T(h)ril(l)ogie des Wahnsinns
Band 1
Leidenschaften – Glück und Schrecken.
Wahnsinn lauert hinter Hecken.
Schwankend, wirr des Weges Lauf.
Unschuldslämmer. Dreck am Stecken.
Was geschieht? Zu welchen Zwecken?
Geht’s hinab zum Heil hinauf?
Inhaltsverzeichnis
Kapitel I
Buchhändlerin badet in Blut!
Kapitel II
Kapitel III
Kapitel IV
Kapitel V
Kapitel VI
Kapitel VII
Kapitel VIII
Kapitel IX
Kapitel X
Kapitel XI
Kapitel XII
Beinahe falscher Killer getötet!
Kapitel XIII
Kapitel XIV
Kapitel XV
Kapitel XVI
Brutale Buchhändlerinnen-Bestie mordet munter fort!
Kapitel XVII
Kapitel XVIII
Kapitel XIX
Kapitel XX
Kapitel XXI
Kapitel XXII
Kapitel XXIII
Kapitel XXIV
Kapitel XXV
Die Bestien sind los! Zwei Killer bedrohen die Stadt!
Kapitel XXVI
Kapitel XXVII
Mord und Mordversuch! Droht jetzt ein Massaker?
Kapitel XXVIII
Kapitel XXIX
Kapitel XXX
Kapitel XXXI
Kapitel XXXII
Kapitel XXXIII
Serienkiller hat erneut zugeschlagen!
Bereits das vierte Opfer in vier Monaten!
»Haben Sie das gelesen, mein lieber Wirsing?!?!!« Hendrik Sägebrechts Stimme überschlug sich fast. »Wieder eine Buchhändlerin! Aber hören Sie weiter:
Wie schon die drei Male zuvor, mußte erneut eine Buchhändlerin ihr junges Leben lassen. Die 48jährige Elvira V. freute sich auf ihren wohlverdienten Feierabend, als sie gegen Viertel nach acht – wie immer hatte sie, die alleinstehend war, den Spätdienst in dem kleinen Buchladen übernommen – die Türe zuschloß und das Gitter vorschob. Die Herbstnacht war dunkel und der Weg durch die um diese Zeit nur noch wenig belebte Gegend einsam. Elvira V. galt als unerschrocken und resolut, aber vielleicht mußte sie doch an ihre drei Kolleginnen denken, denen bereits in dieser Stadt von einem brutalen Killer meuchlings die Kehle durchgeschnitten worden war. Vielleicht auch dachte sie daran, daß wieder Neumond war, wie auch bei jenen Morden. Bemerkte sie ihren Mörder? Könnte sie eine wichtige Zeugin sein, wenn sie überlebt hätte? Doch auch sie überlebte nicht. Vermutlich lauerte der Mörder in der finsteren Toreinfahrt, in der Elvira V.s Leiche von einem Liebespaar entdeckt wurde. ‚Plötzlich‘ – so erzählte, noch Stunden nach dem Erlebnis bleich und zitternd, die junge Frau – rutschten mein Freund und ich auf einer glitschigen Masse aus, wir stolperten über ein Hindernis, das sich irgendwie seltsam weich anfühlte, und alles war irgendwie feucht und klebrig. Mein Freund holte dann sein Feuerzeug heraus, und da sahen wir sie, und alles war voll Blut, der Boden, die Frau, wir selber – es war einfach furchtbar. Wer tut so etwas bloß?‘ –Ja, so fragen wir ebenfalls, so fragen zunehmend die Bürgerinnen und Bürger unserer Stadt: Wer ist solch einer inhumanitären Tat fähig? Und wie fähig ist die Polizei, was tut sie? Erkennt sie den Ernst der Lage? Muß dies Verbrechen erst wieder und wieder geschehen?: Im Finstern, in einer Toreinfahrt, einem Hauseingang, hinter einer Straßenecke wartet der Unhold. Das arglose Opfer kommt heran, freut sich auf das kleine Glück im trauten Heim, geht an dem lauernden Schatten vorüber – und schon ist alle Freude, ist das ganze Leben ein gewesener Traum, der sich zuletzt noch in einen Alptraum verwandelte. Der Mörder springt hervor, springt erbarmungslos sein Opfer an, packt es, zieht es mit roher Gewalt ins Dunkel, und – so nach Auskunft von Expertenseite – mit einem einzigen tiefen Schnitt seines scharfen Messers, allem Anschein nach einer Rasierklinge, schneidet er den Hals der Wehrlosen durch. Alles geht blitzschnell, keine Zeit bleibt zur Gegenwehr, nicht einmal Zeit zum Schreien. Niemand hört, niemand sieht etwas. Nur das Opfer zeugt von der bestialischen Tat. Was, so fragen wir mit Besorgnis und Nachdruck nochmals, was tut die Polizei dagegen? Weiß sie überhaupt, was sie zu tun hat? Sind ihre besten Leute auf dieses Ungeheuer angesetzt? Schon vier grauenhafte Morde, alle an jungen Buchhändlerinnen begangen, alle in Außenbezirken, alle bei Neumond … Und noch immer keinerlei Verdacht, noch immer keine Spur?«
Sägebrecht ließ die Zeitung auf die Schreibtischplatte sinken und schlug krachend mit der flachen Hand darauf. »Das ist eine Geschichte! Na, nicht gerade auf die Art und Weise, wie sie in diesem Blödblatt geschrieben steht, da ging einem Journalistchen mal wieder sein pubertärer Pegasus durch … Aber die Geschichte an sich, der Fall, der Kriminalfall – mein lieber Wirsing, was sich daraus entwickeln ließe, so eine Story müßten Sie mal schreiben, auf Ihre gute alte Art. Also Plot und Ausführung Ihres neuen Manuskripts, die kommen da einfach nicht mit, geschweige denn Ihre letzten beiden Krimis, aber das wissen Sie ja sicher selber, gegen Ihre ersten Bücher fielen sie doch um einiges ab. Das zeigen ja auch die gesunkenen Absatzzahlen. Wäre da nicht noch Ihr Name, und würden Ihre Erstlinge die Verluste nicht auffangen … – Nein, sagen Sie nichts, Sie brauchen sich nicht zu verteidigen, keineswegs will ich Ihnen mein Vertrauen entziehen, schon gar nicht mein Wohlwollen, schließlich, mein lieber Wirsing, bin ich nicht bloß Ihr Verleger, sondern fühle mich durchaus auch als Ihr Freund. In eine Schaffenskrise gerät jeder Schriftsteller einmal, keine Frage, keine Frage. Wichtig ist, daß er schnell wieder herausfindet, nicht wahr? Vielleicht ist einfach Ihre Phantasie ein bißchen erschöpft, schöpfen Sie Ihre Ideen doch mal aus der Wirklichkeit, die schreibt noch immer die besten Geschichten – ein altes Klischee, ich weiß, aber könnte es Klischees geben, wenn sie nicht zuträfen?, hö-hö-hö, Sie wissen, wie ich’s meine, mein lieber Wirsing, also …«
Sägebrecht konnte und wollte nicht zu Ende kommen, unaufhörlich entquoll ihm der Redestrom, der genaugenommen nichts anderes besagte, als daß der einst gefeierte Kriminalautor Hermann Maria Wirsing, der mit Preisen überhäufte Autor von Höllenfahrt Sonderklasse; Das Bikini-Syndrom; Schlaraffen-Schlamassel inzwischen die Finanzen des Verlages und auch schon das Renommee des Hauses zu belasten begann. Noch einen Flop wie die beiden letzten Arbeiten (Meins bleibt meins; Orgie in Schlachtfestrot) durfte er sich nicht mehr leisten, und deshalb würde auch sein neuestes Werk zunächst einmal auf Eis gelegt werden, da es – nach Ansicht Sägebrechts – kaum Aussicht hatte, der Bestseller zu werden, dessen der Verlag, als erste Adresse auch in Sachen Kriminalliteratur, und Wirsing, als vom Verleger dieses Verlages persönlich entdeckter und aufgebauter Autor, bedurften. Und noch weiter auf den Punkt gebracht, bedeutete Sägebrechts Erguß: Dir bleibt eine letzte Chance, wieder einen Thriller zu schreiben, einen wirklichen Thriller, der die Leute zum Lesen, das heißt zum Kaufen hinreißt und der nicht nur wie seine eigene Leiche in den Buchhandlungen liegt und vor sich hin verwest. Wenn dir das nicht gelingt – den Letzten beißen die Hunde … to be or not to be, to beat or to be beaten.
Schließlich wuchtete Sägebrecht seine zwei Zentner aus dem breiten, ledernen Schreibtischsessel; es war, als wüchse, die Erde erbeben lassend, ein Berg empor. Wirsings schmächtige Gestalt, die auf der anderen Seite des ausladenden Tisches den Sessel kaum zur Hälfte ausfüllte, wirkte angesichts der jetzt auf ihn zustampfenden Masse beinahe wie ein Zwerg. Fühlte er sich in seiner Ehre verletzt; war er erleichtert, daß Sägebrecht das Gespräch, vielmehr den Monolog beendete? Keinen Ton hatte Wirsing geäußert, starr war sein Gesicht, kalt und reglos glotzten hinter den zentimeterdicken Brillengläsern seine Augen wie Fische aus dem Aquarium in eine fremde Welt. »Ein herzliches, vorbehaltloses Gespräch von Mann zu Mann reinigt Geist und Gemüt, was?, mein lieber Wirsing«, lärmte Sägebrecht, in bester Laune offenbar. Dann ergriff er Wirsing am Ellbogen, zog ihn hoch und ging mit ihm zur Tür. »Leider habe ich jetzt noch Wichtiges zu tun«, sagte er, während er öffnete. »Doch sollten wir wirklich mal wieder zusammen einen kippen und die guten alten Zeiten hochleben lassen. Bis dahin aber« – und er gab seinem Autor einen kräftigen Schlag auf die Schulter, daß dieser, ob er wollte oder nicht, aus dem Büro expediert wurde – »schreiben Sie was Schönes, einen Thriller, so richtig aus dem vollen Leben; notfalls schaffen Sie eben die Situation selber, Sie wissen ja: Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott, hwahwahwahwa« – und rrrumms! flog die Türe zu.
Wirsing stand vor dem Schreibtisch von Froilain Schlaich, der ordnenden Hand für Sägebrechts Chaos. Beim Donnern der Tür ging ein Ruck durch ihn. Ein zähnefletschendes Lächeln blitzte aus seinem Gesicht, doch die Augen glotzten weiterhin stier und starr. »Immer einen Scherz auf den Lippen, der Gute«, sagte er bemüht munter, aber seine Stimme klang gequetscht. – »Hat ’r mal wiedr ‚se Bick Boss‘ geschpielt? Oh, machet Se sich nicht zviel draus«, entgegnete, heftig blinzelnd, Froilain Schlaich. »Sie kennet ’n doch, der ischt halt soh. Oh, was glaubet Sie, wie oft ich scho d’ Nas han voll gehabt, a richtigr Baura-Trampl ischt ’r halt manchmal, jah, jah. Abr trotzdem …« – Rrrumms! flog erneut eine Tür ins Schloß. »Nanuh?« Froilain Schlaich setzte ihre Brille wieder auf: Wirsing war fort. »Schade«, flüsterte sie und seufzte ein paarmal in sich hinein. Und während sie so seufzte, war es einen Moment lang, als klänge gedämpft ein langgezogenes Heulen, ein hyänenartiges Gelächter irgendwo.
Froilain Schlaich trat ans Fenster, preßte Hände und Gesicht an die Scheibe und schaute die neun Stockwerke hinunter, die Sägebrechts »Parnaß« – wie er die Etage, wo er residierte, mit Inbrunst gerne nannte – vom platten Alltagsleben der Stadt trennten. Endlich erschien Wirsing, trat aus dem Haus auf den Platz, mitten hinein in die gemeine, schäbige Wirklichkeit. Er stockte, stutzte, blickte an sich hinab, zog mit einem Ruck sein linkes Bein zurück, gestikulierte aufgebracht, suchte mit der Hand etwas im Mantel, zog ein Taschentuch heraus, wischte wütend an seinem Schuh herum, schleuderte mit angeekelter Gebärde das Tuch von sich und eilte, aufgebracht die Arme werfend, von dannen. »Ach«, entrang sich wieder ein Seufzer aus den Tiefen von Froilain Schlaichs Brust. Wie klein und hilflos er aussah, der berühmte Mann, der berühmte Dichter – und sollte nun, da er seine Schuldigkeit getan und Müdigkeit zeigte vom Ringen um die Gunst der Musen und alle Fürsorge und Unterstützung nötig hätte, ausgemustert werden wie eine ausgediente Maschine. Ja, sie hatte an der manipulierten Sprechanlage gelauscht. Und sie, Gudrun Schlaich, wußte noch mehr. Schon seit längerem beobachtete sie die schleichende Intrige gegen Wirsing. Nicht von Sägebrecht ging das ursprünglich aus, es waren die Einflüsterungen von Ihr, von Sägebrechts Dulcinea. Dessen Faible für die Kriminalliteratur waren Ihr ein Dorn im Auge. Sie wollte am liebsten den Verlag von diesem, wie sie sagte, Schund – einem eiternden Blinddarm vergleichbar, der alles übrige mit Gift durchsetzte – reinigen, ihn ganz und gar zu einer Pflegestatt geistig wertvollen Gehalts machen. Wirsing empfand sie dabei als entscheidendes Bollwerk dieses Schwach- und Flachsinns. Mit Wirsing verbanden Sägebrecht mehr als nur geschäftliche Fakten, in ihm sah Sägebrecht das verkörperte Ideal eigener, nie verwirklichter literarischer Träume; er war für ihn wie ein Sohn, in dem der Vater das zum Leben erwachen sehen will, was ihm selbst versagt geblieben. Hier mußte die Schlange, die Sägebrecht an seinem Busen nährte, ansetzen, hier tat sie es, spritzte selber Gift und begann die Schwelbrände für Wirsings Demontage zu legen; und daß dieser sowieso gerade eine Flaute durchlebte, schürte im Gegenteil das giftige Feuer ihres Zerstörungswerkes erst recht. Diese Giftschlange, dieses Drachen- und Schlangengezücht in einer Person. Froilain Schlaich, noch immer gegen das Fenster gelehnt, kratzte beidhändig mit den Fingernägeln über die Scheibe. Wie gerne wollte sie über etwas ganz anderes kratzen. Oft genug hatte sie die Gespräche zwischen Sägebrecht und Ihr, dieser hergelaufenen, überspannten Buchhändlerin und Möchtegernmuse, belauscht und hatte auch durch den Türspalt gespickt – jawohl, das innige Gefühl ihres Herzens gab ihr alles Recht dazu. Wie hatte diese Empuse ihn stets zu umgarnen gewußt und all ihre unübersehbaren weiblichen Reize eingesetzt, Eva, die den rechtschaffenen, doch naiven Trottel Adam verführte – nicht zu übersehen und nicht zu überhören war das gewesen, häufig hatte es selbst bei geschlossener Tür nicht einmal mehr der Sprechanlage bedurft; wie peinlich, wenn jemand unverhofft ins Vorzimmer trat. Alle Mittel hatte dieses Aas eingesetzt – konnte das allein auf Abneigung gegen schlechte Literatur, wirklich und wahrhaftig auf der hehren Absicht, dem Niedergang der Kultur entgegenzutreten, sich gründen? Nein. Diese Furie haßte Wirsing ganz speziell. Warum? Wie konnte irgend jemand Wirsing denn hassen, ihn, der dem Kriminalroman die Wucht eines antiken Dramas und den weiten Atem eines homerischen Epos zugeeignet hatte? Der um jegliche Verwirrungen und Verirrungen menschlicher Existenz Bescheid wußte wie niemand sonst und dennoch zuinnerst den Glauben an das Wahre, Gute und Schöne hochhielt und, bei aller Härte und Grausamkeit in seinen Romanen, mit nie versagender Herzensgüte die Welt betrachtete aus seinen sowohl in allem erfahrenen wie sehnsüchtig-träumerischen, großen, schönen, gleichsam goethischen Augen … »Ach«, seufzte Froilain Schlaich. Warum hatte er es bloß nötig, seine Werke um schnöden Mammon zu verkaufen? Und wenn es schon sein mußte, warum halfen nicht alle zusammen, damit es ohne Sorgen gelang? Warum schleppten sich seine letzten Bücher, die in Wahrheit so gut wie eh und je waren, so mühsam durch die Buchhandlungen? Wie, wenn das eine Verschwörung wäre … und das Herz dieser Verschwörung: Sie!!!! Seit Wochen schon war Froilain Schlaich von diesem Gedanken besessen, immer und immer wieder mündeten ihre Überlegungen und Gefühlswallungen in ihm, wie auch jetzt. Das war es. Bestimmt. Sagte es nicht alles, daß die Buchhandlung von dieser [zensiert] ausgerechnet Medusa hieß!?!? Erneut fuhren Froilain Schlaichs Fingernägel, mit ganzer Kraft dagegengedrückt, die Fensterscheibe hernieder. »Wie ich sie hasse!« flüsterte sie. – »Na, Blindschlaichjen, was ist denn?« dröhnte da, ein altes Scherzwort zwischen ihnen gebrauchend, Sägebrecht. – Sie zuckte zusammen. »Ach nihihihichts«, wiegelte sie verlegen kichernd ab. »Bloß Migräne.« – Wie könnte sie ihm gestehen, was sie gerade dachte und fühlte? Er war dieser Lamia verfallen mit Haut und Haar und war von ihr so sehr bereits betört, daß er selber jetzt begann, seine Hand Wirsing zu entziehen. Aber Sägebrecht gab sie keine Schuld. Er, das gutmütige, tolpatschige Landkind, das er im Kern immer geblieben war, hatte dieser intriganten Abgeschlagenheit einfach nichts entgegenzusetzen. Man konnte einzig hoffen, daß ihm schließlich noch von allein die Augen aufgingen. Aber bis dahin – er würde kein Wort glauben, und wenn doch, der unvorbereitete Anblick der schauerlichen Wahrheit bräche ihm das Herz. Das ihm anzutun, brächte sie niemals über sich. War Wirsing für sie Sonne, Mond und Sterne, so war Sägebrecht, auch wenn es zuweilen Funken schlug und Ausfälle gab, die Hausbeleuchtung in ihrem Leben.
»Verbindlichsten Dank, Signora Arrtensen, mille grazie, beehren Sie uns rrrecht bald wieder.« Formvollendet verbeugte sich, die Glastür aufhaltend, Giovanni Antonio Peloso, der Maestro höchstpersönlich des Haar-a-kiri. – »Tschautschau!« Agneta van Artensen winkte mit fingerlnder Hand und rauschte, von weiten roten Gewändern umhüllt und umbauscht, hinaus, einen Duftmonsun von Umber Night verströmend. Peloso warf sich gegen die Tür. »Porca miseria, cinque minuti di piu e sarei morto io«, stöhnte er auf und begann heftig zu husten und zu niesen. »Questo profumo, questa pazza … o dio, vaffanculo – perdona me, Santa Maria …« – »Gott sei Dank ist die Walküre endlich weg«, lachte erleichtert Bettine, die zu seiner Unterstützung noch dageblieben war. Wenn Frau Artensen kam, wurde es jedesmal sehr spät; sämtliche andern Kunden und Angestellten waren längst in alle Winde zerstoben. »Brauchen Sie mich noch, Giovanni?« fragte sie dann, trug aber schon den Mantel im Arm. Sie kannte das Ritual inzwischen zur Genüge: Wenn ihr Chef Frau Artensen überstanden hatte (die ihn ungefähr einmal im Monat heimsuchte), brauchte er eine Phase der Regeneration, während der er ganz allein vollends saubermachte und aufräumte, seinen Laden gewissermaßen exorzierte. »Ma no, bella«, antwortete er denn auch. »Geh’n Sie nur. Ich mach’ das hier schon.«
Dann war auch Bettine draußen. Signor Peloso schloß ab und ließ die Jalousien vor der Tür und den Schaufenstern herunter. Kaum war das geschehen, verzerrte sich sein Gesicht zu einer grimmigen bösen Fratze. Er stampfte mit den Füßen, seine Arme und Hände krümmten sich wie in spastischen Krämpfen. »O dio cane, porco dio!« knurrte er und zischte: »WieichSiehasse, wieichSsiehasssse!« Und immer weiter knurrend, zischend und schnaubend packte er den Besen und fuhrwerkte wie ein Knallfrosch zwischen den Stühlen umher, wischte anschließend mit klatschendem, patschendem Lappen die Becken und Konsolen, räumte klirrend und klappernd Scheren, Bürsten, Kämme, Flaschen, Flakons an ihre Plätze.
Endlich war auch unter größten Anstrengungen nichts mehr – kein Härchen, das aufgekehrt, kein Fleckchen, das aufgewischt, keine Gerätschaft, die verstaut werden mußte – zu entdecken. Peloso stand still; keuchend, mit hängenden Schultern und schwer mit einem Arm auf die Kassentheke gestützt, verharrte er und suchte wieder zu Atem zu kommen. Der Schweiß rann ihm über das Gesicht, seine sonst so kunstvoll nach hinten über den Kopf gelegte schwarze Tolle hing ihm wie ein zerfetzter Filz wirr über Stirn und Ohren hinunter. Dennoch schimmerte jetzt der Anflug eines Lächelns auf seinem Gesicht, er fühlte sich erleichtert. Frau Artensens Dämon war von ihm gewichen. Das Ritual hatte auch heute wieder geholfen. Und noch, noch besaß er ja ein besonders wirksames Arkanum, dem kein Dämon, mochte er stark sein, wie er wollte, gewachsen wäre. Oh, wie viele böse Geister es gab! Die Artensen, die war der schlimmsten einer, einer, der sogar andere Dämonen befehligte. Über eine ganze Gefolgschaft verfügte sie, mit der sie versuchte, ihn in ihre Gewalt zu bekommen. Aber noch hatte sie nicht gewonnen. Und, bei allen Heiligen, nie und nimmer auch würde es ihr gelingen. Er wußte sich zu wehren. – Das Lächeln Pelosos blühte auf, träumerisch blickte er sich um, ganz ruhig ging sein Atem nun. Dann, wie in Trance, drehte er sich um die eigene Achse und glitt zur Treppe, die zu den Kellerräumen führte. Er stieg die Stufen hinab. Drei Türen reihten sich unten. Vor der hintersten machte er halt. Dort war sein Privatkabinett, sein Refugium. Niemandem außer ihm war der Zutritt erlaubt. Mit einem meckernden leisen Lachen schloß er auf und trat ein. Nachdem er das Licht eingeschaltet hatte, zog er an einer Schnur, ringsum wichen schwarze Vorhänge zur Seite und von den Wänden funkelte und blitzte es hundertfältig: Überall hingen blankpolierte Dolche, Schwerter, Beile, in allen Größen und Variationen. »Mein Königreich«, dachte er beglückt, »nichts und niemand kann mir hier etwas anhaben.« Er durchquerte den Raum, kletterte auf einen Stuhl und schloß die Blende vor einem kleinen Fenster unter der Decke. Dann stieg er wieder hinab und ging an den Schreibtisch, bückte sich, zog eine Lade heraus und öffnete – nachdem er zuvor einen Augenblick lauernd in die Stille gelauscht hatte – ihren doppelten Boden.
Dem Geheimfach entnahm er einen ledernen mappenähnlichen Gegenstand, und zischend, als bereite ihm die Berührung einen köstlichen Schmerz, zog er den Atem durch die Zähne ein. Er legte die Mappe auf den Tisch und öffnete sie. Seine Augen glühten, wie ein Gewitter zuckte es um seinen Mund, glucksend hielt er ein Lachen zurück. Dreizehn Rasiermesser lagen wie die Orgelpfeifen nebeneinander: das kleinste zusammengeklappt kaum so groß wie sein kleiner Finger, das größte aber – in voller Größe konkurrierte es fast mit einem Bowiedolch; aber ungleich schärfer, ungleich gefährlicher war es in einer geschickten Hand – wie der seinen. Sollte er dieses heute nehmen? Jaa, sang alles in ihm auf. Er zog es aus der Lasche. Aus einem anderen Fach der Mappe holte er einen Lederriemen hervor, der einen Ring an einem Ende aufwies. Er hängte ihn in einen Haken an der Tischplatte ein, nahm das Messer in die Rechte, klappte es mit einem Druck des Daumens auseinander, zog den Riemen mit der Linken straff und begann, zuerst noch etwas hastig und nervös, immer wieder kichernd, dann immer ruhiger und gleichmäßiger und schließlich fröhlich trillernd vor sich hin pfeifend, sorgfältig das Messer abzuziehen.
Ding-dong! ging die Glocke. Ding-dong, ding-dong! »Ich komm’ ja, ichkommeichkomme!« rief eine männliche Stimme, ein patschendes Geräusch ertönte auf den weißen Marmorfließen der weitläufigen Eingangshalle: Sägebrecht, barfuß, in goldfarbenem Morgenrock, der mit einem Muster aus Micky-und-Minnie-Maus-Pärchen bedruckt war, eilte zur Haustür. Ding-dong! Er öffnete, rot leuchtete es ihm entgegen. »Mutziputzi!« rief er mit Emphase und breitete die Arme aus. »Mein Schnutelchen!« rief es zurück, und schon versank, wogegen seine ganze stattliche Gestalt nichts half, Sägebrecht in einer Flut roter Tücher. »M-m-m-mmutziputz, wo bist du denn?« Es gelang ihm, sich herauszuwickeln. Mit ausgestreckten Armen schaffte er Abstand. »Laß dich anschaun, was für eine extravagante Gewandung wieder!« – »Toodschickk, gelle? Original Dipazzo und trotzdem soo günstig, kaum acht Fuffies«, sagte das Wesen ihm gegenüber und enthüllte sich: Agneta van Artensen.
Und enthüllte sich weiter, nachdem sie mit der Ferse die Haustüre zugeschoben hatte. Gleich Blättern von einem Sturmwind abgerissen, flog und flatterte es links und rechts und hinter ihr rot hernieder, im Nu stand sie da mit flammenden Haaren, o welche Frisur, und mit wogendem Busen wie Milch und Honig, in schwarzem Spitzenbody und in schwarzen Strümpfen, die von Strapsen gehalten wurden. »Ooooaachch!« – ertönte ein wollüstiges Stöhnen. Kam es von ihm, kam es von ihr? Wer wollte es unterscheiden? Schon riß sich auch Sägebrecht den Morgenrock vom Leibe, reckte, allein noch von blauleuchtenden Boxershorts umhüllt, seine Fleischesmasse, wölbte tief einatmend den Bauch nach oben und stürzte auf seine Agneta zu, um wieder – und diesmal ohne Zurückhaltung mehr – in ihrer Fülle zu versinken … Und sank ins Leere, knickte ein auf die Knie, mußte sich mit den Armen abstützen, um nicht vollends zu Boden zu gehen. »Hürr bün üch«, gurrte sie, »komm, moin Schnutelchen, komm zu mirr!« – Er wandte, noch immer auf allen vieren, den Kopf nach hinten. Da stand sie im hellen Schein des Deckenstrahlers, rosig schimmerte es durch die schwarzen Spitzen, kupfern glühten die Haare, ihre hellen Hände strichen den Körper entlang, wanderten nach unten und begannen die Strapse zu lösen. Das Blut war ihm zu Kopf geschossen, wie der Kopf eines Streichholzes wirkte er gegen Sägebrechts übrige Blässe, die Augen traten aus ihren Höhlen, röchelnd ging sein Atem, die Arme versagten ihm, und er fiel auf den Bauch. Mühsam drehte er sich um die eigene Achse, und mit einem Ausdruck qualvoll unbezwingbarer Begierde im Gesicht schaute er zu Agneta auf. Triumphierend lächelnd wich diese langsam, Schritt um Schritt, zurück in die Tiefe der Eingangshalle hinein. »Koomm«, lockte sie mit tiefer Stimme, »koomm, mein Hundilein, suuch dein Kätzchen!« – »Ach Mutziputz, was machst du mit mir, du quälst mich so, ach, jaa, quäle mich!« seufzte Sägebrecht und stemmte sich vom Boden wieder auf Knie und Hände. – »Koomm, Hundilein, koomm!« lockte sie weiter. – »Ach!« seufzte er nochmals, dann fing er an zu knurren, machte »waff« und »wuff« und kroch ihr nach …
Über das folgende, lieberIn LeserIn, breiten wir den Mantel schamhafter Diskretion. Mag jedIner aus eigenem Erfahrungsschatz oder aus seIhrinen geheimsten Phantasien schöpfen, um sich auszumalen, was sich zwischen Agneta und Hendrik abspielte. So viel sei verraten: Sie befahl, und er gehorchte; sie forderte, und er hatte alle Hände voll zu tun, ihr Folge zu leisten. Und was in der Halle begann, das kroch und robbte, das sprang und hüpfte, rollte und tollte fast durch das ganze Haus, das knurrte und schnurrte, blaffte und quiekte und kiekste, stöhnte und röhrte in wildester Brunft und verröchelte schließlich im Schlafzimmer im ersten Stock … – Dort nähern wir uns wieder den beiden. Still und friedlich ist es nun. Nur ein umgestürzter Tisch und Sessel, ein Kissen hier, ein Kissen da auf dem Boden und dann das wirr zerwühlte Bett sind stumme, wiewohl beredte Zeugen dessen, was geschehen.
Hier liegen sie im Dämmer rötlichen Dimmerlichts, halb vergraben unter Decke oder Leintuch. Frau Artensen (denn jetzt ist es wieder angebracht, Sie zu sagen) liegt auf der Seite, ein säuselndes Schnarchen klingt von ihr her; sie schläft. Sägebrecht – ein roter Punkt glimmt bei ihm auf. Er schläft nicht. Zu Tode erschöpft ist er, aber auch zu aufgewühlt, wie jedesmal. Er liegt auf dem Rücken und raucht eine Zigarette, er, der sonst auf nichts als eine feine würzige Brasil schwört. Er starrt zur Decke. Und hin und wieder wendet er den Kopf – nicht zu ihr hin, sondern der verspiegelten Schrankwand zu. Wie er sich haßt in diesen Momenten. Wie er Sie haßt. Wie er sich wegen ihr haßt. Aber vor allem: Wie er Sie haßt – weil sie ihn sich selber hassenswert macht. Aber auch: Wie er das haßt, daß er sie haßt, weil er wegen ihr sich haßt. Wie er seinen Haß in diesen Momenten haßt. Wie er wegen alledem sie haßt … Und braucht sie doch so sehr, kommt nicht mehr von ihr los. Seit ihrer ersten Begegnung ist er ihr verfallen, buchstäblich.
Er inhalierte einen langen, tiefen Zug, und mit dem Rauch, der, durch Mund und Nase in bläulichen wirbelnden Schleiern hervorquellend, ihn wieder verließ, stiegen Bilder der Erinnerung auf, schwebten beinahe erschreckend in ihrer Plastizität vor seinen Augen. Was war das bloß für ein Kraut in Agnetas Zigaretten?, dachte er flüchtig, tauchte aber sogleich wieder in den Bilderreigen ein, tauchte durch Raum und Zeit, sah nicht mehr nur, hörte jetzt auch – das Crescendo eines hallenden Summens klang ihm im Ohr, sah, hörte und roch (ganz anderes als den Rauch) und befand sich wieder dort, wo er vor drei Jahren gewesen …
Buchmesse zu Frankfurt war. Sägebrecht, bester Dinge und – oder gerade weil – schon einigermaßen beschickert von etlichen kollegialen Begrüßungsschlückchen, nahm den Weg zur Kunstbuchabteilung, um etwas von der wahren Kultur und en passant bei seinem alten Freund Finkenbeiner von dessen selbstgebranntem Pflümli zu tanken. Da strömte ein Duft auf ihn zu, betörend, erregend, indischer Nächte voll, Vollmond im Pisanggehölz, lächelnde Lotosblüte unter dem Kreuz des Südens und Glut des Tigerauges im Bambusdickicht. Scheherezade trat auf: Da ging sie vor ihm, hüftwiegenden Schrittes, füllige Gestalt, doch bauchtanzgeschmeidig. Kupferrot flammte das Haar, Sonnenglanz, Fackel auf dem Weg in die Geheimnisse der Nacht und flammende Blüte des beginnenden Tags, ex oriente lux. Leuchtfeuer dem ziellosen Schiffer, der er bisher gewesen war. Hafen um Hafen hatte er angelaufen, keiner war ihm des Bleibens wert geworden. Und jetzt, wieder einmal war es um ihn geschehen, wieder machte er, Hendrik Sägebrecht, sich bereit zum Landungsmanöver an fremder, vielversprechender Küste. Würde er diesmal finden, was er so lang schon suchte? Er wußte es ja nicht zu benennen, doch wenn er es fände, wüßte er sofort, daß es das Ziel seiner Suche endlich sei. Und hier, angesichts der unbekannten, geheimnisvollen Gestalt, welch ein Heimverlangen hatte ihn plötzlich gepackt, als wäre die Erlösung von aller Sehnsucht zum Greifen nah! Er folgte ihr auf die Rolltreppe, zwei Stufen nur stand sie von ihm entfernt. Gerade war er im Begriff, alles auf eine Karte zu setzen – Schicksalskarte: Der Narr, Schritt in den Abgrund oder ins Glück – da drängte es von hinten. »Erlauben Sie, bitte lassen Sie mich durch, erlauben Sie!« rief eine aufgeregte Stimme. Ein junger Mann, in stahlblauem Anzug, mit kanariengelbem Hemd und ebensolcher Bürstenschnittfrisur, Leichtmetall-Aktenkoffer in der einen Hand, in der anderen hoch ein Handy schwenkend, Brille im Gesicht, deren Gläser wie von einem schwarzen Balken vor seinen Augen gehalten wurden, schob sich nach oben, zwängte sich an Sägebrecht vorbei, erreichte die geheimnisvolle Schöne, drückte auch sie zur Seite, kam ins Straucheln, stolperte, ruderte mit den Armen, schlug mit dem Koffer aus, und Sägebrechts Sehnsuchtsziel – er sah es mit lähmendem Entsetzen – warf gleichfalls die Arme in die Höhe, Prospekte stoben durch die Luft, der junge Mann fiel, die Frau fiel, beide stürzten auf Sägebrecht, der sich ebensowenig mehr halten konnte, eine Lawine fuhr die Treppe hinunter, zum Glück ohne daß jemand zu Schaden kam. Indes, als Sägebrecht unten anlangte, da fiel Sie auf ihn, landete rittlings auf seinem Bauch, daß ihm die Luft wegblieb. Und als er, aus sekundenkurzer Benommenheit wieder erwachend, sie so nah über sich erblickte, von Angesicht zu Angesicht und in all ihrer prachtvollen rubenschen Fülle, da war es um Sägebrecht vollends geschehen – auf etwas andere Art, als er sich erträumt hatte, doch um so unauslöschlicher.
sie