Über Ece Temelkuran

Foto: Muhsin Akgün

Ece Temelkuran, geboren 1973 in Izmir, ist Juristin, Schriftstellerin und Journalistin. Aufgrund ihrer oppositionellen Haltung verlor sie ihre Stelle als Redakteurin bei einer der großen türkischen Tageszeitungen.

Ihr Roman Was nützt mir die Revolution, wenn ich nicht tanzen kann? erschien 2014 im Atlantik Verlag. Bei Hoffmann und Campe erschien 2015 das Sachbuch Euphorie und Wehmut. Die Türkei auf der Suche nach sich selbst.

 

Ich bin gespannt, was ihr nicht vergessen

und woran ihr euch erinnern werdet.

Die Leute, die die kleinsten Dinge nicht vergessen können, sind auch diejenigen, die jene Erinnerungen, die am weitesten zurückliegen, nicht vergessen können. Wegen der unglücklichen Intensität ihres Erinnerungsvermögens werden sie auch sterben, ohne jemals in einer Stadt oder einem Land Fuß zu fassen, sie werden einfach alles, jede Gegend lieben.

Sait Faik Abasıyanık, Der alte Student

~~

Der Schwan seufzte, reckte den schlanken Hals, schlug mit den Flügeln, erhob sich und flog davon. Er stieg immer höher und höher, einsam flog er über die dunklen Wolken.

Leo Tolstoi, Schwäne

~~

Die Türkei, gegründet als ein guter böser Traum, liegt in der Mitte zwischen Asien und Europa. Die Hauptstadt Ankara wiederum liegt ziemlich genau in der Mitte der Türkei, und in der Mitte dieser Hauptstadt gibt es einen Park. In einem kleinen Teich schwimmen dort Schwäne. Man nennt sie »die stummen Schwäne«, und sie kämen niemals auf den Gedanken davonzufliegen. Auf ihrem täglichen Weg durch die Stadt bleiben die Menschen oft bei den Schwänen stehen und betrachten sie, als wüssten die Schwäne etwas, das einst vergessen zu haben sich die Menschen selbst nicht mehr erinnern.

Im Sommer 1980 verlief durch die Türkei eine der Frontlinien im Kalten Krieg, an denen es besonders heiß herging. Der Frühling von 1968 hatte bewaffnete linke Studenten und vom Staat unterstützte rechte Milizen zurückgelassen. Wie heute erlebte das Land eine Zeit, in der das Gute und das Schlechte, das Schöne und das Hässliche, das Wahre und das Falsche von Blut besudelt wurden. In den Städten wütete der Bürgerkrieg, aber die Menschen versuchten weiter, ein normales Alltagsleben aufrechtzuerhalten. Das Land war längst unregierbar geworden, doch noch taten alle so, als würde der Putsch der Militärs, von dem jeder wusste, dass er unmittelbar bevorstand, niemals kommen.

Die Geschichte dieses Buches spielt in Ankara und damit im Herzen der Türkei, in jenem Sommer, den die Menschen versucht haben zu vergessen, sie beginnt in den frühen Sommermonaten und zieht sich bis zum Tag des Putsches, dem 12. September 1980.

1. Kapitel

Familie Bakar

Kurtuluş, Ankara

»Ob sie mich wohl lieber haben, wenn ich sterbe?«

Das denke ich, als Papa mich von unserem Balkon zu dem von Samim und Ayla rüberreicht. Erst rutschen mir alle Lichter im Viertel von den Augen in den Bauch. Dann klingt aus der Wohnung von Jale Hanım einen Stock unter uns das Lied Das kann doch nicht sein, oder träume ich?. Es duftet gelb nach Pommes frites. Unten rennen junge Männer durch die Dunkelheit und spielen Fangen. Der Maulbeerbaum vor der Polizeiwache flüstert. Auf der Straße hupen Autos. Alles ist wunderschön, aber weil sie Angst haben, dass ich abstürzen könnte, schreien die Erwachsenen laut durcheinander.

Mama: »Aydın, Vorsicht! Lassen wir das besser …«

Oma: »Ihr bringt sie noch um! Ach, pass doch auf, Aydın!«

Samim, unser Nachbar: »Ich hab sie, Aydın, du kannst loslassen, ich hab sie. Gleich wird Ayşe das Stadion sehen, in dem die Olympischen Spiele stattfinden! Heute Abend legen wir Ihnen Moskau zu Füßen, verehrtes Fräulein! Wir machen Kino! Und Wodka gibt’s natürlich auch, Ayşejewitsch!«

Als gerade alles so wunderschön ist und aus Jale Hanıms Wohnung immer noch Musik klingt–Wenn ich vor Kummer sterbe, sag es, kleiner Mann, wird dann dein Herz nicht bluten? –,

Mit geschlossenen Augen kommt es mir vor, als wäre die ganze Welt stehen geblieben. Alles nur noch ein Bild in meinem Kopf.

Ayşe Bakar

Davor war Mittag. Es war sehr heiß. Weil Sommer ist. Der heißeste Sommer seit Menschengedenken, hat Oma gesagt. Mit Wassermangel und so. Es war Zeit für ihren Mittagsschlaf. Als sie mit ihrem sssss anfing – auf ihrem Bauch hob und senkte sich das Buch Ein Pfirsich, tausend Pfirsiche –, konnte ich endlich aufstehen. Mir war langweilig. Ich musste meine Wange ganz vorsichtig von Omas verschwitztem Arm ablösen. Es schmatzte. Oma machte immer noch sssss. Ein Glück, nicht aufgewacht! Vom Bett aus konnte ich runter zur Polizeiwache schauen. Aber heute spielte da keiner. Also unternahm ich eine Entdeckungsreise durch unsere Wohnung.

 

Von manchen Sachen bei uns zu Hause weiß nur ich, wo sie sind. Die Haarklammer unter dem Wohnzimmerteppich zum Beispiel, die Stecknadel in der Ecke vom Bücherregal oder der Hemdknopf auf dem Fensterbrett. Und natürlich die platt gedrückte Glühbirnenschachtel hinten in der Schublade vom Garderobenschrank. Die haben sich alle versteckt. »Pst!«, sagen sie. »Verrat uns nicht!« Ich muss ab und zu kontrollieren, ob sie noch da sind.

 

Papas Hemdknopf ist abgerissen, als er Nachrichten schaute – Militante Anhänger des Revolutionären Weges … Ohne den

Die Haarklammer hat sich wehgetan. Mama hatte die Zeitung aufgeschlagen und wollte nebenbei Frühstück machen –Knoblauchwurst und Eier. Sie beugte sich über die Zeitung wie eine Taube, die ein Hirsekorn aufpickt; da fiel ihr die Klammer aus den Haaren. »Aaah!«, schrie die Haarklammer beim Runterfallen, dann machte es pling!, und wahrscheinlich wäre sie da liegen geblieben, wenn Mama nicht mit dem Fuß nach ihrem Pantoffel geangelt und sie dabei aus Versehen unter den Teppich geschubst hätte. – »Aydın! Wach auf, Aydın! Die haben İrfan geholt!« – Die Klammer verschwand unter dem Teppich. Ich schaute nach: Sie lebte noch. Aber sie wollte da bleiben. »Pssst!«

Die Stecknadel, die es sich im Bücherregal bequem gemacht hat, ist ganz schön gemein. Sie kichert immer wie der Fuchs, der dem Raben den Käse geklaut hat. Sie lacht Oma aus. Als ich einmal aus dem Haus rennen wollte – es hatte schon zur ersten Stunde geschellt! –, riss ausgerechnet da der Saum von meiner Schuluniform, und Oma kam mit zwei Stecknadeln an. »Stell dich ins Licht, hier kann ich ja gar nichts sehen.« Eine Nadel reichte aber schon, also legte sie die andere ins Bücherregal. Die kullerte ganz leise davon und blieb in einer Ecke liegen. »Gib acht, mein Spatz, dass sie dir nicht ins Knie sticht.« Die Stecknadel fing an zu kichern. »Oma! Die Nadel lacht dich aus!« Wenn Oma aufsteht oder sich bückt, tauchen auf ihren Wangen immer so blau-rote Adern auf. »Dann lass

Das Telefon klingelte. Oma ging dran. »Wie war Ihr Name? Önder? Nein, Sevgi ist nicht zu Hause. Einen Augenblick, ich notiere mir Ihre Nummer. Im Hotel Ankara, sagten Sie?« Oma drückte eine leere Glühbirnenschachtel platt und schrieb mit dem Bleistiftstummel aus der Garderobenschublade die Nummer auf. Als Mama nach Hause kam, flüsterte Oma ihr was ins Ohr und drückte ihr die Glühbirnenschachtel in die Hand. Kurz danach kam Papa rein, und Mama warf die Schachtel in die Schublade, ganz nach hinten. »Ach, nichts Besonderes. Leyla hat angerufen, und Mutter hat sich die Nummer notiert.« Mama hatte Angst. Aber wovor? Als ich später nachgeschaut habe, stand da gar nicht Leyla. Da stand auch nicht Önder. Nur die Nummer eben. Vielleicht hatte Oma seinen Namen ja vergessen. Oder sie wusste nicht, wie man Önder schreibt. »Pssst!«, machte die Glühbirnenschachtel.

 

Auch die meisten Gerüche in unserer Wohnung kenne nur ich, glaube ich. Oma zum Beispiel hat keine Ahnung, wie gut sie riecht. Sogar ihr Zimmer duftet nach Oma. Die Kopftücher, die innen an der Zimmertür hängen, riechen nach »Gerade lag’s mir doch noch auf der Zunge«. Die Gästepantoffeln riechen nach »Na, du bist mir vielleicht eine!«. Ihre Schublade riecht nach Puder, und ihr Nachthemd nach Butterkeksen. Wenn sie mich zum Lachen bringen will, muss Oma nur die Augen zumachen. Ihr Mittagsschlaf riecht nach dem Rattern von ihrer Nähmaschine. Das ist eine Zetina, und sie riecht braun, wie Öl mit Zucker.

Das Wohnzimmer riecht irgendwie traurig. Und still. Ganz anders als die Wohnung von Jale Hanım. Weil da dauernd der Kassettenrekorder läuft und sie roten Nagellack benutzt, riecht es bei ihr nach Duftradiergummi. Aber wahrscheinlich liegt es daran, dass die Nachrichten sie nicht traurig machen. Ihr Mann hat ja auch keinen Schnurrbart. Meine Eltern mögen Jale Hanım und ihren Mann nicht so richtig, weil die sich irgendwie nicht benehmen können. Wir sind eben anders, weil uns die Nachrichten traurig machen. Weil Papa genau so einen Schnurrbart hat wie die toten Männer im Fernsehen.

Wenn ich groß bin, will ich auch mal so sein wie die Frauen in den Nachrichten, und dann soll Mama mein Bild in der Zeitung entdecken. Und Papa soll es in den Nachrichten sehen. Dann soll Papa »Sevgi!« rufen und Mama »Aydın!«. Eigentlich reden sie nur miteinander, wenn »die« mal wieder einen »geholt haben«. Und dann hätten sie eben mich geholt.

 

»Kannst du nicht schlafen, Ayşe? Was hast du denn, mein Spatz? Weinst du etwa? Hast du was Schlimmes geträumt? Träume sind Schäume, mein Liebchen. Komm her zu mir. Ihr geht heute Abend zu Samim und Ayla. Lass uns russischen Salat machen, bevor deine Eltern wieder da sind. Du darfst das Öl in die Mayonnaise gießen, aber ganz langsam!«

Wie schön der Schweiß glänzt zwischen Omas Brüsten …

»Was ist das denn, Aydın? Bericht über die Todesfälle in der Türkei und deren Ursachen? Lässt unser allseits gepriesener Staat dich jetzt schon über seine Auftragsmorde schreiben? Weiß die Planungsbehörde etwa im Voraus, wie viele von uns noch krepieren werden? Bring so ein Zeug bloß nicht mehr in meine Kneipe!«

»Ist ja schon gut, Reşit. Nimm mir lieber mal das Paket hier ab und erinnere mich nachher dran, es wieder mitzunehmen.«

Die Luft im Tavukçu ist rauchgeschwängert. Ob der Detektiv wohl schon da ist?

»Er wartet an seinem Stammplatz, Aydın. Hat seine Ration schon intus. Für dich auch einen Doppelten?«

Der Detektiv hat sich das Nagelkauen noch immer nicht abgewöhnt, wie ein kleines Kind. Da er mich unbedingt treffen wollte, muss er wohl etwas Wichtiges herausgefunden haben.

»Aydın, hier bin ich! Wie geht’s?«

»Bin ziemlich geschafft, Nahit. Hab dieses Paket den ganzen Weg von der Behörde hierhergeschleppt …«

»Was ist denn drin?«

»Ob du’s glaubst oder nicht, Detektiv, ein Kronleuchter!«

»In einem Land, in dem es nicht mal Glühbirnen gibt?«

»Ein ehemaliger Kollege von mir verkauft jetzt Kronleuchter. Der Mann hat in Harvard studiert, aber die Nationalistische Front hat ihn durch einen dieser sogenannten Idealisten ersetzt. Der hockt jetzt bei uns im Büro. Möchte gar nicht wissen, wie viele Morde der auf dem Kerbholz hat …«

»Und du hast schon wieder …«

»Er ist doch gerade erst Vater geworden, Detektiv.«

»Letzte Woche die Bettbezüge, in der Woche davor das Stahltopfset – wenn du weiter den ganzen Plunder aufkaufst,

»Und du jagst mitten im Bürgerkrieg vereinzelte Mörder. Ist das vielleicht sinnvoller?« Der Versuch eines Lachens bleibt uns im Halse stecken. »Liest du schon wieder diesen Mist, Detektiv? Tu mir den Gefallen und bring die Hergün wenigstens nicht mit in die Kneipe.«

»Dein Wort in Gottes Ohr, Aydın, aber das musst du dir anhören.«

»Bitte, Nahit, wenn man sowieso schon jeden Tag Angst haben muss, von diesen Typen auf dem Büroflur abgestochen zu werden, dann …«

»Nennt sich Ode an den Idealisten. Hör zu: Du, in dem der Gottlose das Hässliche, der Vaterlandslose das Wilde, der Ehrlose das Schreckliche, der Unbeherzte das Protzige, der Taugenichts das Mühsame, der Revoluzzer das Tyrannische, der Opportunist das Böse, der Krüppel das Unterdrückerische, der Anarchist das Staatliche und der Kommunist das Kranke sieht, was treibt dich als Feind all dieses Negativen dazu an, das Positive zu betonen?«

»Ach, Nahit, hör doch auf damit …«

»Warte, ich bin gleich fertig. Sich Verräter in so großer Zahl zum Feind gemacht zu haben, ist das nicht der schlagende Beweis dafür, dass du die Pflicht hast, ihrem Bilde zu entsprechen? Sei also der, für den man dich hält und als den man dich kennt! Und?«

»Ganz große Klasse, Nahit!«

»Wenn man der Einheit gegen rechten Terror angehört, muss man sich zwangsläufig mit so was befassen.«

»Schon gut, aber legen wir die hochgeistige Literatur jetzt mal wieder beiseite und …«

»Wir müssen doch auf dem Laufenden bleiben, Aydın.«

»Danke, aber mir reicht’s jetzt. Also, warum hast du mich herbestellt? Gibt’s was Neues?«

»Ach, Nahit, was soll schon sein, in drei Teufels Namen! Unser Bürodiener, Hasan Efendi, wohnt in Seyranbağları. Ihm ist das Haus abgefackelt. Abgefackelt worden, besser gesagt. Er meint, es waren die Rechten – aber er ist natürlich auch ein Linker …«

»Ich finde das heraus, wenn du willst. Also, wer das Feuer gelegt hat, meine ich.«

»Wozu soll das gut sein? Das Haus liegt in Schutt und Asche, die Familie sitzt auf der Straße. Und weil ich diesen verdammten Kronleuchter gekauft habe, konnte ich ihm keinen roten Heller mehr geben. Ich frage mich, was all dem zugrunde liegt, Nahit.«

»Was meinst du mit ›all dem‹?«

»All dem Hass. Wie können Menschen einander so was antun?«

»Mit politischen Analysen kennst du dich besser aus als ich.«

»Ach, Politik – findet die überhaupt noch statt? Ich sage dir: Es liegt ein Fluch auf diesem Land. Eine Art Ursünde. Denk an 1971, als unsere Leute aufgeknüpft wurden. Aber damit hat es nicht angefangen. Die dreißiger Jahre vielleicht? Als die Fundamente für die Türkische Republik gelegt wurden? Nein, auch das war nicht der Anfang. Wir müssen bis zurück in die Zeit, als die Osmanen ihre Zelte gegen Paläste eingetauscht haben. Als sie überall, auf dem Balkan und so, den Familien ihre Söhne weggenommen und zu Janitscharen gemacht haben. Die haben sich ihren Staat von Waisenknaben aufbauen lassen. Wenn du mich fragst, Detektiv, dann lastet auf unserem gottverdammten Land der Fluch dieser Waisen. Das ist der eigentliche Grund für die ganze Brutalität. Oder …«

Der »gute Junge« namens Timur stützt sich mit beiden Händen auf den Tisch und holt tief Luft. »Es gibt Neuigkeiten, Detektiv! Gün Sazaks Rache hat begonnen!« Seine Stimme überschlägt sich.

Sämtliche Kneipengäste drehen sich zu uns um.

»Tatsächlich? Timur, das ist Aydın, Experte für Demographie bei der Staatlichen Planung.«

Doch so einfach lässt sich Timur nicht abspeisen. »Nahit, können uns eure Experten für linken Terror nicht irgendwelche Hinweise …«

»Junge, die holen sich Studenten und foltern sie noch zwei Tage extra, nur um an unsere Namen zu kommen. Weil wir ja linke Polizisten in eine Organisation einschleusen könnten. Wir können froh sein, dass uns bislang noch kein Haar gekrümmt wurde, was stellst du dir eigentlich vor! Übrigens, Aydın, wegen eurer Sache, da gibt es wohl eine neue Augenzeugin …«

Dieser Detektiv hat manchmal wirklich Nerven! Ich sollte wohl besser das Thema wechseln, damit er nicht noch mehr ausplaudert.

»Und, Reporter, wie ist die Lage in Kurtuluş?«

»Oh, da wird heute Abend die Post abgehen. Die Rechten haben in ihrem Studentenwohnheim einen Verhörraum eingerichtet. Dort, heißt es, foltern sie die Linken, denen sie im Kurtuluş-Park auflauern. Wenn die von der

»Und wir wohnen mittendrin!«

 

Ich muss unbedingt zu Hause sein, bevor es dunkel wird. Am Eingang zum Kurtuluş-Park haben zwei Anzugträger Mitte zwanzig eine ostanatolische Familie angehalten: Vater, Mutter, vier Kinder. Sie sehen aus, als kämen sie direkt vom Dorf, und haben offensichtlich keine Ahnung, dass der Park unter Kontrolle der Rechten steht. Einer der Anzugträger hat sich breitbeinig vor dem etwa vierzigjährigen Familienvater aufgebaut.

»Wo kommst du her? Bist du’n Linker?«

»Nein, auf keinen Fall.«

»Ausweise zeigen! Bist du’n Kommunist?«

Die schwangere Mutter zerrt ihre herumwuselnden Kinder an sich; eines beginnt zu weinen. Es muss etwa in Ayşes Alter sein. Ob ich rübergehen soll? Und wenn sie mich dann auch mitnehmen? Neulich haben sie sogar den Gymnasialdirektor von Kurtuluş mitgenommen, als er jemandem helfen wollte, und ihn dann tagelang gefoltert. Die Frau verpasst einem der Kinder eine Ohrfeige. So reagieren meine Mitbürger auf Gewalt: Anstatt Widerstand zu leisten, heben sie die Hand gegen Schwächere. Und da fragt mein Chef hat mich allen Ernstes: »Wollen wir diesen Abschnitt nicht lieber streichen?«

Was aber die Todesfälle von Kindern angeht, so spielt neben den bereits genannten Gründen auch die Tatsache eine Rolle, dass Kinder hierzulande nicht ausreichend wertgeschätzt werden. Sobald ein neues Baby unterwegs ist, sorgt sich die werdende Mutter nur noch ungenügend um das Wohl ihrer übrigen Kinder. Stirbt eines von ihnen, so heißt es häufig: ›Bald kommt ja ohnehin ein neues.‹

Das soll ich nicht schreiben dürfen? Es muss einen tieferen Grund für all das Blutvergießen in diesem Lande geben.

»Auch wenn man sich nach Jahren wiedertrifft, fängt man doch trotzdem mit ›Wie geht’s dir?‹ an. Der eine sagt ›Gut‹, der andere ›Auch gut‹. Man denkt immer, es liefe wie im Film. Dabei enthält das Leben – unser Leben – so viele Szenen, die rausgeschnitten werden müssten, Önder.«

Die Tischdecken des Restaurants Hülya leuchten weiß im Sonnenlicht.

Önder versucht ein Lachen von 1971 wiederzubeleben. »Da kommen einem ja die Tränen! Fast könnte man meinen, wir wollten den Barsch hier nicht essen, sondern zu Grabe tragen.«

Mir ist nicht zum Scherzen zumute, also frage ich: »Weshalb bist du hier, Önder?«

Ich presse die Lippen aufeinander, als wäre es der Mund, mit dem man weint. Önder scheint meine Hand berühren zu wollen, hält sich aber stattdessen an seinem Rakıglas fest und blinzelt in die Sonne. Er greift nach einem gelben Briefumschlag, der auf dem Stuhl neben ihm liegt. »Würdest du den hier für mich verwahren?«

Der Umschlag liegt jetzt neben dem Barsch. Jemand anderes hätte vielleicht gefragt: »Was ist denn drin?«

Ich sage: »Wo soll ich ihn verwahren?«

»Im Parlamentsarchiv.«

Da sehe ich ihm zum ersten Mal direkt in die Augen. Önder kann ich nur anschauen, wenn es um ernste Angelegenheiten geht, um Dinge, die der Geheimhaltung bedürfen. Bevor wir lernen konnten, einander verliebte Blicke zuzuwerfen, haben wir beide schon im Gefängnis gesessen. »Für wie lange?«

»Bis diese Epoche vorüber ist.«

Nun bin ich diejenige, die sich am Rakı festhält, in die Sonne blinzelt und den Blick in die Ferne schweifen lässt. »Diese

»Doch, das werden wir, und ich erkläre dir auch gleich, wieso.«

Önder lacht wissend, ehe er sich dem Barsch widmet. Wie geschickt er ihn zerteilt! Welche Flüche er ausstößt, wenn er gefoltert wird, wie er bei Versammlungen spricht, wie er auf Demos Slogans skandiert, wie er Zeitschriften verkauft, wie er weint, wenn er den Abschiedsbrief liest, den ihm ein Freund vor der Hinrichtung geschrieben hat – das alles weiß ich. Aber wie er einen Fisch filetiert?

»Der faschistische Putsch wird kommen, Sevgi.«

So also trennt er ihm den Kopf ab …

»Was dann aus mir wird, steht in den Sternen. Als du damals plötzlich verschwunden bist …«

Er weiß sogar, wie man die Bäckchen herauslöst; eines lässt er über sein Messer auf meinen Teller gleiten.

»Nachdem du dich … entschieden hattest zu … zu heiraten, hat sich vieles verändert, es ist härter geworden. Erinnerst du dich an Nasuhi? Der sagte nach dem Putsch von 1971: ›Eines Tages werdet ihr nicht mehr die Zeit finden, eure Freunde zu Grabe zu tragen.‹«

Er entfernt dem Fisch das Rückgrat, ohne dass Fleisch daran hängen bleibt.

»Vielleicht bin ich einfach alt geworden. Damals waren wir beide ungefähr gleich alt, erinnerst du dich?«

»Das sind wir doch immer noch.«

»Das würde ich nicht unbedingt sagen, meine liebe Sevgi.«

Mit einem einzigen Possessivpronomen kann man also einen Menschen töten. Ihm das Rückgrat entfernen, ohne dass Fleisch daran hängen bleibt.

»Wenn du mich fragst, altern die, die sich in Sicherheit

Natürlich, irgendwie muss er sich ja dafür rächen, dass ich ihn damals im Gefängnis sitzen gelassen und Aydın geheiratet habe. Wie er mir jetzt wohl die Bäckchen herauslösen wird?

»Mach doch nicht so ein Gesicht. Du brauchst nichts zu bereuen und auch kein schlechtes Gewissen zu haben. Es kam, wie es kommen musste. Man kann mit dem Leben nicht abrechnen und fragen, was gewesen wäre, wenn … Gehen wir einfach davon aus, dass wir keine andere Wahl hatten. In die Vergangenheit zu blicken, das ist, als würde man in ein Kaleidoskop schauen. Wir brauchen nur zu blinzeln, und schon stürzt unser Bild von der Vergangenheit in sich zusammen und es entsteht ein neues.«

Auch die Gräten der Rückenflosse löst er in einem einzigen Stück heraus.

»Vielleicht lässt sich das Leben eines Menschen auch erst im Nachhinein begreifen. Wir werden nie verstehen, was mit uns geschieht. Sämtliche Studien und Analysen, meine liebe Sevgi, sind für die Katz! Puh, Lenin würde sich bei diesen Worten wohl im Grabe umdrehen.« Er lacht, und ich falle lustlos mit ein. »So denke ich eben in letzter Zeit. Alles, was wir erlebt haben, wird irgendwo aufgezeichnet. Was nicht vergessen wird, bleibt. Aber was ist mit dem, woran wir uns nicht erinnern können? Ob du in den Umschlag schaust oder nicht, ist dir selbst überlassen. Ich weiß doch, dass keine Macht der Welt imstande wäre, dir dein Wissen zu entlocken.«

Wie eine Streichholzflamme flackert in mir eine Frage auf, um gleich wieder zu erlöschen: Ob Aydın unter Folter wohl jemanden verraten würde? Ich bin seit neun Jahren mit ihm verheiratet und habe nie darüber nachgedacht. Ich weiß, Önder würde es nicht tun, ich auch nicht, aber Aydın?

»Weshalb, Önder?«

»Weil in Ankara die Fische noch frischer sein sollen als in Istanbul!«

Wieder lacht er, und es fühlt sich an, als streichelte er mir die Wange. Bei wem hat er in den zehn Jahren so lachen gelernt? Ich nehme den gelben Umschlag. Önder mustert mich. Behiye Aksoy beginnt zu singen, so als wüsste sie, dass wer auf diese Weise sündigt, sich immer jemanden wünschen wird, der ihm vergibt.

Du bist nicht hier, du weißt es nicht, mir fehlt jede Kraft …

Das Lied verrät mir nicht, was ich tun soll. Ich spüre, wie Önder mich beobachtet. Als ich den Umschlag in meine Handtasche stopfe, zerknickt eine Seite des Buches Die verliebte Wolke, das ich für Ayşe aus der Parlamentsbibliothek ausgeliehen habe, die Papiere über die Volkszählung von 1971, die ich für Aydın habe abziehen lassen, zerknittern, und das Honigglas kippt um. Dieses verdammte Honigglas!

~~

»Lesen Sie dem Kind etwa Nâzım Hikmet vor, Sevgi Hanım?«

Ich hatte mich gerade früh von meinem Arbeitsplatz stehlen wollen, als mich der von seiner dröhnenden Stimme selbst am meisten eingenommene Vizedirektor der Parlamentsbibliothek, Abdullah Bey, aufhielt. Mit einem spöttischen Lachen, dem Markenzeichen der Gerechtigkeitsparteiler. Mit einem Lachen, das einen unweigerlich in die Enge treibt. Ich hatte jedoch meine Strategien entwickelt und wechselte schnell das Thema: »Abdullah Bey, die Stenographen haben die

»Es sind Ihre Leute, die das Parlament lahmlegen, Sevgi Hanım. Ecevit müsste nur einen Präsidentschaftskandidaten akzeptieren, und alles würde wieder laufen wie geschmiert. Aber nein! So sind eben die Linken; die haben nichts Besseres zu tun, als zu interpellieren, zu blockieren und zu sabotieren …«

»Abdullah Bey, ich hatte Ihnen ja schon gesagt, dass ich heute früher gehe, weil die Kleine zum Arzt muss. Der Direktor weiß Bescheid.«

»Natürlich haben Sie das schon mit Ihrem kommunistischen Herrn Direktor geregelt.«

Unter Abdullah Beys Schnauzbart glänzten wulstige Lippen. Angewidert wich ich seinem lüsternen Blick aus, was dieses Rhinozeros wahrscheinlich als weibliche Schüchternheit wertete. In den Augen des gottverdammten Kerls lag ein seltsames Funkeln, als wäre jeder nackt, den er erblickte.

Dann plötzlich eine Freundlichkeit, die mich aus der Fassung brachte, als er sich mit treuherzigem Blick in den Dörfler Abdullah Emmi verwandelte. »Sevgi Hanım, ich habe Ihnen ein Glas Honig mitgebracht. Unser Erzurum ist dafür berühmt. Der stärkt die Abwehrkräfte. Für Ihre Tochter!«

Sollte ich ablehnen? Nein, das konnte ich nicht machen. Ich bedankte mich halbherzig und nahm das Glas entgegen.

»Nur einhundert Lira, Sevgi Hanım. Nicht mehr als für zwei Schachteln Samsun. So gut wie geschenkt!«

Es verschlug mir die Sprache. Ich konnte ihm den Honig ja schlecht zurückgeben. Also zog ich wortlos das Geld aus der Tasche, damit die Farce ein Ende hätte.

»Was ist es denn?«

»Mini-Manual of the Urban Guerilla, von Carlos Marighella.«

»Das ist wieder auf dem Markt? Das Buch mit den drei Löchern …«

»Wie meinst du das?«

»Wegen der drei Einschusslöcher auf dem Cover haben wir es 1971 so genannt. Als alle möglichen Bücher schon verboten waren, war das hier immer noch zu haben. Es geht um Waffen …«

»Deine Generation hält die Waffen für das Problem, dabei sind Waffen keine Ursache, sondern ein Resultat!«

Dass dieses Buch genau an dem Tag auftauchen musste, an dem ich mich mit Önder treffen wollte! Denk nicht an die Monate, die du nach dem Putsch von 1971 im Gefängnis gesessen hast. Denk nicht daran, wie du Knall auf Fall Aydın geheiratet hast, noch bevor Önder entlassen wurde. Denk nicht daran, dass du dir nach Ayşes Geburt – »Jetzt, wo das Kind da ist, ist Schluss mit den Abenteuern«, hatte Mutter gesagt – geschworen hast, nie wieder zurückzublicken! Nazlı, die Revolutionärin der neuen Generation, wog mit erhobenen Augenbrauen ab, wie weit es mit meiner linken Einstellung her war. »Und, können wir es aufnehmen?«

Eigentlich hätte ich Nazlı ein paar Dinge erklären, hätte sie warnen müssen, aber wenn sie so die Augenbrauen hob, dann sollte sie ruhig die Wege gehen, die ich gegangen war, dann sollte sie sich ruhig mit Honig bekleckern.

»Frag doch Abdullah Bey.«

~~

Weil Önder direkt in mich hineinzusehen scheint, verstecke ich meine Narben hinter meiner Hand. Sie sind zwar kaum noch zu erkennen, aber Önder würde sie dennoch entdecken. Aydın hat nie danach gefragt, rücksichtsvoll, wie er ist. Önder betrachtet seufzend meine Wange.

»Wir hatten nie Zeit zu reden, Sevgi.«

»Wir brauchen auch nicht zu reden.«

»Du hast recht. Vielleicht später …«

»Es gibt kein Später, Önder. Das Später hat sich für uns aufgezehrt.«

Er hat nie gefragt, warum ich ihm die Schuld daran gebe, dass ich Angst bekommen habe und weggelaufen bin.

 

Ob wir, nachdem ich das gesagt habe, den Fisch essen oder ob der Fisch uns verschluckt, ob wir über Ecevit sprechen, über das Parlament, oder ob wir nur so daherreden? Bilder aus dem Film Zwei Liebende, die sich nach Jahren wieder begegnen.

Wir schütteln einander die Hand. Haben wir uns früher auch die Hand geschüttelt? Hat er mich nicht immer auf die Wange geküsst? Man kann also ein Liebespaar sein, ohne je Liebe gemacht zu haben … Ob Önder wohl ein guter Liebhaber ist?

 

Ich muss laufen. Ich muss ein Stück laufen. Um aus dem Film mit der weißen Tischdecke und dem Rakı zurückzukehren in die Gegenwart. Aber diese Schuhe machen mich fertig. Da Önder sie jetzt ohnehin nicht mehr sehen wird, trete ich sie hinten herunter. Mit an die Ferse schlappenden Schuhen gehe

 

»Glühbirnen, es gibt neue Glühbirnen!«

Die Menschenmenge, die sich vor dem Gima drängelt, gibt die frohe Kunde lautstark weiter. Ich stelle mich dazu. Glühbirnen kann man immer gebrauchen. Neulich hat Jale Hanım, nachdem sie mit grellroten Lippen von der Versammlung ihres »Vereins der Kinderfreunde« zurückgekehrt war, meiner Mutter im Treppenhaus erzählt: »Du wirst es nicht glauben, Nejla, aber wenn man heutzutage ins Krankenhaus kommt, muss man nicht nur seine eigene Decke, sondern sogar seine eigenen Glühbirnen mitbringen. So tief ist dieses Land schon gesunken! Keine Glühbirnen in den Krankenhäusern! Hier herrscht Anarkismus; da wird ein Bruder gegen den anderen aufgehetzt.«

»Es heißt nicht Anarkismus, sondern Anarchismus. Und hier werden auch keine Brüder gegeneinander aufgehetzt, sondern rechte Kommandos mit Waffen versorgt, damit sie die Linken erschießen«, hätte ich diesem Rhinozerosweibchen am liebsten entgegnet.

Als ich an die Reihe komme, kaufe ich zwei Glühbirnen, ohne mich darum zu kümmern, wie viel Watt sie haben. Da fasst mich ein alter Mann am Arm. »Hier, für Ihren Fuß.«

Er hält ein Pflaster in der Hand. Ich frage mich, ob er es mir schenken oder verkaufen will.

»Jetzt nehmen Sie schon, Sie bluten ja schon.«

Wortlos drehe ich mich um und gehe davon. Ich ekele mich vor mir selbst. Ob Aydın wohl schon zu Hause ist?

»Ob alt oder jung, dem Tod sind wir alle gleich nah, meine liebe Jale, und dass sie dafür keine Lösung finden können, macht den Kindern eben zu schaffen.«

Ich überfliege im Treppenhaus einen Artikel aus der Hafta SonuEntscheiden Sie selbst: Welche Brille steht Bülent Ersoy am besten? –, aber die Nachbarin versteht mich nicht. Wahrscheinlich will sie mich nicht verstehen. Oder sie hat einfach nichts gehört, wegen des Liedes, das in ihrer Wohnung läuft. Honki ponki torino …

 

Als Jale mir die Hafta Sonu aus ihrer Wohnung gebracht hat, rief sie lachend: »Deine Tochter und ihr Mann sind solche Miesepeter, Nejla! Wenn es nach ihnen ginge, dürfte man überhaupt keinen Spaß haben. Aber ohne Nachrichten über Prominente, immer nur mit Schwarz-Weiß-Zeitungen, nicht wahr, ist dieses Leben doch unerträglich!«

Ich gab keine Antwort, doch Jale störte sich nicht daran und krakeelte weiter durchs Treppenhaus.

»Ach, schau dir das an, Nejla! Zeki Müren hat sich in Frankreich operieren lassen. Und hier, Bülent Ersoy mit knallroten Lippen. Sieht aus wie eine Frau! Willst du einen Nescafé, meine Liebe?«

»Was ist ein Nescafé, Jale?«

»Den haben uns Freunde aus Deutschland mitgebracht, in Plastikbeuteln zwischen der Unterwäsche in ihren Koffern versteckt. Man gießt heißes Wasser drüber, dann wird Kaffee daraus.«

»Mach dir keine Umstände, Jale.«

»Ach, bleib doch für zwei Minuten. Du kannst ihn trinken, während wir Dallas schauen.«

Jale schaut mir auf den Mund, als wäre kein Ton herausgekommen, und schüttelt lachend und mit erhobenen Brauen den Kopf. Auf den Nescafé verzichte ich. Ich habe die Nase voll. Als ich mit den Zeitungen die Treppe hinaufsteige, kommt mir wieder dieses Lied in den Sinn:

Konnt mein Leid ihm nicht klagen, eh der Augenblick enteilte.

Dieselbe Melodie hat mich heute Morgen geweckt. Wenn du von einem Lied nicht loskommst, dann birgt es deine unausgesprochenen Sorgen in sich.

Fand auch keinen Gefährten, der den Kummer mit mir teilte.

Und wie schön sie singt, Nesrin Sipahi. »Ihre Stimme flattert wie ein Banner im Frühlingswind«, sagte mein İlyas immer.

Entblößte dem Geliebten meine Wunde, die nicht heilte. Kurz, ich sah, wie meine Welt mir entschwand und nicht verweilte.

Ganz unrecht hat Jale ja nicht. »Tritt Nesrin Sipahi nicht inzwischen in den Music Halls auf, Sevgi? Wir könnten doch mal hingehen und sie uns anhören«, habe ich neulich vorgeschlagen, aber meine Tochter und mein Schwiegersohn verzogen das Gesicht. Aydın sah von seiner Zeitung auf und sagte: »Deine Nesrin Sipahi singt inzwischen für die Faschisten, Nejla.« Und Sevgi fügte hinzu: »Da gehen wir auf keinen Fall hin, Mutter.« Jetzt darf man also nicht mal mehr Nesrin Sipahi hören!

Wir sind ja in unserer Jugend selbst ernsthaft gewesen, aber wenigstens haben wir uns ab und an ein Theaterstück im Volkshaus angesehen. Aber die jungen Leute heutzutage gönnen sich überhaupt nichts mehr. Als ich gefragt habe: »Gibt es denn im Sozialismus gar keine Feiertage, Sevgi?«, da haben sie mich anstelle einer Antwort nur ausgelacht. Und das Kind

Und dann hat Sevgi auch noch gesagt: »Mutter, von jetzt an kann alles Mögliche passieren, Ayşe darf nichts davon mitbekommen.« Wie soll das gehen? Wir wohnen genau zwischen dem Wohnheim der rechten Studenten und der Fakultät für Politikwissenschaft, wo die Linken studieren, und gegenüber ist die Polizeiwache. Von ihrem Fenster aus kann Ayşe direkt darauf schauen. Als die Studenten in ihren Zellen hungern gelassen wurden und ihre Mütter ihnen Kekse durchs Fenster warfen, musste ich mir notgedrungen etwas ausdenken.

»Sie spielen mit ihren Müttern ein Spiel, mein Kind. Wer es schafft, die meisten Kekse durchs Fenster zu werfen.«

Immer, wenn jemand verhaftet wird, wirft Ayşe jetzt – ach, hätte ich bloß den Mund gehalten! – weiße Kichererbsen in Richtung Wache, als wolle sie Vögel füttern.

So ist auch unser »Manöverspiel« entstanden. Seit Sevgi gesagt hat: »Wenn sie an der Tür klingeln, Mutter, dann darfst du keine Angst verbreiten«, ist jeden Tag Manöver! Sobald ich rufe: »Die schwarzen Männer kommen«, rennt das Mädchen los. Wenn sie durchs Schlüsselloch schaut und ich die Hände über dem Kopf zusammenschlage, dann heißt es: ab ins Versteck!

Ich bin auf meine alten Tage noch richtig abergläubisch geworden. Solange ich nicht jeden Morgen eine unsichtbare Kuppel um Ayşe herum zeichne, habe ich keine Ruhe.

»Ich schließe Ayşe ein / In hellen Lichterschein / In Atlas und in Perlen / Geschützt vor bösen Kerlen / So sei es, toi, toi, toi / O Herr, steh du ihr bei!«

İlyas hat damals gesagt: »Die Soldaten tun den jungen Leuten doch nichts, Nejla. Es hat sogar sein Gutes, dass sie im Gefängnis ist. So kann sie sich nicht den Kommunisten auf der Straße anschließen. Das wird ihr eine Lehre sein!«

Ich wäre ja zu ihr gegangen, aber … Habe ich auch gemeint, dass es ihr eine Lehre wäre? War damals je von Folter die Rede gewesen?

Önder ist sicher einer von damals. Da sie nicht will, dass Aydın von ihm erfährt, war da vermutlich noch etwas mehr zwischen den beiden. Aydın sollte sich lieber ein bisschen männlicher geben und sich um seine Frau bemühen. Mit ihr ausgehen, einen Spaziergang machen. Aber wer weiß, vielleicht ist das im Sozialismus verboten. Bierernst oder leichenbitter, mehr ist nicht erlaubt.

Jales Mann gibt sich religiös, aber sie selbst ist eine durchaus mondäne Frau. Wenn Jale nicht wäre, würde im Haus nie darüber gesprochen, was gerade bei Dallas passiert, wer in den Music Halls auftritt und was die neueste Mode ist. Aber immer, wenn Ayşe etwas herausrutscht, bekommen wir beide eine Standpauke. So wie neulich, als Jale sich ein Abendkleid hat schneidern lassen und aus dem restlichen Satin ein Kleid für Ayşe machen ließ, das aussah wie ein Brautkleid. Aydın hat mich angefahren: »Wir erziehen unsere Tochter nicht dazu, möglichst schnell erwachsen zu werden und zu heiraten, Nejla!« Er hat eine Art, das zu sagen, so von oben herab. Und Sevgi hat dazu geschwiegen.

Mein Viertel

Familie Akgün

Seyranbağları (Gecekondu-Siedlung)

»Ich glaube, er fliegt. Was meinst du, Ali? Zieh mal ein bisschen an der Schnur, dann wissen wir es.«

Je fester ich ziehe, desto tiefer schneidet mir die Schnur in die Hand. Es ist Nacht und so dunkel, dass ich nichts sehen kann. Aber ich höre den Drachen flattern: flapp flapp flapp … Heißt das, er fliegt, Hüseyin?

Im Garten von unserem abgebrannten Haus ist es laut. Asche wirbelt durch die Luft, weil die jungen Frauen tanzen und dazu ein Volkslied singen:

Ich konnte das Heu nicht aus dem Schober holen, Zühtü … 

Wir feiern wieder mal »falsche Verlobung«. Die »falsche Braut« ist diesmal sehr schön. Sie hat grüne Augen.

Fliegt er, Hüseyin?

Hüseyin studiert Bauingenieurwesen an der Technischen Universität. »Dem Jungen ist das Haus abgebrannt, wir müssen ihn auf andere Gedanken bringen«, habe ich Hüseyin sagen hören. Darum hat er mir einen Drachen gebastelt. Aus rotem Papier.

Der Drachen ist nicht zu sehen. Jetzt tanzen die jungen Frauen im Licht von Gaslampen, damit die jungen Männer hinten im Garten reden können. Die Mütter klagen, damit die

Hüseyin überprüft die Schnur schnell mit seiner Hand. Weil die falsche Verlobung nämlich zu Ende ist, sobald es wieder Strom gibt. Dann ziehen die jungen Frauen die Verlobungskleider aus und haben wieder nur Hosen an. Und die geheime Versammlung ist dann auch zu Ende. Wenn das Licht wieder da ist, hört alles auf. Da rufen die jungen Männer schon: »Hüseyin! Wir fangen an!«

»Ich komme gleich!«, sagt Hüseyin. Er ist ihr Chef. »Ali, ich glaube, der Drachen ist irgendwo hängen geblieben.«

Ich bekomme nicht sofort was raus. Ich bin nicht »zurückgeblieben«, ich bin »in mich gekehrt«. Das hat Opa gesagt, als er aus dem Dorf zu Besuch gekommen ist. »Er ist eben ein ernsthafter Junge.«

Hüseyin zieht an der Schnur. »Wir müssen ihn abschneiden, Großer, er hat sich irgendwo verfangen. Es ist zu dunkel, um ihn zu suchen.«

Aber dann glaubt mir morgen früh doch keiner, dass es den Drachen überhaupt gegeben hat. Gökhan wird sagen, ich hätte alles nur geträumt.

»Hüseyin, komm jetzt, sonst kriegen die Faschisten doch noch was mit!«

Hüseyin nimmt sein Springmesser und schneidet die Schnur durch. Da ist die Schnur in meiner Hand plötzlich tot.

»Sei nicht traurig, ich baue dir einen neuen.«

Hüseyin zwirbelt seinen Schnurrbart, er streichelt mir über den Kopf und fasst mich an den Schultern. »Ein Revolutionär trauert nicht wegen so etwas! Es gibt immer ein nächstes Mal.«

»Komm, gehen wir zur Versammlung.«

Sogar meine Schuluniform ist verbrannt. Jetzt kann ich nicht mehr in die Schule gehen, und auch nicht in die Bibliothek. Ohne Schuluniform darf ich nicht mehr ins Konservationslexikon schauen.

Ich stecke die Schnur in meine Hosentasche. In die linke. Hüseyin zwirbelt wieder seinen Schnurrbart. »Sei nicht traurig, weil euer Haus abgebrannt ist. Wir werden es wieder aufbauen, alle zusammen. So ein kleines Häuschen. Das haben wir in einem Tag erledigt.«

Wir gehen am Feuer im Vorgarten vorbei; da wird Bulgur gekocht. Viel Bulgur. Davon werden alle satt. Das Wasser, das ich vom Brunnen auf dem Hügel gegenüber geholt habe, ist schon wieder alle, der Kanister liegt auf der Erde. Ich habe mich ganz schön angestrengt, aber das Wasser hat nur für eine Kanne Tee gereicht. Die Frauen bringen den Männern Tee. Unter den Verlobungskleidern kann man ihre Hosen sehen. Man darf sie aber nicht sehen. Der Kühlschrank steht gerade, weil er am Fernseher lehnt. Der Lase hat beide gerettet.

Mama sitzt im Schneidersitz auf dem Boden und hält ihren Kopf in den Händen. Die älteren Frauen streicheln ihr den Rücken. Dabei reden sie die ganze Zeit, wie immer, wenn jemand traurig ist.

»Aliye, bis euer Haus wieder aufgebaut ist, bleibt ihr bei uns.«

»Aber sicher, meine Liebe, in drei Tagen habt ihr wieder ein Dach über dem Kopf. Gott sei Dank ist den Kindern nichts passiert!«

»Woher wohl! Sie beobachten uns doch ständig vom Hügel gegenüber, diese Mistkerle! Aliye, es waren doch keine Wertsachen im Haus, oder?«

Mama schaut die Frauen an. »Nur ein Foto meines Bruders Said. Das einzige.«

Papa und die anderen älteren Männer starren in die schwarze Asche. Sie haben ihre Hände hinter dem Rücken verschränkt. So macht man es, wenn man alt ist. Papa redet gar nicht, nur die Männer reden.

»Schau, Hasan, selbst unser muslimischer Lase hat offenbar ein Gewissen. Hätte ich ihm gar nicht zugetraut. Ganz allein hat er den Kühlschrank da rausgeschleppt, und den Fernseher auch. Mut hat er, dass muss man ihm lassen!«

»Wir müssen diesen Faschisten aus Samsun einen Denkzettel verpassen. Die stecken noch alle unsere Häuser in Brand, die Hurensöhne!«

Hüseyin schaut den jungen Frauen beim Tanzen zu, als wir an ihnen vorbeigehen. Sie singen:

Der Wind trägt den Duft meiner Geliebten herbei, Zühtü.

Hüseyin lacht. »Unsere Freundinnen hier tanzen sich schon seit Tagen die Füße wund! Selbst die Polizisten von der Wache dürften bald kapiert haben, was Sache ist. Dann kommen sie und wollen wissen, wie man in einem abgebrannten Haus eine Verlobung feiern kann. Aber wir lassen sie nicht rein, denn sie sind dumm, weißt du, Ali? Dumme Bullen! Mensch, jetzt lach doch mal!«

Woher wissen immer alle, wann und worüber man lachen muss?

»Hör mal, ich muss dir was Wichtiges sagen. Die anderen Jungen hänseln dich doch immer, weil du nicht so viel redest,

Da geht der Strom plötzlich an, und die Straßenlaternen leuchten wieder. Auf einmal kann man alle sehen. Mama ist aufgestanden. Papa und die anderen Männer fangen an, zu dem Lied zu klatschen. Ich hole die Schnüre aus meiner Tasche. Alle Schnüre. Ob sie vielleicht auch wieder lebendig geworden sind, als der Strom angegangen ist?

Ali Akgün

»He, Ali! Und was, wenn sie bei dir aus Versehen zu viel abschneiden?«

Wir sitzen hinten auf dem Lastwagen und sind auf dem Weg zu unserer Beschneidung.

»Ach Gottchen, der kleine Ali hat mal wieder vor Angst seine Zunge verschluckt!«

Jetzt lachen alle. Aber es klingt, als würden sie weinen. In den Beschneidungskostümen von der Stadtverwaltung sehen sie aus wie Prinzen, bloß ohne Pferde.

Hamit der Lase ruft Gökhan zu: »Dein Freund hat wohl Schiss bekommen!«

»Lass ihn in Ruhe!«, sagt Gökhan. So macht Gökhan es immer. Weil Gökhan riesengroß ist und ich ganz schmächtig. Er schubst Hamit. Der Lastwagen schwankt, aber Gökhan klettert trotzdem zu mir.

»Fang bloß nicht an zu heulen! Die schneiden ja nicht alles ab, okay?«

Ich werde nicht heulen. Aber alle schreien so laut durcheinander. Ich glaube, sie reden nur so viel, weil sie nicht daran denken wollen, wie sie sich mal den Pipimann im Reißverschluss eingeklemmt haben.

Vorne hat Hüseyin das Radio angemacht. Es läuft Cem Karaca.

Bin im Gefängnis gelandet, viele erteilen mir Rat …

Es wird immer lauter. Die Stimmen von den anderen Jungen dröhnen in meinem Kopf. Gökhan reißt die goldene Schnur von seiner Beschneidungskappe ab.

»Hier, schau da drauf!«

Ich nehme die goldene Schnur in die Hand und beuge mich drüber. Ganz nah vor mein Gesicht halte ich sie. Ich muss nur die Schnur anschauen. Bis es wieder aufhört.

»Lass das nicht die anderen sehen.«