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Anton Schlittmaier

Philosophie in der Sozialen Arbeit

Ein Lehrbuch

Verlag W. Kohlhammer

1. Auflage 2018

 

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

 

Print:

ISBN 978-3-17-032565-4

 

E-Book-Formate:

pdf: ISBN 978-3-17-032566-1

epub: ISBN 978-3-17-032567-8

mobi: ISBN 978-3-17-032568-5

 

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Inhalt

Vorwort

1.  Einleitung

2.  Erkenntnistheorie und Sprachphilosophie

2.1  Die Relevanz erkenntnis­theoretischer und sprachphilosophischer Fragen in der Sozialen Arbeit

2.2  Erkenntnis und Wissen im Allgemeinen als Gegenstand der Erkenntnistheorie und Sprachphilosophie

3.  Wissenschaft und Forschung als Gegenstand der Wissenschaftstheorie

3.1  Wissenschaftstheoretische Positionen und Soziale Arbeit

3.2  Erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Fragen und ihre Relevanz für Soziale Arbeit

4.  Ontologie

4.1  Was ist tatsächlich der Fall? Realität oder Konstruktion – ontologische Positionen und Soziale Arbeit

4.2  Konträre Systemtheorien in der Sozialen Arbeit

5.  Ethik

5.1  Ethik und ihre Rolle in der Sozialen Arbeit

5.2  Probleme und Traditionen der Begründung ethischer Werte und Normen

5.3  Soziale Probleme als Gegenstand einer wertbezogenen Beurteilung in der Sozialen Arbeit

5.4  Ethik als Bestandteil von Theorien und Handlungskonzepten

5.5  Das Tripelmandat in der Sozialen Arbeit

5.6  Ethische Dilemmata in der Sozialen Arbeit

5.7  Modelle und Methoden der ethischen Urteilsfindung

6.  Sozialethik, Gerechtigkeit und Sozialphilosophie

6.1  Philosophie als Begründung von Wohlfahrt: Sozialethik und Gerechtigkeit

6.2  Sozialphilosophie

7.  Rechtsphilosophie

7.1  Das ungeliebte, aber doch nötige Recht in der Sozialen Arbeit – und dann auch noch Rechtsphilosophie

7.2  Naturrecht, Vernunftrecht und Rechtspositivismus: Ist Recht gültig, weil es gilt, oder weil es tieferliegende Ursachen für seine Geltung gibt?

8.  Anthropologie

8.1  Anthropologie als philosophische Teildisziplin

8.2  Menschenbilder in Theorien und Handlungskonzepten Sozialer Arbeit

8.3  Soziale Arbeit und Anthropologie im Diskurs: Perspektiverweiterungen

8.4  Freiheit und Vernunft sind nicht alles: Schwere geistige Behinderungen als Herausforderungen einer vernunftorientierten Philosophie

9.  Ästhetik

9.1  Der aktuelle Diskurs in der Ästhetik Sozialer Arbeit und seine Ausblendungen

9.2  Modelle philosophischer Ästhetik und ihre Impulse für Soziale Arbeit

9.3  Möglichkeiten der Normierbarkeit und Messbarkeit künstlerisch-ästhetischer Praxis in der Sozialen Arbeit

9.4  Fallbeispiele aus der Praxis Sozialer Arbeit

10.  Philosophie der Bildung und Erziehung

10.1  Pädagogik ohne Philosophie?– Weichenstellungen auch für Soziale Arbeit

10.2  Bildungs- und Erziehungstheorien im philosophischen Kontext

11.  Schluss

Literatur

Vorwort

Die Philosophie hat innerhalb der Sozialen Arbeit einen teilweise widersprüchlichen Status. Einerseits fordert man eine Orientierung an Werten und Normen. Gerade in der Gegenwart, die durch die Auflösung bestehender Denkmuster sowie Normen und Werte gekennzeichnet ist, soll Philosophie – insbesondere als Ethik – Orientierung geben. Anderseits werden komplexe philosophische Ansätze innerhalb der Sozialen Arbeit oftmals als übermäßig theoretisch und wenig praxisrelevant eingestuft.

Das vorliegende Lehrbuch verfolgt das Ziel, grundständig in zentrale Ansätze zahlreicher Teildisziplinen der Philosophie (u. a. Erkenntnistheorie, Ontologie, Ethik, Anthropologie) einzuführen. Dabei orientiere ich mich an der Logik der Philosophie. Prinzipiell wäre es durchaus auch möglich, Fragestellungen aus einer Wissenschaft der Sozialen Arbeit zu entwickeln und diese mittels philosophischer Ansätze zu bearbeiten. Das Risiko einer solchen Vorgehensweise liegt darin, dass einzelne Elemente der Philosophie relativ beliebig herangezogen werden und in die Argumentationen der Sozialen Arbeit eingebaut werden. Oft wird dabei die philosophische Position nur kurz erwähnt und als weitgehend bekannt vorausgesetzt. Meine eigene Erfahrung als Lehrender der Philosophie in der Sozialen Arbeit zeigt jedoch, dass philosophische Positionen bei Vertretern helfender Berufe oft wenig bekannt sind oder ggf. sogar missverstanden werden. In diesem Lehrbuch soll deshalb die Darstellung einzelner Positionen der Philosophie im Zentrum stehen. Die philosophischen Inhalte werden dabei jedoch nicht einfach referiert – hierzu gibt es zahlreiche allgemeine Einführungen in die Philosophie. Ich verknüpfe stattdessen bereits bei der Darstellung der philosophischen Positionen diese mit Beispielen aus der Sozialen Arbeit. Von daher erfolgt bereits bei der Darstellung der Philosophie eine praxisorientierte Fokussierung.

Das Lehrbuch beginnt mit der Erkenntnistheorie, der Wissenschaftstheorie, der Sprachphilosophie und der Ontologie, da diese philosophischen Teildisziplinen vielfach als grundlegend angesehen werden. Es folgen Kapitel zur Ethik, zur Sozialphilosophie, zur Rechtsphilosophie, zur Anthropologie, zur Ästhetik und zur Philosophie der Erziehung. Prinzipiell kann jedes Kapitel für sich gelesen bzw. verstanden werden. Von daher kann der Leser seinen individuellen Fahrplan bei der Lektüre des Buches wählen.

Für Einsteiger in die Philosophie empfiehlt es sich mit den Kapiteln über Anthropologie (8.), Ethik (5.) und Sozialethik/Sozialphilosophie (6.) zu beginnen. Die praktische Relevanz philosophischer Themen wird hierbei auf Anhieb deutlicher. Die erkenntnistheoretischen, ontologischen und wissenschaftstheoretischen Bezüge (2.–4.) können im Anschluss erarbeitet werden.

Das Lehrbuch enthält in jedem Kapitel Verweise auf andere Kapitel bzw. Unterkapitel, so dass Zusammenhänge auch netzwerkartig erschlossen werden können. Insbesondere die Philosophie des 20. Jh. (z. B. intensiv behandelt in Kapitel 6. und 8.) lässt sich vielfach nur angemessen verstehen und würdigen, wenn man sie in einen Kontrast zu älteren Positionen setzt. Wird beispielsweise im Kapitel über Anthropologie (8.) eine Kritik an René Descartes (1596–1650) nur kurz skizziert, dann kann der Leser, wenn er das Kapitel zur Erkenntnistheorie (2.) erarbeitet, hier die kritisierte Position tiefergehend und umfassender erschließen. Dem Kapitel zu Descartes (2.2.2.1) ist wiederum ein Kapitel über antike Erkenntnistheorie (2.2.1) vorangestellt. So erhält der Leser die Möglichkeit, bestimmte Positionen in der Geschichte zurückverfolgen zu können und die Philosophie als einen über Jahrtausende gehenden Diskurs kennenzulernen. Dabei bestehen neuere Positionen vielfach in der intensiven Kritik älterer Ansätze, mit dem Ziel diese zu verbessern.

Leserinnen, die mit der Philosophie bereits etwas vertraut sind, können mit Kapitel 2. beginnen. Wer diesen Weg nimmt, folgt der Logik, die der Sache entspricht. Dieser Weg ist allerdings – wie bereits der altgriechische Philosoph Aristoteles feststellte – der für uns Schwierigere (Cassirer 1993, 263) und kann als steiler Anstieg empfunden werden.

Die Philosophie gilt vielfach als schwer zugänglich. Dies liegt nicht nur an der Sprache, in denen Philosophen ihre Gedanken darstellen. Häufig muss man alltägliche Denkweisen überwinden, um einen philosophischen Ansatz verstehen zu können. So wird beispielsweise durch Platons Höhlengleichnis (vgl. 10.2.2) deutlich, dass die sinnlich erfahrbaren Gegenstände nicht die eigentliche Wirklichkeit sind. Hinter allem, was wir sehen, hören usw., liegen allgemeine Prinzipien. Dies ist für alltägliche Denkweisen nicht unbedingt naheliegend. Das philosophische Gespräch ermöglicht es, ursprüngliche Meinungen immer wieder einer Prüfung auszusetzen. Von daher bildet das Buch ein Angebot eines solchen Gesprächs.

Die Praxisrelevanz, die in der Sozialen Arbeit immer wieder eingefordert wird, ergibt sich nicht in dem Sinne, dass aus der Philosophie Methoden und Techniken abgeleitet werden können. Die Philosophie kann keine »Kochbuchrezepte« bieten, um Klienten zielorientiert und ressourcensparend zu behandeln. Das Buch macht vielmehr deutlich, dass es in der Philosophie um eine Reflexion unserer »Denkweisen« geht: Wie sehen wir die Welt und den Menschen? Die Klärung solcher Fragen – insbesondere durch ein Gespräch mit philosophischen Positionen-, ist entscheidend, um Handeln auf einer neuen, erweiterten Wissensgrundlage zu ermöglichen. Philosophie wird somit praktisch, indem sie unsere Art zu denken weiterführt und auch immer wieder neu in Frage stellt. Die einzelnen Kapitel skizzieren beispielhaft philosophische Ansätze und zeigen die Erweiterung und Neuausrichtung unserer Perspektiven.

Das Buch ist insgesamt im Kontext der Lehre an der Berufsakademie Sachsen (Standort Breitenbrunn/Erzgebirge) im Bachelorstudiengang Soziale Arbeit entstanden. Im Rahmen meiner über 20-jährigen Lehrtätigkeit entwickelte ich schrittweise die philosophischen Inhalte in Bezug auf sozialpädagogische und sozialarbeiterische Themen. Dies führte in den letzten Jahren zur schrittweisen Integration der philosophischen Ästhetik, der Rechtsphilosophie und der Philosophie der Erziehung in die Studienordnung. Dabei wird der Rahmen für philosophische Themen auch auf Module wie Recht und Pädagogik ausgedehnt.

Beim Schreiben des Buches waren einzelne Kollegen sehr hilfreich. Durch zahlreiche Gespräche wurde ich angeregt, einzelne philosophische Themen stärker auf den Fragehorizont der Studierenden zu zentrieren. Von den zahlreichen Gesprächspartnern möchte ich besonders Herrn Prof. Dr. Tim-N. Korf, Herrn Prof. Stefan Müller-Teusler und Herrn Prof. Dr. Michael Leupold erwähnen.

Danken möchte ich auch ganz herzlich Herrn Sebastian Weigert vom Kohlhammer Verlag, der mich während der gesamten Erstellung des Buches sehr fachkompetent begleitet hat.

Besonderer Dank gilt auch meiner Frau, die mir immer wieder nahelegte, »philosophische Höhenflüge« zu erden bzw. nach deren Nutzen für die Praxis zu fragen.

 

Breitenbrunn und Grub am Forst, 7.11.2017 Anton Schlittmaier

1.  Einleitung

Vor über zweitausend Jahren begannen griechische Philosophen über das Wesen der Welt systematisch nachzudenken. Die Frage nach den Ursachen und dem Wesen der Dinge und des Menschen standen dabei im Zentrum. Dieses grundlegende Anliegen kennzeichnet bis heute die Philosophie.

Die Soziale Arbeit – bestehend aus Sozialarbeit und Sozialpädagogik – ist einerseits eine Praxis. Hier zielt sie auf Hilfe und Unterstützung. Sie ist aber auch eine Wissenschaft, die diese Praxis theoretisch strukturiert und erforscht. Sowohl als Praxis, wie auch als Wissenschaft, bezieht sich Soziale Arbeit auf zahlreiche Bezugswissenschaften. In erster Linie sind dies Psychologie, Soziologie, Politikwissenschaft, Medizin, Ökonomie, Management, Forschungsmethoden sowie Recht. Die Philosophie wurde eben bewusst nicht angeführt, da ihre Bedeutung für die Soziale Arbeit nicht allgemein anerkannt ist (Perko 2017, 7).

Das vorliegende Lehrbuch macht einerseits plausibel, warum Philosophie für die Soziale Arbeit wichtig ist und vermittelt anderseits Grundlagen. Dabei werden nicht nur philosophische Teilgebiete und Positionen vorgestellt. Bei der Darstellung der Inhalte wird jeweils auch ihre Bedeutung für die Soziale Arbeit aufgezeigt. Inwieweit stecken in Fragestellungen Sozialer Arbeit in verdeckter Form bereits philosophische Fragestellungen? Und können philosophische Diskussion bzw. Positionen die Soziale Arbeit befördern?

Niemand bestreitet im Grund die Bedeutung bestimmter psychologischer, soziologischer, medizinischer und ökonomischer Fragestellungen in der Sozialen Arbeit. Dabei wird im Allgemeinen stillschweigend vorausgesetzt, dass die angeführten Disziplinen empirische Wissenschaften sind, sie also ihr Wissen durch Befragungen, Beobachtungen oder Experimente kontrollieren. Soziale Arbeit soll sich auf die angeführten Disziplinen beziehen, deren Wissen verarbeiten und auf dieser Grundlage handeln.

In Bezug auf die Philosophie liegt keine vergleichbare Selbstverständlichkeit vor. Warum ist das so? Im Gegensatz zur Psychologie, Soziologie, Politikwissenschaft usw., ist die Philosophie keine Erfahrungswissenschaft. Dies könnte durchaus ein Grund sein, der den Verdacht erweckt, sie könnte irrelevant für Soziale Arbeit sein. Aber gilt dies nicht auch für das Recht? Die Rechtswissenschaft ist ebenfalls keine empirische, sondern eine normative Wissenschaft. Sie bringt nicht zum Ausdruck, was ist, sondern was sein soll.

Der Unterschied scheint wohl darin zu liegen, dass das Recht unmittelbar praxisrelevante normative Fragestellungen behandelt. Welche Gesetze bzw. welche Normen und Werte für bestimmte Situationen der Praxis Sozialer Arbeit gelten, ist eine konkrete, meist fallbezogene, Fragestellung. In der Philosophie werden im Unterschied dazu hochgradig allgemeine und auf den ersten Blick eher praxisferne Probleme behandelt. Sie charakterisieren sich dadurch, dass sie nicht in erster Linie empirisch bearbeitet werden können. So ist beispielsweise die Frage, was das Sein oder das Seiende ist, eine klassisch philosophische Frage, die bereits bei den antiken Griechen auftauchte und die Geschichte der Philosophie durchzieht. Auch ohne hier über Vorkenntnisse zu verfügen, dürfte unmittelbar einsichtig sein, dass man die Frage, was das Sein oder das Seiende ist, nicht in erster Linie durch Befragung, Beobachtung oder Experiment klären kann. Hier spielen vielmehr die Logik und das Denken die entscheidende Rolle.

Aber was hat so eine Frage mit Sozialer Arbeit zu tun? Treffen nicht doch die spontanen Einschätzungen, die den Stellenwert der Philosophie in der Sozialen Arbeit verneinen, zu?

Das Ziel dieses Lehrbuches ist, gerade den Stellenwert auch solch grundlegender Fragen für die Soziale Arbeit deutlich zu machen.

Ende April 2016 wurde bei der 16. Mitgliederversammlung der Deutschen Gesellschaft für Soziale Arbeit das für die Bundesrepublik Deutschland geltende Kerncurriculum Soziale Arbeit verabschiedet.1 Es soll Leitlinie für die Konzeptionierung und Überarbeitung von Studienprogrammen der Sozialen Arbeit sein und zudem professions- und hochschulpolitische Orientierung geben.

Das Kerncurriculum enthält in fast allen sieben Studienbereichen neben empirisch-sozialwissenschaftlichen Wissensbeständen auch genuin philosophische Inhalte.

In diesem Lehrbuch werden die philosophischen Thematiken auf das Kerncurriculum bezogen. Dabei steht neben der exemplarischen Vermittlung zentraler philosophischer Inhalte jeweils der Stellenwert des philosophischen Wissens in der Sozialen Arbeit im Zentrum. Es geht um die Frage, welchen Nutzen in Bezug auf wissenschaftliche Fundierung, Reflexion und Praxis Sozialpädagoginnen bzw. Sozialarbeiter aus der Philosophie ziehen können.

Dabei geht es auch darum, das Vorurteil, dass der Philosophie in einem Studium Sozialer Arbeit eine eher randständige Rolle zukommen müsse, zu korrigieren. In den einzelnen Kapiteln soll jeweils deutlich werden, inwieweit Philosophie die fachliche Basis Sozialer Arbeit erweitern kann.

Gängige Lehrbücher, die philosophische Aspekte Sozialer Arbeit thematisieren, konzentrieren sich meist auf die Berufsethik, seltener auf die Anthropologie. In Bezug auf andere Bereiche liegt ein deutliches Defizit an Veröffentlichungen vor. Insbesondere fehlt ein Lehrbuch, das den gesamten Kanon der für die Soziale Arbeit relevanten philosophischen Themen aufgreift und diesen auch auf einem angemessenen Level verarbeitet.

Im Einzelnen werden die folgenden Teildisziplinen und zugehörigen Fragestellungen behandelt werden:

Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie ist durch die Frage, was Erkenntnis und Wissen im Allgemeinen und was Wissenschaft im Besonderen ist, charakterisiert. Soziale Arbeit als Wissenschaft steht in diesem Zusammenhang vor der Frage als welcher Typus von Wissenschaft sie sich sieht. Begreift sie sich als empirische Wissenschaft, als normative Wissenschaft, sinnverstehende Wissenschaft oder als kritische Wissenschaft (vgl. 3.1; 10.2.4)? Die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Theorie und Praxis soll hier ebenfalls angegangen werden (vgl. 3.2). Inwieweit lässt sich Praxis wissenschaftlich begründen? Welche Modelle einer Verbindung von Theorie und Praxis gibt es? Angesprochen wird auch die aktuelle Entwicklung in der Wirkungsforschung, wobei die philosophische Reflexion dieser Entwicklungen im Fokus steht.

• Die Frage, wie wir das Sein oder das Seiende verstehen wollen, wird in der Ontologie oder allgemeinen Metaphysik behandelt. Dabei handelt es sich um eine Teildisziplin der Philosophie. Für Soziale Arbeit lässt sich die Relevanz der Ontologie durch folgende Anmerkungen andeuten: Soziale Arbeit hat einen Gegenstand und dieser wird als strukturiert gedacht. Welche Strukturen sind das? Welche Rolle spielen Grundauffassungen vom Sein und Seienden in der Wissenschaft der Sozialen Arbeit und ihrer Praxis (vgl. 4.)? Sein und Seiend sind allgemeinste Bestimmungen von allem, was es gibt. Wenn wir beispielsweise sagen, jemand habe ein ADHS, dann bringen wir zum Ausdruck, dass ADHS existiert. Die meisten Menschen beschäftigen sich erst einmal mit der auf den speziellen Gegenstand gerichteten Frage, was ADHS ist, welche Ursachen es hat, welche Kriterien geeignet sind, um es zu diagnostizieren und welche Hilfsmöglichkeiten es gibt. Eher fremd und künstlich erscheint uns in diesem Zusammenhang die Frage, was es heißt, dass jemand ADHS hat. Hat er es wie eine Jacke, die er ablegen könnte? Gibt es das Kind, z. B. Gerda, und ihr Symptom, also zwei Elemente? Oder täuscht uns hier die Sprache und meinen wir vielleicht gar nicht, dass es neben dem Kind noch das Symptom gibt?
Natürlich kann man solche Fragen, die der gewöhnlichen Richtung unseres Denkens fremd sind, abtun und schnell zu Konkreterem, Handfesterem, übergehen. Aber wenn man sich in Bezug auf ADHS einschlägige Theorien genauer ansieht, zeigt sich doch, dass solche Fragen verdeckt in der Sozialen Arbeit und ihren Bezugswissenschaften selbst liegen. Ein Symptom wie ADHS wird in einzelnen Ansätzen z. B. nicht als Eigenschaft einer Person gesehen, sondern als Art und Weise eine schwierige Situation zu bewältigen. Der Perspektivwechsel – weg von der isolierten Person – führt zu ganz anderen Konzepten der Intervention als ein Herangehen, das die Person als Träger von Eigenschaften ansieht. Wenn wir Letzteres annehmen, können wir vermuten, dass wir den Klienten von der betreffenden Eigenschaft befreien können und sonst nichts ändern müssen. Im anderen Fall werden wir die Gesamtsituation in den Blick nehmen müssen und eine Veränderung wird die Klientin und ihre Gesamtpersönlichkeit nicht unberührt lassen. Auch die Umwelt wäre hier zu berücksichtigen.
Die unterschiedliche Sicht auf soziale Probleme, Symptome usw. wird somit auf unser Verständnis des Seins bezogen. Dabei ist der Gegensatz zwischen einer an Substanzen oder Dingen orientierten Ontologie und einer Prozessontologie, die nicht mehr von abgrenzbaren einzelnen Bestandteilen der Wirklichkeit ausgeht, von zentraler Bedeutung (vgl. 4.1.3).

Ethik fragt nach den Normen, den Werten, dem Guten oder dem, was wir tun sollen (vgl. 5.). Als Berufsethik ist Ethik in der Sozialen Arbeit am stärksten präsent. Hier ist sie konkret und fallbezogen. Aber es gibt eine darüber hinausgehende Ebene, die die Frage der Werte, Normen bzw. des Guten im Allgemeinen betrifft. Lassen sich übergeordnete normative Zielsetzungen Sozialer Arbeit bestimmen, an denen sie sich grundsätzlich orientieren soll? Beispiele wären hier Autonomie, Menschenrechte oder Wohlergehen. Wie lassen sich diese Zielsetzungen begründen?

Sozialphilosophie und Sozialethik thematisieren die Gesellschaft nicht wie die Soziologie primär empirisch, sondern normativ (vgl. 6.). Zudem ist ihr Gegenstand in erster Linie die Gesellschaft im Ganzen und nicht nur einzelne Teilbereiche wie Organisationen, Institutionen oder Lebensalter. Im Zentrum stehen hier Fragen wie die Begründung von Wohlfahrt und Gerechtigkeit.

Rechtsphilosophie fragt nach dem Grund der Geltung des Rechts (vgl. 7.). Die Praxis der Sozialen Arbeit bezieht sich besonders stark auf rechtliche Regelungen. Das Recht wird oft als nicht weiter diskutierbare Grundlage gesehen. Was führt überhaupt zur Geltung von Recht? Wie hängen Recht und Moral bzw. Ethik zusammen? Welchen Stellenwert hat die Berufsethik neben dem Recht?

Anthropologie stellt die Frage nach dem Wesen des Menschen (vgl. 8.). Soziale Arbeit hat es mit dem Menschen zu tun. Die Anthropologie liefert zahlreiche Modelle des Menschen, die Modelle der empirischen Wissenschaften ergänzen können. Auch ein kritisches Verhältnis zwischen beiden ist möglich. Anthropologie kann insbesondere auch den Machbarkeitsglauben mancher Modelle relativieren und hier korrigierend wirken und die menschliche Freiheit hervorheben.

Ästhetik thematisiert die sinnliche Wahrnehmung, das Schöne und die Kunst (vgl. 9.). Soziale Arbeit nutzt vielfach künstlerisch-ästhetische Methoden. Die Ästhetik kann dazu beitragen, diese Methoden tiefergehend zu verstehen und gleichzeitig kann sie ein kreatives Potential entwickeln, um neue Methoden zu erfinden, die sich auf das Schöne und das Ästhetische beziehen. Im Einzelnen soll gezeigt werden, wie durch philosophische Theorien der Ästhetik das Verständnis des Künstlerisch-Ästhetischen vertieft werden und auf dieser Basis die Auswahl geeigneter Methoden anhand geeigneter Kriterien verbessert werden kann. Gleichzeitig wird deutlich, wie durch Philosophie eine Basis für Reflexion geschaffen werden kann, die das Verständnis des Prozesses erhöht und auf diese Weise neue Handlungsoptionen ins Blickfeld rückt.

• Eine Philosophie der Bildung und Erziehung (vgl. 10.) zeigt die Grenzen einer ausschließlich empirischen Pädagogik. Die Bezüge zwischen Erziehung, Bildung und Philosophie werden an ausgewählten Positionen deutlich gemacht.

Das Lehrbuch konzentriert sich auf Inhalte, die in der Philosophie als zentral angesehen werden. Dabei war ein »Mut zur Lücke« unumgänglich. Bei der Auswahl folgte der Verfasser seinen eigenen Vorstellungen in Bezug auf den Stellenwert der Themen und Autoren. Als besondere Zugangsweise kann die Herangehensweise über Falldarstellungen und praktische Problemstellungen der Sozialen Arbeit gelten. Die Philosophie wird so nicht in Reinform vermittelt, sondern in ihrem Anwendungsbezug. Bereits die Darstellungen der Theorien nehmen auf konkrete Fälle Bezug. Dies soll den Leser unterstützen, bei der abstrakten Materie den Überblick nicht zu verlieren und handfeste Ideen zu deren Relevanz für die Theorie und Praxis Sozialer Arbeit auszubilden.

Die Fallbeispiele sind sowohl dem eigenen Erfahrungsbereich des Autors, wie der Literatur entnommen. Letztere entstammen meist einem außerphilosophischen Kontext. Im Lehrbuch werden die Fälle auf Basis philosophischer Theorien reflektiert. Das Ziel besteht jeweils darin, neue Sichtweisen und Handlungsimpulse zu gewinnen. Dabei liegt kein technisches Verständnis des Verhältnisses von Analyse, Interpretation und praktischer Handlungsanleitung zugrunde. Nirgends kann der Philosophie unmittelbar ein Rezept entnommen werden. Das Verhältnis zwischen Theorie und Praxis orientiert sich an der Hermeneutik (vgl. 3.1.3). Den Theorien können Impulse für Analysen und Interpretationen abgewonnen werden.

Um die Lesbarkeit des Textes zu verbessern, werden Einzelpassagen folgendermaßen hervorgehoben:

Die Praxisbeispiele am Anfang der Kapitel sind in kleinerer Schrift und eingerückt formatiert.

Spätere Bezüge zu oder Anwendungen auf die Praxisbeispiele, die die philosophischen Zusammenhänge verdeutlichen, werden grau unterlegt.

Aussagen zur Sozialen Arbeit, die in Kapiteln bzw. Unterkapiteln erfolgen, in denen vorrangig philosophische Positionen vorgestellt werden, erhalten eine Rahmung.

In Unterkapiteln, die sich ausschließlich auf Soziale Arbeit beziehen, erfolgt keine Rahmung.

Die Philosophie erweist sich insgesamt als Reflexionsdisziplin, die der Sozialen Arbeit eine Vertiefung ihrer Fundamente ermöglicht. Gleichzeitig regt sie neue Sichtweisen an. Der »Fall« wird möglicherweise aus seiner bisherigen Enge herausgehoben und in größere Zusammenhänge eingeordnet. Im Gegensatz zu Interpretationsverfahren der qualitativen Sozialforschung sind die hier praktizierten Fallanalysen nicht methodisch strukturiert, sondern stellen sich eher als Form offener Reflexion dar. Dies erscheint dem Verfasser als der Thematik angemessen.

Das Lehrbuch wendet sich in erster Linie an Studierende, Praktiker sowie Dozierende der Sozialen Arbeit. Durchgehend war die Bemühung leitend, die Inhalte verständlich darzustellen und durch Praxisbeispiele einen möglichst konkreten Zugang zu schaffen. Die jeweiligen Zugänge sind als beispielhaft zu werten. Die Leser können eigene Fälle in vergleichbarer Weise analysieren und interpretieren. Sicherlich werden mancher Leserin auch Interpretationsideen in den Sinn kommen, die hier nicht erfasst wurden.

Insgesamt erhebt der Verfasser nicht den Anspruch, eine eigene Theorie oder ein System zu entwickeln. Es geht um die Darlegung und Nutzung bestehender Ansätze. Als roter Faden lässt sich sicherlich aber die Intention erkennen, rein empirisch-wissenschaftliche Herangehensweisen in ihrem Alleinanspruch zu relativieren. Gleichzeitig wird der Mensch durchgängig als Wesen der Freiheit gesehen. Um dies zu verdeutlichen, werden allerdings als Kontrastfolie auch Positionen referiert, die die Freiheit in Frage stellen und das traditionelle Subjekt auf einen erforschbaren Objektzusammenhang reduzieren möchten.