Barry Stevens (1902-1985) war eine bemerkenswerte Frau, die ein recht unkonventionelles Leben führte. Fritz Perls – der Mitbegründer der Gestalttherapie – nannte sie ein »Natur-Talent« unter den Psychotherapeuten, als sie 67-jährig (!) ihre Gestalttherapie-Ausbildung bei ihm begann. Barry Stevens hat sich intensiv mit der Lebensaufgabe auseinandergesetzt, wie man zu dem zurückfindet, was einen selbst eigentlich ausmacht – indem man lernt, den eigenen Wahrnehmungen, Erfahrungen und Wertsetzungen wieder Vertrauen zu schenken.

Ein weiteres Buch von Barry Stevens ist bereits in der Edition der Gestalt-Institute Köln und Kassel (GK) im Peter Hammer Verlag erschienen: Don’t push the river. Gestalttherapie an ihren Wurzeln.

therapeutenadressen service

Praxisadressen von Gestalttherapeutinnen und Gestalttherapeuten. Infomationen siehe letzte Buchseite

Originaltitel: Person to Person, Real People Press, Moab/ Utah 1967. Deutsche Erstausgabe: Junfermann Verlag, Paderborn 1984. Aus dem Amerikanischen von Anna Tilebein und Brigitte Westermeier. Redaktion der Übersetzung: Britta Martini. Lektorat: Christoph J. Schmidt.

NEUHERAUSGABE

des 2002 erschienenen Buches

© Real People Press, 1967, 2001

© für die deutschsprachige Ausgabe:

© 2016 by gikPRESS, Zülpicher Str. 255, 50937 Köln, Germany

Umschlag unter Verwendung eines Acrylbildes

der Künstlerin Georgia von Schlieffen (siehe S. →)

Herausgeber der gikPRESS: Erhard Doubrawa

Herstellung und Verlag:

BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-7412-0023-6

Inhalt

  1. Barry Stevens: Aus meinem Leben
  2. Barry Stevens
  3. Barry Stevens
  4. Barry Stevens
  5. Barry Stevens
  6. Barry Stevens
  7. Barry Stevens
  8. Barry Stevens
  9. Barry Stevens
  10. Barry Stevens
  11. Barry Stevens
  12. Barry Stevens
  13. Barry Stevens
  14. Barry Stevens

Zur Künstlerin des Covers

GEORGIA VON SCHLIEFFEN

Georgia von Schlieffen, geb. 1968. »Seit meiner Studienzeit intensive Beschäftigung mit der Malerei. Jedoch ging ich erst einmal ganz andere Wege über ein Studium der Vergleichenden Religionswissenschaft und der Internationalen Beziehungen und einer mehrjährigen Tätigkeit im Bereich Projektmanagement und Flüchtlingsarbeit für mehrere Nichtregierungsorganisationen. 2010 nahm ich an Studienwochen bei Markus Lüpertz und Gotthard Graubner an der Reichenhaller Akademie teil. Ab 2011 studierte ich Malerei bei Professor Jerry Zeniuk, Akademie für Farbmalerei, Kunstakademie Bad Reichenhall, und derzeit bei Heribert C. Ottersbach.«

Georgia von Schlieffen illustrierte zwei Lyrik-Bände von Stefan Blankertz, »Ambrosius: Callinische Hymnen« und »Ruan Ji: Zustandsbeschreibungen« sowie den Gedichtband »kleine gebete« von Paul Goodman, der in der gikPRESS erschienen ist.

Bitte besuchen Sie die Seite der Künstlerin auf theartstack.com oder verbinden Sie sich auf linkedin.com mit ihr.

Zum Geleit der neuen Ausgabe in der gikPRESS

»Barry Stevens ist in erfrischender Weise nicht-autoritär und herrschaftskritisch. Sie trägt in ihrer persönlichen Art die rebellische, gesellschaftskritische Grundhaltung der Gestalttherapie weiter, wachsam und höchst sensibel gegenüber jeder Form von Herrschaftsausübung, Überwältigung und Entfremdung des Individuums.«

Detlev Kranz, in: Gestaltkritik 1/1999

Urspünglich stammt dieses Buch aus dem Jahre 1967. 2001 erschien es in der Edition Edition der Gestalt-Institute Köln und Kassel (GIK). Ich freue mich, dass es immer noch aktuell ist und Interesse erweckt, sodass es nun als einer der ersten Bände der neuen gikPRESS weiterhin verfügbar in neuem Kleid, aber bewährtem Inhalt herauskommen kann.

Fasziniert spüren wir beim Lesen die unbekümmerte Frische, die Aufbruchstimmung und die Hoffnung jener Zeit. Der Aufruf der Autoren – des Gesprächstherapeuten Carl Rogers und der späteren Gestalttherapeutin Barry Stevens – zu einem freien, selbstbestimmten und glücklichen Leben hat an Bedeutung bis heute nichts verloren.

Schon die unvergleichliche Gestalt des Buches ist ein wirklich beachtliches Projekt. Barry Stevens sammelte einige grundlegende Artikel zur Gesprächstherapie von Carl R. Rogers, Eugene T. Gendline, John M. Schlien und Wilson van Dusen. Dazu beschieb sie ihren eigenen inneren Prozess beim Lesen dieser Beiträge: ihre Reaktionen, Gedanken, Erinnerungen, Erfahrungen… So verbinden sich auf eine einzigartige Weise Wissenschaft und Lebenspraxis. Das Buch ist darum eine bereichernde Lektüre für alle, die auf der Suche nach ihrem persönlichen Weg sind – oder sich auf diese Suche begeben möchten.

Barry Stevens (1902-1982) war eine bemerkenswerte Frau, die ein recht unkonventionelles Leben führte. Fritz Perls nannte sie ein »Natur-Talent« unter den Psychotherapeuten, als sie 67-jährig (!) ihre Gestalttherapie-Ausbildung bei ihm begann.

Barry Stevens hat sich intensiv mit der Lebensaufgabe auseinandergesetzt, wie man zu dem zurückfindet, was einen selbst eigentlich ausmacht – indem man lernt, den eigenen Wahrnehmungen, Erfahrungen und Wertsetzungen wieder Vertrauen zu schenken (»Selbst«-Steuerung versus »Fern / Fremd«-Steuerung).

Unter Mühsal und Schmerzen ist sie zu dieser Einsicht gekommen. Denn ausgelöst wurde ihre innere »Fährtensuche« durch eine schwere chronische Krankheit und durch einschneidende persönliche Krisen. Bei ihren Reflexionen geht es ihr um Schulung und Entwicklung dessen, was sie ihre »inneren Fährtensucherin« nannte: die Entwicklung von awareness (Gewahrsein, Achtsamkeit, Aufmersamkeit, Bewusstheit).

Natürlich holte sich die »innere Fährtensucherin« auch Anregungen von außen: Barry Stevens hielt Kontakte zu Gelehrten ihrer Zeit wie dem Schriftsteller Aldous Huxley, dem Philosophen Betrand Russel, dem Psychotherapeuten Carl R. Rogers. In den 1930er und 1940er Jahren hatte sie mit den Ur-Einwohnern Hawaiis zusammen gelebt und gearbeitet, in den 1950er und 1960er Jahren mit den Nawajo- und Hopi-Indianern. Außerdem beschäftigte sie sich intensiv mit östlichen spirituellen Traditionen: Buddhismus, Tai Chi u. a.

Mit Fritz Perls und der Gestalttherapie kam sie erst 1967 in Berührung – in dem Jahr, in dem sie das hier vorliegende Buch gemeinsam mit Carl Rogers veröffentlichte. Es erschien übrigens als erstes Buch im eben von ihrem Sohn John O. Stevens gegründeten Verlag »Real People Press«. Hier sollten – mit Barry Stevens tatkräftiger Mitwirkung – später noch andere wichtige Bücher zur Gestalttherapie erscheinen.

In der Entwicklung der Gestalttherapie spielte Barry Stevens eine bedeutende Rolle. Leider blieb sie im deutschsprachigen Raum für lange Zeit weitgehend eine Unbekannte. In den 1980er Jahren hatte Hilarion Petzold Barry Stevens’ Artikel über »Gestalt-Körperarbeit« in einem von ihm herausgegebenen Sammelband veröffentlicht (»Die neuen Körpertherapien«, Junfermann Verlag, 1985). Etwa gleichzeitig war im Junfermann-Verlag das hier vorliegende Buch von Barry Stevens und Carl R. Rogers zum ersten Mal in deutscher Sprache erschienen.

Noch ein weiteres Dutzend Jahre ging ins Land. Dann hat der Hamburger Gestalttherapeut Detlev Kranz für unsere Gestalttherapie-Zeitschrift »Gestaltkritik« einen Artikel über Barry Stevens geschrieben. Er ließ mich neugierig auf diese Frau werden.

Daraufhin habe ich in der »Gestaltkritik« ein Aufsatz von Barry Stevens gedruckt: »Das Leben findet nicht im Kopf statt. Gewahrsein als Grundlage der gestalttherapeutischen Haltung« (Gestaltkritik 1/2000).

Schließlich wagte ich es, ihr in den USA einflussreiches Buch »Don’t push the river. Gestalttherapie an ihren Wurzeln« 2000 in der Edition der Gestalt-Institute Köln und Kassel (GIK) zum ersten Mal in deutscher Sprache zu veröffentlichen. Detlev Kranz über dieses Buch:

»Ich kenne niemanden in der Gestalttherapie, der einsichtsvoller und schöner über Bewusstheit geschrieben hat, über eine Bewusstheit, die beständig eingewoben ist in das alltägliche Leben. Und die dadurch das alltägliche Leben heilsam sein lässt.«

Barry Stevens’ Haltung ist für Gestalttherapeutinnen und Gestalttherapeuten auch heutzutage besonders wichtig: Gestalttherapie ist nicht einfach eine Ansammlung von psychotherapeutischen Methoden, die nur noch irgendwie angewandt werden müssten. Vielmehr macht die Haltung die Gestalttherapeutinnen und -therapeuten aus: Achtungsvoll unterstützen sie das Subjekt-Werden/-Sein ihrer Klientinnen und Klienten. »Lernen, frei zu sein« – dieser Slogan von Carl Rogers, zu dem im vorliegenden Buch ein bemerkenswerter Aufsatz abgedruckt ist (S. →ff), fasst es sehr schön zusammen. Ich lege den Aufsatz jedem ans Herz, der, wie ich, Unbehagen über die wohlfeile Häme verspürt, mit der seit einiger Zeit die Ziele überzogen werden, die die »anti-autoritäre Erziehung« und »anti-autoritäre Bewegung« der 1960er Jahre vertrat.

Zum kritiklosen Übernehmen von irgendwelchen Methoden gibt es einen treffenden Satz von Barrys Sohn John O. Stevens, der auch die Meinung seiner Mutter wiedergibt: »Viele Gestalttherapeuten sind eine Art ›runderneuerte‹ Therapeuten, die ein paar Gestalttricks aufgegriffen haben, so dass sie auf den fahrenden Zug aufspringen können.« (»gestalt is«, Real People Press, 1975).

Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre.

Kassel, im November 2015

Erhard Doubrawa

Gestalt-Institute Köln und Kassel (GIK)

www.gestalt.de · gik@gestalt.de

Carl R. Rogers

Vorwort

Dies ist ein ungewöhnliches Buch, von einer einzigartigen Persönlichkeit zusammengestellt, die dabei einige Aufsätze zum Ausgangspunkt genommen hat, welche einen außergewöhnlichen Standpunkt darstellen. Lassen Sie mich das erklären.

Zunächst einmal steht jeder Aufsatz (einige davon sind von mir selbst, andere von Drs. Gendlin, Shlien und van Dusen) in einem Kontext, der eine warmherzige und menschliche Reaktion auf die Aufsätze darstellt. Barry Stevens betrachtet jeden dieser Aufsätze als eine Art Oase in der heutigen Fachliteratur und hat auf liebenswerte Art und Weise jeden von ihnen in eine Umgebung gerückt, in der sie ihre eigenen persönlichen Gedanken und Assoziationen zu dem Thema des Autors beiträgt. Ihre Kommentare sind keine Kommentare zum Aufsatz, ebensowenig eine Kritik. Sie beschreiben die sehr persönlichen Gefühle und Gedanken, die der Aufsatz in ihr ausgelöst hat. Es ist, wie wenn ein Freund Ihnen seine durch eine Lektüre hervorgerufenen vielfältigen Gedanken und Gefühle erzählt. So werden Sie angeregt, den jeweiligen Text selbst zu lesen, um herauszufinden, was er Ihnen gibt. Dies scheint ein sehr natürliches, aber sicherlich kein konventionelles Verfahren zu sein. Nach einem solchen Verfahren werden Bücher gewöhnlich nicht geschrieben oder konzipiert.

Im Zusammenhang mit Barry Stevens überrascht dieser Umstand nicht. Barry Stevens ist ein Mensch, der nicht leicht einzuordnen ist. Obwohl sie viele der Großen und der Beinahe-Großen der westlichen Kultur kennt oder mit ihnen in Korrespondenz steht, hat sie selbst keine Position, keinen Status inne, keine berufliche Klassifikation; man könnte sie höchstens vage als »Schriftstellerin« bezeichnen. (Ich glaube, sie würde den Ausdruck »Amateur« bevorzugen, weil sie tief davon überzeugt ist, daß der »Amateur« und der »Profi« sich gegenseitig ergänzen.)

Barry Stevens ist unabhängig in ihrem Denken und in ihrem Leben, und sie versucht fortwährend, aus den Grenzen auszubrechen, die uns alle festhalten und einengen. Einen großen Teil dieses Buches schrieb sie als Gast des Western Behavioral Sciences Institute, und sie wurde während dieser Zeit mit ihrer ruhigen, entspannten Art eine wichtige Person in dem Leben vieler Menschen, die dort arbeiten. Auf irgendeine Weise hat sie in ihrem Leben einen Stand von Weisheit erreicht, der heutzutage allzu selten zu sein scheint, da stattdessen das Wissen so überaus wichtig geworden ist. Viele Leser mögen ihre persönlichen Anmerkungen zu den Texten wertvoller und befriedigender finden als die Texte selbst.

Barry Stevens sieht oft das Wesentliche der Dinge mit einer besonderen Wahrnehmungsgabe. Ich denke aber, daß die Einzigartigkeit ihrer Person in ihren Kommentaren zum Ausdruck kommt, deshalb möchte ich es dem Leser überlassen, sie für sich selbst zu entdecken. Die in diesem Buch enthaltenen sieben Aufsätze gehen von einer in der heutigen Psychologie ungewöhnlichen Voraussetzung aus, nämlich, daß der subjektive Mensch eine Bedeutung und einen sehr grundlegenden Wert hat: Ungeachtet in welche Rolle er gedrängt oder wie er bewertet wird, ist er zunächst einmal und vor allen Dingen eine menschliche Person und das im tiefsten Sinne des Wortes. Er ist nicht nur eine Maschine, nicht nur eine Ansammlung von Reiz-Reaktions-Mustern, kein Objekt, keine Schachfigur. Die Aufsätze behandeln eine Vielzahl von Themen (und bei mindestens drei Beispielen geht es um Menschen, die als »abnorm« etikettiert werden), aber im tiefsten Sinne geht es immer um Personen.

Aus diesem Grund finden sie möglicherweise Anklang bei anderen Menschen – Menschen, die, wie die Autoren, sich darum bemühen, wie man am besten seinen eigenen Weg im Leben finden kann und wie man es besonders lohnend leben kann. Offensichtlich hatten diese Aufsätze Wirkung auf einen Menschen: Barry Stevens; und ihre Reaktionen – manchmal charmant, manchmal bewegend, manchmal kritisch, manchmal tiefgründig – bilden die Verbindungsglieder zwischen der jeweiligen Thematik der Autoren.

Dieses Buch wäre nicht geschrieben, zusammengestellt oder veröffentlicht worden, wenn nicht alle Beteiligten geglaubt hätten, daß es eine Bedeutung für heutige Menschen habe. Möglicherweise entsteht in dem Leser ein Gefühl, das aussagt: »Dieses Buch hilft mir, mich selbst ein wenig besser zu verstehen, deswegen verstehe ich jetzt den anderen ein wenig besser, und deswegen bin ich etwas weniger verwirrt über uns beide.« Oder, um es etwas anders zu sagen, wir hoffen, daß der Leser durch dieses Buch ermutigt wird, das zu sein und zu werden, was er selbst ist.

Barry Stevens

Einführung

Dieses Buch ist für jeden gedacht, der sich dafür interessiert; wer sich nicht dafür interessiert, sollte es nicht lesen. Das ist eine einfache Feststellung zum Hauptthema dieses Buches, das besagt, wie wichtig es für uns ist, eine eigene Wahl zu treffen, ungeachtet dessen, was irgendein anderer für gut oder schlecht hält. Die Gründe, warum mir dies nicht so leicht scheint, habe ich im »Vorspann« zusammengefaßt. Die Umwelt scheint höllisch versessen darauf zu sein, daß ich mit einer bestimmten Person nicht zusammenlebe, nämlich mit mir selbst.

Ich schreibe über meine eigene Erfahrung, weil ich die einzige Person bin, in deren innere Vorgänge ich wirklich Einblick habe; aber ich sehe diese Erlebnisse nicht als etwas Einzigartiges an, sondern als etwas, das, wie mir scheint, für uns alle zutrifft. Selbst wenn meine Erfahrungen, an den äußeren Ereignissen gemessen, ungewöhnlich sind, scheint es mir trotzdem so, daß Sie in gewissem Sinne und bis zu einem gewissen Grade durch Ihre eigene Erfahrung die inneren Vorgänge kennen müssen, über die ich schreibe. Aufgrund meiner Kenntnis unzähliger anderer Menschen spüre ich sehr deutlich, daß ich nicht außergewöhnlich bin. Das gefällt mir. Ich wünschte, das wäre mir mein ganzes Leben lang klar gewesen. Ich schreibe über mich selbst, aber die Kommentare von anderen, die mir gefallen, sagen: »Du schreibst über mich,« und: »Das sagt mir etwas. Es klingt, als ob ich es bin, der es sagt, als ob du ich warst, als du es geschrieben hast.«

Wir werden zu einer Menge falscher »Gemeinsamkeit« gedrängt, worüber ich mich ärgere. Aber es gibt ein wirkliches In-Einklang-Sein, wo hinein niemand gedrängt wird, weil es unmittelbar aus uns selbst entspringt.

In diesem Buch finden sich einige Aufsätze über Psychotherapie mit Schizophrenen, in denen die Therapeuten selbst miteinbezogen werden – was in ihnen vorgeht, was zwischen ihnen und den anderen vorgeht, ihr Versuch, mit einem anderen Menschen umzugehen. Als ich die Aufsätze erstmals las, spürte ich sehr deutlich, daß wir alle grundsätzlich in dieser Weise miteinander umgehen sollten, statt so, wie wir es normalerweise tun. Ich gab diese Aufsätze einigen anderen Leuten zu lesen, ohne meine eigene Reaktion zu erwähnen. Ich zitiere, was sie sagten, als sie mir die Aufsätze zurückgaben:

Nicht einer von ihnen erwähnte das Wort »schizophren«. Auch ich dachte nicht daran. Es waren schlicht Menschen für mich, und ihr Verhalten entsprach dem, was ich von anderen zu bekommen oder ihnen zu geben wünsche. Diese unkomplizierte Art, mit Menschen umzugehen, hatte ich bei den meisten Hawaiianern, Orientalen in Hawaii, Navajos und Hopis erlebt, eben weil sie sich mir gegenüber so verhielten; aber in meiner eigenen Gesellschaft empfinde ich das als schwierig, von wenigen Begegnungen abgesehen. Ich habe mich sehr über Carl Rogers geärgert, als er schrieb, daß die Stunden, die er in der Therapie verbrachte, für ihn die aufregendsten gewesen seien, denn so will ich immer leben. Warum muß man dafür zum Therapeuten gehen? Übrigens scheint mir, daß eben dieser Mangel die Menschen so sehr verstört, daß sie sich in psychiatrischen Kliniken aufhalten müssen. Warum sollten wir nicht überall mit Menschen so umgehen? Dann bräuchten sie nicht zu Therapeuten zu gehen oder sich in Kliniken aufzuhalten.

Das ist meine Meinung, die mich dazu gebracht hat, dieses Buch zusammenzustellen. Die Fachaufsätze darin stellen zwei Vorgehensweisen dar: Eine Methode ist die direkte Interaktion zwischen Menschen; die andere ist das Wissen über Menschen, zu dem man im Laufe einer Therapie gelangt ist. Bei mir selbst habe ich herausgefunden, daß diese beiden Ansätze sich gegenseitig ergänzen und daß beide zusammen wirksamer sind als nur einer allein. Als ich vor Jahren mit Menschen anderer Kulturen zusammenlebte, genoß ich das Zusammenleben in gewisser Hinsicht, ohne daß ich mir die Mühe machte, darüber nachzudenken. (Ich sage: »in gewisser Hinsicht«, weil es Bereiche gibt, die ich nicht voll mit den Hopis oder Navajos teilen konnte – Anschauungen und Sitten, die ich nicht akzeptieren konnte –, aber in dieser Hinsicht genoß ich es sehr, mit ihnen zu leben, und die unterschiedlichen Anschauungen und Sitten hatten weder für sie noch für mich größere Bedeutung.)

Nachdem ich von ihnen fortgegangen und in meine eigene Kultur zurückgekehrt war, wurde mir bewußt, daß ich etwas verloren hatte; es war mir jedoch völlig unklar, was das war. Solange ich mit ihnen zusammen gewesen war, hatte ich mich ihrer Lebensart anpassen können; an anderen Orten war es mir jedoch nicht möglich, auf die Art der Hopis oder Navajos weiterzuleben. Ich konnte auch nicht darüber reden. Als ich dann in der letzten Zeit bei ihnen war (das letzte Mal fünf Monate lang), habe ich meine Beobachtungen gemacht und herauszufinden versucht, was mir so gefällt; und ich meine, daß diese Überlegungen mir dabei helfen, auch anderswo so zu sein wie sie, wenigstens von Zeit zu Zeit. Und wenn es mir dann doch nicht gelingt, bin ich zwar ärgerlich, fühle mich aber nicht verloren (verwirrt und verstört), da ich es nun besser verstehe.

Wie mir scheint, passiert genau das Gegenteil, wenn Navajos, Hopis und Hawaiianer von unserer Lebensweise überschwemmt werden; sie verlieren etwas, ohne zu wissen, was es ist, weil sie sich nicht darüber im klaren sind. Das passierte auch mir in meiner eigenen Gesellschaft. Ich begann mein Leben sehr vielversprechend. Es verlief so erfolgreich, daß auch andere sich anerkennend äußerten. Ich hatte keine Angst, das zu verlieren, was ich besaß, denn das war ich selbst, und wie kann man sich selbst verlieren? Dennoch verlor ich es. Jetzt bekomme ich es – zumindest etwas davon – zurück, dadurch, daß ich mehr verstehe. Hätte ich es eher verstanden, wäre es mir möglich gewesen, das, was ich hatte, nicht zu verlieren.

Aber Verstehen allein ist nicht genug. Wenn ich etwas einsehe und es dann nicht in Handeln umsetze, ist weder nach außen noch für mich selbst etwas erreicht. Ein Bostoner Psychiater nennt es »den Todeskuß«, wenn ein Patient sagt: »Ich verstehe!« Ich weiß, was er meint, denn als ich mein eigener Therapeut war, traf ich auf etwas, das mich erheblich blockierte. Ich redete mir immerzu ein: Solange ich weiß, woher es kommt, brauche ich nichts mehr zu tun. »Es ist alles in Ordnung.« Es war aber nicht so. Nichts passierte, solange ich nicht mein Wissen in die Tat umsetzte. Es scheint eine der Verrücktheiten meines Intellekts zu sein, daß ich denke, ich bin das, was ich weiß, und daß Worte bereits alles sind.

Carl Rogers und ich sind im selben Jahr geboren. Darüberhinaus weist unsere äußere Entwicklung wenig Gemeinsamkeit auf. Was unsere innere Entwicklung betrifft, so ging er sehr konsequent seinen Weg, und ich ging sehr konsequent den meinen, und genau diese unsere Eigenständigkeit führte vor einigen Jahren zu einem Briefwechsel zwischen uns. Im letzten Jahr haben wir uns getroffen. Bei diesem Treffen entdeckten wir unsere nahezu völlige Übereinstimmung in bezug auf das Leben und die Menschen. Mir scheint, so etwas ereignet sich dann, wenn jeder Mensch »zu der Musik tanzt, die er hört« – zu seiner eigenen inneren Melodie. Ich habe meine sicherlich nicht immer gehört. Ich geriet zweimal in ein derartiges psychisches Chaos, daß es so schien, als ob ich nie wieder meinen Weg hinausfinden würde. Beide Male fand ich einen Ausweg, indem ich wieder auf meine eigene Stimme hörte.

Als ich mir das erste Mal Gedanken zu diesem Buch machte, fiel mir zunächst die sonst übliche Sammlung von Aufsätzen mit Kommentaren des Herausgebers, hier also mit meinen Kommentaren, als Möglichkeit ein. Aber dann schrieb mir Carl Rogers, er hoffe, daß ich mich nicht auf die üblichen Kommentare beschränken werde. Ich hatte in Gesprächen über Rogers Aufsätze häufig die Erfahrung gemacht, daß ich den Leuten den Zugang zu Rogers erleichtern konnte, indem ich das, was er meint, mit Hilfe von Beschreibungen aus meinem Leben veranschaulichte. Dies schien durch eine wechselseitige Erfahrung zu entstehen: Obgleich meine eigene Erfahrung sich von den Erfahrungen der Leute in vielfacher Hinsicht (Umgebung, Person, Vorfälle) unterschied, ließ irgend etwas dabei in ihrem Bewußtsein eine eigene Erfahrung auftauchen, welche die Bedeutung der Texte in ihnen selbst klar werden ließ. Ich hoffe, daß meine Beiträge in diesem Buch das gleiche für Sie, die ich nicht kenne, bewirken werden.

Wenn Sie sich Ihrer eigenen Erfahrung nicht bewußt werden, ist meine Arbeit zwecklos. Wenn irgendetwas, das ich geschrieben habe, ohne diese Bewußtheit (awareness)1 akzeptiert wird, dann ist es schädlich, denn so entsteht meiner Meinung nach folgendes Problem: Aus unterschiedlichen Gründen nehmen wir etwas an, das keine Beziehung zu uns selbst hat, und betrachten es dann als zu uns selbst gehörend. Dies passierte mir in einem solchen Ausmaß mit meinem Mann, daß ich, als ich es nach seinem Selbstmord feststellte, meinte, ich könne keinem Mann gestatten, mich zu lieben, denn wie könnte er oder ich wissen, ob das, was er in mir liebt, mein Mann ist oder ich selbst.

Wenn ich andererseits wochen- oder monatelang mit etwas gelebt habe, das Sie nur einen Augenblick lang kennengelernt haben, dann ist dieser Augenblick wirklich für Sie. Und wenn er in Ihre Bewußtheit gelangt ist, so ist das gut. Meine Erfahrung hat dann dazu gedient, die Ihrige ins Bewußtsein hinaufzuangeln, und die Angel kann weggeworfen werden.

Damit dies geschieht, scheint es notwendig, sich beim Lesen am eigenen Inneren zu orientieren und nach den Verbindungen zu sich selbst zu suchen. Dafür braucht man Zeit – Zeit für ein Gespräch zwischen dem Leser und dem Buch. Ich glaube, daß es wertvoller für mich ist, einen Absatz oder eine Seite zu lesen, wenn ich nur dafür Zeit habe, als in nur einer Stunde eine größere Anzahl von Seiten zu bewältigen. Der Dialog zwischen solch einem Abschnitt und mir scheint ganz tief hinabzusinken, während ich etwas anderes tue. Das wird mir klar, wenn er für einen Moment an die Oberfläche kommt und mir zeigt, was gerade passiert. Erst kürzlich las ich ein Buch in der Weise, daß ich es von vorne bis hinten durchlas, aber die Teile ausließ, die mich nicht interessierten. Als ich am Ende angekommen war, hatte ich Lust dazu, zurückzugehen und die Teile zu lesen, die ich ausgelassen hatte. Dann las ich noch einmal die Teile, die ich beim ersten Mal gelesen hatte.

Dies sind nur zwei Möglichkeiten, Bücher zu lesen, und ich empfehle weder die eine noch die andere. Für mich ist es wichtig festzustellen, »langweile ich mich?« Wenn ja, höre ich entweder auf zu lesen, oder ich blättere in irgendeiner mir vertrauten Art weiter, bis irgend etwas in dem Buch und ich leicht zueinander finden und bis ich lese, weil ich interessiert bin. Irgend etwas entsteht durch dieses Herumspielen zwischen diesem Buch und mir.

Eins meiner Probleme bei der Arbeit an diesem Buch war: »Wie weit soll ich meine eigenen Beiträge direkt auf die Aufsätze beziehen?« Ich fragte einige Leute danach. Ein junger Mann sagte: »Ich möchte meine eigenen Verbindungen herstellen. Ich fühle mich wohl, wenn sie mir durch den Kopf schießen.« Dann sagte er mit gleichem Nachdruck: »Aber wenn ich sie nicht sehe, möchte ich, daß man sie für mich herstellt.« Ich denke, das drückt es aus. Es gibt keine Lösung für das Problem. Die Fachaufsätze sind da, damit jeder sich mit ihnen allein auseinandersetzen kann, und wenn meine Beiträge stören, können sie ausgelassen werden.

Dieses Buch enthält einen bisher nicht veröffentlichten Aufsatz. Die anderen Aufsätze sind in Fachzeitschriften und zwei von ihnen in Fachbüchern erschienen. Für die meisten von uns sind sie nicht leicht zu finden. Mein Sohn fand einen Aufsatz in einem Papierkorb, sonst hätten wir nie von ihm erfahren. Dieses Buch macht sie uns allen zumindest zugänglich, und für mich sprechen sie zu uns allen.

Meiner Meinung nach kann der klient-zentrierte Ansatz nicht im üblichen Sinne übernommen, d. h. kopiert werden. Man muß am gleichen Punkt wie Rogers beginnen – an einem Punkt, den jeder in sich selbst erreichen muß. Von diesem Punkt aus, der zentral für ihn selbst ist, wird seine Methode notwendigerweise seine eigene sein, sein Weg eine Erkundungsfahrt, unternommen mit dem Wissen, daß es keine endgültigen Antworten gibt, daß die Bereitschaft, Fehler zu korrigieren, sich als nützlicher erweist als der Versuch, diese Fehler zu vermeiden. Die Aufsätze von Eugene Gendlin und John Shlien zeigen, daß sie den klienten-zentrierten Ansatz aufrichtig anwenden; und ihre eigene Individualität wird deutlich. Wilson van Dusen schreibt gleichfalls:

»Ich sehe eine weitgehende Ähnlichkeit zwischen mir und Carl Rogers. Der Unterschied besteht im Stil und in der Art, wie wir Dinge beschreiben. Die Sache mit dem Stil widerspricht jedem Versuch, die eine richtige, beste Psychotherapie aufzustellen. Was für den einen richtig ist, ist für den anderen vielleicht falsch.

Es scheint mir, daß dies für uns alle in unseren Beziehungen untereinander gilt, sei es für uns als Eltern, Gatte, Freund oder Bekannter, sei es jemand, den man nur getroffen und mit dem man kurzzeitig zusammengelebt hat: Wir alle müssen von der gleichen Grundlage ausgehen, die jeder aus sich selbst heraus finden muß, aber danach «ist das, was für den einen richtig ist, vielleicht falsch für den anderen.«

An dieser Stelle sollte ich wohl einige Dankesworte schreiben, aber wenn ich solche Dankesworte lese, scheinen sie mir immer so sinnlos, während das, was ich für diejenigen fühle, die dieses Buch möglich gemacht haben, zutiefst ein Teil meines Lebens ist. Ich denke, daß sie das wissen. Daher will ich es hierbei belassen, von Mensch zu Mensch.


1 Awareness ist ein zentraler Ausdruck, z. B. in der Gestalttherapie, der im Deutschen nicht genau wiederzugeben ist. Gemeint ist die wache, aufmerksame, bewußte Wahrnehmung dessen, was in einem selbst geschieht und was einem begegnet. Hier werden dafür Ausdrücke wie »Gewahrsein«, »(wache) Bewußtheit« (im Unterschied zu »Bewußtsein« bzw. consciousness) verwendet. (Anm. d. Red.)

Barry Stevens

Vorspiel

Am Anfang war ich eine Person, die nichts kannte als ihre eigene Erfahrung.

Dann erzählte man mir etwas, und ich wurde zwei Personen: das kleine Mädchen, das sagte, wie schrecklich es sei, daß die Jungen auf dem Grundstück nebenan ein Feuer machten, an dem sie Äpfel brieten (das war das, was die Frauen sagten) – und das kleine Mädchen, das hinauslief, wenn die Jungen von ihren Müttern gerufen wurden, um einkaufen zu gehen, und das Feuer und die Äpfel hütete, weil es das gerne tat.

Da gab es also zwei Ich.

Das eine Ich tat immer etwas, das das andere Ich mißbilligte. Oder das andere Ich sagte etwas, das ich mißbilligte. So viel Streit in mir!

Am Anfang war Ich, und Ich war gut.

Dann trat das andere Ich auf den Plan. Die Autorität von außen. Dies war verwirrend. Und dann wurde das andere Ich sehr verwirrt, weil es so viele verschiedene äußere Autoritäten gab.

Sitz ordentlich! Geh aus dem Zimmer, um dir die Nase zu putzen! Tu das nicht, das ist albern! Nein, das arme Kind weiß nicht einmal, wie man einen Knochen abknabbert! Zieh nachts auf der Toilette ab, denn wenn du es nicht tust, ist es schwerer, sie zu reinigen! Zieh nachts nicht ab – du weckst die anderen auf! Sei immer nett zu den Leuten; selbst, wenn du sie nicht magst, darfst du ihre Gefühle nicht verletzten! Sei offen und ehrlich; wenn du den Leuten nicht sagst, was du über sie denkst, ist das feige! Buttermesser: Es ist wichtig, Buttermesser zu benützen. Buttermesser? Was für ein Unfug! Sprich ordentlich! Blöde Ziege! Kipling ist wunderbar! Ah! Kipling (dreht sich weg).

Das Wichtigste ist es, Karriere zu machen. Das Wichtigste ist, zu heiraten. Zum Teufel mit den anderen. Sei nett zu den anderen. Das Wichtigste ist Sex. Das Wichtigste ist, Geld auf dem Konto zu haben. Das Wichtigste ist, daß dich jeder mag. Das Wichtigste ist, sich gut anzuziehen. Das Wichtigste ist, weltmännisch zu sein und zu sagen, was du nicht meinst, und niemanden wissen zu lassen, was du fühlst. Das Wichtigste ist, jedem voraus zu sein. Das Wichtigste ist, einen schwarzen Seehundmantel und Geschirr und Silber zu haben. Das Wichtigste ist, sauber zu sein. Das Wichtigste ist, immer seine Schulden zu bezahlen. Das Wichtigste ist, von niemand anderem hereingelegt zu werden. Das Wichtigste ist, seine Eltern zu lieben. Das Wichtigste ist, zu arbeiten. Das Wichtigste ist, unabhängig zu sein. Das Wichtigste ist, korrektes Deutsch zu sprechen. Das Wichtigste ist, seinem Ehemann gegenüber pflichtbewußt zu sein. Das Wichtigste ist, darauf zu achten, daß deine Kinder sich gut benehmen. Das Wichtigste ist, sich die richtigen Theaterstücke anzusehen und die richtigen Bücher zu lesen. Das Wichtigste ist, das zu tun, was andere sagen. Und andere sagen all diese Sachen.

Die ganze Zeit über sagte Ich: lebe das Leben; das ist es, was wichtig ist.

Aber wenn Ich das Leben lebt, sagt das andere Ich: nein, das ist schlecht. All die verschiedenen anderen Ichs sagen das. Es ist gefährlich. Es ist nicht praktisch. Du wirst ein schlimmes Ende nehmen. Natürlich … jeder hat sich schon mal so gefühlt wie du, aber du wirst es noch lernen!

Aus all den anderen Ichs werden einige für das Muster gewählt, das mich ausmacht. Aber es gibt all die anderen Rastermöglichkeiten in dem, was all die anderen sagen, die in mich hinein kommen und das andere Ich werden, das nicht ich selbst ist, und manchmal werden diese bestimmend. Wer bin ich dann? Ich kümmert sich nicht darum, wer ich bin. Ich ist, und es ist glücklich, zu sein. Aber wenn Ich glücklich ist, sagt das andere Ich: fang an zu arbeiten, mach etwas, mach etwas, das sich lohnt. Ich ist glücklich, Geschirr abzuspülen. »Du bist komisch!« Ich ist glücklich, wenn es mit Leuten zusammen ist und nichts sagt. Das andere Ich sagt: Rede, rede, rede. Ich verliert sich.

Ich weiß, daß man mit Dingen spielen und sie nicht besitzen sollte. Ich liebt es, Dinge mühelos zusammenzufügen, Dinge mühelos auseinanderzunehmen. »Du wirst nie etwas haben!« Dinge aus Dingen machen, so, daß die Dinge selbst daran beteiligt sind, sie zusammenfügen, voll Überraschung und Freude für Ich. »Damit kann man kein Geld verdienen!«

Ich ist menschlich. Wenn jemand bedürftig ist, gibt Ich. »Das kannst du nicht machen! Du wirst nie etwas für dich selbst haben! Wir werden dich unterstützen müssen!«

Ich liebt. Ich liebt auf eine Art, die das andere Ich nicht kennt. Ich liebt. »Das ist zu eng für Freunde!« – »Das ist zu kühl für Liebende!« – »Mach dir nicht so viele Gedanken, er ist nur ein Freund. Es ist ja nicht so, als ob du ihn liebtest.« – »Wie kannst du ihn gehen lassen? Ich dachte, du liebtest ihn?« Kühl’ also die Wärme für Freunde ab und erhitze die Liebe für Geliebte, und Ich geht verloren.

Beide Ichs haben also ein Haus und einen Mann und Kinder und all das, und Freunde und Ansehen und all das, und Sicherheit und all das, aber beide Ichs sind verwirrt, weil das andere Ich sagt: »Siehst du? Du hast Glück«, während Ich weiter weint. »Worüber weinst du? Warum bist du so undankbar?« Ich kennt keine Dankbarkeit oder Undankbarkeit und kann nicht streiten, Ich weint weiter. Das andere Ich stößt es hinaus, sagt: »Ich bin glücklich! Ich habe sehr viel Glück, solch eine nette Familie zu haben, und ein hübsches Haus und gute Nachbarn und eine Menge Freunde, die möchten, daß ich dies oder das tue.« Ich ist auch nicht zur Vernunft zu bringen. Ich weint weiter.

Das andere Ich wird müde und lächelt immer noch, weil man genau das tun soll. Lächle, und man wird dich belohnen. Wie der Seehund, dem ein Stück Fisch zugeworfen wird. Sei nett zu jedermann, und man wird dich belohnen. Die Leute werden nett zu dir sein, und damit kannst du glücklich sein. Du weißt, daß sie dich mögen. Wie ein Hund, dem man den Kopf tätschelt wegen seines guten Betragens. Erzähl’ witzige Geschichten. Sei lustig. Lächle, lächle, lächle … Ich weint… »Bemitleide dich nicht selbst! Geh’ raus und tu’ was für die Leute!« – »Geh’ raus, unter die Leute!« Ich weint immer noch. Aber inzwischen hört und fühlt man es nicht mehr so deutlich.

Plötzlich: »Was tue ich?« »Soll ich durchs Leben gehen und den Clown spielen?« – »Was mache ich, ich gehe auf Parties, die mir nicht gefallen?« – »Was mache ich eigentlich, ich bin mit Leuten zusammen, die mich langweilen?« – »Warum bin ich so hohl und leer?« Eine Muschel. Wie ist diese Muschel um mich herum gewachsen? Warum bin ich stolz auf meine Kinder und unglücklich über ihr Leben, das nicht gut genug ist? Warum bin ich enttäuscht? Warum fühle ich so viel Vergeudung?

Ich bricht durch, ein wenig. Für Augenblicke. Und wird vom anderen Ich zurückgestoßen.

Ich weigert sich, weiterhin den Clown zu spielen. Welches Ich ist das? »Sie war früher lustig, aber jetzt denkt sie zuviel über sich nach.« Ich läßt zu, daß Freunde wegbleiben. Welches Ich ist das? »Sie ist zuviel allein. Das ist schlecht. Sie verliert den Verstand.« Welchen Verstand?

Barry Stevens

I: Aus meinem Leben

»Es [das Kind] würde über die Sorgen lachen, die wir uns über Werte machen, wenn es sie verstehen könnte. Wie kann es jemanden geben, der nicht weiß, was er mag und was nicht, der nicht weiß, was gut für ihn ist und was nicht?«

Wenn ich das lese, fällt mir ein, was meine Freunde so oft zu mir sagten, als ich jung war: »Du hast Glück. Du weißt immer, was du willst.«Ich dachte, ein Mensch, der das nicht weiß, sei verrückt.

Im Alter von vierzig Jahren war ich erschreckt und verwirrt, weil ich offenbar nicht mehr in der Lage war zu wissen, was ich wollte. Nach meinen Begriffen war ich verrückt geworden.

Während ich nach einem Ausweg suchte, beschritt ich zwei Wege gleichzeitig: Ich forschte in meinem Inneren nach Fehlentwicklungen und ich suchte außerhalb meiner selbst etwas, dem ich Glauben schenken könnte und das mich wieder ins seelische Gleichgewicht bringen würde. Die Suche außerhalb meiner selbst war vergeblich. Ich habe noch nie etwas gefunden, mit dem ich in jeder Hinsicht übereinstimmen konnte. Die Suche nach Innen lohnte sich, und dabei fand ich heraus, daß ich es nicht nötig hatte, überhaupt an irgendetwas zu glauben. Alles, was ich brauchte, war in mir. Das Äußere war nur nützlich, wenn es mir dazu verhelfen konnte, mit dem in Berührung zu kommen, was in mir war. Aber als ich dann tatsächlich mit meinen inneren Wertsetzungen wieder in Kontakt kam, war es furchtbar schwer, ihnen zu vertrauen, weil sie in wesentlichen Dingen gegen das sprachen, was alle anderen sagten. Doch je mehr ich sie benutze, umso mehr vertraue ich ihnen; und wenn ich mich anderen Menschen wirklich nahe fühle, merke ich, daß ihre eingebauten Fährtensucher (mein Begriff für das, was Carl Rogers: »organismische Werte« nennt) mit meinen übereinstimmen. Der Unterschied zwischen der äußeren und der inneren Sicht ist folgender:

Als mein Sohn auf dem College war, wurde er dabei erwischt, daß er einen Roadster fuhr, der bis zum Bersten voll mit Leuten war, die teilweise noch auf dem Trittbrett standen. Die Strafe betrug 27 Dollar. Das war ein harter Schlag. Mein Sohn hatte seit seinem neunten Lebensjahr ziemlich viel gearbeitet. Vom College erhielt er ein Stipendium für das Schulgeld, verdiente sich aber ansonsten durch etliche Jobs noch Geld dazu und unterstützte auch mich, als ich mehrere Jahre lang krank im Bett lag. Für ihn bedeuteten 27 Dollar mehr als drei Tage Arbeit. Die Strafe zu bezahlen, war hart, aber er nahm es nicht übel. Er kannte das Gesetz und wußte, daß er dagegen verstoßen hatte. Er akzeptierte seine Verantwortung für das, was geschehen war.

Aber auf der Polizeiwache erzählte man ihm, daß er verantwortungslos gewesen sei. Dies traf ihn wirklich tief. Man veranlaßte ihn, sich »bös« zu fühlen, und das ist nicht gut. Noch dazu fühlte er, daß man ihm Unrecht tat und ihn falsch beurteilte, und das machte ihn sehr wütend. Gleichzeitig war er durcheinander gebracht, was wahrscheinlich schlimmer ist als alles andere.

Einige Jahre später, als er an einer Universität in einem anderen Staat war, kamen zwei Polizisten an unsere Tür und baten um eine Spende für das Feuerwerk zur Feier des Vierten Juli. Wir fanden Feuerwerk ganz toll, und mein Sohn gab ihnen großzügig fünf Dollar, obwohl wir damals auch nicht viel Geld hatten. Nachdem sie fort waren, sagte er: »Bullen hasse ich immer noch. Ich fühle es, wenn ich sie sehe.«

Meiner Ansicht nach war er nicht verantwortungslos. Er hatte die anderen Jungen nur zwei Blocks vom Wohnheim zum Sportplatz gefahren, in einem Gebiet, wo es wenig Verkehr gab und nur langsam gefahren wurde. Ihm war bewußt, daß die jungen Männer auf dem Trittbrett standen, und er kannte ihre Achtsamkeit und ihre Fähigkeit, auf sich selbst aufzupassen. Er hatte selbst die Verantwortung übernommen. Für mich ist es kein Zeichen von Verantwortung, mit einer erlaubten Geschwindigkeit von hundert Stundenkilometern in der Stunde zu fahren, wenn Teilstrecken der Straße für diese Geschwindigkeit zu unsicher geworden sind oder Wetterbedingungen das Fahren in diesem Tempo riskant werden lassen. Wer das tut, verhält sich ausschließlich nach den Buchstaben des Gesetzes, statt sein eigenes Wissen und seine eigene Wahrnehmung miteinzubeziehen, und wenn es zu einem Unfall kommt, fühlt er sich sicher, »nichts Falsches getan zu haben.« Die schlechte Straße war es oder das Wetter. Mir scheint, daß ich verantwortlich (responsible) bin, wenn ich auf alles um mich herum »antwort-fähig« (response-able) bin, und das Gegenteil davon sind Leute wie Eichmann, die »nichts Falsches getan haben«, weil sie das taten, was man ihnen befohlen hatte.

Fünf Tage nach einem vierwöchigen Krankenhausaufenthalt mußte ich einen Arzt aufsuchen, dessen Praxis in einer Privatklinik war. Im Wartezimmer merkte ich, daß ich vom Stuhl rutschte, und ich konnte mich nur auf dem Stuhl halten, indem ich mich an den Stuhllehnen festklammerte. Ich war nicht sicher, wie lange ich mich festhalten konnte, und merkte, daß mir schwindlig wurde. Ich schaffte es, aufzustehen und zum Empfang zu gelangen, wo ich mich über die brusthohe Theke lehnen und meine Finger an die gegenüberliegende Kante krallen mußte, um nicht auf den Boden zu rutschen. Ich sagte einer der Schwestern, daß ich mich hinlegen müßte. Sie fragte mich: »Wer ist Ihr Arzt? Haben Sie einen Termin? Wie ist Ihre Kliniknummer?« Was hatte das alles mit einem kranken Menschen zu tun, der sich dringend hinlegen mußte? Das war doch offensichtlich, ganz abgesehen davon, daß ich es ihr sagte. Sie war weder kalt noch bösartig und in vieler Hinsicht auch nicht dumm. Sie hatte aus sich einen »verantwortungsvollen« Menschen gemacht, der sich an Regeln hält, und ihre »Verantwortung« bezog sich auf ihren Job, so wie er durch die Verwaltung definiert war, und nicht auf die unmittelbare Not eines anderen menschlichen Wesens. Wie Eichmann.

Da in unserer Gesellschaft Erlebnisse dieser Art so häufig auftreten, bin ich davon überzeugt, daß jeder schon einmal in eine ähnliche Lage hineingeraten ist, wahrscheinlich nicht nur einmal, sondern sehr häufig. Dazu kommen noch die anderen Geschichten, von denen man hört, wie z. B. das Kind, das zur Polizeiwache gebracht wurde, weil es von einer Klapperschlange gebissen worden war. Anstatt es sofort ins nächste Krankenhaus zu bringen, ließen die Beamten das Kind auf der Wache sitzen und versuchten, seine Adresse zu ermitteln, um es in das zuständige Krankenhaus einliefern zu können. Jeder weiß von solchen Geschichten wie dieser, aber niemand tut etwas dagegen. Das kann einen wirklich in Panik versetzen.

Manchmal führen solche Erlebnisse nur zu Absurditäten. Im Süden Kaliforniens wollte meine Tochter während des Krieges an einem Zeichenkurs für Flugzeugtechnik teilnehmen. Der Leiter sagte, daß sie nicht teilnehmen könne, weil sie nach Abschluß des Kurses noch nicht achtzehn Jahre alt sein werde. So lauteten die Bestimmungen. Ich suchte ihn auf und fand, daß er ein prima Kerl war; er zuckte jedoch nicht mit der Wimper, als ich sagte: »Schauen Sie. Hier ist ein Mädchen, das sehr gut zeichnen kann und Flugzeuge liebt. Sie kommt aus einem Kampfgebiet und möchte etwas Nützliches tun. Sie ist genau das, was Sie brauchen, warum nehmen Sie sie nicht auf?« Er sagte, »Oh, das kann ich unmöglich machen! Da müßte ich über etliche Leichen gehen!« Ich dachte an die Leichen, die in Honolulu in Gräben geworfen worden waren, und an die Leichen, die in Pearl Harbor in Schiffen verfaulten, weil man keine Zeit hatte, sich um sie zu kümmern. Seine Bemerkung in diesem Zusammenhang war zu viel für mich. Ich sagte: »Was sind schon ein paar Leichen mehr im Krieg?« Das war für ihn zu viel. Er nahm sie auf.

Als mein Mann in den zwanziger Jahren Leiter der Kinderabteilung in einem Krankenhaus in New York war, gab es dort ein Kind, bei dem keiner der Ärzte herausfinden konnte, was ihm fehlte, obwohl alle darin übereinstimmten, daß es im Sterben lag. Mein Mann sprach privat mit einer Krankenschwester, die Babies liebte. Er verpflichtete sie zu Stillschweigen, bevor er ihr sagte, was er von ihr wollte. Das schreckliche Geheimnis war: »Kümmern Sie sich um dieses Baby, als ob es Ihr eigenes wäre. Lieben Sie es einfach.« Zu der Zeit war »Liebe« sogar für Psychologen Unsinn; für Ärzte und Krankenschwestern ist es immer noch ein Gefühl, das man für einen Patienten nicht empfinden darf. Das Baby erholte sich. Alle Ärzte stimmten darin überein. Aber wenn mein Mann den anderen Ärzten erzählt hätte, wie das geschehen konnte, wäre er kein Mediziner (vertrauenswürdig) mehr gewesen, sondern zu einem Mystiker (unzuverlässig) geworden. Selbst wenn einige seiner Kollegen ihm zugestimmt hätten, hätten sie nicht gewagt, für ihn zu sprechen, weil sie damit ihr gesellschaftliches Ansehen verloren hätten. Liebe war nicht »wissenschaftlich« weil man sie nicht messen konnte. Also lieber das Baby sterben lassen?

Zwei ziemlich berühmte Wissenschaftler erzählten mir unabhängig voneinander von ihren eigenen Erfahrungen und Beobachtungen im Leben, und als sie gingen, sagten beide wörtlich: »Erzählen Sie niemandem, daß ich das gesagt habe!« Ein Psychologe sagte in der Schule etwas anderes als zu Hause. Auf diese Diskrepanz angesprochen, antwortete er: »Das war meine berufliche Meinung (in der Schule). Dies ist meine persönliche Meinung.« Wenn schizophren »geistige Spaltung« bedeutet, wer ist dann nicht schizophren? Kein Wunder, daß William Menninger auf die Frage, wie viele von uns an Gemütskrankheiten litten, antwortete: »Einer von einem von uns.

Ich bin kein Arzt, Wissenschaftler oder Professor geworden, aber der Kampf zwischen selbstautorisiertem Handeln und dem Handeln nach fremden Autoritäten, wenn diese nicht mit mir übereinstimmen, geht weiter, selbst wenn ich sehr genau weiß, welche Autorität ich positiv bewerte. Es verletzt mich tief, wenn man mir sagt, daß ich verantwortungslos sei – es ist, als würde man mir ein Messer in die Brust stoßen und es noch einmal herumdrehen. Ich weiß also ungefähr, wie hart dieser Vorwurf Leute mit einem solchen Beruf treffen kann und warum sie nicht immer sagen, was sie denken. Wenn ich tue und sage, was alle sagen und tun, dann nennt mich niemand verantwortungslos. Aber genau dann bin ich verantwortungslos.

Ich bin widersprüchlich und inkonsequent (manche nennen mich einen Heuchler), wenn ich mich einerseits über Bestechung und Betrug in der Politik, der Regierung, Wirtschaft und Polizei beklage, andererseits auf Kosten meiner eigenen Integrität handle und rede, wofür ich mit Lächeln, Freundschaft, Anerkennung, einer guten Position, einem schönen Haus und all den anderen sogenannten erstrebenswerten und richtigen Zielen belohnt werde. Schlimm ist nicht, daß ich etwas angenommen habe, sondern schlimm ist, daß ich etwas aufgegeben habe, nämlich mich selbst, meine eigene Autorität, die auf meinem eigenen Wissen beruht. Diese Entwicklung beginnt selbst unter relativ guten Bedingungen so früh in unserem Leben, daß ich niemandem, mich eingeschlossen, Vorwürfe dafür machen könnte, daß er völlig durcheinandergerät; aber gleichgültig, wer mich in einen solchen Zustand gebracht hat: Ich bin die einzige Person, die mir da heraushelfen kann. Andere können sicherlich helfen – das haben sie auch getan –, indem sie zulassen, daß ich denke, was ich denke, mich entscheide, wie ich mich entscheide, und fühle, was ich fühle. Dennoch muß ich den Willen haben, dies alles in mir aufsteigen zu lassen und es zur Grundlage meines Handelns zu machen. Das kann bis zur Lächerlichkeit schwierig und erschreckend sein. Es mag vorkommen, daß einen irgendetwas beschäftigt, das von außen gesehen völlig bedeutungslos ist; aber das innere Geschehen sieht ganz anders aus.

Mein Mann – ein Kind seiner Zeit und Vertreter seines Berufsstandes – verachtete die »Mystik«. Das war derselbe Mann, der ein Baby heilte, indem er es in die Obhut einer liebevollen Krankenschwester gab. Seine Antipathien gegenüber »Swamis« und orangefarbenen Kleidern – mit denen ihn keinerlei direkte Erfahrung verband – waren so stark, daß er, als der von ihm bewunderte Aldous Huxley sich den Vedanta-Anhängern anschloß, voller Bitterkeit sagte: »Nur zu, kleiner Yogi.« Ich wurde von seinem Schauder angesteckt. Als ich mit den Kindern ein Jahr lang auf dem Festland war und mich auf die Suche nach meinen eigenen Wertvorstellungen machte, ging ich zu dem Vedanta-Tempel in Hollywood, um für mich selbst herauszufinden, was ich von Swamis und orangefarbenen Kleidern hielt. Ich habe das wirklich getan; die Art, wie ich davon berichte, ist jedoch irreführend. Mein Bericht enthält eine Klarheit, die zu jener Zeit noch nicht vorhanden war. Also würde ich genauer sagen: »Ich wußte nicht, was ich tat, aber ich wußte, daß ich es tun mußte« – das ist die Weisheit des Organismus, von der Carl Rogers spricht, die uns steuert.

mochte