien und Museen.
Viel später kannte mein Entzücken keine Grenzen, als ich im Fernsehen Discovirtuosen sah, die ihre komplizierten Schritte zum Klang von »No pasarán«, »Wir sind die Moorsoldaten« oder wiederum der Internationale zeigten. Dies diente mir als Erinnerung daran, daß unsere Institution in allen kulturellen und intellektuellen Fragen ihrer Zeit weit voraus war.
Das Dekor unseres Abteils wird vervollständigt durch vier stark vergrößerte Fotos an den Wänden, Leuchtkästen, die unsere vier Herrinnen zeigen, gekleidet in Uniformen, welche am besten ihre Persönlichkeit ausdrücken. Sie bleiben Tag und Nacht erleuchtet. Wenn wir aufstehen, knien wir gewöhnlich in schweigender Kontemplation vor jedem dieser Fotos. Diese Aktivität gehört durchaus nicht zu den vorgegebenen Regeln, aber wir lassen keinen Tag aus.
Allgemein fühlen wir uns glücklich und beschützt, wenn wir in unseren Abteilen sind, und wir schlafen gut und fest trotz der ständigen Bewegung unserer Körper und der dauernden Beleuchtung.
Das Apartmenthaus, in welchem das Haus Anitas sich befindet, ist eines der wenigen jener noch erhaltenen grandseigneuralen Gebäude, die um den Ersten Weltkrieg errichtet wurden. Es liegt in einem Viertel, das man als fast, wenn auch nicht ganz und gar erstklassig bezeichnen würde, auf der West Side von Manhattan – einst inakzeptabel, jetzt durchaus chic. Die Viertel in New York verändern sich, je nachdem, wie viele Angehörige kulturell minderwertiger Herkunft dorthin gezogen sind. Mit unserem Viertel geht es jetzt aufwärts, die Mieten sind gestiegen und bestimmte Elemente mußten wegziehen.
Wir Bediensteten sind vier an der Zahl. Hans, Fritz und ich sind alle gut ausgebildet und diensteifrig. Dann ist da noch Aldo, den man als Kalfaktor bezeichnen könnte, der dies aber im eigentlichen Sinne des Wortes nicht ist; eigentlich ist er ein sogenannter Kapo – der privilegierte Diener.
Aldo hat seinen eigenen etwas getrennten Raum innerhalb unseres Abteils. Er wohnt auf einer doppelbettgroßen Plattform, die drei Fuß hoch über dem Fußboden liegt, von drei Wänden umschlossen. Die nichtexistente vierte geht auf die Glastrennwand, die Beobachtungszwecken dient. Aldo hat einen großen Schrank für sich allein, der randvoll von seiner Kleidung ist. Es wird nicht von ihm erwartet, daß er sein Eigentum in Ordnung hält, und sowohl in seinem Schrank wie auf seinem Bett herrscht gewöhnlich ein fürchterliches Chaos. Doch die Herrinnen schelten ihn kaum einmal dafür. Manchmal steckt er uns eine Extraration Süßigkeiten zu, damit wir sein Chaos aufräumen.
Seine Plattform ist mit einer weichen Sprungfedermatratze ausgestattet, mit hübschem buntem Bettzeug und einer Vielzahl von Kissen in hellen Farben, über das ganze Bett verstreut à la bohème. Eine Felldecke – allerdings wohl aus Kaninchen- oder Katzenfellen zusammengenäht, die fürchterlich haaren – vervollständigt dieses Ensemble. Er hat sogar einen kleinen Kühlschrank für Softdrinks und Süßigkeiten, die er von den Herrinnen bekommt oder in der Küche stibitzt oder von unseren eigenen Rationen einbehält.
Die Herrinnen besuchen Aldo, um sich zu amüsieren und mit ihm zu spielen. Ihn in der Sklavenunterkunft zu besuchen, verleiht diesen unregelmäßigen nächtlichen Eskapaden etwas zusätzlich Erregendes. Ich habe durch ein heimlich halbgeöffnetes Auge beobachtet, wie unsere Herrin Anita Aldo ein Paar Stöckelschuhe gebracht hat. Sie läßt ihn dann seine derart ausstaffierten Beine zeigen, während sie diese sanft streichelt – mehr jedoch nicht. Und in der Stille der Nacht habe ich gesehen, wie Herrin Beth Simpson Aldo auf den Bauch drehte und einen Gegenstand in seinen After einführte.
Aldo liebt solche Besuche, obwohl sie seinen Schlaf unterbrechen, und er kichert dann ein wenig und sagt: »O wie wunderbar, danke.«
Es muß die Herrinnen wahrhaftig freuen, Aldo Freude zu machen.
Natürlich versuchen wir Bediensteten während solcher nächtlichen Besuche weiterzuschlafen, obwohl es schwierig ist; doch auf irgendeine Weise, und sei es in Gedanken, teilzunehmen, wäre ein Verstoß gegen die Regeln. Bei einem Anlaß jedoch verloren wir die Kontrolle.
Judy Stone erschien mitten in der Nacht und nahm sich Aldo gründlich vor; es war nicht zum Lachen. Während sie in Aldos Bett auf dem Rücken ausgestreckt dalag, ließ sie ihn tatsächlich sein Dienstwerkzeug in ihren Körper einführen. Sie wies Aldo dann an, sich auf sie hinauf zu begeben, so daß die beiden wie ein komplexer Knoten aussahen, und sein Dienstwerkzeug einzuführen und herauszuziehen, wobei diese ungewöhnliche Durchbohrungsaktion immer wieder von neuem wiederholt wurde.
Natürlich waren wir niemals davon unterrichtet worden, daß Männer (Zivilisten oder Bedienstete) derartige Aktivitäten mit Damen (Zivilistinnen oder Herrinnen) durchführten; wir setzten voraus, daß es normalerweise andersherum stattfand.
Eine instinktive Verrücktheit bemächtigte sich unser, und wie ein Mann erhoben wir uns alle und umringten Aldos Bett – schreiend, protestierend, auf und ab hüpfend. Wir verloren jegliche Selbstkontrolle und begannen, Aldos Sachen aus dem Schrank herauszuwerfen, auf ihnen herumzutrampeln und das Material mit den Zähnen zu zerreißen. Die Herrinnen Tana Louise und Beth Simpson erschienen wie aus dem Nichts und bestraften uns gnadenlos – was uns befriedigte und uns Ruhe schenkte.
Ich begreife immer noch nicht, weshalb dieser unerhörte Akt zwischen Judy und Aldo uns rebellieren ließ. Es war gewiß nicht das erste Ungewöhnliche, welches wir zu akzeptieren gelernt hatten. Doch wie Sie später sehen werden, sollte Judy für die Schwächen ihres Charakters noch teuer bezahlen. Doch hatte sie bis dahin auch gelernt, Nutzen aus ihren Mängeln zu ziehen.
Verläßliche Schlafgewohnheiten, möglichst ohne Träume oder doch zumindest ohne solche, an die man sich beim Erwachen klar erinnert, das gehört zu den ehernen Regeln des Dienstes.
Doch immer einmal wieder, wenn sogar ich trotz der strengen Anordnungen nicht in der Lage bin zu schlafen, höre ich Hans »Hamburg« flüstern. Und Fritz »Posen« stammeln. Während wir alle scheinbar schlafen.
Einmal berührte ich das Thema dieser beiden Städte meinen Mitbediensteten gegenüber. Doch sie vermieden es, irgendeine klare Antwort zu geben. Fritz, der für gewöhnlich ständig lächelt, als wollte er jeden Augenblick in wildes hysterisches Gelächter ausbrechen (was jedoch niemals geschieht), behielt einfach seinen gewohnten etwas mäkeligen Gesichtsausdruck bei und sagte nichts. Hans, dessen langes, nach unten gezogenes Gesicht mich an die traurigen Gesichter deutscher oder holländischer Bauern des Mittelalters erinnert (auf Bildern, die uns Herrin Anita gezeigt hat, auf einem erzieherischen Ausflug ins Metropolitan Museum of Art) … nicht eine einzige Falte regte sich zur Antwort. In Hans’ vor der Zeit hagerem Gesicht haben sich solche Falten eingekerbt, wie sie – stelle ich mir vor – ein Plan von den Vorstädten des alten Babylon zeigen würde.
Nachdem ich sie bestürmt und gebettelt und gedroht hatte, ich würde nie wieder irgendeines meiner persönlichen Geheimnisse mit ihnen teilen, sagte ich zu ihnen, ich wisse genau, daß diese Stadtnamen mit ihrem früheren Leben in der freien Wildnis draußen in Verbindung stehen müßten. Endlich gaben sie es zu – daß Hamburg und Posen die Orte waren, von denen sie kamen.
Fritz erinnert sich unklar an die Bombardierung und den Brand Hamburgs, als er ein Jugendlicher war. Der traurige Hans sagt, er erinnere sich an die Ausweisung seiner Familie aus Posen (jetzt das polnische Territorium Poznań) wegen der Sünde, daß sie Adolf Hitlers auserwähltem Stamm angehörte.
Doch unser Aldo, sexy und langgliedrig – den ich, ich muß es zugeben, oft gerne mit meinem schmerzenden, nicht zu befriedigenden Werkzeug penetrieren würde, das auf unaufhörliche Aktivität konditioniert ist, aber unzureichenden Gebrauch findet –, stöhnt und fleht im Schlaf, und dann droht er und ruft mit seinem massiven Brooklyn-Spaghetti-Akzent: »Ich bin Amerikaner … ich bin ein Amerikaner!«
Wie Aldo wissen meine Mitbediensteten, woher sie gekommen sind, und wissen, als was sie gelten möchten. Wie kommt es, daß ich nicht die leiseste Ahnung von meiner Herkunft, von meinem Erbe habe? Das Äußerste an Zurückliegendem, woran ich mich erinnern kann, ist mein Dienst in England. Davor habe ich nur ein Bild von einem schweren Stein, der geradewegs aus der Stratosphäre herabfällt und sich auf die Erde plumpsen läßt.
Ansonsten ist mein Kopf in dieser Hinsicht leer. Ich habe immer gedacht, daß dies ein ausgezeichneter Zustand für einen Liebesbediensteten ist. Nun aber, da ich eine freiere Erziehung genossen habe, quält mich die Frage nach meiner Herkunft. Wer bin ich?
Ich bin von Hans’ Gesicht besonders fasziniert.
Der Kopf von Hans ist länglich wie der eines Pferdes. Sein kurzgeschorenes Haar ist von einem schmutzigen Blondbraun. Der ausrasierte Pfad in der Mitte seines Schädels spiegelt das Licht wie ein Tümpel Wasser in bräunlicher Erde. Die kurzen Haare stehen ab wie die Borsten eines Tiers.
Wenn er spricht oder lacht (was kaum jemals vorkommt), kann man sehen, wie sich auf der ausrasierten Fläche starke Falten bilden. Dies macht den Zuschauer verlegen, denn es erinnert an extreme Magerkeit, an den Schädel eines ausgehungerten Skeletts.
Hans ist immer noch vergleichsweise jung, doch von gereifter Erscheinung. Unter seinen Augen haben sich doppelte Tränensäcke gebildet, was im Zusammenhang des ansonsten jugendlichen Gesichts einen irritierenden Widerspruch bildet.
Vor allem um die Augen her ist sein Gesicht mit einem Netz winziger, sich kreuzender Fältchen überzogen. Wenn sie sich bewegen, scheinen diese Fältchen zu kreisen wie der Ausblick vor den Augen eines betrunkenen Autofahrers.
Seine Nase ist adlerhaft, lang und abrupt in einer Art Haken nach unten gebogen, als wäre das Nasenbein gebrochen. Auch dies hinterläßt einen unangenehmen Eindruck, wenn wir es in einem nordisch-germanischen Gesicht sehen, denn wir neigen dazu, Hakennasen nur mit dem südlich-mediterranen Typus in Verbindung zu bringen.
Er hat hohe Wangenknochen; natürlich können Deutsche gelegentlich hohe Wangenknochen haben, das ist ein Überrest des mongolisch-hunnischen Anteils, mit dem ihr Blut vermischt ist. Solche hervortretenden Wangenknochen machen aber ebenfalls einen unangenehmen, ja, schmerzlichen Eindruck auf die Empfindungen eines Betrachters, dessen ästhetische Maßstäbe am nordischen Ideal gebildet worden sind.
Hans hat ein großes Kinn, zu groß für die Proportionen seines Gesichts – bedenken Sie, daß das Gesicht eines Pferdes, mit dem das von Hans verwandt ist, überhaupt kein Kinn aufweist. Obwohl ein stark hervortretendes Kinn Willenskraft und Männlichkeit anzeigt – man erinnere sich nur an das Kinn Mussolinis, auf dem quasi ausschließlich der Ruhm der faschistischen Partei gründete –, drückt das Kinn von Hans keine derartige Begabung aus. Statt dessen ist dieses Kinn ein kränkliches Gewächs, ein langer, im nachhinein an sein Gesicht angenähter Klumpen, nachdem der Künstler schon fertig war mit der Skulptur. Hätte dieser sich entschieden, es in übertrieben rötlichen Tönen zu bemalen, könnte es in derartiger Färbung unangenehm an die gegenwärtige Krebsepidemie in der industrialisierten Welt erinnern.
Zu dem insgesamt unangenehmen Eindruck trägt bei, daß Hans’ Gesichtshaut wie ein geraffter Vorhang geradewegs von den Wangenknochen zum Mund fällt. Gewöhnlich sammelt sich etwas Feuchtigkeit um die Mundwinkel. Dazu fallen dann noch Tropfen von einer Ansammlung Flüssigkeit an der Nasenspitze, ein Vorgang, den zu kontrollieren er sich nicht die Mühe macht. Seine Nebenhöhlen sind offenbar dem rauhen und veränderlichen Klima New Yorks nicht gewachsen.
Seine Ohren sind viel zu lang und zu stark gekrümmt und selbst für die Proportionen seines länglichen Pferdekopfes allzu komplex geformt. Doch sind sie äußerst ausdrucksstark. Der Anblick wirkt auf mich, als würde ein Pferd, das einen Pflug zieht, zu toben beginnen und eine Reihe von Pirouetten drehen, was im Erdreich kreisförmige Spuren hinterläßt. Die Übertreibungen seiner Ohren verleihen dem Gesicht von Hans einen fröhlicheren, lockereren Zug, im Gegensatz zu seiner allgemeinen Ernsthaftigkeit.
Und seine Augen sind wäßrig und durchsichtig und lassen an einen klaren Bach zwischen Gebirgsfelsen denken, wo man bis auf den Grund sehen kann. Sie sind das Beste an seinem Gesicht. Blaue, wäßrige Augen wirken in der Regel wie der Ausdruck einer machtvollen, zielgerichteten, sogar grausamen Persönlichkeit. Nicht aber im Fall von Hans. Sie sind wie gefangen im Netzwerk der Fältchen, über den doppelten Tränensäcken und unter dünnen zarten Augenbrauen wie denen einer schönen Frau.
Ach ja! Ich darf nicht vergessen, seinen großen Adamsapfel zu erwähnen, der sich ständig nervös auf und ab bewegt, Hans’ wahren Bewußtseinszustand mit dem Takt seiner Bewegung ausdrückt und ein Eigenleben führt.
Kann man sich vorstellen, daß in diesem Leichenbittergesicht ganz plötzlich eine unkontrollierbare, lächelnde, dann begeistert lachende Grimasse aufbricht?
Schwer zu glauben, doch dies geschieht unvermeidlich, selbst unter den unpassendsten Umständen. Der wurmartige, tote, stille, larvenhafte Zustand seines Gesichts wird mit einem Male ganz unerwartet durch einen bunt-grotesken Schmetterling ersetzt. Es ist einem bei Hans in solchen Momenten nicht zum Lachen zumute, aber man möchte ihn ja auch nicht durch schockiertes Schweigen brüskieren. Also drehen wir uns, wenn der Lächelanfall beginnt, gewöhnlich zur Seite oder setzen einen billigenden Gesichtsausdruck auf. Der Ausbruch dauert nie länger als eine halbe Minute. Dann sind wir wieder beim reglosen Pokergesicht, wo nur der Adamsapfel in der Kehle hüpft und die wasserblauen Augen tiefer in ihre Höhlen sinken.
»Jetzt denkt er an Posen«, kommentiert dann sein Freund Fritz.
Wenn mein eigentlicher Dienst beginnt, bin ich dankenswerterweise frei von derartigen Nachdenklichkeiten.
Die Hände meiner Herrin sind gedrungen und nicht besonders gepflegt. Wenn ihre Fingernägel überhaupt manikürt sind, ist doch bei einem oder zweien der Lack abgesplittert. Oder sie sind ganz unlackiert. Oder die Nägel an ein oder zwei Fingern sind abgebrochen oder ganz kurzgeschnitten, während alle anderen Nägel blutrot manikürt sind. Sie weiß, daß es eine ungeheure Wirkung hat, wenn sie dieses Blutrot in ihre weißen Hinterbacken gräbt.
Ich habe mir früher erlaubt, sie zu kritisieren, weil sie nicht genug auf ihre Nägel achtet. Doch mir wurde gesagt, das ginge mich nichts an, und es wurde mir klar, daß sie recht hat. Es geht mich nichts an.
Sie weiß sich ihrer Finger zu bedienen. Sie kann, was immer sie will, mit diesen gedrungenen Fingern und gebrochenen Nägeln manipulieren.
Und der Weg, mich zu manipulieren, führt über meinen Schwanz. Mein Schwanz will manipuliert werden, er stirbt dafür.
Jegliche Aufmerksamkeit ihrerseits, auch wenn diese schmerzhaft und verstörend ist oder ästhetisch unbefriedigend, ist wunderbar. Weil sie von ihr kommt. Alles, was von ihr kommt, ihre Scheiße, ihre Pisse und ihre Hiebe eingeschlossen, ist für mich eine Gottesgabe.
Kann ich beginnen, die verschiedenen Angriffstechniken zu beschreiben, welche ihre Finger bei mir gebrauchen: vom Ermutigen und Verlocken bis zum Sehr-weh-Tun; vom zärtlichen Liebkosen bis zum schmerzhaften Hineindrücken eines Nagels in mein erregtes Fleisch? Meinen Schwanz loslassen, um grob meine Eier zu packen, sie zu drücken, bis sie fast zerquetscht sind. Und schließlich meinen Schwanz fest zu ergreifen und daran zu ziehen, daß ich glaube, mein ganzer Magen kommt heraus.
Dann läßt sie meine Eier los und haut meinen Schwanz von unten mit einem gemeinen Klatschen, daß mein Blut vom Schmerz erwacht. Sie hält meinen Schwanz unsanft in der Hand und zerrt ihn rhythmisch hinab, dreht ihn wie einen Strang Teig, erprobt, ob er weich genug ist.
Wenn sie spürt, daß ich am Ende meiner Verteidigungsmöglichkeiten bin und dementsprechend bereit, es mir kommen zu lassen, preßt sie einen gedrungenen Finger gegen meine Penisöffnung, um mich daran zu hindern. Die Säfte, die in den Schaft hochgestiegen sind, finden keinen Ausweg und können auch nicht zurück.
Ihr Gesicht spannt sich (als wäre ihr ein versäumter Telefonanruf, eine Verabredung, irgend etwas Vergessenes eingefallen), und sie sieht mich mit einem ihrer selbstzufriedenen, mich erobernden Blicke an. Dann ordnet sie mit der freien Hand sorgfältig ihre Frisur und verliert jegliches Interesse an dem Spiel.
Sie geht aus dem Zimmer, während es mir alleine kommt, in mich hinein, oder aber – was meistens der Fall ist – gar nicht. Da es ihr beliebt hat, mich nicht richtig fertigzumachen, bleibe ich unter Schmerzen zurück, es schmerzt mich überall.
Ist sie ungewöhnlich gut aufgelegt, dann erbarmt sich meine Herrin manchmal meiner. Sie holt dann eine große Dose Vaseline, schraubt den Deckel auf und gestattet mir, meinen erigierten Penis hineinzuschieben.
»Jetzt stell dir vor, du hast deinen Schwanz in meiner Fotze«, sagt sie mit gespieltem Ernst. »Das ist natürlich nicht der Fall, und du wirst es auch nie erleben – nicht heute und nicht morgen.«