An der Fahrschule in meiner Straße laufe ich nun schon seit zwanzig Jahren vorbei. Nie habe ich mir über Fahrschulen Gedanken gemacht. Genauso wie ich zu den Dealern am U-Bahnhof immer »Nein, danke« sage. Fahrschulen und Drogenkauf kamen bisher in meinem Leben nicht vor. Das soll sich nun ändern. Heute betrete ich die Fahrschule Fahrenheit. Die ganze Fahrschule ist eigentlich nur ein Raum. An der Wand hängen ein Kalender von einem Reifenhersteller und eine Uhr. An einer Seite stehen zwölf unbequem aussehende schwarze Plastikstühle und an der anderen ein langer Schreibtisch, hinter dem ein junger Mann sitzt. Von der Decke hängt ein Beamer. Der Freund begleitet mich. Wir setzen uns auf die zwei Stühle vor dem Schreibtisch. Der junge Mann sitzt uns gegenüber. Er ist sehr dünn und sehr jung. Er sieht aus, als sei er erst vor ein paar Monaten volljährig geworden. Ich bekomme sofort mütterliche Gefühle.
»Ich will einen Führerschein machen.«
»Na, da sind Sie hier ja genau richtig«, sagt er, und ich nehme mir ein Zitronenbonbon aus dem Glas neben seinem Computer. Ich kann nicht anders. Ich muss alles nehmen, was umsonst ist. Er fragt mich, ob ich mich mit dem ganzen Prozedere schon auskenne. Ich sage: »Nö.« Ich hatte extra versucht, möglichst wenig über die ganzen Verordnungen und Anmeldevoraussetzungen zu lesen, denn ich hasse es, mich über Sachen zu informieren, die ich schon weiß. Nichts ist schlimmer, als wenn dir jemand etwas erklärt, das du schon gründlich im Internet recherchiert hast. Natürlich kannte ich doch schon ein paar Eckpunkte. Ich komme zum Beispiel um diesen Erste-Hilfe-Kurs nicht rum. Ich höre mir also an, was noch ansteht.
Er sagt was von »Dann holen Sie sich einen Termin beim Bürgeramt«. Ich denke: Oh, das wird schwierig, sind die nicht zurzeit total überlastet? Er erzählt vom Theorieunterricht und von den Fahrstunden.
»Wie? Sie meinen, ich werde Fahrstunden bekommen, ohne vorher irgendwelche Verkehrsregeln gelernt zu haben?«
»Ja.«
»Aber ich kann doch nicht, ohne was zu wissen, am Straßenverkehr teilnehmen.« Ich verstehe nicht mal die Vorfahrtsregeln. Ich kenne mich mit Ampeln aus, aber das ist es dann auch schon. Ich fahre ja nicht mal Fahrrad. Und dieses Rechts-vor-links … Ich weiß doch nie, wo rechts ist. Wenn ich mit jemandem im Auto sitze und den Weg angeben soll, dann muss ich immer in die Richtung zeigen, in die wir fahren müssen. Wie soll das denn dann auf der Straße werden? Na, die werden schon wissen, was sie machen.
»Und wie lange wird das Ganze ungefähr dauern?«, frage ich.
»Sie meinen, wie viel es kosten wird?«
»Nein, ich meine, wie lange es dauern wird.«
Der junge Mann beugt sich auf seinem Bürostuhl vor. Guckt den Freund an und grinst: »Auto fahren ist ja auch gar nicht so leicht.«
Der Freund nickt. Ich frage mich, woher er das wissen will. Mein Freund hat auch keinen Führerschein. Darum ist er ja mitgekommen. Die Idee war, dass wir uns beide anmelden und beide den Führerschein machen. Aber dann der Rückzieher: »Mach du das lieber alleine. Du bist doch jetzt im Sabbatjahr und brauchst eine Beschäftigung, wenn du nicht zur Schule gehst. Dann ist das DEIN Projekt. Ich fahre einfach immer mit dir.« Ich hatte gehofft, dass er sich das in der Fahrschule vielleicht noch mal überlegt. Hat er aber nicht, denn jetzt wäre der Moment zu sagen, dass er keinen Führerschein hat und auch einen machen möchte. Aber er lächelt nur. Mit meinem führerscheinlosen Freund kann sich der junge Fahrschulangestellte jedenfalls nicht verbünden. Ich warte immer noch darauf, dass er mir sagt, wie lange es dauert, so einen Führerschein zu machen.
Der junge Mann sieht wieder zu mir, lächelt und sagt: »Wir unterteilen die Fahrschüler in zwei Gruppen. Die unter 30 und die über 30.« Kurze Pause. Dann: »Sie sind doch über 30, oder?«
Ich freue mich über sein »oder«, denke dann aber sofort: Natürlich bin ich über 30, du kleiner Schleimer. Ich bin bald über 50, und das ist dann auch nicht mehr weit weg von über 60.
Okay, ich gehöre also zu der Gruppe über 30. Die mit dem festen Job, die mit der Rentenversicherung, die mit der großen Wohnung und der billigen Miete. Wir, die vernünftigen Überdreißigjährigen. Die alles schaffen und die Welt am Laufen halten. Wir machen doch den Führerschein mit links, auch wenn wir vielleicht nicht wissen, wo links ist. Aber bei diesen Jungspunden mit Anfang zwanzig, ach, was sag ich: diesen 17-Jährigen, die noch zur Schule gehen –, bei denen dauert das Ganze natürlich länger. Wir wissen doch, wie schwer sich junge Leute mit neuem Lernstoff tun. Wie oft versuche ich, meinen 17-Jährigen das Simple Past beizubringen, und sie raffen es einfach nicht.
Dann erzählt mir dieser Typ allerdings, dass es erwiesenermaßen sehr viel schwieriger sei, irgendwas zu lernen, wenn man über 30 ist. Ich denke: Häh? Spinnt der? Ich bin doch nicht blöder als so ein 17-Jähriger! Der kennt mich doch gar nicht. Ich habe Aquagymnastik gelernt und Snowboardfahren, Unterrichten, Lehrerinsein, mich in den Ferien zu erholen und was weiß ich noch. Ich werde doch wohl auch Autofahren lernen können, auch wenn ich in seinen Augen schon halbtot bin.
Ich habe mich noch gar nicht von dem Schock erholt, da beschreibt er schon das Fahrlehrer-Sortiment.
»… und dann haben wir noch einen älteren, der sehr geduldig, ruhig und einfühlsam ist.«
Ich denke: Pfff, mit dem Langweiler will ich aber nicht im Auto sitzen. Ich will einen jungen Typen.
»Genau. Also der ist wirklich sehr, sehr geduldig, und der wird sehr gerne von den älteren Fahrschülern genommen.«
Ich sage nichts mehr. Unterschreibe alles, was er mir über den Tisch schiebt. Na warte, dir werde ich es noch zeigen. Von wegen erwiesenermaßen. Du wirst schon sehen, wie schnell ich dieses Autofahren lernen werde. Aber ich werde auf keinen Fall sagen, dass ich Lehrerin bin. Eine Lehrerin über 30. Oh Gott. Ich kann mir schon vorstellen, was die dann denken. Nee, ich werde sagen, dass ich Rodeos reite und ein Hip-Hop-Label habe, bei dem ich selbst der große Star bin. Ach, ich werde gar nichts sagen. Ich gehe da einfach hin, lerne Auto fahren – fertig.
Meine Freundin Frau Dienstag ist eine begeisterte Autofahrerin. Sie hat ein eigenes Auto und fährt jeden Morgen damit zur Arbeit. Sie ist auch Lehrerin, und ihr Auto ist silbern. »Warum hast du eigentlich keinen Führerschein?«, fragt sie mich abends, nachdem ich ihr erzählt habe, dass ich mich bei der Fahrschule angemeldet habe. »Den brauchte man doch in Berlin nicht. Und in den Achtzigern war das auch gar nicht so angesagt, das Autofahren. Vielleicht erinnerst du dich daran.« Sie schüttelt den Kopf, als höre sie das zum ersten Mal. Sie kommt auch nicht aus Berlin. »Wegen der Umwelt und so. Und außerdem hatte ich immer einen Freund, der ein Auto oder ein Motorrad hatte.«
Sie grinst: »Ja, bis du den einzigen Mann ohne Führerschein kennengelernt hast.«
»Stimmt. Aber jetzt wird ja alles anders. Ich gehe am Sonntag zum Erste-Hilfe-Kurs und hab nächste Woche schon die erste Fahrstunde.«
»Du fährst, bevor du die Theorie hattest?«
»Ja.«
»Krass!«