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© 2011. Aus dem Dänischen von Dieter Faßnacht

Textgrundlage: Romaner og noveller. Band 6: „Paria’er“ – Tunge Melodier – Præster – Excentriske Noveller.

Det Danske Sprog- og Litteraturselskab 2010

Redaktion: Jesper Gehlert Nielsen og Jørgen Hunosøe

People’s Press København 2010

ISBN Band 6: 978-87-7055-393-3.

Vordere Umschlagseite:

Vilhelm Hammershøi (1864–1916): De høje vinduer (Die hohen Fenster).

Strandgade 25. 1913. Öl auf Leinwand. 64,5 x 52cm. Ordrupgaard, Charlottenlund.

København. (Wikimedia Commons, 14.11.2011)

Hintere Umschlagseite:

Niels Vinding Dorph (1862–1931): Portræt af Herman Joachim Bang,

1891. Det Nationalhistoriske Museum på Frederiksborg, Hillerød. Foto:

Frederiksborg/Hans Petersen

Umschlaggestaltung: Prof. Dr. Peter Stephan, Freiburg i. Br.

Herstellung und Verlag: Books on Demand GmbH, Norderstedt 2011

ISBN 978-3-8448-2875-7

Inhaltsverzeichnis

Vorwort des Übersetzers

„Parias“

Vorwort

I

II

III

Nachwort

Düstere Melodien

Erzählungen aus der Dämmerung

I

II

III

Fragment

Aus der Kirche

I. Innehalten

II. Vor dem Altar

Stille Existenzen

„Zu Hause“

„Geliebt und unvergessen“

Frauengeschichten

I

II

Nachwort

Pfarrer

Pfarrer

Berufung

Weh dem Menschen

Widerspenstig

Ein Hirte

Frauengestalten

Elna

„Célimène“

Danaë

„Das Fräulein“

En miniature

En miniature

Nach dem Ball

Liebe

25 °R.

Nachwort

Exzentrische Novellen

Franz Pander

Fratelli Bedini

Charlot Dupont

Nachwort

Anhang

Vorwort des Übersetzers

Im Jahre 1912 (in 2. Auflage 1920/1) erschien die erste und bis 2008 einzige dänische „Gesamt“-Ausgabe der Werke Herman Bangs (1857–1912) bei Gyldendalske Boghandel – Nordisk Forlag, København og Kristiania, gemeinhin als „Mindeudgave“ bezeichnet, in sechs Bänden (Værker i Mindeudgave i 6 Bind). Die Zusammenstellung der Werke ist – ausgenommen die Romane – ziemlich willkürlich, der Textbestand gilt als nicht zuverlässig. Bangs reiche journalistische Tätigkeit bleibt fast ganz ausgespart. Dies änderte sich erst, als Sten Rasmussen mit Unterstützung von „Det Danske Sprog- og Litteraturselskab“ in C. A. Reitzels Forlag 2006 alle 210 Reportagen Bangs, die von 1879 bis 1884 in der „Nationaltidende“ veröffentlicht wurden, herausgab. Die Ausgabe umfaßt vier Bände, deren letzter eine Fülle von Anmerkungen und Erläuterungen enthält. Damit war dem journalistischen Werk Bangs ein würdiger Gedenkstein gesetzt. Die Romane und Novellen erschienen 2008–2010 in einer textkritischen zehnbändigen Ausgabe von „Det Danske Sprog- og Litteraturselskab“, ebenfalls mit Anmerkungen und Nachworten der jeweiligen Bearbeiter. Damit liegt zum ersten Male eine verläßliche Textgrundlage vor, die auch deutsche Übersetzungen befruchten könnte. Sie ist Grundlage meiner deutschen Übersetzung.

Herman Bang war nach dem Ersten Weltkrieg bis Mitte der dreißiger Jahre in Deutschland ein bekannter und beliebter Autor. Seine Werke erreichten sechsstellige Auflagen. 1919 erschienen mit einer Einleitung von Felix Poppenberg in Bangs deutschem Hausverlag Samuel Fischer, Berlin, die „Gesammelten Werke“. Sie enthalten die Übersetzung des von Bang selbst bereinigten und gekürzten „Skandalromans“ „Hoffnungslose Geschlechter“ (nach der 2. dänischen Auflage von 1894), dann „Das weiße Haus“ und „Das graue Haus“, „Tine“ und „Ludwigshöhe“,„ Am Wege“, „Michael“ und die „Vaterlandslosen“, vierzehn Novellen und „Zehn Jahre“. Übersetzer sind nirgends genannt. 1926/7 erschienen die „Gesammelten Werke“ (Hrsg. Else v. Hollander-Lossow) erneut, jedoch stark gekürzt: „Hoffnungslose Geschlechter“ fehlte. Alle Novellen der vorherigen Ausgabe waren weggelassen, desgleichen „Zehn Jahre“. Wenigstens wurden dieses Mal die Übersetzer angegeben.

Das Dritte Reich setzte ab 1935 weiteren Ausgaben ein Ende (wohl auch durch die Zerschlagung des Samuel-Fischer-Verlags bedingt). Erst nach dem Zweiten Weltkrieg erschienen insbesondere seine Romane erneut, oft auch in alten Übersetzungen. Eine Sternstunde deutscher Übersetzungen stellt sicher die dreibändige Ausgabe „Ausgewählte Werke in drei Bänden“ dar, die beim Volkseigenen Betrieb Hinstorff Verlag Rostock im Jahre 1982 erschien und im selben Jahr vom Hanser Verlag München in Lizenz für das Gebiet der damaligen BRD übernommen wurde. Hier sind in Band 3 nicht nur einige Novellen, sondern auch einige Reportagen der „Wechselnden Themen“ übersetzt worden. Erstaunlich ist, daß die Erzählung „Am Wege“ nicht neu übersetzt, sondern in der Übersetzung von Emil Jonas (1898) wieder abgedruckt wurde. Dennoch kann man diese Ausgabe als den Höhepunkt deutscher Bang-Übersetzungen bezeichnen. Hingewiesen sei auch auf die im Manesse-Verlag in der Übersetzung von Aldo und Ingeborg Keel erschienenen Romane Bangs „Stuck“, „Am Weg“, „Tine“ und „Sommerfreuden“ (letztere gelegentlich auch als „Novelle“ oder „Erzählung“ bezeichnet.

Es sind jedoch nicht nur diese drei Werkausgaben vorhanden. Allein im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek Leipzig und Frankfurt am Main, der bis zum 1. Januar 1913 zurückreicht, finden sich über einhundert Titel. In Herman Bangs Hausverlag, Samuel Fischer in Berlin, erschienen allein von 1898 („Am Wege“ übersetzt von Emil Jonas) bis 1934 (Reihe: Romane der Heimat. Am Wege. Tine. Sommerfreuden) und (Reihe: Romane des Heimatlosen: Das weiße Haus. Das graue Haus. Die Vaterlandslosen) etwa zwanzig Titel aus seiner Feder (die beiden Auflagen der Gesammelten Werke nicht mitgerechnet; ferner handelt es sich nur um die Erstausgaben; unzählige Nachdrucke sind nicht mitgezählt). Weitere Novellen waren schon zu Lebzeiten Bangs in „Schorers Familienblatt“ und anderen Zeitungen (meist unter Pseudonym) erschienen. Es ist davon auszugehen, daß noch nicht alle seine Beiträge aufgefunden wurden und man hier noch auf Überraschungen stoßen könnte. Jedoch kam auch in jener Epoche Bangs reizvolle Kurzprosa zu kurz.

Als Beispiel für die kaum überschaubare Fülle an Übersetzungen und Übersetzern sei hier kurz die Übersetzungsgeschichte von „Hoffnungslose Geschlechter“ skizziert. Der dänische Text erschien 1880 und wurde innerhalb weniger Monate in zweiter Instanz vom Obersten Gerichtshof (Højesteret) wegen Unsittlichkeit verurteilt; das Buch wurde eingezogen und blieb von da an verschwunden. Bang gab 1884 eine stark bereinigte und gekürzte Ausgabe heraus, die zweite Auflage, die die Grundlage der einzigen deutschen Übersetzung von 1900 bildet (Übersetzerin war vermutlich Rosa Blumenreich). Die konfiszierte erste Auflage wurde bis heute nicht ins Deutsche übersetzt. Eine 1905 erschienene dritte Auflage berichtigte lediglich einige Druckfehler der zweiten Auflage und führte einige orthographische Korrekturen durch.

Folgende deutsche Ausgaben der „Hoffnungslosen Geschlechter“ wurden herausgegeben:

1. 1900: Hoffnungslose Geschlechter. Roman (Haabløse Slægter, 1880 [fälschlicherweise; es müßte 2. Aufl. 1884 heißen]) [Aus dem Dänischen übersetzt von? (Vermutlich war Rosa Blumenreich die Übersetzerin, was jedoch in der Jubiläumsbibliographie des Fischer-Verlages von 1986 nicht vermerkt ist)] 1. Auflage, 311 Seiten. Einbandentwurf von Otto Eckmann. Samuel Fischer, Berlin.

2. 1909: (bis 1917 in einer Auflage von 42 000 nachgedruckt). Diese Ausgabe ist ein unveränderter Nachdruck der Erstauflage von 1900. Sie erschien in der Reihe „Fischer-Bibliothek zeitgenössischer Romane, Band 8, und nennt ebenfalls keinen Übersetzer.

3. 1919: „Gesammelte Werke in vier Bänden“ (Hrsg. und Übersetzer??). Auflage unbekannt. Mit einer Einleitung von Felix Poppenberg. Übersetzung der „Værker i Mindeudgave“ 1912. Samuel Fischer, Berlin.

In folgenden Werkausgaben fehlt der Roman „Hoffnungslose Geschlechter“:

1926/27: „Gesammelte Werke“ (in Einzelausgaben), Samuel Fischer, Berlin.

1982: „Ausgewählte Werke“. VEB Hinstorff, Rostock.

1982: Lizenzausgabe der Rostocker Ausgabe bei Hanser in München (Hrsg. Heinz Entner).

Die umfassendste Übersicht über die Übersetzungen der Werke Herman Bangs ins Deutsche (bis 1955) findet sich bei:

Claudia Gremler. „Fern im dänischen Norden ein Bruder“: Thomas Mann und Herman Bang – Eine literarische Spurensuche. Göttingen 2003, S. 335–342. ISBN 3-525-20593-7. Mit freundlicher Genehmigung von C. Gremler und dem Verlag Vandenhoek & Ruprecht ist diese Übersicht im Anhang beigefügt.

2007 übersetzte ich „Zehn Jahre – Erinnerungen und Begebenheiten“ sowie eine Auswahl der gerade erschienenen „Vekslende Themaer“. Diese beiden Bücher erschienen zuerst im Internet bei „Gutenberg DE“, 2011, dann im Verlag „Books on Demand“, Norderstedt. 2008 stellte mir „Det Danske Sprog- og Litteraturselskab“ die Manuskripte der Bände 9 und 10 der neuen zehnbändigen Werkausgabe zur Verfügung, die ich ebenfalls übersetzt habe, anschließend erhielt ich die Manuskripte der Bände 6, 7 und 8. Daraus erklärt sich, warum die Übersetzung der Werkausgabe mit diesem Band 6 beginnt. Während die Bände 1–5, die erst 2010 erschienen, die Romane umfassen, enthalten die Bände 6–10 die Kurzprosa Herman Bangs, von denen große Teile noch nicht ins Deutsche übersetzt wurden. Bisher völlig unbekannt war die Erzählsammlung „Parias“, deren Manuskript erst 2002 von Dag Heede entdeckt wurde; sie wird hier erstmalig in deutscher Übersetzung abgedruckt.

In absehbarer Zeit sollen die bereits fertigen Bände 9 und 10 erscheinen, dann sollen die Bände 7 und 8 folgen. Auf längere Sicht beabsichtige ich auch die Herausgabe der Bände 1–5.

Leider hat sich in Deutschland kein Verlag gefunden, der bereit gewesen wäre, diese Werkausgabe zu verlegen. Jedoch ist es durch die Fortschritte der elektronischen Datenverarbeitung möglich geworden, das Werk im Verlag Books on Demand zu veröffentlichen. Dies bedeutet allerdings, daß ich selbst mich mit den Tücken der Textverarbeitung, der Typographie und der Buchgestaltung abmühen mußte und kein Lektor oder Korrektor seine schützende Hand über das Werk hielt. Gestaltungs- und etwaige Druckfehler bitte ich deshalb zu entschuldigen.

Neu ist, daß die Texte mit reichen Anmerkungen und Erklärungen versehen sind. Sie stammen zum kleineren Teil aus der dänischen Ausgabe, zum größten Teil jedoch aus eigener Feder. Die Recherchen waren nur aufgrund der „Digitalen Bibliothek“ und des Internets möglich. Anders wäre das umfangreiche Material weder zu finden noch aufzuarbeiten gewesen. Bei sprachlichen Eigenheiten Herman Bangs, die lexikalisch nicht zu klären waren, half mir wieder uneigennützig Lektor Sten Rasmussen, Mitglied des Beirates von „Det Danske Sprog- og Litteraturselskab“, mit Rat und Tat. Ihm gebührt mein besonderer Dank.

Sten Rasmussen, der Herausgeberin „Det Danske Sprog- og Litteraturselskab“ und allen Bearbeitern der Werkausgabe danke ich für die Überlassung der deutschen Rechte.

Mit der Herausgabe des ersten (= sechsten) Bands der Werkausgabe möchte ich des einhundertsten Todestages von Herman Bang gedenken, diesem bedeutenden Sohn Dänemarks, der so bitter von seinem Land verstoßen worden war.

Freiburg (Breisgau), 29. Januar 2012              Dieter Faßnacht

„Parias“

Drei Studien über Stiefkinder
ihres Geschlechts

Vous, critique, vous n’avez pas à me dire: »vous auriez dû prendre tel autre sujet«; vous avez à voir si du sujet, que j’ai choisi j’ai tiré tout le parti que je pouvais tirer.

Dumas fils: préface d’«une visite de noces«.

Vorwort

Ich glaube, es ist notwendig, diesen Studien über die Stiefkinder ihres Geschlechts einige Worte voranzustellen.

Es wird naturgemäß viele geben, die finden werden, daß diese Episoden allzu einfach sind und daß man nur allzu oft eine Geschichte gehört hat, die nur von zwei Rosen erzählt. Dieser Vielzahl möchte ich antworten, daß es nicht immer die längsten und kompliziertesten Romane sind, die die wahrsten sind, und daß es schließlich nichts Wahres und Besseres gibt als die Wahrheit.

Und es werden sich noch mehr finden, die sagen werden, diese Erzählungen seien unmoralisch. Ich weiß nicht, was ich denjenigen erwidern soll, außer daß ich ihnen sagen müßte, daß ich ihre Moral nicht verstehe und daß ich in Bezug auf mich nur eine Moral anerkenne: die der Liebe zum Menschen.

Zuletzt werden sich vielleicht einige finden – und diese werden am ehesten Recht haben –, die nicht sagen werden, diese Skizzen seien unmoralisch, aber daß es doch besser gewesen wäre, sie wären nie geschrieben worden. Diesen klügsten Kritikern will ich nur antworten, daß ich nicht ihrer Meinung bin und daß ich einen unwiderstehlichen Drang gefühlt habe, an dem menschenfreundlichsten aller Sätze festzuhalten, dem, daß Menschen niemals aufhören, Menschen zu sein.

15. Mai 1878 Herman Bang

Anmerkung des Übersetzers

„Vous, critique …“: „Sie, Kritiker, sollen mir nicht sagen: ‚Sie hätten ein anderes Thema wählen müssen‘; Sie sollten danach schauen, ob ich von dem Thema, das ich gewählt habe, jenen Teil behandelt habe, den ich behandeln konnte.“ (Dumas d. J., Vorwort zu „Une visite de noces“)

Es handelt sich um ein Zitat aus dem Vorwort zu dem Schauspiel in einem Akt „Une visite de noces“, 1871, des französischen Verfassers Alexandre Dumas des Jüngeren (1824–1895). In vielen aufsehenerregenden Romanen und Schauspielen behandelt Dumas d. J. die problematischen Seiten des Lebens in den eleganten Pariser Kreisen seiner Zeit, oft mit Schilderungen der sogenannten Halbwelt, d.h. der Welt der Kurtisanen und Edelprostituierten, z.B. im Roman „La dame aux camélias“, 1848 (auch Vorlage für Verdis Oper „La Traviata“), der doch eher eine romantische und idealisierte Darstellung ist als die kritischen Beschreibungen, die man in seiner späteren Verfasserschaft findet. „Une visite de noces“ handelt von den Folgen eines Ehebruchs. Der oben angeführte Leitsatz stammt aus Band V des „Théâtre complet avec préfaces inédites“ S. 15 (Band ISVI, Paris 1868–1880).

I

Er war ein Wunder von Duft, dieser Fächer aus Russisch Leder1.

Jedesmal wenn ich mich über die Logenbrüstung beugte, schlug mir der Duft von Leder entgegen, während die Blätter des Fächers mit einem knisternden Laut gegeneinander glitten.

Und es war eine überaus hübsche Hand, die den Fächer führte, eine kräftige, aber wohlgebildete Hand in einem bewundernswerten Handschuh.

Wenn ich das Opernglas auf die Logenbrüstung legte und mich an den Pfeiler zurücklehnte, stießen unsere Arme aneinander – natürlich zufällig. So etwas geschieht gelegentlich. Und sie nahm ihren Arm nicht weg.

Ich drehte mich also um, um nach der Dame zu blicken, die sich von einem Herrn am Arm stoßen und den Arm liegen läßt.

Sie war hübsch, klein, mollig, mit einem sehr kurzen Hals.

Ich verstehe mich nicht darauf, in Gesichtern zu lesen. Nichts desto weniger betrachte ich jedes neue Gesicht mit Interesse, besonders wenn es einer Dame gehört und hübsch ist.

Die Nase war klein und etwas aufragend, der Mund und das Kinn vielleicht hübsch, aber nicht besonders ansprechend. Verstünde ich mich auf Gesichter, hätte ich möglicherweise gesagt, daß dieser Mund keine hübsche Geschichte erzählen könnte. Die Stirn war nicht hoch und mit einem bezaubernden Hut bedeckt, der genauso elegant war wie die gesamte Abendgarderobe aus Gelb, Gelbbraun und Rot.

Aber ich verstehe nichts von Abendgarderobe: Es ist überhaupt merkwürdig, von wie wenig Dingen ich etwas verstehe.

Die Augen waren groß und glänzend. Unter den Augen war dieser feine Strich gezogen, der – richtig gezogen – solche Wunderdinge zu erschaffen vermag. Die Augenbrauen waren vollendet und ganz wie vom Pinsel eines Meisters gezogen.

Es ist in Dänemark erstaunlich selten, daß Damen sich schminken – es ist wirklich allzu selten.

Ich lehnte mich wieder zurück.

Wenn ich so dasaß, konnte ich einen warmen Atem auf meiner Wange spüren. Mir begann diese Stellung zu behagen. Manchmal berührte der Fächer aus Russisch Leder leicht mein Kinn – mein Kinn ist unzweifelhaft sehr hübsch –, und ich sehe nie etwas Unangenehmes darin, daß ein wohlduftender Fächer, von einer hübschen Hand geführt, mein Gesicht berührt, oder darin, den warmen Atem einer hübschen Dame auf meiner Wange zu verspüren.

Man spielte eines dieser Stücke, die man in diesem Theater im September und Mai spielt2, vielleicht weil man annimmt, daß Kinder in diesen Monaten nicht ins Theater gehen3. Ich würde mir in diesem Fall aufrichtig wünschen, daß man sich nicht irrt, denn die Stücke sind sehr französisch4.

Aber zugleich sehr lustig.

Es gibt in diesen Stücken genauso viele Zweideutigkeiten wie Repliken.

Es war natürlich reiner Zufall, daß unsere Augen sich trafen; die Dame verstand die ihrigen bewundernswert zu gebrauchen. Es waren keine zögernden oder suchenden Blicke: Ihre Augen weilten einen einzigen Augenblick auf meinem Gesicht – aber in diesem Augenblick nahmen sie einen wunderbar strahlenden Glanz an, ein feuriges Aufleuchten.

Sie ging nach dem zweiten Akt mit ihrer Freundin, einer dieser zweitrangigen Damen, die davon leben, mit jemandem befreundet zu sein, der an der Spitze steht.

Ich hatte einen Blick erwartet, bekam aber keinen. Ein ziemlich lauter Lärm mit den Logenstühlen war für das Publikum berechnet und nicht speziell für mich. Übrigens sind es nicht nur Damen mit getuschten Wimpern, die bemerkt werden wollen.

Ein starker Duft von Russisch Leder schlug mir entgegen, als die Damen sich erhoben.

Ich fühle mich immer in einer Wohnstube wohl, deren Luft vom wunderbaren Duft des „Eau de Nil“5 geschwängert ist, der so unendlich gedämpft und so unendlich keusch ist. „Cuir de Russe“ und „Magnolia“ sind dagegen so untrennbar von den halbdunklen Boudoirs mit ihren vorgezogenen Gardinen zu trennen wie eine hellrote Lampe von einer Decke mit Nymphen oder Amorinen6 von einem Bett mit seidenen Decken.

Die Dame mit dem Fächer aus Russisch Leder hatte ihr Opernglas auf der Logenbrüstung vergessen. Es gibt Damen, die unbegreiflich vergeßlich sind, aber ein Herr hat nicht das Recht, unhöflich zu sein, weil eine Dame vergeßlich ist.

Ich ergriff also das Opernglas, ein zauberhaftes Pariser Opernglas mit einem Namenszug in Perlmutt.

Sie standen noch im Wandelgang. Die Überraschung, als sie entdeckte, daß sie ihr Opernglas vergessen hatte, war vollendet. Ihr Lachen war genauso verzaubernd wie sie selbst.

„Könnten Sie mir einen Wagen besorgen? – Ich bin wirklich unglaublich vergeßlich – jetzt habe ich sogar vergessen, einen Wagen zu bestellen, und es ist sehr naß auf der Straße.“

Sie zeigte lachend zwei kleine, winzige Füße und sah so hilflos aus, als hätte sie nie die schlichte Kunst des Gehens erlernt.

Es war mir natürlich das größte Vergnügen, einen Wagen zu holen.

Ich half den Damen hinein und wollte die Wagentüre schließen.

„Wie, Sie kommen nicht mit! Der Tee, mein Lieber, steht zuhause auf dem Tisch.“ –

Es war keine lange Fahrt. Die Freundin stieg am Dosseringen7 aus, nachdem sie mir dreimal versichert hatte, daß auch sie einen vorzüglichen Tee habe.

„Es ist ein sehr liebenswürdiges Mädchen“, sagte meine sandfarbene Begleiterin.

„Aber“ –

Sie lachte. „Sie wünschen ein Aber?“

„Ich hatte das Gefühl.“

„Nun, Sie haben recht, sie ist ein sehr liebenswürdiges Mädchen, aber ziemlich ordinär.“

Wir hielten in der Nörrebrogade8.

Sie entschwand, um sich umzukleiden, das heißt, um ein Negligé9 anzuziehen, und ich blieb also allein.

Die beiden Zimmer, aus denen ihre Stundenwohnung bestand, waren mit raffiniertem Geschmack ausgestattet. Eine Unzahl von Portieren, Gardinen und Decken. In der Ecke eine Alabasterfigur der Venus, die dem Bade entsteigt. Mitten im Zimmer am Kopf eines kirschroten Sofas eine Säule mit dem Haupt der Venus von Milo. Und über allen diesen Blumen, Statuetten und Pflanzen das gedämpfte Licht einer roten Lampe und die Luft durchsäuert von dem fast erstickenden Wohlgeruch von „Goldstream“.

Ich sah sofort, daß die Herrscherin des Hauses auf dem neuesten Stand der Mode sein mußte.

Auf einem Tischchen am Sofa lag ein aufgeschlagenes Buch. Der starke Duft des „Cuir de Russe“ zeigte, daß man heute noch in ihm gelesen hatte. Es war – nun es war ein sehr heißblütiger lyrischer Dichter – gleichgültig wer! Es gefällt vielleicht nicht allen Dichtern zu wissen, daß sie die Lieblingsdichter solcher Frauen sind.

Sie kam zurück. Wenn überhaupt möglich war sie in diesem Negligé aus weißem Pikee10 noch schöner als im Theater. Sie hatte eine dunkelrote Rose im Haar – übrigens gebe ich gerne zu, daß ich nicht geglaubt hätte, daß man Blumen im Haar trüge, wenn man ein Negligé anhätte – aber sie tat es, und es schmeichelte ihr sehr.

„Sie haben sich meine Wohnung angesehen?“

„Ich habe sie bewundert.“

„Je mehr, desto besser. Kommen sie nun, um meinen Tee zu bewundern!“

Wir gingen in das andere Zimmer hinein, wo der Teetisch gedeckt war.

„Haben Sie mich wirklich erst heute abend kennengelernt?“

„Ja, leider.“

Diesen Frauen muß man immer schmeicheln. Sie glauben zwar nicht an die Schmeichelei, die man ihnen zuflüstert, aber es stößt sie vor den Kopf, wenn sie ausbleibt.

„Aber jetzt kennen Sie mich. Ich schöpfte gleich Vertrauen zu Ihnen – noch ein Ei?“

„Und ich, Fräulein, merkte sofort, daß ich leicht in Gefahr käme, mich in Sie zu verlieben.“

„Vielleicht.“ Sie lachte.

„Was sind Sie?“

„Ein Mensch ohne Vermögen.“

„Danach habe ich nicht gefragt. Solange ich jung und hübsch bin, kann ich immer dumme Goldfische finden.“

„Verzeihung!“

„Ich habe nichts zu verzeihen – Ihre Antwort war so natürlich.“

„Nein, bitte, es war nur unverschämt.“

„Sicher nicht. Sie meinen doch nicht, was Sie sagen. Ein Herr aus meiner Bekanntschaft behauptete einmal in einer großen Herrengesellschaft, ich sei heftig errötet und verwirrt gewesen, weil mich ein junger Mann am heiterhellen Tage auf der Straße gegrüßt habe. Ihm gab ich eine Ohrfeige.“

Ich antwortete nichts, und sie saß einige Augenblicke still da, wie von der Erinnerung, bei der sie verweilte, peinlich berührt.

„Aber ich war im Unrecht. Es ist ja sehr selten, daß Leute mich grüßen – tagsüber. Abends, ja, dann sind sie stolz darüber, einen Blick von mir zu erhaschen. Er bat mich außerdem um Verzeihung, indem er mir sechs Flaschen ungarischen Champagners schickte. Ich habe sogar noch eine davon.“

Der Tisch wurde abgedeckt, und ich bat, in ihrer Gesellschaft eine Flasche Champagner trinken zu dürfen.

„Nein, danke. Ich möchte Sie bitten, eine in meiner Gesellschaft zu trinken.“

Ich weiß nicht, warum wir nicht über dieselben Dinge sprachen, über die man sonst mit solchen Frauen spricht: über ihre Garderobe, ihre Augen und ihre Verehrer.

Ich habe einmal gehört, wie ein junger Mann solch eine Dame fragte, ob sie Trebelli in „Martha“11 gehört habe – aber er war auch noch sehr jung.

Wir sprachen vertraut miteinander, und wir redeten über ernste Dinge.

Sie lag halb auf dem roten Sofa. Ihr Haar, dessen Zöpfe sich aufgelöst hatten, lag über dem Sofa wie dunkle Wellen. Ihr Gesicht war nach oben gewandt, so daß das rote Licht hell auf ihre Gesichtszüge fiel.

„Manchmal“, sagte sie, „stört es mich doch, daß mich auf der Straße niemand grüßt – keiner von all diesen Leuten, die ich doch so gut kenne. Ich habe dann und wann gedacht – ach, man bekommt oft solche törichten Gedanken – daß ich viel dafür gäbe, daß eines Tages alle meine Bekannten mich grüßten. Es gab einmal eine Zeit, wo dies alle taten.“

Ihre Stimme hatte einen merkwürdigen, bebenden Klang angenommen, der die Wörter wie ein trauriges leises Flüstern aus den geöffneten Lippen gleiten ließ.

„Wo sind Sie geboren, Fräulein?“

„Wo ich geboren bin?“

Sie wiederholte meine Worte mechanisch, ohne zu wissen, was sie sagte.

„Wo ich geboren bin, fragen Sie? Ich bin auf dem Lande geboren. Sie werden es wohl kaum glauben, aber es gab eine Zeit, wo ich von der Welt nichts anderes kannte als das Dorf, wo meine Eltern wohnten – eine Zeit, wo ich einen Tanz im Gasthaus als das größte Glück ansah und den Pfarrer als den vornehmsten Mann im Land. Nicht wahr, das glauben Sie nicht? Und doch ist es wahr.

Meine Eltern waren wohlhabend, und sie gaben mir eine Erziehung, die besser war als die, welche die anderen Mädchen meines Standes im allgemeinen empfangen. Als ich siebzehn Jahre alt war, kam ich auf einen Gutshof, um die Arbeit in der Molkerei zu erlernen. Damals war ich, ganz sicher, sehr hübsch. Man ist vielleicht immer schön, wenn man siebzehn Jahre alt ist und die Welt nicht kennt.

Aber, wie dumm ich bin! Ich kenne Sie überhaupt nicht, und Sie können sich nicht im geringsten für mich interessieren, und doch sitze ich hier und erzähle Ihnen meine Geschichte – eine Geschichte, die so einfach ist.“

Ich mußte nicht lügen, um ihr zu versichern, daß selbst die schlichteste Geschichte aus ihrem Munde mich interessierte – wen würde es wohl nicht interessieren?

„Ich glaube, ich wäre glücklicher gewesen, wenn ich weniger hübsch gewesen wäre“, sagte sie kurz darauf, „ja ich wäre glücklicher gewesen, viel glücklicher.

Der Gutshof, auf den ich kam, war Hauptsitz eines großen Guts, das sich im Besitz einer unserer adeligen Familien befindet. Der Besitzer war Witwer und betrieb den Hof selbst; er lebte sehr zurückgezogen, und den ganzen ersten Winter, den ich auf dem Hof war, glaube ich nicht, daß er andere Menschen bei sich sah als einige Nachbarn, die genauso alt und ergraut waren wie er selbst. Aber selbst wenn man noch so viel im Hauptgebäude getanzt hätte, hätte ich sicher kaum etwas davon in der Molkerei bemerkt.

Der Beginn des Sommers verging auf gleiche Weise. Ach, Sie glauben nicht, wie viel Butter meine Hände geknetet haben!“

Und sie streckte lachend ihre Hände zu mir hin.

„Das kann man gar nicht glauben!“

„Nun habe ich auch diese Kunst vergessen.“ Sie leerte ihr Glas und fuhr fort: „Manchmal kann ich es nicht sein lassen, bei dem Gedanken daran, wie ich in jener Zeit lebte, zu lachen. Wie ich arbeitete – ach, ich stand auf, wenn ich nun zu Bett gehe. Und wie grob meine Bettlaken damals waren!

Dann kamen eines schönen Tages Fremde auf den Hof. Es waren der Sohn des Hauses und einige seiner Freunde aus der Stadt. Es vergingen mehrere Tage, bis ich der Fremden gewahr wurde, und ich war sehr neugierig, sie zu sehen – denn der ganze Hof redete von nichts anderem, und die Dienstmädchen waren im siebten Himmel vor Begeisterung über ihr gutes Aussehen und ihre Eleganz. Ich ertappte mich selbst dabei, während ich dastand und Butter knetete, wie ich mich danach sehnte, die fremden Junker zu treffen, und das war nicht so verwunderlich. Ich hatte damals nur wenige junge Männer zu sehen bekommen – fast keinen, glaube ich – und außerdem war ich nun achtzehn Jahre alt. Hätte ich sie doch nie gesehen!

Die fremden jungen Herren hatten ihre städtischen Sitten mit sich gebracht, und morgens, wenn ich aufstand und das Fenster meiner Kammer öffnete, hörte ich oft Gesang und munteres Reden aus den Zimmern im Hauptgebäude, wo sie wohnten.

Es war der Sohn des Hauses, der sang, und er hatte eine wunderschöne Stimme.

Es war an einem so frühen Morgen, daß ich ihn das erste Mal sah. Ich war in den Garten gegangen, wo ich oft morgens hinging, um ein paar Rosen zu stehlen – dort gab es so viele, daß man ein paar nicht vermißte! – ich war gerade damit beschäftigt, ein paar wunderschöne dunkelrote Rosen zu pflücken und merkte nicht, daß sich jemand näherte.

Er war es.

Als er neben mir stand, wollte ich zuerst weglaufen, aber in meiner Verwirrung blieb ich an Ort und Stelle stehen und warf die Rosen hinter mich. Oh, wie deutlich ich mich an das alles erinnere! Er nahm den Hut ab und lächelte.

„Sie pflücken Rosen“, sagte er, „lassen Sie sich nur nicht stören!“

„Ich bitte um Entschuldigung – aber – –“

„Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Für wen sollten wohl die Rosen blühen, wenn nicht für Sie?“

Ich errötete. Ich kann noch rot werden, und damals, ach, damals errötete ich, wenn man mich bloß ansah.

„Darf ich Ihnen eine pflücken?“

Ich weiß noch, daß die Leute, die Romane schreiben, von der Liebe erzählen, die beim ersten Blick entsteht. Ich für meinen Teil habe solch eine Liebe zu jemanden nie bemerkt, aber ich verstehe ja auch nichts – vom Leben wie die Romanschreiber.

Am ersten Morgen, als ich Falk sah, fühlte ich – glaube ich – nichts anderes als Neugier und Erstaunen – dann wunderte ich mich auch über seine Stimme! Sie war so merkwürdig schwach, und doch klang sie wie Musik. Erst von da an lernte ich zu lieben.

Nach diesem Morgen kam er jeden Tag und trank Milch in der Molkerei – zur großen Verwunderung der alten Melkerin, die meinte, er habe keine Milch getrunken, seit er in Windeln lag. „Und seitdem ist er groß geworden“, sagte sie. Aber ich ahnte vielleicht doch, warum er kam.

Ich war es immer, die ihm das Glas reichte, und als Dank schenkte er mir jeden Tag eine Rose ‚für die Schönste‘, wie er sagte.

Am Anfang wunderte ich mich, daß er kam, dann wunderte und betrübte es mich, wenn er ausblieb.

Wie schön es doch ist zu lieben, so wie ich ihn liebte.

Wie ich mich an jede Einzelheit erinnere – wie ich mich doch an alles genau erinnere!“

Sie schwieg einen Augenblick und hielt die Hände vor die Augen.

„Nein, ich bereue es nicht – ich kann es nicht bereuen! Glauben Sie mir, zu leben bedeutet nur zu lieben!

Eines Tages brachte er mir eine gelbe Rose. Ich habe sie immer noch – aber nun ist sie verwelkt. ‚Für diejenige, die ich liebe‘, sagte er und drückte einen Kuß auf sie, indem er sie mir gab. Meine Hand zitterte, als ich sie nahm, und an dem Tag war nicht ich es, der ihm die Milch reichte. Ich lief von ihm weg in meine Kammer. Dort küßte ich seine Rose, und wie rot ich wurde, als ich sie küßte! Mir schien, die Rosenblätter seien seine Lippen, und sie wären es, die ich küßte. Aber seine Lippen waren ja tausendmal heißer und brennender. Dann fühlte ich, daß ich ihn liebte und mich hingeben konnte – –.

Aber wie häßlich ist es von mir, Sie mit diesen dummen, sentimentalen Erinnerungen zu langweilen!“

„Fahren Sie fort Fräulein. Ich bitte sie, es langweilt mich wirklich nicht.“

„Aber solche Geschichten sind immer dieselben und nur neu für denjenigen, dem sie widerfahren.“

„Und als sie dann fühlten, daß Sie ihn liebten?“

„Nein, ich merkte es nicht, denn ich wußte nicht, was es heißt zu lieben. Ich ahnte es – oder ich ahnte etwas – etwas, das ich vorher nicht gekannt habe. Ich wußte, daß seine Augen brennend auf den meinigen verweilten – daß ich zitterte, wenn ich seine Hand berührte, und bebte, wenn er mich mit seinem Knie berührte. Manchmal, wenn er vor mir gebeugt stand, schien es mir, daß sein Haar so weich sei, und ich dachte, es müsse das größte Glück sein, die Hand über seine Stirn gleiten zu lassen – – – – und beständig fragte ich mich selbst, was dies alles bedeutete, und warum meine Lippen sich nach seinen Lippen sehnten und brannten. – – Dann trafen sie sich einmal – ich weiß nicht, wie es geschah.

Nach diesem Tag vermied ich es, ihn zu treffen. Ich blieb drinnen und sagte, ich sei krank. Ich tat alles, um ihn nicht zu sehen, und doch, wie ich ihn liebte! Er schrieb an mich – Brief auf Brief. Er schrieb, er liebe mich, er liebe mich und wolle mich heiraten.

Ich antwortete ihm nicht, aber die Schrift in seinen Briefen wurde von meinen Tränen verwischt.

Schließlich wurde ich wirklich krank und mußte das Bett hüten.

Als ich so alleine dalag, schloß ich meine Augen und sah seine Gestalt. Ich glaube nicht, daß er hübsch war, aber sein Blick war so durchdringend und sein Lächeln voll überfließender Leidenschaft. In meinen Träumen sah ich seine halb geöffneten Lippen sich an den meinigen festsaugen, und ich fühlte einen brennenden Atem meine Stirne versengen.

Solche Träume beraubten mich meiner Vernunft.

Und dann kam er eines Abends, als meine Türe offen stand, und kniete an meinem Bett nieder und bat mich, auf seine Ehre und seine Liebe zu vertrauen. Er bedeckte mein Gesicht mit Küssen, flüsterte zu mir mit seiner weichen, eigentümlichen Stimme, beugte sich über mich und weinte und schluchzte – – und schlang die Arme um meinen Leib. Und ich schloß meine Augen. Es war Seligkeit – seine glühenden Lippen an den meinigen zu fühlen, seine stöhnenden Atemzüge zu hören, die Kraft seines Armes zu spüren – das war das Leben.

Ich zweifelte nicht mehr – ich gab mich hin. Ich liebte ihn, glauben Sie mir, ich liebte ihn.

Ich hatte keinen eigenen Willen mehr: Er allein bestimmte alles. Ich sehnte mich nach ihm, wenn er weg war, und schwelgte vor Freude, wenn er bei mir war – und er kam fast jeden Abend. Manchmal fragte ich, ob er mich heiraten wollte; er verschloß meinen Mund mit einem Kuß. Und ich war froh, nur zu sehen, daß seine Augen an mir hingen und daß seine Lippen meine Küsse aufsogen. Ich dachte, so viel Liebe währte ewig.

Eines Abends sagte er, wir müßten nun abreisen. Hier sei es unmöglich für ihn zu heiraten. Er sei erst einundzwanzig Jahre alt, und sein Vater sei sehr streng. Wenn ich zuerst von hier nach Kopenhagen führe, wolle er nachkommen, und dann könnten wir hier heiraten.

Ich bekam unbeschreibliche Angst, aber ich vertraute ihm.

Eines schönen Tages verließ ich also Jütland. An dem Morgen, als ich abreiste, ahnte ich mit Schrecken, worauf ich mich eingelassen hatte – aber ich reiste ab, weil ich ihn liebte, weil ich nicht länger einen eigenen Willen hatte und weil ich nicht anders konnte. Falk stand auf einer Anhöhe im Garten und winkte auf Wiedersehen.

So kam ich hierher nach Kopenhagen

Falk kam, wie er versprochen hatte, ein paar Tage später.

Wir wohnten im Hotel und waren immer zusammen, entweder alleine oder mit seinen Freunden. Manchmal sehnte ich mich zurück nach Jütland, aber dieses Leben ohne Arbeit war doch so berauschend und so glücklich. Drei Monate vergingen. Ich fragte nicht mehr, wann wir heiraten würden, aber manchmal überkam mich eine fürchterliche Angst.

Es ging, wie es immer geht. Eines schönen Tages hatte Falk aufgehört, mich zu lieben. Aber er reiste unter dem einen oder anderen Vorwand ab und sagte, er werde in vierzehn Tagen zurückkehren.

Als er abreiste, wußte ich, daß er nicht mehr zurückkäme. Aber ich tat, als glaubte ich dies und sagte ihm lächelnd auf Wiedersehen. Außerdem hofft man immer, wenn man liebt – und ich liebte ihn noch.

Das Hotel war für einen Monat im voraus bezahlt. Die vierzehn Tage vergingen, ohne daß Falk zurückkehrte. Alle wußten, daß er mich verlassen hatte und daß er für mich nichts getan hatte.

Es fehlte jedoch nicht an Angeboten, mir zu helfen – –

Es waren bereits über drei Wochen vergangen, und der Wirt hatte mir mehr als einmal bedeutet, daß sein Haus nur Leuten offenstehe, die bezahlen könnten.

Eines Abends, als ich, wie gewöhnlich, eine Fahrt in einem der Wagen des Hotels machte, ließ ich den Kutscher über Toldboden12 zur Langelinje13 fahren.

Auf Toldboden sah ich meinen Vater. Er war wohl mit dem Dampfschiff gekommen, das gerade angelegt hatte – ich schrie vor Angst auf, aber er hatte mich nicht gesehen.

Am selben Abend reiste ich nach Helsingör14 als Geliebte des Grafen Lagerhjelm – lieber das als das andere, und zu sterben hatte ich nicht den Mut.“

Sie trank ein neues Glas Champagner, und ihre Stimme bekam einen härteren Klang, als sie fortfuhr:

„Außerdem bin ich jetzt sehr glücklich. Hier ist es sehr schön, hier bei mir, und was das andere betrifft – nun auch wir gefallene Frauen, wie man uns nennt, können Menschen sein.“

Ich weiß nicht, ob ich zugeben darf, daß eine rebellische Träne auf meine Hand herabfiel – ich weine doch wirklich nicht oft.

„Wie viel uns doch widerfährt“, sagte sie nach einigen Minuten Stille. „Neulich abends in der Dämmerung klingelte es zum Beispiel an der Tür. Das Mädchen machte auf und kam äußerst erstaunt herein und sagte, es sei eine verschleierte Dame, die mich gerne zu sehen wünsche, aber sie wolle ihren Namen nicht preisgeben. Ich glaubte, es sei ein Spaß einer meiner Freundinnen, Frauen wie ich, und bat sie hereinzukommen.

Ich kannte sie nicht, und sie war sehr dicht verschleiert. Ich fragte natürlich, ob ich etwas für sie tun könne und bat sie, Platz zu nehmen.

Sie antwortete mit einer milden, melancholischen Stimme, daß sie nur gekommen sei, um mich zu sehen; sie bat darum, sie wieder gehen zu lassen, unbekannt, wie sie gekommen war. Während sie sprach, sah sie mich durch ihren Schleier unverwandt an, und es war, als wollte sie sich meine Züge in ihrer Erinnerung einprägen.

Und als ich sie hinausbegleitete, beugte sie sich plötzlich hinab und küßte mich auf die Hand.

Ich dachte den ganzen Abend nur an diese arme Dame, die mich auf die Hand geküßt hatte und mich unverwandt angesehen hatte. Es kamen einige Herren und tranken ein paar Flaschen Champagner. Sie haben mich sicher nicht unterhaltsam gefunden.

Am Tag darauf machte ich zufällig einen Ausflug. Ich mußte immer noch an die verschleierte Dame zu denken. Sie hatte bei mir so viele Erinnerungen geweckt –

Oben in der Östergade15 war vor einem Omnibus16 ein Pferd gestürzt. Es ist merkwürdig, daß dies nicht jeden Tag geschieht, denn es ist doch eine schreckliche Tierquälerei, zwei Pferde vor solch einen schweren Kasten voll mit Menschen zu spannen. Mein Wagen mußte anhalten, aber von der entgegengesetzten Seite, von der Pilestræde17 her, kam eine elegante Kutsche in voller Fahrt. Die Pferde scheuten, und die Dame erhob sich erschreckt und riß den Schleier vom Gesicht.

Es war die Dame von gestern.

Als sie mich erblickte, schlug sie den Schleier schnell hinab. Aber ich hatte sie bereits erkannt.

Es war ein leichtes für mich zu erfahren, daß sie die Frau des Großhändlers P. war. Ich hatte damals ein Verhältnis mit diesem Großhändler P. Nun, er ist sehr reich, und ich hatte alte Schulden. Als ich nach Hause kam, schrieb ich ihm.“

„Sie schrieben!“

„Daß er eine Frau habe, die ihn liebe, und die überdies schöner sei als ich. Es sei deswegen dumm von ihm, mich zu besuchen, und unverantwortlich von mir, ihn zu empfangen.“

„Das war sehr gut!“

„Oh, mein Lieber, man macht so viel falsch, daß man auch einmal danach trachten muß, etwas Gutes zu tun. Diese Blumen sind ein Geschenk von Frau P. Nun ist sie sehr glücklich.“

Sie erhob sich vom Sofa und sah auf die Uhr.

„Aber es ist schon spät, und wir sind beide gewiß müde: Sie vom Zuhören und ich vom Erzählen. Auf Wiedersehen!“

Ich wollte ihr zum Abschied einen Kuß geben.

„Nein, nicht heute abend, mein Freund!“

Damit schob sie mich aus der Tür.

Auf dem Wege nach Hause dachte ich daran, wie wenig ich von Gesichtern verstand, und am Tag darauf schickte ich ihr einen Korb mit gelben Rosen.

Kürzlich aßen wir zusammen bei Blanches Nachfolger18 und tanzten im Figaro19, aber meine arme Freundin war nicht so schön wie damals, als sie unter der hellroten Lampe lag und ihre Geschichte erzählte.

Anmerkungen

1. Russisch Leder, auch Juchtenleder: Leder aus der Haut von Rindern oder Kälbern. Ursprünglich in Rußland hergestellt. Das Juchtenleder ist sehr fest, dicht und geschmeidig; es wird mit Birkenteeröl eingerieben und riecht deshalb sehr stark. Es wurde seit dem 18. Jahrhundert auch in Deutschland hergestellt, wo es als Obermaterial von Stiefeln und Schuhen, aber auch für Dekorationswaren (z.B. Fächer), Bucheinbände und Geldbörsen benutzt wurde.

2. Mai und September: Die Theatersaison begann im September und endete im Mai.

3. „Daß Kinder … nicht ins Theater gehen“: In der Handschrift findet sich folgende Variante, die Bang nicht getilgt, sondern in Klammern gesetzt hat: „(Vom Standpunkt der Moral aus gesehen ist es indessen der unverzeihliche Fehler bei Stücken dieser Art, daß sie zugleich unterhaltsam sind – sogar sehr unterhaltsam, und ich finde es deshalb nicht nur entschuldbar, sondern sogar natürlich, daß man sie aufführt – in den Monaten, wo anzunehmen ist, daß die Kinder das Spielen in frischer Luft dem Stillesitzen auf einem aufgeheizten Zuschauerplatz vorziehen.)“ In den Kopenhagener Sekundärtheatern „Casino“ und „Folketheatret“ hatte man schon früh damit begonnen, kinderfreundliche Stücke aufzuführen, und man hatte sich viel Mühe gegeben, sich an alle Altersgruppen und Gesellschaftsschichten zu wenden.

4. „Die Stücke sind sehr französisch“: Bis 1889 hatte das Königliche Theater das Monopol, die literarisch schwereren Dramen zu spielen, weshalb sich die Sekundärtheater mit den leichteren oder volkstümlicheren Stoffen begnügen mußten, meist Vaudevillen, Lustspielen und Operetten. Viele dieser Stücke waren französischen Ursprungs.

5. „Eau de Nil“, „Cuir de Russe“ und „Magnolia“: verschiedene Parfum-Marken.

6. Amorinen: kleine Liebesgottstatuen.

7. Dosseringen: Uferstraße, die auf der Westseite des Peblinge- und Sortedam-Sees verläuft.

8. Nörrebrogade: Hauptstraße des Stadtteils Nörrebro; beginnt bei Dronning Louises Bro (Nörrebro Runddel) und führt am Assistens Kirkegaard vorbei bis Nörrebro Station.

9. Negligé: leichter Morgenmantel

10. Pikee, der: Baumwollgewebe mit erhabener Musterung.

11. „Trebelli“ in „Martha“: Zélia Trebelli-Bettini, eigentlich Gloria Caroline Gillebert (1838–1892), französische Sopranistin deutscher Herkunft, die als Nancy in der romantisch-komischen Oper in vier Akten Martha oder Der Markt von Richmond, 1847, des deutschen Komponisten Friedrich von Flotow (1812–1883) auftrat. Sechs Aufführungen fanden im Februar/März 1878 mit ihr im Königlichen Theater statt. Dort trat sie ebenfalls in mehreren anderen Vorstellungen in den Jahren 1877/8 auf.

12. Toldboden: Führt von Nyhavn in nördlicher Richtung zwischen Amalienborg und Amaliehave und biegt danach links zur Bredgade (Kunstindustrimuseet) ab. Damals Anlegestelle der Passagierdampfer Kopenhagen – Kiel.

13. Langelinje: Promenade östlich des Kastells.

14. Helsingör: See- und Handelsstadt etwa 60km nördlich von Kopenhagen am Öresund gelegen. 1901 14 000 Einwohner, 2008 34 000 Einwohner. Fähren nach Helsingborg (Schweden). Bis 1857 war Helsingör die Zollstelle zur Erhebung des Öresundszolls. Seit 1425 Stadtrechte. Schloß Kronborg schützte die Nordeinfahrt in den Öresund. Herman Bang verbrachte oft die Sommerferien im nahegelegenen Badehotel Marielyst. Im Mittelalter war Helsingör eine bedeutende Stadt im Ostseeraum; wahrscheinlich spielte deswegen Shakespears Hamlet in Helsingör und Schloß Kronborg.

15. Östergade: Der vornehmste Teil des Strøg, die Strecke zwischen Højbro Plads und Kongens Nytorv.

16. Omnibus: Pferdeomnibus für den öffentlichen Personennahverkehr, auch privaten Güterverkehr. Seit 1841 fuhr in Kopenhagen die erste – einigermaßen fahrplanmäßige – Pferdeomnibuslinie zwischen Österbro – Sorgenfri – Charlottenlund. Ab ca. 1850 kamen weitere Linien nach Frederiksberg und Christianshavn hinzu. 1863 wurde dann die erste Pferdestraßenbahn zwischen Frihedsstøtten (beim Hauptbahnhof) und Frederiksberg Runddel eingerichtet. Betreiber war eine Londoner Straßenbahngesellschaft („Copenhagen Railway Company Ltd.“).

17. Pilestræde: Querstraße zur Östergade.

18. Blanches Nachfolger: keine näheren Informationen verfügbar.

19. Figaro: Tanzsalon in der Vesterbrogade, 1870 an der Stelle erbaut, wo das Vergnügungsetablissement „Thors Hal“ stand.

II

„Hansen!“

„Ja, gnädiges Fräulein!“

„Stellen Sie die Kaffeetasse weg!“

Hansen erhebt sich von ihrem Platz am Fenster und holt griesgrämig die Tasse. Sie ist nicht schön, diese Hansen. Ein grobes, sehniges Gesicht mit vorstehenden Wangenknochen und kleinen, stechenden Augen unter einem Paar großen buschigen Augenbrauen, die sich über einer etwas jüdisch gebogenen Nase vereinen. Eine kantige Figur mit eigentümlich viereckigen Schultern und großen Füßen, die – wie große Platten – deutlich unter einem allzu kurzen, abgeschnittenen braunen Kleid mit einer Verzierung unten und unter verschlissenem schwarzem Besatz eines unbeschreiblich verfilzten und glänzenden Stoffs zu Tage treten. Um das Gesicht herum schwarzes, gekräuseltes, ungekämmtes Haar. Und in diesem Gesicht eine unbeschreibliche Griesgrämigkeit. Wenn sie lächelt, ist es ein breites, kurzes Lächeln, das einem genauso unheilverkündend vorkommt wie ihre Griesgrämigkeit. Ihre Hände sind mager, rot und rissig. Gibt man ihr Geld, schließen sich die langen Finger auf eine eigentümliche Weise, die an die Arme gewisser Seetiere erinnert, die sich zusammenziehen, wenn sie die Beute ergriffen haben.

„Ich langweile mich, Hansen.“

„Das Fräulein sollte ein bißchen häkeln.“

„Das ist genauso langweilig.“

Hansen zuckt mit den Schultern und geht auf ihren Platz am Fenster zurück.

Das Fräulein lehnt sich im Stuhl zurück und gähnt.

Man könnte sie für dreißig Jahre alt halten. Vielleicht ist sie aber erst fünfundzwanzig. Aber es ist für Damen immer ein Unglück, älter auszusehen als sie sind, und für Damen, die am Heiligabend im Negligé darauf warten, daß der eine oder andere Herr von der Straße kommt, um sie zu besuchen, ist es geradezu gefährlich.

Trotz dieser Jahre, die sie häßlicher werden ließen, ist sie noch mehr als schön – schade nur, daß man, wenn man sie betrachtet, daran denken muß, wie schön sie einmal gewesen sein mußte. Und solche Betrachtungen schaden immer dem augenblicklichen Eindruck.

Die Züge, die auf einmal schön und eigentümlich sind, haben nun eine Fülle angenommen, die das Gesicht breiter und weniger fein machen. Die Nase ist klein und scheint wegen der Breite der Züge noch kleiner, der Mund zierlich mit schwellenden Lippen und fülligen Mundwinkeln. Ihr Lächeln kann von saugender Sinnlichkeit in tiefe Melancholie wechseln, und es wäre schwierig zu sagen, was sein ursprünglicher Ausdruck ist.

Wenn sie den Blick erhebt, sieht man in kräftig getuschter Umgebung ein paar blaue Augen, die einen merkwürdig geistesabwesenden, träumenden Ausdruck haben, der Leuten eigentümlich ist, die vom Mißbrauch der Sinnlichkeit halb zerstört sind. In die Stirn hinab legt sich das Haar, das fast schwarz ist, in Locken, die am ehesten mit dem Wort „Strähnen“ bezeichnet werden können, falls der Leser mit diesem Wort eine Vorstellung zu verbinden vermag.

Ihre Figur ist jetzt zu mollig, um noch als hübsch zu gelten, hat aber doch, trotz ihrer Fülle, ihre Harmonie bewahrt.

„Geben Sie mir mein Häkelzeug!“

Sie nimmt es mechanisch und häkelt einige Minuten.

Ihre Hände mit den hellroten Nägeln und kräftigen Fingern fallen wieder in ihren Schoß zurück. Diese Hände sind reine Wunder, die gleichermaßen weich und kräftig sind. Unter dem Ärmel folgt der Blick einem rundlichen Arm, und unter der leichten Kleidung zeichnet sich eine Schulter wie die der Venus von Milo ab.

Wie viele Küsse wurden nicht auf diese Schulter gedrückt, und wie viele teuer erkaufte Verzückungstränen sind nicht auf diese Brust gefallen!

Sie verfällt in Gedanken und stützt ihren Kopf auf ihren Arm. Hansen trommelt an das Fenster und pfeift.

Dann blickt sie hoch und gewahrt ihr eigenes Bild im Spiegel. Sie streckt ihr Bein aus und lächelt ihr Bild an, das der Spiegel ihr zeigt. Das Bein zeichnet sich deutlich unter dem engen Schlafrock ab, der am Oberschenkel eine Falte schlägt. Sie zieht das Kleid hoch und entblößt ihr Bein, das mit einem fleischfarbenen Strumpf bedeckt ist, bis zum Knie. Sie läßt ihre weiße Hand langsam das warme Bein hinab gleiten – zieht plötzlich das Kleid hinunter und seufzt. „Der Heiligabend ist doch gräßlich.“

„Warum, gnädiges Fräulein?“

Sie schaut einen Augenblick lang in Hansens Gesicht und dreht dann ihren Kopf mit einem unsagbaren Ausdruck von Verachtung weg.

Ihre Hände beschäftigen sich mechanisch mit dem Häkelzeug, und ihre Augen wandern – ohne etwas zu sehen – im traditionellen Hausrat dieser Frauen von dem einen Gegenstand zu dem andern: dem gemieteten Klavier mit einigen Operettenheften, die sie nicht spielen kann; den Spiegeln, die schräg in allen Ecken stehen und ihre Gestalt von allen Seiten und in allen Stellungen zurückwerfen, dem Sofa und den niedrigen Lehnstühlen mit Plüschbezug, die von Banko1 oder Champagner fleckig sind, und schließlich bis zu den Wänden mit den schlechten Öldrucken entblößter Frauen und hingestreckter Jünglinge.

„Wie ist das Wetter?“

„Der Schnee stiebt, gnädiges Fräulein!“

Hansen trommelt die Weise der Amarantha2 und pfeift Ange Pitrous Arie3, was sie offenbar als harmonisch ansieht.

„Wir hätten für heute abend etwas Schinken besorgen sollen, Hansen!“

„Schinken? Gott bewahre, das Fräulein ißt ja nie Schinken, gnädiges Fräulein!“

„Nein, aber an Heiligabend – – –“

„Ei, ein Hase, das wäre sinnvoll gewesen – –!“

„Ach ja – aber ich meinte nur, daß wir an Heiligabend zuhause immer Schinken gegessen haben –“

Sie sagt es fast unbewußt, fährt beim Laut ihrer eigenen Worte erschrocken auf und errötet, während sie einen verstohlenen Blick zu Hansen wirft, die nun bei „Clairette und Pomponnet“4 angelangt ist.

Beim Gehen streift ihr Blick den Spiegel. Sie sieht ihr stark entblößtes Bein und errötet wieder.