Dieses Buch möchte Musik-Pädagoginnen und -Pädagogen, Lehrkräfte, alle Erziehenden, die gerne mit Kindern Musik machen, im Umgang mit Kindern - besonders auch in schwierigen Situationen, sowie mit Kindern verschiedener Herkunft und aus unterschiedlichen Kulturen -
im Unterricht und in der Freizeit unterstützen.
Es zeigt Anwendungsmöglichkeiten der integrativen Erziehung in Theorie und Praxis, mit Erlebnisberichten und Fallstudien direkt aus dem Unterricht. Die Methode kann helfen -
- die Sozialkompetenz, Konfliktlösungsfähigkeit und Kooperationsbereitschaft der Kinder, sowie den Zusammenhalt in der Gruppe zu fördern
- die Gruppendynamik zu verbessern
- eine optimale Lernatmosphäre herzustellen
- die Psychologie der Kinder besser zu verstehen
- eine gute Beziehung zu den Kindern aufzubauen und zu vertiefen
- sich selbst und die eigenen Reaktionen zu durchschauen
- Musik mit Freude nachhaltig zu übermitteln
„Das Buch gewährt direkte Einblicke in meine lebhafte neunjährige Praxis als Musiklehrerin, in der ich die Kenessey-Methode erlernte und anwandte, und zeigt den Entwicklungsprozess anhand vieler Beispiele und Erlebnis-Schilderungen aus dem Unterricht mit Erst- und Zweitklässlern - inklusive Fehler und Erfolge, Frust und Gelingen. Im Vordergrund meiner Musiklektionen stand und steht das Erlebnis Musik mit allen Sinnen, mit viel Freude, und so oft wie möglich in der freien Natur. Ich lernte, integrativ ganzheitlich, ressourcenorientiert mit klaren Grenzen und freundlichen Folgen zu arbeiten, stets mit den Zielen vor Augen: den Musikunterricht lebendig mit viel Raum für die Eigenkreativität der Kinder zu gestalten; sie zu verstehen, eine positive Beziehung aufzubauen und die Kinder optimal zu fördern, damit alles, was in ihnen steckt, hervorkommen, sich entfalten und erblühen kann.“
Anahita Huber-Sprügl
Die integrative Pädagogik
in der Musikalischen Grundschule
Konstruktiver Umgang mit Konflikten
Theorie und Praxis der Kenessey-Methode Anwendung im und Beispiele aus dem Unterricht
Books on Demand
Für alle Musiklehrkräfte und Musikschulkinder,
die von diesem Buch profitieren mögen.
Für mich und meine Geschwister -
wir haben alle Musikunterricht gehabt.
Frühling 2013
Adobe Creative Suite 6 Design Standard / Photo 200mpro / NIK Collection
Schrifttyp: Constantia Grösse 11 (Haupttext)
Sämtliche Namen oder Anfangsbuchstaben der Kinder, Lehrkräfte und Personen der Schulen in diesem Buch wurden geändert, die Schulhäuser tragen willkürlich die Buchstaben des Alphabets.
Früher hasste ich Vorwörter. Ich fand sie meist langweilig, wollte gleich sofort in das Buch direkt „eintauchen“. Sie beinhalteten oft Erklärungen, welche mich schon als junge Schülerin gelangweilt haben. Manche jedoch hatten etwas Magisches, sie faszinierten mich. Es war wie eine Geschichte vor der eigentlichen Geschichte. Deshalb erzähle ich hier eine.
Meine handelt vom Spagat. Von sechs bis vierzehn Jahren besuchte ich in meiner Heimatstadt Graz den Allgemeinen Turnverein, wo ich als Kunstturnerin über Balken, Barren und Matten flog, fiel und schwebte. Ich war gar nicht so schlecht, das Bodenturnen gefiel mir am besten, und einmal wurde ich sogar steirische Meisterin. Was ich jedoch nie schaffte, war der Spagat. Nie kam ich ganz bis auf den Boden, immer spannte es noch grässlich an der Innenseite der Oberschenkel! Um die vierzig entdeckte ich Yoga und begann von neuem mit der Übung des Spagats. Ich hatte mir in den Kopf gesetzt, ich würde ihn gerne bis zu meinem sechzigsten Lebensjahr können! Weit gefehlt! Wieder nichts – ich vernachlässigte die Übung bald.
Dann habe ich ihn doch noch geschafft – im übertragenen Sinne. Schliesslich gelang mir der Riesenspagat um die fünfzig – und zwar zwischen dem herkömmlichen Musikunterricht mit den von der Schule erwünschten Erziehungsund Lernmethoden, und der Integrativen Erziehung nach Mària Kenessey.
Neun Jahre hatte ich als diplomierte Lehrerin für musikalische Grundschule Zeit und Gelegenheit zum Üben, Ausprobieren und Lernen. Es war eine meist strenge Zeit voll harter Arbeit, verbunden mit vielen Fragezeichen und Tränen, dem Verlust zweier Zähne (Habe ich mir daran die Zähne ausgebissen? Musste ich zu sehr auf die Zähne beissen?), und viel Zweifel und Selbstzweifel. Dann bald der Beginn der Ausbildung bei Mària Kenessey, die fünf Jahre dauern sollte. Ich besuchte einen Vortrag über Die Ängste der Eltern und Kinder, stieg in Die integrative Pädagogik ein, wählte im darauffolgenden Jahr Psychologie, und Elternbegleitung, steigerte mich über Die integrative Erziehung im Vorschulalter, Das Schulalter und die Pubertät bis zur integrativen Spielgruppenleiterin, und schliesslich die Module Gruppenleitung für Erwachsene, Elterngrundausbildung, und drei Jahre Paar- und Familientherapie. Während der Ausbildung wurde ich Dozentin am Institut und übernahm zwischendurch einzelne Lektionen und Elterngrundausbildungen.
Gleichzeitig zur Musikschule arbeitete ich in einer Waldkinderkrippe, besuchte Natur- und Erlebnis-Schulungen, und liess mich am bernischen Outdoor-Institut Wakonda von Jürg Schär zur Erlebnis-Pädagogin ausbilden.
All das Gelernte floss in den Unterricht ein. Es gab anfangs gleich Erfolgserlebnisse, meine Begeisterung war gross! Dann aber kamen harte Rückschläge, Verwirrung und Unsicherheit, Ablehnung der neuen Methode, Kritik. Besonders in der „Ruderphase“, (Jürg Jegge, „Dummheit ist lernbar“), wo die Kinder verstärkt auffällig werden, weil sie glauben, sie können jetzt alles machen, weil „die so lieb mit uns ist und keine Strafen erteilt“! Dies, bevor es mir gelang, die „freundlichen Folgen“ erfolgreich eintreten zu lassen … Irgendwann begriffen die Kinder, dass es nicht um Machtkampf ging - wahrscheinlich, als ich ausstieg! Wir konnten gemeinsam arbeiten und es erst noch schön haben!
So entwickelte es sich, und es entstanden immer wieder, und immer mehr und öfter viel Freude, Erfolg und Anerkennung -hauptsächlich in Form von fröhlichen Kindergesichtern und herzhaft musizierenden und singenden Schülerinnen und Schülern, es stellten sich immer mehr Sicherheit und Entspannung, die Liebe zum Beruf, mehr Klarheit, was guttat und was schadete, (mir oder den Kindern) ein, die Kreativität floss, ich gewann immer mehr an Leichtigkeit und Freude, und ich sprudelte voller guter, immer neuer Ideen – bis hin zu einem Liederfluss, der in der MUT-MACHER-CD, integrative Lieder für Schule und Vorschulalter „verewigt“ wurde (gesungen von den damaligen Schülerinnen und Schülern).
Ich hatte die MAB (Beurteilung der Mitarbeitenden) be- und überstanden und meine Linie gefunden. Ich hatte gelernt, das Herkömmliche mit dem Neuen zu verbinden, zu verflechten, eine Schnur, nein, ein Seil daraus zu spannen, um darauf hin- und her zu balancieren. Ein Hochseilakt fürwahr! Nicht in allen Gruppen und Schulhäusern ging es mir gleich gut, wie in diesem Buch zu lesen ist! Viele meiner Vorstellungen, Wünsche und Illusionen, eine perfekte integrative Musiklehrerin zu werden, - und erst noch von meinen Vorgesetzten gepriesen! - musste ich aufgeben oder gingen verloren.
Am Schluss blieb das Wichtigste: meine Beziehung zu den Kindern und die Freude am Singen und Musik machen. Die Entscheidung fiel, eigene Kurse im integrativen Stil anzubieten, wo es keinen äusseren Druck mehr gab, dem ich mich anzupassen hatte. Paradoxerweise musste ich erst durch die ganzen mühevollen Anstrengungen, Versuche, Irrtümer, Rückschläge, und Erfolge durch, bis sich der nötige Gleichmut ganz von allein einstellte, und ich bereit war, Lektion für Lektion abzugeben und eigene Musikstunden zu kreieren. Ich konnte mit der Musikschule in Frieden abschliessen.
Es gab jedoch immer wieder eine Zeit, in der ich mir nur noch Stille und Ruhe wünschte, und gar nicht mehr musizieren mochte. Schliesslich kam die Gelegenheit, und auch das stimmte jetzt. Ich änderte meinen Vornamen von „Johanna“ auf „Anahita“, was mir schon länger gefallen hatte, gab die eigenen Kurse auf, die vier Jahre lang gut gelaufen, gewachsen und meine Freude gewesen waren, gab diesem Bedürfnis nach einer Auszeit (die jetzt seltsamerweise gar nicht mehr nötig war!) nach und flog mit meinem neuen Partner nach Indien, um mehrere Monate dort zu leben.
Wer Asien kennt, lächelt jetzt sicher: es ist beinahe unmöglich, irgendwo Ruhe zu finden, geschweige denn Stille! So lernte ich, dies zu akzeptieren, und kam durch Zufall nach fünf Monaten Faulenzen im sechsten Monat unseres Indien-Aufenthalts in einen internationalen Kindergarten in Goa, wo ich als Volontärin die spielerische und musikalische Arbeit wieder aufnahm! Im Buch Die integrative Erziehung im Vorschulalter sind sämtliche pädagogischen Erlebnisse von Asien (Indien und Sri Lanka), und die der Musikstunden mit Kleinkindern und Eltern, der Musik-und Naturspielgruppe, sowie der Waldkinderkrippe und anderen Kindergruppen beschrieben. Wir entschlossen uns, ein zweites Mal nach Indien und Sri Lanka zu fliegen. Wieder gab ich eine Zeitlang integrativen Unterricht und Eltern- und Erziehungs-Begleitungen.
Ich bin dankbar, dass nach zwei Wintern in Asien ein dritter Winter in Europa folgte, in dem ich so viel Zeit hatte, all das Erlebte zu sortieren und aufzuschreiben.
Zurück zur Musikschule: durch sie habe ich während der neun Jahre Unterricht unglaublich viel über den Umgang mit Kindern, über Erwachsene, Eltern und Lehrkräfte, Vorgesetzte und schliesslich über mich selbst gelernt, und mit der integrativen Ausbildung herausgefunden, was ich wirklich gern tue!
Es bleibt die Betonung auf einem der Grundsätze der integrativen Pädagogik von Mària Kenessey: Erziehung ist Beziehung – der freundliche Umgang, klare Grenzen mit freundlichen Folgen, die Achtung vor dem menschlichen Wesen mit seiner ganzen Art, seiner Herkunft, seiner Geschichte, seinem Leid und seiner Freude; und natürlich die Freude, gemeinsam Musik zu machen, zu singen und zu tanzen, dies ist denn auch der Kern meiner Arbeit.
„Hören Sie auf, zu therapieren!“, wurde ich ermahnt. „Unterrichten Sie einfach nur Musik!“, mit der Betonung auf „unterrichten“. Vielleicht habe ich es manchmal übertrieben, besonders am Anfang der Ausbildung, und meine Arbeitgeber verwirrt. Aber mir war der seelische Bereich der Kinder immer wichtig. Viele der später aufgeführten Beispiele, Geschichten und Kurzgeschichten, Erlebnisse aus dem Musikschul-Unterricht, zeigen, wie wichtig der Einbezug des ganzen Menschen ist, mitsamt seiner Seele.
Alfred Adler:
Der Mensch ist ein Individuum – ein unteilbares Wesen.
„Sonja kann nicht singen“ gilt als mein Paradebeispiel dafür. Dieses Erlebnis hat mich sehr berührt. Ich serviere es als Vorspeise zum Einstimmen.
Mir fällt auf, dass Sonja schon zum wiederholten Mal unlustig im Kreis sitzt, nicht mitmacht, nicht singt oder klatscht, ihre Hände liegen untätig im Schoss. Sobald wir aber nach dem geführten Programm zum freien Schaffen übergehen, wird sie lebendig. „Darf ich einen Verkaufsladen für Musikinstrumente und Plüschtiere einrichten?“ „Klar, beim freien Schaffen dürft ihr alles benützen.“ Die Regel, dass alles am Schluss wieder an seinen Platz kommt, wird nach x Stunden Üben eingehalten, so kann ich den Kindern freien Lauf lassen. Es ist für mich sehr spannend und aufschlussreich, zu beobachten, was sie in dieser Zeit machen. Der wilde Nehmed, der neu dazu kam holt sich zum Beispiel ein Xylofon und spielt die längste Zeit schnelle aber feine Melodien darauf – ich bin ganz überrascht, wie gut er die Schlegel handhaben kann! Die Lehrerin hatte geklagt, dass er mit seiner Grösse und Körperfülle so grob und ungestüm sei. Kürzlich wollte sie mit den Kindern eine Figur aus Lehm machen, da hätten er und ein anderer Junge wie wild auf den Lehm eingehauen! „Toll, dass du ihnen diese Möglichkeit gegeben hast!“, platze ich heraus. „Nein, nein, das will ich aber nicht! In der zweiten Klasse sollten sie doch anständig schaffen können …“ Ich überlege, wie ich selbst Knete in den Unterricht einbauen könnte. Vielleicht „räumliche Darstellung der Dynamik eines Musikstückes“. Mit diesem Gedanken spiele ich weiter …
Sonja bekommt am Ende der Stunde Krach mit Anja. Beide weinen heftig. Sie wollen keinen Frieden machen. Ich gebe Vertrauensvorschuss: „Manchmal kann man es noch nicht. Ich bin sicher, ihr schafft das später!“ Als die beiden Lektionen fertig sind, geht Anja. Sonja bleibt sitzen und schüttet mir ihr Herz unter Tränen aus. Ich muss auch ein bisschen weinen. Viel mehr verletzt als der Streit mit Anja habe sie der Streit mit ihrer Mutter in den Ferien. Sonja fühlt sich von der Mutter nicht mehr geliebt, diese hätte viel mehr Zeit für den älteren Bruder. Ich sagte, dass die Erwachsenen manchmal so gestresst sind, dass sie schlimme Dinge sagen, ich aber sicher sei, ihre Mutter habe sie gern. Ich kann nicht mehr als da sein, Raum für ihre Gefühle geben, und erlauben, was ist.
Eine Woche später. Sonja kommt mir auf dem Pausenplatz entgegen, sie sieht ganz fröhlich aus, erzählt und erzählt. Und sie bringt das Grusswort aus dem asiatischen Heimatland ihrer Mutter mit. Ich hatte die Gruppe vor mehr als einem Jahr zu Beginn der ersten Klasse gebeten, ihr Grusswort für das Begrüssungslied mitzubringen. Sonja hat es nie gebracht. Jetzt ist es da. Manchmal braucht ein Same halt ein bisschen (Tränen)-Wasser, dass er aufgehen kann. Wir integrieren das Wort ins Lied und üben es gleich in der Gruppe. Ich sage, wie froh ich darüber bin. Der Streit mit Anja ist schon längst vergessen. An diesem Tag hat Sonja mitgesungen, war bei allen Übungen interessiert dabei und konnte auch die Handbewegungen mitmachen.
Vielleicht steckt in allen von uns eine kleinere oder grössere integrative Ader? Ist sie bei manchen vielleicht nur durch Erziehung überdeckt worden? Meine war schon immer vorhanden, sie kam in den Ferienlagern ans Licht, wo ich mit fünfzehn bereits als Erzieherin arbeitete, um ein Taschengeld zu verdienen, und weil es mir viel Freude machte. Ich hatte eine junge Erzieherin als Vorbild. Durch sie lernte ich humorvollen Umgang mit Störungen. Eine Geschichte füge ich hier hinzu:
Im Speisesaal sassen siebzig Ferienkinder zwischen sechs und dreizehn Jahren, Jungen und Mädchen bunt gemischt. (Steiermark, Österreich 1971) Während sie auf das Essen warteten, machten sie einen Höllenlärm. Sie schwätzten und lachten, riefen und grölten, und klapperten mit dem Besteck. Es war nicht zum Aushalten. Der sechzigjährige Leiter hatte schon ein paarmal mit seinem Steckerl Ordnung zu machen versucht, aber es gelang ihm nicht, eine einigermassen dauerhafte Stille herzustellen, oder wenigstens den Pegel zu senken. Ich bat ihn, übernehmen zu dürfen. Er überliess es mir gern, war neugierig auf meine Methode: „Na, probier du nur dein Glück!“ Als erstes spionierte ich den lautesten Anführer aus, es war einfach, der rothaarige, sommersprossige, muskulöse Guido „war es - wie immer“. Dann nahm ich mein Besteck in die Hand und ging langsam durch die Tischreihen, bis ich neben ihm stand. Ganz ruhig sagte ich: „Schau, hier hast du noch mein Besteck dazu, dann kannst du noch mehr Krach machen!“ (Paradoxe Intervention: tu das am wenigsten Erwartete!) Freundlich gab ich es ihm, drehte mich um und ging zum Erzieher-Tisch zurück. Hinter mir senkte sich langsam der Lärmpegel und wurde zu einem leisen Getuschel. Die Bestecke hörten auf zu klirren, es waren nur noch angenehme Kinderstimmen zu hören, bis es schliesslich fast ganz ruhig wurde. Nur noch Gemurmel. Ich sass noch nicht lange an meinem Platz, als Guido zu mir kam und mir mein Besteck wieder brachte. Er war schon ein wenig verlegen und hatte einen roten Kopf. „Danke sehr!“, sagte ich und lächelte ihn verschmitzt an. Der Leiter war beeindruckt, ich freute mich. Ein Machtkampf weniger. Später nahm ich immer meine Gitarre in den Speisesaal, und statt zu lärmen sangen wir, bis das Essen kam. So musste ich auch niemanden blossstellen, was besser zu vermeiden ist. Guido aber konnte das verkraften, er hat ja auch ein gutes Beispiel für die anderen gegeben, indem er das Besteck zurückbrachte und nicht mehr den Anführer und Aufwiegler spielen musste.
Ich schliesse mein Quasi-Vorwort, meine kleine Geschichte mit meinem liebsten Adler-Zitat, das in meinen sämtlichen Büchern vorkommt und vorkommen wird:
Alles, was der Mensch tut, ist eine Antwort,
und ohne Zweifel gibt er immer die beste, die er geben kann.
Als ich in der Musikschule ziemlich bald mit der integrativen Methode zu unterrichten begann, erschienen bei Eltern und Lehrkräften Fragezeichen, da sie sich nicht erklären konnten, was in meinen Stunden vorging. Es wurde nötig, eine Erklärung abzugeben, sie hatten auch ein Recht auf Information, da sich vieles veränderte, und sie sich keinen Reim darauf machen konnten: Wenn zum Beispiel ein Kind zuhause plötzlich sagte, es sei wütend und gehe jetzt in sein Zimmer, um auf die Matratze zu schlagen. Oder wenn die „schlimmen“ Kinder keine Strafaufgaben bekamen, obwohl sie etwas „angestellt“ hatten. Dies verwirrte und verunsicherte die Erziehenden.
Ich verfasste eine Beschreibung, in der ich Eltern und Lehrkräften die integrative Erziehung darlegte. In diesem Buch gebe ich sie wieder und biete einige wichtige Theorie-Kapitel der Kenessey-Methode an, die notwendig sind, um die Grundlagen zu verstehen und meine Handlungen oder die plötzlich veränderte Sprechweise nachzuvollziehen. Sie sind im Buch verstreut, treten dort auf, wo sie gerade Thema sind. Die Geschichten und Direkt-Berichte nehmen den Hauptraum ein - sie lassen hautnah miterleben, wie es mir und den Kindern ging. Mir nützte die Praxis immer viel mehr als theoretische Erklärungen, und so handhabe ich es auch hier in diesem Buch. Die meisten Berichte habe ich kurz nach dem Unterricht notiert, mit all meinen Ängsten, Hoffnungen, Zweifeln, Erfolgen und Misserfolgen. Immer wieder besprach ich die Vorfälle in der Ausbildung, holte Hilfe und probierte Neues aus. Ich finde es das Wichtigste, dass man sich nicht zurückzieht und alleine wurstelt. Fehler sind unsere Freunde, und durch sie können wir lernen. Aber natürlich schämte ich mich, wenn etwas schiefging und hinterfragte mich selbst, bis ich wieder einen Schritt wagte. An mehreren Stellen habe ich später in Kursivschrift einiges kommentiert, als ich einen besseren Überblick hatte und die Ereignisse von aussen betrachten und interpretieren konnte.
Die integrative Ausbildung war sehr praxisbezogen, das machte sie, abgesehen vom Inhalt, nochmals anziehender. Es kamen Studenten, die eine vollständige Psychologie-Ausbildung absolviert hatten, und nicht wussten, was konkret mit den Kindern anzufangen, wie mit ihnen umzugehen. Wie eine Waldkinderkrippen-Praktikantin, die mich, als ich in der Waldkrippe arbeitete, begleitet hat, und die ich später, nach ihrer Rhythmus-Ausbildung in der Musikschule per Zufall wieder traf: sie übernahm eine Gruppe von mir, und ich führte sie ein. Sie kam frisch aus der Ausbildung, hatte aber schon ihre Erfahrungen mit der Realität gemacht: „Ich habe unterrichtet wie gelernt. Ganz schöne Lektionen geplant, aber wenn ich die Hälfte davon umsetzen konnte, war das schon viel! In der Praxis ist es ganz anders! Die Kinder sind unruhig, es interessiert sie gar nicht! Sie schlagen sich und sind frech! Und meine schöne Lektion ist im Eimer!“ Wie gut wusste ich, wovon sie sprach!
Die integrative Erziehung ist die Verschmelzung und Weiterentwicklung aller, bis heute bekannten pädagogischen, psychologischen, neurologischen, kommunikations-methodischen und familientherapeutischen Erkenntnissen, die die ganzheitliche Förderung des Kindes unterstützen.
Um einige Namen zu nennen: J. H. Pestalozzi (Herz, Hand und Hirn), Maria Montessori (neuropsychologische Erkenntnisse), Alfred Adler (Individualpsychologie), Sigmund Freud (Das Unbewusste), Milton Erickson (Hirnforschung) Virginia Satir (systemische Familientherapie).
Die integrative Erziehung unterstützt die ganzheitliche Förderung des Kindes. Die vermittelten Werte der integrativen Erziehung entsprechen den UNO-Menschenrechten und der UNICEF Deklaration der Kinderrechte. Sie entsprechen den Grundsätzen der Demokratie. - Was heisst das konkret?
Die integrative Erziehung ist ressourcenorientiert und ermutigend.
Wir setzen klare Grenzen und sorgen für die Einhaltung der miteinander bestimmten Regeln.
Es gibt logische, freundliche Folgen.
Ressourcenorientiert heisst: wir suchen und betonen das Gute im Kinde. Das erwünschte Verhalten wird wahrgenommen, das unerwünschte vernachlässigt. Wir geben keine negative Aufmerksamkeit. (siehe Rudolf Dreikurs)
Warum?
Ein Kind, das stört, hat Gründe, warum es das tut, und es will etwas damit erreichen.
Mögliche Ursachen der Störungen:
Stress, Druck, Spannung von zu Hause, in der Schule, am Spielplatz. Sich ausgeschlossen fühlen, Bedrohung von anderen Kindern und Jugendlichen, Unsicherheit. Angst vor Schlägerei, Krieg, Gewalt. Die Medien und gewaltverherrlichende Computerspiele tragen auch einiges dazu bei, dass das Kind spannungsgeladen ist. Diese Spannung macht aggressiv, sie will abgebaut werden. Aber wie? Es gibt kreative, friedliche Möglichkeiten, die ich später aufzeigen werde.
Was erreicht das Kind mit seinem Störverhalten?
Normalerweise erreicht es, dass wir es ermahnen, schimpfen, dass wir es ausschliessen, aus der Klasse schicken, Strafaufgaben geben oder sonstwie bestrafen. Dies bringt nur im Moment eine Besserung, hält jedoch nicht an: das Kind ist frustriert, fühlt sich ungeliebt, nicht dazugehörig, und obendrein schuldig, es hat ein schlechtes Gewissen. Dadurch fühlt es sich noch mehr verunsichert, das gibt wieder Spannung, Aggression - der Teufelskreis ist geschlossen! Das Kind will aus diesem Kreis herauskommen, es kennt aber nur den einen Weg. Es will wieder Aufmerksamkeit bekommen, den Sieg erleben, die Erwachsenen ärgern, sich für kurz überlegen fühlen, um danach noch trauriger und wütender zu sein. Es kann auch vorkommen, dass es aufgibt, verstummt, entmutigt ist. Diese Kinder fallen zwar weniger auf, sind aber am meisten gefährdet. Die Beziehung zwischen dem Kind und dem Erziehenden ist in jedem Fall gestört.
(Rudolf Dreikurs nennt diese Verhalten: die vier irrtümlichen Ziele des Kindes.)
Das Kind kann nicht mehr lernen.
Warum?
Aus der Hirnforschung wissen wir, dass das Hirn richtig speichert, wenn es freudig erregt, lustvoll gefüttert wird. Eingang rechts – die rechte Hirnhälfte, das Selbstbelohnungszentrum anregen. „Erfolgreich üben (und lernen) können wir nur in einem positiven Umfeld.“ (Hirnforscher Manfred Spitzer). Wenn das Kind eine gute Beziehung zur Lehrperson hat, wenn es sich angenommen fühlt - so, wie es ist, - wenn der Stoff interessant, spannend, sinnlich erlebt wird - all das sind Faktoren für eine tiefe Speicherung im Hirn und die Steigerung der Konzentrationsfähigkeit. Die Kinder lernen gerne, leicht, und merken sich das Erlebte.
Aggression ist Energie, Kraft. Sie dient dazu, uns abzugrenzen, etwas Unangenehmes abzuwehren, uns zu schützen. Muskeln sind gespannt, die Spannung möchte abreagiert werden. Wenn dies verhindert wird, bleibt die Energie im Körper und kann Schaden anrichten.
Verarbeiten durch die Hände:
werfen, (Schaumgummiball), zielen (Büchsen schiessen), schlagen, trommeln (Schlagzeug spielen, auf altes Blech hauen), zerreissen (Zeitungspapier), drücken, kneten (Arbeit mit Knete und Ton), hämmern, sägen (Instrumente selbst basteln), klatschen (Rhythmusspiele), malen (den Gefühlen Formen und Farben verleihen), hauen (Spasskämpfe wie im Stummfilm ohne einander weh zu tun - kann erlernt werden, macht den Kindern viel Spass!), dazu Lärm machen (die Szene genau beobachten, auf den Blechsachen mit Ton und Rhythmus untermalen! - erfordert Konzentration der Musizierenden und Fairness der Kämpfenden), boxen (in weiches Kissen oder Matratze)
Verarbeitung durch die Füsse:
treten (in weiches Kissen), stampfen, springen, trampeln, tanzen, rennen
(Wir machen viele Tänze, Rhythmus- und Bewegungsspiele) Verarbeitung durch den Mund, die Stimme:
brüllen, schreien, rufen, singen, Gesichtsgymnastik (imaginärer Kaugummi, Blase machen, kauen wie eine Kuh, Zunge rausstrecken, Monster darstellen, Wilde Kerle), darüber reden
Verarbeitung durch den Körper:
schwimmen, Sport, rennen, viel draussen spielen, Natur, Wiese, Wald, frische Luft, Bewegung (wir gehen so oft wie möglich hinaus und machen Übungen draussen)
Bei diesen Spielen sind klare Grenzen wichtig, und das Wissen, dass es ein Spiel ist zum Wut Abbauen.
Umgang mit Störungen:
Steigerung der Motivation:
Durch EINBEZIEHEN der Kinder, ihrer Themen, Interessen, Herkunftsland usw.
Durch MEINUNGSFORSCHUNG: „Was meint ihr dazu?“
Durch Anbieten von WAHLMÖGLICHKEITEN: „Was wollt ihr zuerst üben?“
Förderung der Selbständigkeit, Kreativität und Fantasie:
Selbst erarbeiten lassen, nicht alles fertig servieren.
Es gibt viele Rätsel und Geheimnisse bei mir!
Integration aller Kinder:
Spiele und Lieder für ein Gemeinschaftsgefühl, gegenseitige Anerkennung, auch mittels Kleberli, keine Strafen, sondern verständliche, freundliche Folgen. Z.B.: die Kinder kommen lange nicht in den Kreis, streiten herum. „Heute können wir leider nicht mehr „Bärenfangis“ machen. Vielleicht klappt es das nächste Mal.“ Kinder nicht vor die Türe schicken, da sie sich sonst aus der Gemeinschaft ausgestossen fühlen. Schön, wenn es verschiedene Kulturen gibt! Wir können so viel voneinander lernen!
ZIELE:
SORGFALT,
FREUNDLICHER UMGANG,
HILFSBEREITSCHAFT.
Meine Ziele für den Musikunterricht:
- Integration aller Kinder ohne Ausnahme.
- Schaffen einer guten Atmosphäre und Gemeinschaftsgefühl.
- Üben von Achtsamkeit, Sorgfalt und Freundlichkeit.
- Ich bin Vorbild für die Kinder.
- Förderung der Selbständigkeit und Kreativität.
- Gemeinsames lustvolles Musizieren, Singen, Tanzen, Musik mit allen Sinnen erleben.
- Miteinander lernen, üben, und Erfolge feiern!
1. Wir gehen sorgfältig mit uns selbst, mit den Mitschülerinnen und Mitschülern, und mit dem Material (besonders den Instrumenten) um.
2. Wir sind freundlich, rücksichtsvoll und hilfsbereit.
3. Wir arbeiten mit und bringen eigene Ideen ein.
4. Wir hören einander left1">Anahita Huber bietec:
alternausbildung, Erziehungsbegleitung.
Die Grundsätze der integrativen Erziehung entsprechen den Rechten des Kindes nach der Deklaration der UNICEF
Kinder haben:
Die integrative Erziehung
Die Grundhaltung der integrativen Methode ist bedingungslose Akzeptanz.
Rudolf Dreikurs` Buch ist schon mehr als fünfzig Jahre alt und heute immer noch, ja vielleicht sogar mehr denn je, top aktuell.
„Der erste Teil des Buches beschäftigt sich mit den theoretischen Voraussetzungen zur Anwendung psychologischer Methoden im Klassenzimmer.“ Im zweiten Teil lesen wir anhand konkreter Beispiele aus dem Klassenzimmer, wie die Methode anzuwenden ist, welche Fehler die Lehrkräfte machen, und womit sie Erfolge erzielen. Das Buch geht von der „demokratischen Lebensform und ihrem Prinzip von der menschlichen Gleichwertigkeit, andererseits … der Psychologie Alfred Adlers“ aus. Nach Alfred Adler ist der Mensch ein zielgerichtetes Wesen, und seine Persönlichkeit eine einzigartige, unteilbare Ganzheit.
Meistens haben die Erziehenden eine spontane, natürliche Beziehung zum Kind, solange dieses sich so verhält, wie wir es gerne wollen, und wir mit ihm zufrieden sind. Wird es aber schwierig, reagieren wir gewöhnlich in der herkömmlichen Erziehung mit Schimpfen, Strafen, Bestechung, oder Drohung, um das Verhalten des Kindes in unsere Richtung zu beeinflussen. Dies ist nicht nur nutzlos sondern sogar gefährlich. Denn dadurch wird das Kind in seiner irrigen Meinung verstärkt, dass es dumm, ungeschickt und zu nichts nutze sei, seine Fehler und Mängel werden „verewigt“ oder mindestens verstärkt. Die Bereitschaft der Erziehenden, „impulsiv zu handeln verhindert jedes Verständnis für das Benehmen des Kindes.“ Im Ärger ist es ungünstig, erziehen zu wollen, da wir von unseren eigenen (feindseligen, ablehnenden) Gefühlen gelenkt werden, und so dem Kind nur schaden, da es sich in seiner Not abgelehnt fühlt. Nur wenn wir um die wahren Hintergründe einer solchen Störung wissen, können wir dem Kind helfen. „Das notwendige psychologische Wissen aber umschliesst die Kenntnis der grundlegenden Bedürfnisse des Kindes…“ Das Kind ist ein soziales Wesen und möchte sich dazugehörig fühlen.
„Da die traditionellen Methoden nicht mehr wirksam sind, müssen neue Wege gefunden werden, die in einem demokratischen Rahmen Erfolg haben können.“ Da keine Autokratie als Staatsform mehr besteht, ist es auch unmöglich geworden, den Kindern mit autoritärer Gewalt zu begegnen. Sie lassen sich nicht mehr einschüchtern (schlagen im schlimmsten Fall sogar zurück) und fordern die in der Demokratie proklamierte Gleichwertigkeit. Was Kinder brauchen, ist väterliche, gütige Autorität“, liebevolle Festigkeit, die den Kindern innerhalb grösstmöglicher Freiheit mit klar formulierten Grenzen Halt und ein Gefühl der Sicherheit gibt.
„Problemkinder“ brauchen unsere Hilfe, und die können wir geben, wenn wir über das „verborgene Kräftespiel“ besser Bescheid wissen. Nur das Aufgeben der autokratischen Methoden bringt die Lehrpersonen noch nicht weiter. Sie wissen nicht, wie sie sich verhalten können, um das Kind positiv zu beeinflussen und für den Unterricht zu gewinnen. „Eine demokratische Atmosphäre verbindet Freiheit und Ordnung und unterscheidet sich so von der autokratischen Ordnung ohne Freiheit und (wohlgemerkt!) der anarchischen Freiheit ohne Ordnung.“ Es ist auch keine „Kuschelpädagogik“, die in letzter Zeit öfter in der Presse angeprangert wurde (obwohl ich nicht genau verstehe, was darunter gemeint ist). Wenn es ums grenzenlose Verwöhnen, um Erziehen mit „Gummigrenzen“ geht, ist es sicher ein Irrweg.
Das Kind besser verstehen:
Ein Kind bildet sich in den ersten fünf Lebensjahren, wobei die ersten drei besonders prägend sind, eine eigene Meinung, seine feste Anschauung vom Leben. – Alfred Adler: Lebensstil. Seine grundlegende persönliche Neigung ist gebildet, nach der es jede neue Situation einschätzt und einordnet. Jeder Mensch besitzt Minderwertigkeitsgefühle (Alfred Adler), da er als Kind seine Unzulänglichkeit unweigerlich erlebt hat. Er ist von der Mutter, den Eltern, Pflegenden, der Familie, der Gemeinschaft abhängig, in den ersten drei Jahren sogar völlig ausgeliefert. Von der Gemeinschaft ausgeschlossen zu werden, bedeutet den sicheren Tod, diese Angst ist tief im Stammhirn verankert. Deshalb bedeutet es später eine grosse Demütigung, ausgeschlossen zu werden, und es löst diese tiefwurzelnden Ängste aus.
Der Mensch handelt zielgerichtet, um bestehende Fehler und Mängel auszugleichen, und so das Dazugehörigkeitsgefühl zu verstärken. Gewöhnlich kompensiert der Mensch: er kann mit aktiv konstruktivem Verhalten (Mitarbeit) zum Erfolg kommen oder durch passiv konstruktives verhalten (Charme) Aufmerksamkeit erlangen und sich dadurch angenommen und dazugehörig fühlen. Erreicht das Kind sein Ziel mit diesen Mitteln nicht, fährt es stärkere Geschütze auf, um nicht vergessen zu werden. Ignoriert zu werden ist für das Kinder schlimmer als bestraft zu werden. Für gewöhnlich sind unsere Erziehungsmethoden „entmutigend, sie berauben sie (die Kinder) der Erfahrung der eigenen Kraft, die allein ein Gefühl der Sicherheit geben kann, des Vertrauens zur eigenen Fähigkeit, mit allem, was kommt, fertig zu werden.“ Um das Kind und seine Handlungen besser zu verstehen, ist es von Vorteil, seinen „Lebensstil“ zu kennen, seine Haltung und Einstellung zum Leben, die Atmosphäre in der Familie, und seine Rolle in derselben. (Familienkonstellation), seine Geschwister und andere Personen, mit denen es Umgang pflegt. Ein Kind, das immer wieder getadelt, blossgestellt, bestraft und damit gedemütigt wurde, ist in der Entwicklung seines Selbstvertrauens beeinträchtigt. Auf der anderen Seite ist das verhätschelte, das verwöhnte Kind durch die Überbehütung und das Erfüllen jeglicher Wünsche der Gelegenheit beraubt, seine eigene Stärke und Fähigkeit zu erleben. Auch lernt es durch die Überfülle unzufrieden zu sein, es wird quengelig und fordert immer mehr (Rudolf Dreikurs: „Kinder fordern uns heraus“)
Nur wenn wir um die Not des Kindes wissen, - jedes Fehlverhalten ist ein Hilfeschrei! – und an es glauben, um seine Kraft, Fähigkeit und Kompetenz wissen, können wir dem Kind helfen, seinen Platz in der Gemeinschaft zu finden, und sein störendes Verhalten zu verlieren.
(Mària Kenessey-Erweiterung von Rudolf Dreikurs)
1. Aufmerksamkeit erlangen wollen. Unbewusste Meinung des Kindes: „Ich bin nur geliebt, wenn ich (ständig) Aufmerksamkeit bekomme.“ Es nimmt Demütigung, Bestrafung, Abweisung in Kauf, denn ignoriert zu werden, ist für Kinder schlimmer als getadelt, bestraft und sogar geschlagen zu werden.
Gefühl der Erwachsenen: Es fällt uns „lästig“. Wir fühlen uns gereizt, ungeduldig.
Ausstieg: das erwartete Ziel nicht eintreten lassen. Alte Sätze wie: „Hör jetzt auf damit! Du siehst doch, dass ich keine Zeit habe! Ich habe dir doch schon 100x gesagt, du sollst die anderen Kinder in Ruhe lassen! Kommst du schon wieder und petzt!“ weglassen. Sich anders als erwartet verhalten. Ermutigen. Das heisst: sich dem Kind hundertprozentig eine (wenn nötig vorher festgelegte) Zeit lang aufmerksam widmen. Aufmerksamkeit, Zuwendung geben, wenn es gerade nicht stört. Dann eine Grenze setzen: „Ich bin neugierig, ob du es fünf Minuten schaffst, bei deiner Arbeit zu bleiben. Hier ist die Uhr.“ Anerkennung geben: „Diesmal ist es dir schon drei Minuten lang gelungen! Wollen wir sehen, wie viele du jetzt schaffst!“ Aber kein Wettbewerb mit den anderen, kein Vergleich (demütigend, entmutigend). Sehr hilfreich sind wichtige Aufgaben, Pflichten, Jobs, Posten. Keine „Ämtli“, da dieses Wort erniedrigend gefühlt wird, und das Kind einen wichtigen, gleichwertigen Beitrag leisten will. Nicht beachten des nicht erwünschten Verhaltens. Es wird dazu viele Beispiele geben. (Ein besonders gelungenes: Der rülpsende Junge in Verantwortung, Marco und die Stopp-Uhr).
2. Machtkampf: Wollen wir ein Kind im Zaum halten, kommt es zu einem Machtkampf. Es geht darum, wer dem anderen überlegen ist. Dabei siegt immer das Kind, auch wenn es nur ein trauriger und vorübergehender Sieg ist. Solange wir wie erwartet reagieren, wird es sein Verhalten wiederholen und verstärken, denn es hat ja „Erfolg“ gehabt. Die starken, überlegenen Erwachsenen zu ärgern wird als Sieg verbucht.
Unbewusste Meinung des Kindes: Nur wenn ich gewinne, bin ich „gut genug“.
Gefühl der Erwachsenen: ich will gewinnen! Rechthaben!
Ausstieg: Auf bestimmte Sätze und destruktive Wörter, sowie auf Befehle und Verbote verzichten: „Ich habe gesagt, nein! Du sollst das Klavier in Ruhe lassen! Hau nicht schon wieder so hart auf das Xylophon ein! Du machst ja alles kaputt! Nein, du gehst jetzt nicht zu deinem Freund!“ Kinder, die das Gegenteil machen oder wollen, haben zu Hause zu oft „Nein“ gehört und Befehle und Verbote erhalten. Sie wollen verstanden und miteinbezogen werden. „Was ist deine Meinung? Was ist dir lieber? Was sollen wir zuerst machen? Was denkst du darüber? Das ist ein interessanter Rhythmus! Kannst du ihn den anderen Kindern beibringen? Du könntest für zehn Minuten Lehrer sein, hast du Lust?“
Humor bewahren. Judo statt Boxen: die Energie des Kindes benutzen. (Judo statt Boxen: Philipp und die Enten. Immer das Gegenteil.)
3. Ist das Kind zu sehr verletzt worden, strebt es nach Vergeltung und Rache, es will zurückzahlen. Rudolf Dreikurs: „Sie betrachten es als Triumpf, für „böse“ gehalten zu werden.“ Intuitiv wissen sie aus ihrer eigenen Verletzbarkeit heraus um die Verwundbarkeit der anderen und treffen sicher.
Unbewusste Meinung des Kindes: Sie lieben mich nicht! Es tut mir weh, ich will auch wehtun!
Gefühl der Erwachsenen: ich könnte dich schütteln!
Ausstieg: W-Wörter und Anschuldigungen in Frageform vermeiden: „Wer hat angefangen? Warum hast du das gemacht! Was hast du schon wieder angestellt! Wo hast du den Schläger her? Warum musst du immer hauen!“
Das Thema Gewalt allgemein im Klassenrat ansprechen, keine Opfer und Täter abstempeln, es vermischt sich ja oft, da Kinder wissen, wie sie provozieren können. „Wenn Kinder unglücklich sind, drücken sie es manchmal dadurch aus, dass sie anderen wehtun. Wie können wir solchen Kindern helfen? Was glaubt ihr, was sie brauchen, um sich in der Gruppe wohler zu fühlen? Was könnt ihr anbieten?“ Das Kind fühlt sich verstanden, es wird nicht blossgestellt, bekommt die Sympathie der Klassenkameradinnen und Kameraden. Bei sehr stark und wiederholt gedemütigten Kindern ist es sehr schwierig, wenn sie ihre Gefühle abgestellt haben und „die Maske“ aufgesetzt haben. Es erfordert viel Geduld, Ausdauer und Einfühlungsvermögen von der Lehrkraft, bis das Kind Vertrauen fassen kann. Vertrauen heisst immer noch „Nichtwissen“, es erwartet auch von der freundlichen Lehrkraft einen Rückschlag und wird eine Zeit lang alles daransetzen, die Zurückweisung zu bekommen. Seine Gefühle spiegeln und Verständnis zeigen, und das Kind Erfolge erleben lassen, es in die Klasse integrieren, kann Wunder wirken. (Siehe: Zusammenarbeit mit dem Klassenlehrer. Sandro liefert ein gutes Beispiel von Entmutigung auf der dritten Stufe, auch Noah und Pietro, denen ich nur beschränkt helfen konnte.)
4. Die vierte Stufe der Entmutigung ist die gefährlichste, weil diese Kinder von den Erwachsenen meist gar nicht oder wenig wahrgenommen werden. Sie sind die ganz Ruhigen in der Klasse, die sich längst aufgegeben haben und in Ruhe gelassen werden wollen.
Unbewusste Meinung des Kindes: Ich bin nichts wert, kann nichts. Verlange nichts von mir und stell mir bitte keine Fragen, ich weiss es sowieso nicht!
Gefühl der Erwachsenen: Hilflosigkeit, Mitleid
Ausstieg: Keine Fragen stellen, die eigene Hilflosigkeit erst einmal „zelebrieren“, das heisst, bewusst wahrnehmen und akzeptieren. Vielleicht sogar benennen: „Ich weiss nicht, wie ich dir helfen kann! Ich fühle mich wirklich hilflos! Wenn ich nur wüsste, was du brauchst …“ Kein Mitleid, sondern Mitgefühl. Mitleid: „Oh, du Armes!“ schadet dem Kind und beraubt es seiner Kraft und Fähigkeiten. Es soll den Glauben an sich selbst wieder erlangen. Ein Mädchen in einer Musikklasse spielte die Schüchterne, wollte keine Antworten geben, zog sich zurück. Ich erkannte, dass sie besondere Aufmerksamkeit wollte, also eigentlich irrtümliches Ziel Stufe eins, und sagte zu ihr: „Ich sehe, dass du nicht so gerne sprichst. Ich werde dich nichts mehr fragen.“ Auch brauche sie den Sprechstab nicht zu halten, um ihre Wünsche und Anliegen zu äussern. Zu diesem Zeitpunkt gab es jeden Musikmorgen eine Wunschrunde, damit die Kinder motivierter arbeiteten. Am Ende der Stunde wurden die Wünsche wenn möglich erfüllt. Plötzlich streckte sie die Hand nach dem Sprechstab aus und sagte: „Nein, nein, ich will etwas sagen!“ Damit hatte sie ihr Verhaltensmuster sofort aufgeben können. In Mary lehrt mich, zuzuhören begegnen wir einem Kind der Stufe 4. Jan hinterm Vorhang oder unter den Stühlen ist eine Mischung aus eins und vier, er war doch ziemlich aktiv mit seinem Verstecken, konnte aber hervorgelockt werden. Vielleicht gab es mehr Kinder wie Mary und Jan, sind aber im Tumult der Störungen untergegangen … Das ist das Fatale, dass die ersten drei Verhaltensstufen so viel Aufmerksamkeit fordern, dass wir die vierte oft übersehen. Sie stört ja nicht! Und doch brauchen gerade diese Kinder unsere grösste Aufmerksamkeit und Zuwendung, aber unaufdringlich und feinfühlig, damit sie sich nicht noch mehr überfordert fühlen.
Wenn wir uns anders als erwartet verhalten, frustrieren wir das Kind auf positive Weise: die erwartete negative Zuwendung trifft nicht ein. Nach erster (vergeblicher!) Verstärkung der Störung kann es die Aktion aufgeben. Es braucht sie nicht mehr. Es fühlt sich dazugehörig, geliebt und integriert!
Die integrative Methode profitiert von den Erkenntnissen der Hirnforschung. Grundlegend gehen wir von den zwei Hirnhälften aus. Die rechte ist für Gefühle, Bilder, Farben, Intuition, Kreativität zuständig. Die linke brauchen wir für logisches, lineares, intelligentes Denken. Ein Mensch ist gefühlsmässig nur über die rechte Hirnhälfte erreichbar. Dort werden die positiven Erfahrungen im Hypokampus, dem Selbstbelohnungszentrum gespeichert. Im Mandelkern, der Amygdala, speichern wir die Angsterlebnisse. Das Angstzentrum reagiert, wenn mit herkömmlichen Erziehungsmethoden geschimpft, beschämt, getadelt, blossgestellt und sonstwie bestraft wird. Dies geschieht seitens der Erziehenden unwissentlich, es sind meist kaum andere Mittel der Erziehung bekannt, wir bedienen uns am Überlieferten und haben keine Ahnung, was wir damit auslösen. Dabei wollen Lehrkräfte doch alle das gleiche: dass die Kinder lernen, aufmerksam sind, zuhören, mitarbeiten, und vom Unterricht profitieren. Wird nun aber das Angstzentrum aktiviert, hat das Kind drei Hauptmöglichkeiten der Reaktion:
- wegrennen: Flucht. Dies kann innerlich (Rückzug) oder äusserlich geschehen. Es will nichts lernen.
- sich tot stellen: passiv werden, „dumm“ werden, nichts mehr sagen, Gleichgültigkeit vortäuschen, in Ruhe gelassen werden wollen (vierte Stufe „Vier Irrtümliche Ziele“)
- Angriff: Eintreten in den Machtkampf, Aggression gegen Lehrkräfte und/oder Lernende (zweite und dritte Stufe)