Über Olaf Scholz

Olaf Scholz, 1958 in Osnabrück geboren, ist in Hamburg aufgewachsen, wo er Rechtswissenschaften studierte und als Rechtsanwalt arbeitete. Er ist seit 2011 Erster Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg und seit 2009 stellvertretender Bundesvorsitzender der SPD. Von November 2007 bis Oktober 2009 war er Bundesminister für Arbeit und Soziales. Hoffnungsland ist sein erstes Buch.

Für Britta

Vorwort

»Mögest du in interessanten Zeiten leben«, lautet ein chinesischer Sinnspruch, von dem nicht klar überliefert ist, ob er als frommer Wunsch oder als böser Fluch verstanden werden soll. Wir leben zweifellos in interessanten, sehr bewegten Zeiten, ob wir es wollen oder nicht. Seit dem Fall der Berliner Mauer hat unser Land nicht mehr vor solchen Herausforderungen gestanden wie im Augenblick.

Die Welt erlebt gerade eine Zeitenwende. Aus dem Nahen und Mittleren Osten flüchten die Menschen in das ziemlich sichere Europa, aus Afrika machen sich Migrantinnen und Migranten auf der Suche nach einem besseren Leben in Richtung Norden auf. Gleichzeitig scheinen sich die Bindungskräfte innerhalb Europas zugunsten neuer Nationalismen zu lockern. Die mageren Wachstumsraten in den Industrieländern scheinen zudem das Versprechen zu untergraben, dass jeder gut zurechtkommt, der fleißig ist und sich an die Regeln hält. All diese Veränderungen vollziehen sich vor der Folie eines internationalen Terrorismus, der den Nahen und Mittleren Osten genauso bedroht wie das Sicherheitsgefühl in der westlichen Welt.

Eine Zeitenwende zeichnet sich durch zwei Charakteristika aus: Politische Gewissheiten verblassen, und die Politik ist mit den täglichen Reaktionen auf die Veränderungen so beschäftigt, dass ihr kaum die Zeit bleibt, den Kopf zu heben und das große Ganze in den Blick zu nehmen. Dies gelingt oft erst im Rückblick, mit ein paar Jahren Verzögerung und mit dem Wissen, wohin sich die Zeiten denn schließlich gewendet haben.

Ich möchte nicht warten, bis sich unser Schicksal entschieden hat, sondern lege dieses Buch jetzt mitten in der Zeitenwende vor. Denn ich bin überzeugt, dass wir es in der Hand haben, die laufenden Veränderungen zu beeinflussen, wenn wir jetzt die richtigen Schlüsse ziehen und die zentralen Entscheidungen treffen. Wir dürfen nicht abwarten, bis uns die Umstände das Handeln aufzwingen, sondern müssen handeln, um die Umstände zu prägen.

Wie soll sich die Europäische Union weiterentwickeln? Wie geht Deutschland mit Zuwanderung von Flüchtlingen und Arbeitskräften um? Wie kann Gerechtigkeit in den Zeiten der Globalisierung gewährleistet werden? Das sind drei Fragen, die nur ganzheitlich beantwortet werden können. Und es sind gegenwärtig zugleich die drei wichtigsten Fragen an die deutsche Politik. Von den Antworten hängt die Zukunft unseres Landes ab.

Ich bin fest davon überzeugt, dass unser Land einen fundamentalen Wandel in der Wahrnehmung durchlaufen hat, dessen Tragweite viele noch gar nicht erkannt haben: Vom Schrecken Europas sind wir zum Hoffnungsland für so viele geworden. Unser Land ist mit seiner wirtschaftlichen Stärke, gesellschaftlichen Liberalität und politischen Stabilität für viele Menschen in der Welt attraktiv geworden, nicht nur für Flüchtlinge. Diese neue deutsche Wirklichkeit sorgt für einige Veränderungen. Deutschland ist attraktiv wie nie – was in vielen den Wunsch wachsen lässt, in unserem Land eine Zukunft zu suchen. Das bringt Schwierigkeiten mit sich, aber auch Chancen.

Mit diesem Buch möchte ich Orientierung geben in bewegter Zeit. Ich leuchte gründlich die wichtigen Aspekte der Migrationsdebatte aus, die bislang hierzulande noch viel zu häufig pauschal und undifferenziert geführt wird. Ich plädiere für sichere und gesicherte Außengrenzen, für unterschiedliche Wege der Zuwanderung nach Deutschland, für eine gerechtere Verteilung von Flüchtlingen in Europa und dafür, unser liberales und fortschrittliches Asylrecht aufrechtzuerhalten. Ich gebe Hinweise, an welchen Stellen wir uns von mancher Lebenslüge verabschieden, wo wir gesetzgeberisch handeln müssen und wo unsere Verwaltungswege noch zu kompliziert sind. Ich zeige anhand konkreter Beispiele auf, was gut läuft, beispielsweise bei der Integration – aber auch, wo Verbesserungsbedarf besteht.

Hoffnungsland kann Deutschland aber nur sein, wenn auch seine Bürgerinnen und Bürger optimistisch und zuversichtlich in die Zukunft blicken. Das ist keineswegs ausgemacht. In den klassischen Industriestaaten und damit auch in Deutschland ist die Vorstellung, dass es den Kindern einmal besser gehen wird als ihren Eltern, nicht mehr ohne weiteres einlösbar. Die mittleren und unteren Einkommen sind unter Druck geraten. Auch wenn die Volkswirtschaft weiterhin wächst, sind die Zuwachsraten längst nicht mehr so enorm wie bis in die achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts hinein.

Das bleibt nicht ohne Folgen für die Haltung, mit der unsere Bürgerinnen und Bürger in die Zukunft blicken. Mit zunehmendem Missvergnügen nehmen viele Deutsche eine wachsende Ungleichheit im Land wahr, woran auch der hohe Beschäftigungsstand nichts zu ändern vermag. Auch insoweit stecken wir in einer Zeitenwende, die heute schon von der Globalisierung und bald auch von der Digitalisierung vorangetrieben wird. Woran das liegt und was zu tun ist, damit die Soziale Marktwirtschaft eine Perspektive unter den sich rasant verändernden Bedingungen hat, erörtere ich deshalb sehr ausführlich im hinteren Teil des Buches.

Ich bin ein optimistischer Mensch und blicke positiv auf das, was die Zukunft für unser Land bereithält. »Die Zukunft hängt von uns selbst ab, und wir sind von keiner historischen Notwendigkeit abhängig«, formulierte der Philosoph Karl Popper so zutreffend. Nichts ist vorherbestimmt, sondern wir sind in der Lage, in jedem Moment den Lauf der Geschichte zu beeinflussen. Dafür müssen wir aber den Mut aufbringen, zu handeln, statt uns von den Ereignissen treiben zu lassen. Müssen nüchtern analysieren und entschlossen entscheiden, wie wir die neue Attraktivität Deutschlands für alle gewinnbringend nutzen können.

Als Hamburger Bürgermeister und Bundespolitiker habe ich all diese Fragen in Reden, Aufsätzen und Interviews immer wieder diskutiert. Ich freue mich, jetzt die Gelegenheit zu haben, meine Überlegungen und Vorschläge einmal im größeren Zusammenhang und in einem Umfang darzustellen, wie nur ein Buch ihn bietet. Ein solches Buch ist für den Verfasser eine gute Gelegenheit, die eigenen Vorstellungen zu prüfen, sie zu durchdenken und auszubauen. Für mich als Autor ist es ein Gewinn gewesen, beim Verfassen dieses Buches neuen Aspekten zu begegnen, meine Vorstellungen auf ihre Praxistauglichkeit zu testen und meine Argumente zu schärfen. So habe ich schon vom Verfertigen dieses Werks profitiert. Ich wünsche mir, dass es den Leserinnen und Lesern bei der Lektüre ähnlich gehen mag.

 

Hamburg, im Frühjahr 2017

Neue deutsche Wirklichkeit

Was war das, was da im Jahr 2015 so scheinbar unerwartet über Europa und über Deutschland gekommen ist? Wieso haben sich Hunderttausende von Schutzsuchenden aus dem Irak, aus Eritrea, aus Afghanistan und vor allen Dingen aus Syrien auf den Weg nach Europa gemacht, zu uns? Weshalb hat die Europäische Union so zögerlich auf diese Massenbewegung reagiert? Warum ist auch die deutsche Verwaltung mit der Bewältigung dieser Aufgabe lange nicht ordentlich hinterhergekommen?

All diese Fragen spielen eine Rolle in den aktuellen politischen Debatten. Hierzulande diskutiert man mit großer Verve darüber, ob die überwiegend muslimischen Schutzsuchenden zu unserer »deutschen Leitkultur« passen, ob es Transitzonen im deutschen Grenzgebiet bedarf – und vor allen Dingen über die Frage, wann die Bundeskanzlerin diesen einen ikonischen Satz vom Herbst 2015 widerruft und damit dem Vorsitzenden ihrer bayerischen Schwesterpartei endlich Genüge tut.

Viel zu selten wird darüber gesprochen, welche Folgen diese letztlich umwälzenden Ereignisse des Jahres 2015 tatsächlich und auf lange Sicht haben – für uns, für unser Land, für unsere Gesellschaft. Darüber, was es bedeutet, wenn knapp 900000 Frauen, Männer und Kinder innerhalb eines Jahres nach Deutschland kommen, hier wohnen und leben, lernen und arbeiten sollen. Was es für unser Land bedeutet. Für unser Selbstverständnis. Für unsere Rolle in der Welt. Für unsere Zukunft. Für unsere säkulare, liberale und offene Gesellschaft.

Die öffentlichen Wortmeldungen lassen sich ohne viel Mühe grob in zwei Blöcke unterteilen: jene, die davon ausgehen, dass sich in unserem Land so gut wie nichts verändern wird und muss. Deutschland sei groß und stark, alles andere werde sich (ein)fügen. Und die anderen, die teils in schrillem Ton buchstäblich das Ende des Abendlandes prophezeien. Sie marschieren gerne montags in Dresden, sie sitzen noch lieber in den Fernsehtalkshows dieses Landes, verbreiten ihre Horrorgeschichten und ziehen immer öfter mit ihren platten Parolen auch in die Landtage der Republik ein.

So gegensätzlich und unversöhnlich diese beiden Positionen sind, eint sie die Tendenz, einen genaueren Blick auf die tatsächlichen Gegebenheiten zu verweigern und sich an »gefühlten« Wahrheiten festzuhalten.

Es ist Zeit für einen nüchternen Blick auf die Herausforderungen, die sich unserem Land mit dem Zuzug von Hunderttausenden Schutzsuchenden stellen. Und es ist Zeit, einmal genau zu benennen, welche Chancen darin liegen, dass Deutschland für viele Menschen in der Welt zu einem Hoffnungsland geworden ist.

Wir alle sind bewegt, wenn wir uns an die Bilder aus dem Herbst 2015 erinnern, als Zehntausende freiwillige Helferinnen und Helfer, aber auch mindestens so viele engagierte Beamtinnen und Beamten fast Übermenschliches leisteten, als es darum ging, die Hunderttausenden Schutzsuchenden zu begrüßen, sie zu versorgen, einen Platz für die Nacht, Nahrung und frische Kleidung zu organisieren. Bewegt sind wir – und etwas ungläubig; bei vielen von uns mischt sich zu dem Stolz auf das Geleistete auch ein Gefühl der Ernüchterung darüber, was nicht so gut geklappt hat. Eine Ernüchterung über eine Europäische Union, die seither zerstritten scheint in zu vielen Fragen und bald nur noch aus 27 Staaten bestehen wird. Über eine Außenpolitik, der es trotz aller Anstrengung nicht gelungen ist, den Krieg in Syrien und den islamistischen Terror zu stoppen. Eine Ernüchterung über die politischen Verschiebungen in unserem eigenen Land, in dem plötzlich Rechtspopulisten viel Zulauf erhalten. Und nicht zuletzt auch Ernüchterung darüber, dass die Aufnahme von so vielen Flüchtlingen nicht ohne Schwierigkeiten und Rückschläge abläuft und sich nicht jeder, der zu uns gekommen ist, als unendlich dankbar und leicht integrierbar erweist. Eine Ernüchterung darüber, dass es auch bei uns zu Terroranschlägen kommt.

Natürlich war es nicht gut, dass wir damals kurzfristig nicht mehr die volle Kontrolle darüber hatten, wer zu uns kam. Das darf sich nicht wiederholen. Niemand war auf einen solch immensen Zulauf von Schutzsuchenden vorbereitet, weil wir zu lange die Augen verschlossen hatten vor den Entwicklungen in der Welt. Das darf uns nicht wieder passieren, dafür müssen wir Vorsorge treffen – beispielsweise indem wir dazu kommen, dass die Europäische Union gemeinsam ihre Außengrenze wirksam schützt und zugleich legale Wege der Zuwanderung in die EU öffnet. Die EU muss sich darauf einigen, wie die Gemeinschaft die Flüchtlinge fair auf alle Mitgliedstaaten verteilt.

Die Ernüchterung mag schmerzhaft sein – schlecht ist sie nicht. Wer nüchtern auf eine Sache blickt, hat eine realistischere Vorstellung von den Herausforderungen, vor denen wir stehen – in der großen weiten Welt wie in unseren großen und auch kleineren Städten. Und: eine realistischere Vorstellung von unseren Möglichkeiten und Kräften. Wir dürfen jetzt nicht einfach abwarten, sondern müssen die nötigen Entscheidungen treffen, damit Deutschland gut gerüstet ist für die Zukunft.

Wir erleben gegenwärtig einen fundamentalen Wandel in der Welt, der nur unzureichend mit dem Begriff Globalisierung beschrieben ist. Jahrelang haben wir teils fasziniert, teils verängstigt auf das Zusammenrücken der Welt geblickt. Globalisierung schien zuvorderst ein wirtschaftliches Phänomen zu sein, das sich beispielsweise an der wachsenden Zahl von Containerschiffen ablesen ließ, die an den Kais im Hamburger Hafen festmachten. Oder daran, dass Produktionen und damit viele Arbeitsplätze in Niedriglohnländer verlagert wurden.

Inzwischen müssen wir feststellen, dass sich auch die geopolitische Balance zwischen den Mächten verschiebt. Spätestens mit der Annexion der Krim hat Russland das Völkerrecht und damit unsere globale Sicherheitsarchitektur infrage gestellt. Zugleich erleben wir, dass das wirtschaftliche und politische Erstarken aufstrebender Länder keineswegs automatisch auch ihre Demokratisierung bedeuten muss. Und die Terroranschläge in Paris, Brüssel, in Istanbul und in Berlin sorgen zusätzlich für Verunsicherung. Diese Verunsicherung ist in nahezu allen Lebensbereichen spürbar.

Spätestens mit dem Krieg in Syrien spüren wir die Auswirkungen dieses fundamentalen Wandels direkter in unserem Alltag – weil sich mehr und mehr Frauen, Männer und Kinder von dort auf den Weg nach Mitteleuropa gemacht haben, um hier Schutz, Sicherheit und Zukunft zu finden. Offensichtlich wurde dabei, dass für Deutschland ohne eine einige, handlungsfähige Europäische Union kaum eine Möglichkeit besteht, das Geschehen in der Welt wirksam zu beeinflussen. Das betrifft die äußere Sicherheit genauso wie die wirtschaftliche Globalisierung oder die Aufnahme von Flüchtlingen. Europa ist für die Zukunft Deutschlands entscheidend. Dass die Institutionen der EU nur unzureichend in der Lage sind, schnell auf akute Herausforderungen zu reagieren, hat die Flüchtlingskrise einmal mehr bewiesen. Bewiesen hat sie aber auch, dass wir eine handlungsfähige Europäische Union tatsächlich brauchen und dass es für die zentralen Aufgaben in der immer weiter zusammenwachsenden Welt keine erfolgversprechenden nationalen Lösungsansätze gibt.

Deutschland sollte die Zuwanderung von so vielen Menschen in so vergleichbar kurzer Zeit als positives Signal sehen. Als ein Signal für einen fundamentalen Wandel in der Wahrnehmung unseres Landes: Die Bundesrepublik Deutschland ist zu einem Land geworden, auf das viele Menschen ihre Wünsche und Hoffnung projizieren. Ihren Wunsch nach einem lebenswerten Leben, einem Leben in Sicherheit, in Freiheit – und ihre Hoffnung, bei ihrem Streben nach Glück nicht enttäuscht zu werden.

Es sind nicht nur Flüchtlinge, die ihre Hoffnung auf ein besseres Leben mit Deutschland verbinden. Hunderttausende kommen jedes Jahr aus anderen Staaten der Europäischen Union nach Deutschland. Es gibt auch Arbeitskräftezuwanderung von außerhalb der EU.

Die weltweiten Migrationsströme sind ein langfristiger Trend, eine Tatsache, auf die wir uns einstellen müssen. Europa wird sich auf Dauer nicht zur Gänze dagegen abschotten können; genauso wenig wird Europa unbegrenzt Zuwanderer aufnehmen können. Deshalb müssen wir einen klugen Mittelweg finden, um gewappnet zu sein für die Zukunft.

Mit der Losung »Life, Liberty and the Pursuit of Happiness« haben die Gründungsväter der Vereinigten Staaten von Amerika in der Unabhängigkeitserklärung von 1776 den »amerikanischen Traum« umschrieben. Ein Zukunftsversprechen an jeden, der ins Land kam: Sicherheit, Freiheit und die Chance auf Glück. Ein Versprechen, das zugleich eine Aufforderung war an alle, sich anzustrengen. Dieses Versprechen mag sich in den Vereinigten Staaten etwas relativiert haben, es hat aber über mindestens zwei Jahrhunderte für die Zuversicht gestanden, die Amerika groß gemacht hat.

Die Garantie von Sicherheit und Freiheit sowie die Chance, sein Glück zu machen, sind starke Antriebsmotoren. Auch wenn viele bei uns das längst noch nicht wahrgenommen haben und nicht wahrhaben wollen: Deutschland ist für viele Menschen in der Welt zu einem Hoffnungsland geworden – so wie die USA, deren Gründungsmythos davon erzählt, wie sich die Hoffnung auf ein gutes Leben in ein Streben nach dem guten Leben verwandelt hat. Barack Obama hat in einem Buch, noch als junger Senator, von der »Kühnheit der Hoffnung« gesprochen, der Audacity of Hope. Auch viele von denen, die zu uns kommen, bringen diese Kühnheit mit. Das ist, neben allen Anstrengungen, die wir jetzt leisten müssen, ein wichtiger Aspekt von Migration. Die Chance auf und der Wille nach sozialem Aufstieg sind ein starker Ansporn, und von diesem kann das ganze Land profitieren.

Unsere liberale, demokratische und offene Gesellschaft ist zu einem Vorbild geworden, wie kulturelle, ethnische und religiöse Unterschiede aufgehen können in einer gemeinsamen Vorstellung des friedlichen Zusammenlebens in Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität, ohne sich darin zu verlieren. Unsere Gesellschaften sind in der Lage, auch scharfe Widersprüche auszuhalten. Deshalb sollten wir weniger mit Sorge als mit Selbstbewusstsein auf die aktuellen Entwicklungen reagieren, sie nicht als Bedrohung, sondern als Auszeichnung für unsere offene Gesellschaft betrachten.

Deutschland ist Hoffnungsland geworden. Das sollte uns die Kraft geben, die Aufgaben der Zukunft zu schultern. Denn wir haben die entscheidenden Voraussetzungen, die Hinzugekommenen gut zu integrieren und zugleich gemeinschaftlich neue Perspektiven auf Wachstum und Wohlstand zu entwickeln. Wir werden es hinkriegen, wenn die offenen Gesellschaften Europas ihrer eigenen inneren Kraft vertrauen. Wenn wir jenen, die zu uns kommen, mit Respekt begegnen und ihnen eine faire Chance geben. Wenn wir sie nicht allein als Belastung, sondern auch als Bereicherung sehen. Wenn wir klare Anforderungen an sie stellen, ihnen zugleich aber auch eindeutige Perspektiven bieten, eine Arbeit zu finden und, wenn sie sich bei uns integrieren, nach einer gewissen Zeit auch die Staatsbürgerschaft zu gewähren. Deutschland wird von ihrem Unternehmergeist profitieren, von der Zuversicht, dem Fleiß und dem Aufstiegswillen, den die Zuwanderer mitbringen.

Es wird Rückschläge geben, das lässt sich wohl kaum vermeiden. Damit sollten wir aber gelassen umgehen und nicht alles sofort grundsätzlich infrage stellen. Und das können wir uns auch leisten angesichts dessen, was wir in den vergangenen beiden Jahren alle gemeinsam vollbracht haben. Da bin ich zuversichtlich.

Deutschland war nicht immer ein Hoffnungsland. »Nach Amerika«, war das Motto von Millionen europäischen Auswanderern.

Allein in den Jahren zwischen 1820 und 1915 zog es 60 Millionen Menschen von Europa weg in die Neue Welt. Sie entflohen Armut, Hoffnungslosigkeit und verkrusteten gesellschaftlichen Strukturen. Politische und religiöse Minderheiten wurden verfolgt: Jüdinnen und Juden aus Osteuropa flohen vor Pogromen, Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten aus Deutschland vor der Verfolgung unter Bismarck’schen Gesetzen.

»Nach Amerika« – das war die Chiffre für Hoffnung. Sensationell klangen die Geschichten von Leuten, die sich hochgearbeitet hatten. Bürgerinnen und Bürger, die unabhängig von Standesunterschieden als Gleiche akzeptiert werden, das gab es in Europa nicht. Heimkehrer charakterisierten Amerika als »Schmelztiegel«, der selbst Angehörige verfeindeter Nationen zusammenbrachte. 100 Millionen Briefe aus den Jahren zwischen 1820 und 1914 berichteten, wie es in der Neuen Welt war.

Frappierend erinnern diese Beschreibungen an die Umstände, die wir gerade entlang der Migrationsrouten nach Europa beobachten können: Es gab die phantastischen Geschichten über das Ziel, die gemischten Ströme auf dem Weg und die große Vielfalt an Motiven. Manche trieb es fort aus ihrer Heimat, manche fühlten sich angezogen von den Erzählungen über den American Dream, wieder andere wurden aus ihrem Land vertrieben. Auf der anderen Seite des Atlantiks wartete ein Land, das sich ausdrücklich als Einwanderernation begriff und mit der Ermöglichung einer geordneten Ankunft auf Ellis Island in New York entsprechend vorbereitet war.

Diese Wanderungsbewegung begleiteten damals kritische Fragen, die uns auch noch heute sattsam bekannt vorkommen. Benjamin Franklin beispielsweise, einer der Väter der US-Verfassung, klagte insbesondere über die Einwanderer aus Deutschland, weil sie sich jeder Integration verweigerten und weiter ihre Sitten, Gebräuche und ihre komplizierte Sprache pflegten, statt sich in den American Way of Life einzufügen. Ende des 18. Jahrhunderts stammten neun Prozent der Bewohnerinnen und Bewohner des jungen Staates aus Deutschland. Sie importierten deutsche Bücher, stellten deutschsprachige Schilder auf und redeten mit ihren Kindern nur deutsch. Da machte sich mancher Sorgen, ob die Deutschen denn überhaupt in der Lage seien, gute Amerikaner zu werden.

Der Migrationsdiskurs hat sich in den vergangenen 200 Jahren anscheinend nur unwesentlich verändert – nur dass Deutschland inzwischen seinerseits zum Einwanderungsland geworden ist. Zum Hoffnungsland für viele, die der Armut entkommen wollen oder eine wirtschaftliche und berufliche Zukunft suchen. Aber auch für Frauen, Männer und Kinder, die vor Krieg, Gewalt und Terror fliehen und bei uns vor allem eines suchen: Schutz.

Während viele ihre Hoffnungen auf unser Land richten, schauen hierzulande und auch im klassischen Hoffnungsland, den Vereinigten Staaten von Amerika, und all den anderen Industriestaaten immer mehr Bürgerinnen und Bürger mit wachsender Sorge in die Zukunft. Die Globalisierung, die niedrigeren Wachstumsraten und die wachsende Ungleichheit sind die Gründe dafür, die Ungewissheiten, die mit der fortschreitenden Digitalisierung einhergehen, werden sich künftig noch stärker hinzugesellen. Deutschland kann aber nur Hoffnungsland sein, wenn seine Bürgerinnen und Bürger von der Gewissheit getragen werden, dass das Leben für sie und ihre Kinder besser wird und die Soziale Marktwirtschaft auch in Zukunft den Zusammenhalt unserer Gesellschaft gewährleistet.

Die europäische Perspektive

Die Migration von Hunderttausenden Männern, Frauen und Kindern, die seit Sommer 2015 nach Deutschland gekommen sind, lässt sich nicht losgelöst von der politischen, geographischen und wirtschaftlichen Lage unseres Landes in Europa erklären. Die Flüchtlinge nannten »Germany« als Ziel, als sie über Südeuropa und den Balkan gen Norden strebten. Und viele Staaten der Europäischen Union verwiesen schulterzuckend auf eben jenen Wunsch und betonten, dass sie eigentlich nichts zu tun hätten mit den Flüchtlingen, sondern lediglich Transitländer seien auf deren Reise nach Deutschland. Die Schutzsuchenden hatten lange Wege hinter sich gebracht und strebten aus Syrien, dem Irak, Eritrea oder Afghanistan Richtung Deutschland.

Vielleicht haben sich die Mitgliedstaaten der Europäischen Union auch und gerade aufgrund der Fokussierung der Flüchtlinge auf wenige Staaten so schwer getan, eine gemeinsam abgestimmte Reaktion für den Umgang mit der wachsenden Zahl an Schutzsuchenden zu entwickeln, die unterwegs waren nach Mitteleuropa. Die Angelegenheit schien viele nicht recht anzugehen. Eben weil nicht Europa als Ganzes, sondern einzelne Länder wie Schweden, Österreich oder Deutschland von den Flüchtlingen als Ziel genannt wurden. Es ist müßig zu fragen, ob die Betroffenen auch andere Ziele angegeben hätten, wenn beispielsweise Frankreich, Großbritannien oder die Niederlande großzügigere Regelungen für die Aufnahme von Schutzsuchenden gehabt hätten.

Unübersehbar aber ist unser Land im Herzen Europas für diese Migrantinnen und Migranten zum Land ihrer Hoffnungen geworden. Ungeachtet aller Aufgaben und Belastungen, die diese Tatsache mit sich bringt, verbindet sich mit dieser Entwicklung eine gute Botschaft: Deutschland ist in der Welt ein beliebtes Land.

Das war nicht immer so. Als der britische Kriegspremier Winston Churchill kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs dem »vereinten Europa« in seiner berühmten Rede an der Universität Zürich im Herbst 1946 »Glück, Wohlstand und Herrlichkeit in unbegrenztem Ausmaße« prophezeite, war der Gedanke einer gemeinsamen Kooperation der wichtigsten Staaten des Kontinents unter Einschluss Deutschlands nach Jahrhunderten der Fehden und Erbfeindschaften ein kühner und visionärer Gedanke, die Zahl der Skeptiker war groß.

Langsam und vorsichtig begann dieser Prozess der europäischen Einigung. Die sechs Staaten, die in den Römischen Verträgen einen ersten gemeinsamen Markt vereinbarten, reizten die dafür selbst gesetzte Frist von zwölf Jahren buchstäblich bis auf den letzten Tag aus – und setzen damit ein beredtes Exempel für das weitere Vorgehen in der Europäischen Union: Der Integrationsfortschritt in Europa ist eine Schnecke.

Wie konnte es angesichts der immensen Aufgabe auch anders sein, sollte dieses moderne Europa, das in den Verträgen von Maastricht und Lissabon seine Weiterentwicklung fand, doch ein für alle Mal die Jahrhunderte von Feindschaft und Krieg hinter sich lassen und für Stabilität, Frieden und Wohlstand auf dem Kontinent sorgen. Ein Europa, das nach dem jahrhundertealten Ringen um Dominanz und Balance zwischen den Mächten sich in der Europäischen Union als Friedensprojekt zusammenfinden sollte, ließ sich nur vorsichtig und schrittweise entwickeln und musste Rücksicht nehmen auf nationale Befindlichkeiten und Vorbehalte. Von Zeit zu Zeit musste man auch Rückschritte hinnehmen.

Historisch betrachtet ist die EU in ihrer Ausdehnung eher rasch gewachsen. Insbesondere nach dem Fall der Mauer und dem Ende des Kalten Kriegs hat sich das Brüsseler Bündnis in mehreren Erweiterungsrunden zu einer Union von derzeit 28 Mitgliedsländern mit 500 Millionen Bürgerinnen und Bürgern ausgedehnt, die zentrale politische Fragen nach wie vor im Konsens entscheiden möchte.

Was die Akzeptanz der EU bei vielen ihrer Mitgliedstaaten erhöhen sollte, ist mittlerweile allerdings auch zu einer Achillesferse des Bündnisses geworden. Deutlich zeigte sich das bei der Bewältigung der Folgen der Finanzkrise, die durch die Pleite der US-amerikanischen Investmentbank Lehman Brothers 2008 ausgelöst worden war. In den Auseinandersetzungen um die Zukunft des Euro und die ausufernde Staatsverschuldung einzelner Mitgliedstaaten brachen die gegensätzlichen Auffassungen innerhalb der Union dann mit noch größerer Wucht auf. Während die Staaten Südeuropas stärker auf höhere Investitionen setzen wollten, beharrten die nordeuropäischen Staaten auf Haushaltsdisziplin und der Eindämmung der Defizite.

Eine wirkliche Verständigung über diese gegensätzlichen Positionen hat es in den vorhandenen Institutionen der Europäischen Union nie gegeben. Im Gegenteil, die Konflikte lähmten zunehmend die zentralen EU-Institutionen, die Politik verlagerte sich zurück in den Europäischen Rat der Regierungschefs. Nur dort waren die nötigen Kompromisse zwischen den Interessen überhaupt möglich, weil Kommission und Parlament bis zu diesem Zeitpunkt weder über ausreichenden Rückhalt in der europäischen Bevölkerung noch über ausreichende rechtliche Möglichkeiten verfügten. Dieser von Jürgen Habermas eindringlich kritisierte neue »Intergouvernementalismus« Europas führt dazu, dass nationalstaatliche Egoismen in Brüssel heute wieder immer häufiger eine Bühne erhalten.

Parallel dazu hat sich in mehreren Mitgliedstaaten eine gewisse Europaskepsis oder Europamüdigkeit breitgemacht, die sich im wachsenden Wahlerfolg von rechtspopulistischen, teils offen nationalistischen Parteien manifestiert. In Skandinavien, in Österreich, in den Niederlanden, in Frankreich, in Polen. Auch das Brexit-Votum in Großbritannien spiegelt eindrucksvoll die wachsende Distanz in den Bevölkerungen gegenüber der europäischen Integration.

Inzwischen sind solche europaskeptischen, nationalistischen Töne auch in Deutschland en vogue – sowohl ganz links im politischen Spektrum wie ganz rechts außen. Im Herbst 2016 gaben zwei Politikerinnen der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung ein bezeichnendes Doppelinterview, in dem sie viele Gemeinsamkeiten zeigten und in schönster Eintracht über die Europäische Union herzogen.

Sahra Wagenknecht, Bundestagsfraktionsvorsitzende der Partei Die Linke, verlangte in dem Gespräch, Kompetenzen aus Brüssel auf die einzelnen Mitgliedstaaten zurückzuverlegen, und verbrämte dies als Ruf nach mehr Demokratie. »Die Demokratie funktioniert aber nur unter bestimmten Bedingungen. Es muss eine gemeinsame Öffentlichkeit geben und Parteien mit einer bestimmten Ausrichtung. All das fehlt auf EU-Ebene. Es ist kein Zufall, dass sich an der Wahl des EU-Parlaments kaum ein Drittel der Bürger beteiligt«, behauptete sie. Tatsächlich beteiligten sich an den Europawahlen 2014 knapp 50 Prozent der Bundesbürger. »Die EU-Kommission steht außerhalb jeder demokratischen Kontrolle«, so Wagenknecht weiter. Eine Rückverlagerung von Kompetenzen auf die Staaten sei deshalb »eine Frage der Demokratie – nicht Ausdruck eines muffigen Nationalismus, der ein biologistisch definiertes Volk gegen andere Kulturen abschotten will«.

»Diese Kritik an der EU und das Bekenntnis zum Nationalstaat teilen wir«, sekundierte Frauke Petry, Bundesvorsitzende der Alternative für Deutschland (AfD). »Demokratie und Transparenz funktionieren in kleinen Verbünden besser als in großen, weil nur dann der Bürger weiß, warum welche Entscheidung getroffen wird, weil es in seiner Lebenswelt passiert.« Außerdem hätte die EU die Prinzipien von Freiheit und Wettbewerb und Solidarität eingetauscht für die Harmonisierung und zerstöre damit die Vielfalt Europas.

Angesichts solcher Aussagen finde ich es wichtig, sich ein paar Dinge ins Bewusstsein zu rufen, die wir im 21. Jahrhundert vielleicht als zu selbstverständlich hinnehmen: Deutschland hat eine herausragende Verantwortung für Europa. Unsere Nachbarländer haben sich lange Zeit vor der Kraft eines vereinten Deutschlands gefürchtet und konnten ihre Befürchtungen nach der Gründung des starken deutschen Nationalstaates 1871 in zwei fürchterlichen, von Deutschland ausgehenden Weltkriegen bestätigt sehen. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde Deutschland wieder geteilt – und genauso wie Europa durch einen Eisernen Vorhang in Ost und West getrennt.

Der westliche Teil fand als gleichberechtigtes Mitglied Aufnahme in den Nordatlantikpakt und die Europäische Gemeinschaft und erlebte einen beeindruckenden wirtschaftlichen Aufschwung, während er machtpolitisch eng eingebunden war in den Prozess der europäischen Einigung. Die Demokratiebewegungen Ende der achtziger Jahre in Mittel- und Osteuropa brachten die Nachkriegsordnung zum Einsturz. In der Folge konnte sich Deutschland wiedervereinigen – mit dem Einverständnis und der Unterstützung seiner Nachbarn, die das Land tief eingebettet wussten in die EU. Ohne die Europäische Union wäre die deutsche Wiedervereinigung nicht denkbar gewesen. Das dürfen wir nicht vergessen.

Aufgrund seiner Größe, seiner Wirtschaftskraft und seiner geographischen Lage im Herzen Europas betreffen die politischen Entscheidungen Deutschlands immer auch seine Nachbarn. Unser Land kann und darf also nicht so tun, als hätte es mit den Schwierigkeiten, die sich anderen EU-Ländern stellen, nichts zu tun. Die Volkswirtschaften der Europäischen Union sind eng miteinander verwoben, und was in der größten europäischen Volkswirtschaft passiert, deren Bruttoinlandsprodukt mehr als drei Billionen Euro ausmacht, hat unmittelbare Folgen für die wirtschaftliche Lage in den anderen EU-Staaten. Deshalb brauchen wir auch eine gemeinsame Strategie innerhalb der EU – und keineswegs nur in Wirtschafts- und Finanzfragen.

EU2015