Erste Hilfe (26,90 Euro)
»Wir können uns hier ja alle duzen, oder? Wir sind ja in der Freizeit hier.« Das Mädchen steht vor dem Whiteboard und strahlt uns an.
Freizeit. Nach Freizeit fühlt sich das ganz und gar nicht an. Wir sitzen in einem schlecht gelüfteten Raum im zweiten Stock eines Neubaus. Draußen regnet es. Der Stuhl ist unbequem, und ich trage ein Namensschild. Diese jungen Leute, die heute den Erste-Hilfe-Kurs mit uns machen sollen, lächeln alle und sprechen uns permanent mit unseren Vornamen an. Dafür die Namensschilder. Es ist Sonntagmorgen, und ich war die einzige Person auf der Straße. Die U-Bahn war auch leer. Wir sind ungefähr zwanzig Teilnehmer, und alle hängen müde auf ihren Stühlen. Die drei Kursleiter sind dagegen hellwach und aufgekratzt, als wäre das hier die geilste Party ihres Lebens.
»Wir machen erst mal zur Auflockerung ein Kennenlernspiel.« Eigentlich bin ich ein großer Freund von Kennenlernspielen. Aber nur, wenn ich sie durchführe und nicht mitmachen muss. Und was sage ich dann? Wie soll ich mich denn vorstellen? Ich sage auf keinen Fall Lehrerin, und auch mein Alter werde ich verschweigen. Ich sage, ich bin Fleischerin, Modedesignerin, Finanzbeamtin oder so was.
»Genau. Also sagt euren Namen und eure Hobbys, und dann stellt ihr euch gegenseitig vor. Verstanden?«
Puh, okay, ohne Beruf und Alter. Glück gehabt. Neben mir sitzt ein Junge mit Undercut. Er dreht sich schüchtern zu mir und sagt: »Dann machen wir also zusammen.« Ich grinse ihn an und nicke. »Und, Jonas, hast du schon eine Fahrstunde gehabt?«
»Nee, erst morgen.«
Die gutgelaunte Kursleiterin – sie sieht aus wie eine Achtklässlerin – stellt sich in die Mitte des Raumes: »Und? Fertig?«
»Ach so, was sind denn deine Hobbys, Jonas?«
»Fußball und Zeichnen. Und Ihre?«, fragt er. Und ›Ihre‹? Warum siezt der mich? Ich dachte, wir sind hier alle in der Freizeit und duzen uns so ganz locker. Egal. Wir sollen unsere Hobbys nennen. Oh Gott, Hobbys. The Walking Dead? Ist das ein Hobby? Rauchen? Soll ich jetzt mit dem Rodeo kommen? Was, wenn die dann nachfragen?
»Äh, Lesen und Verreisen.« Hab ich das wirklich gesagt? Lesen und Verreisen? Die lahmsten Hobbys, die man sich denken kann. Und sind wir doch mal ehrlich, eigentlich rauche ich doch viel mehr, als ich verreise, und ich gucke auf jeden Fall viel mehr Serien als in irgendwelche Bücher. Aber jetzt ist es zu spät. Da muss ich jetzt durch. Ich bin die mit den langweiligen Hobbys. Ich bin sicher, dass die drei Brüder hinter mir nicht ›Lesen‹ sagen. Vielleicht müssen wir das gar nicht laut sagen, denke ich noch, aber da zeigt das Kursleitungsmädchen schon auf die beiden jungen Frauen, die ganz links sitzen.
»Ja, also, das ist die Lena, sie ist 17 Jahre alt, und ihre Hobbys sind Hip-Hop-Tanzen und Mangas.«
Was soll das mit dem Alter? Das sollten wir doch gar nicht sagen.
»Und das ist die Sina-Marie, und sie ist auch 17, und ihre Hobbys sind Surfen und sich mit Freunden treffen.«
Mist, ich komme um das Alter nicht rum und beuge mich zu Jonas, um ihm noch schnell mein Alter mitzuteilen. »Ich bin übrigens Mitte vierzig.«
»Das hier ist Jonas. Er ist 17, und seine Hobbys sind Fußball und äh …« Mist, kann ich mir nicht mal zwei Sachen merken? War das jetzt auch Lesen? Oder Computerspiele? Jonas sieht aus wie Vincent aus meiner Klasse, und der spielt immer Computerspiele. Spielen die in dem Alter nicht alle immer nur Comp…
»Zeichnen«, flüstert Jonas.
»Ah ja, richtig. Seine Hobbys sind Fußball und Zeichnen.«
Als sich alle vorgestellt haben, ist klar, dass ich die Allerallerälteste im Raum bin. Selbst der Typ hinten rechts mit der Glatze ist noch wesentlich jünger als ich. Während ich noch im Kopf ausrechne, ob ich nun dreimal oder viermal älter bin als Lena und Sina-Marie, geht der Kurs auch schon los. Alles zum Helfen. Muss man helfen, wie hilft man, wer hilft, Strafgesetzbuch, Studien, brennendes Haus, Verkehrsunfall, und dann kommt irgendwann eine fünfminütige Pause und ich denke: Das überlebe ich nicht. Nicht sechs Stunden. Ich kann jetzt schon nicht mehr zuhören. Ich brauche mehr Action. Mit dem Gedanken gehe ich nach zwei Zigaretten – wenigstens kann ich schneller rauchen als diese Kinder hier – zurück in den Raum. Und weil ich mich so langweile, melde ich mich immer als Erste, wenn ein Freiwilliger gesucht wird. Ich ziehe Karten, ich springe auf und zeichne Punkte an das Whiteboard. Wenn Fragen gestellt werden, schreie ich die Antworten, ohne mich zu melden, sofort in den Raum. Ich bin das erste Opfer, an dem die stabile Seitenlage ausprobiert wird. Sobald die Matte ausgerollt ist und die Kursleiterin sagt: »Jetzt bräuchten wir einen Freiwilligen«, schmeiße ich mich schon nach dem »Jetzt« auf den Boden und rolle mich in eine möglichst authentische Verletztenposition. Als Verletzter liegt man ja nicht so ganz gerade und gemütlich wie im Bett, sondern mit ausgestreckten Armen und ein Bein eingeknickt über dem anderen oder ein Arm über dem Kopf und der andere angewinkelt über dem Bauch. Ich will hier nicht nur mitmachen – ich will auch alles besonders gut machen.
Ich presse der armen Little Anne mein ganzes Körpergewicht auf den Brustkorb, beatme sie mit solch einer Hingabe, dass ich selbst etwas überrascht bin, dass sie nicht aufsteht und sich bei mir bedankt. Ich bin voll dabei. Und jetzt mal ganz ehrlich – ich bin auch in allem voll gut. Mein Dreieckstuch ist definitiv besser als das von Hassan hinter mir. Drei Verletzte liegen auf dem Boden, und drei Ersthelfer knien neben ihnen.
»Okay, du findest einen Verletzten auf der Straße. Was machst du zuerst?«, fragt einer der Anleiter Eran, der neben mir hockt. »Äh, äh, also gucken, fragen …«
»Genau. Ansehen, ansprechen, anfassen … und dann?«
Eran überlegt. Oh Mann. Ansehen, ansprechen, anfassen, nach Hilfe rufen. Das ist doch nicht so schwer. Eran überlegt immer noch. Grinst. Ich flüstere: »112.« Dann sagt er erleichtert: »Ah ja. Angucken, reden, anfassen und Feuerwehr.« Hoffentlich wird Eran nie mein Ersthelfer.
Nach sechs Stunden bin ich nicht nur schlauer und total verschwitzt – Verkehrsopfer ohne Helm, Verunglückter mit Helm, Rettungsgriff an Hassan und Sina-Marie demonstriert … Nein, ich habe auch festgestellt, dass das überhaupt nicht stimmt, dass man mit über 30 so Schwierigkeiten hat, etwas zu lernen. Ich war definitiv besser als die 17-Jährigen.