Annie Besant

Der Pfad zum Tempel der Weisheit

Annie Besant

DER PFAD
ZUM TEMPEL DER
WEISHEIT

Titel der englischen Originalausgabe:

In the Outer Court

eBook-Ausgabe der 3. Auflage

© 2013 Aquamarin Verlag GmbH

Voglherd 1 • D-85567 Grafing

www.aquamarin-verlag.de

Umschlaggestaltung: Annette Wagner

ISBN 978-3-96861-195-2

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Vervielfältigung, der Verbreitung sowie der Übersetzung.

Ohne schriftliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, das Buch oder Teile davon in irgendeiner Form zu reproduzieren.

Inhalt

Läuterung

Gedankenbeherrschung

Charakterbildung

Spirituelle Alchemie

An der Schwelle

VORWORT

Den Inhalt dieses Buches bilden fünf Vorträge, die Annie Besant vor der Theosophischen Gesellschaft in London zum Thema der „Esoterische Schülerschaft“ hielt. Dem Brauch der damaligen Zeit gemäß, enthielt der Originaltext vielfältige rhetorische Ausschmückungen und Wiederholungen, die im Vortrag illustrativ und eindrucksvoll waren, beim Lesen das Erfassen des Zusammenhanges aber eher erschweren würden. Für die vorliegende Ausgabe in Buchform wurde der Text daher etwas gestrafft, ohne jedoch seine stilistischen Charakteristika zu verändern, die aus dem Augenblick heraus schöpferisch gestaltete, inspirierende Worte und nicht sorgfältig überdachte schriftliche Äußerungen darstellten.

1 • LÄUTERUNG

Wenn es möglich wäre, uns in Gedanken in ein Zentrum im Raum zu versetzen, von dem aus wir den Verlauf der Entwicklung sehen und die Geschichte unserer Evolutionsstufe studieren könnten, mehr wie sie sich unserer Phantasie bildhaft zeigt, als so, wie sie physisch, astral und mental wirklich ist, dann würde, glaube ich, ein solcher Ausblick auf die sich entwickelnde Menschheit uns etwa folgendes Bild geben. Wir sehen dann einen großen Berg vor uns, mit einer Straße, die sich in Spiralen um denselben bis zum Gipfel herumwindet. Solcher Windungen um den Berg herum gibt es sieben, und auf jeder Windung sehen wir sieben Stationen, an denen die Wanderer eine Weile stehen bleiben. Verfolgen wir diese Straße aufwärts, so sehen wir, wie sie am Gipfel des Berges endet und dort zu einem in weißem Marmor erstrahlenden Tempel führt, der dort oben steht. Dieser Tempel ist das Ziel der Wanderung, und diejenigen, welche sich in demselben befinden, haben ihren Aufstieg beendet – wenigstens soweit es diesen Berg betrifft – und sie verweilen nur noch dort, um jene zu treffen, die noch im Aufstieg begriffen sind. Wenn wir diesen Tempel näher betrachten, werden wir in dessen Mitte ein Allerheiligstes wahrnehmen und rundherum Höfe, vier an der Zahl, die das Allerheiligste als konzentrische Kreise umgeben. Diese befinden sich alle innerhalb des Tempels, und eine Mauer trennt jeden Hof vom nächsten. Um von Hof zu Hof zu gelangen, muss der Wanderer einen Torweg durchschreiten. Wer das Allerheiligste erreichen will, muss also diese vier Torwege nacheinander passieren.

Außerhalb des Tempels befindet sich noch ein weiterer umschlossener Raum – der Vorhof – und in diesem Raum sind viel mehr Wanderer zu sehen, als im Tempel selbst.

Betrachten wir nun den Tempel und die Höfe und die Bergstraße, die sich hinaufwindet, so haben wir ein Bild der menschlichen Entwicklung vor uns, wir sehen den Weg, den die menschliche Rasse zu verfolgen hat, und den Tempel – ihr Ziel. Auf der Straße rings um den Berg befindet sich eine riesige Schar menschlicher Wesen, die zwar aufwärts steigen, aber nur langsam, Schritt für Schritt, höher kommen. Manchmal sieht es sogar so aus, als würde auf jeden Schritt vorwärts einer rückwärts erfolgen, und obwohl die Richtung, welche die ganze Schar einschlägt, nach aufwärts zielt, geht das Aufsteigen doch so langsam vor sich, dass kaum ein Vorwärtskommen bemerkbar wird. Diese sich über Äonen erstreckende Aufwärtsentwicklung der suchenden Menschheit erscheint so langsam, so ermüdend, dass man sich verwundert fragt, wie diese Wanderer überhaupt den Mut haben können, so lange zu wandern. Millionen von Jahren verfolgt jeder Wanderer diesen Weg, und es scheint dabei eine endlose Reihe von Leben zu verfließen. Wir ermüden schon beim Beobachten dieser Scharen, wie sie längs dieses spiralförmigen Weges Windung um Windung betreten, und wir fragen uns: Wie kommt es, dass sie nur so langsam vorwärts kommen?

Bei näherer Betrachtung will es uns scheinen, dass sie deshalb so langsam vorwärtskommen, weil sie ihr Ziel nicht sehen und die Richtung nicht erkennen, in der sie wandern. Wir sehen, wie der eine hier, der andere dort abschweift, da und dort von etwas angezogen wird und gleichsam planlos weiterschlendert. Er schreitet nicht gerade vorwärts, einem bewusst erkannten Ziele zu, sondern wandert hierhin und dorthin, wie ein Kind, das hier nach einer Blume schaut, dort einem Schmetterling nachjagt. So scheint die meiste Zeit vergeudet und nur wenig Fortschritt gemacht worden zu sein, wenn die Nacht hereinbricht und der Tagesmarsch eines Wanderers zu Ende ist. Auch der Fortschritt des Intellektes scheint bei der Langsamkeit, mit der er vor sich geht, den Prozess nur wenig zu beschleunigen.

Man wundert sich, warum von der Masse der Wanderer fast niemand aufwärts blickt und sich die Richtung klar macht, in die sie ihr Pfad führt. Denn der Vorhof des Tempels scheint nicht allein auf der Straße zu erreichen zu sein, die sich so oft um den Berg herumwindet; bei näherem Zusehen werden wir vielmehr gewahr, dass von vielen Punkten der spiralförmigen Straße Pfade abzweigen, die steil aufwärts führen, die erklommen werden können, wenn der Steigende ein tapferes Herz und kräftige Glieder hat. Wir sehen auch da und dort Einzelne, die sich auf diesen Aufstiegen abmühen. Wie sind sie auf diesen Pfad gelangt?

Der weiße Tempel am Gipfel des Berges sendet allezeit sein Licht über den ganzen Berg aus, aber die Menschen schauen nicht empor. Wenn aber einer der Wanderer, nachdem er viele Jahrtausende hindurch um den Berg gewandert ist, einmal sein Auge wegwendet von den Blumen, den bunten Steinen und den Schmetterlingen auf seinem Weg und den Blick emporhebt zu dem weißen Tempel, dann wird er zum ersten Mal auf seiner Reise einer Bedeutung gewahr. Auch wenn es nur einen Augenblick lang ist, dass er den Gipfel gesehen und das Ziel seiner Reise erkannt hat, so ist seine Seele doch verwandelt. Sie weiß nun, was das Ziel ist, sie weiß, dass es einen kürzeren Pfad gibt, und sie versteht auch, dass dieser kürzere Pfad einen Namen hat, der „Dienen“ heißt, und diejenigen, die diesen kürzeren Pfad betreten wollen, durch eine Pforte hindurchschreiten müssen, auf der die Losung „Diene der Menschheit!“ erstrahlt. Der einzige Grund, um rascher aufwärts zu klimmen, ist der, dies um jener willen zu tun, die zurückbleiben, damit von dem Tempel den Wanderern wirksamere Hilfe herabgesandt werden kann, als es sonst möglich wäre.

Das erste Mal ist diese Erkenntnis wohl nur ein Aufblitzen. Es gibt so viele anziehende Dinge, die an der gewundenen Straße liegen, dass der Blick der Seele leicht wieder auf diese hingelenkt wird. Aber dieser erste Lichtblick wiederholt sich; und mit der Zeit wird der Schimmer, den die Seele vom Tempel erhascht, immer heller. Unter dem Eindruck, dass das Leben doch einen bestimmten Sinn und Zweck hat, beginnt sie mit größerer Entschlossenheit ihren Weg zu verfolgen, auch wenn sie noch auf der gewundenen Straße bleibt. Sie nimmt sich vor, das auszuüben, was wir Tugenden nennen, und sich standhafter dem hinzugeben, was wir als Religion bezeichnen. Jene Lehre versucht, den Strebenden zu sagen, wie sie emporklimmen können und wie der Tempel schließlich zu erreichen ist. Dadurch gelangen sie allmählich an die Spitze der endlosen Scharen, welche die Straße hinansteigen. Sie beginnen nun auch, mehr und mehr ihren Gefährten auf dem Weg zu helfen und sie an ihrer Seite rascher voranzubringen.

Gemeinsam mit diesen Weggefährten, denen sie so in Liebe dienen, treffen sie jetzt auf eine Gestalt voller Ernst und Schönheit, die zu ihnen spricht und ihnen etwas von dem kürzeren Pfad sagt. Diese Gestalt ist die Erkenntnis, die beginnt, ihnen etwas von den Bedingungen eines rascheren Fortschreitens zuzuflüstern. Die Erkenntnis, die eine Schwester der Religion ist, die sie in der Ausübung der Tugenden unterstützt hat, und zugleich eine Schwester des Dienstes für die Menschheit. Unter der Obhut dieser drei beginnt nun die Seele nicht bloß von einer größeren Zukunft zu träumen, sondern in klarer werdender Erkenntnis diesen Traum zu einer bestimmten Absicht zu gestalten. Von den Lippen der Seele ertönt nun mit wohldurchdachter Überlegung das Versprechen, mitzuhelfen am Fortschritt der Menschheit.

Es steht in einer Schrift geschrieben, dass einer der Großen, der den kürzeren Weg betreten, der den steileren Pfad erstiegen und ihn so rasch erklommen hat, dass er alle anderen hinter sich ließ, – der in späteren Zeitaltern als der Buddha bekannt wurde –, sein Gelübde Zeitalter auf Zeitalter hindurch gehalten habe. Aber das große Werk, das sein Leben krönen sollte, musste mit dem Versprechen des Dienens beginnen. Dieses Gelübde ist es, das die Seele mit den Großen verbindet, die ihr vorangegangen sind, dieses Gelübde ist es, welches das Verbindungsglied bildet, das sie zu dem Prüfungspfad hinzieht, der sie in den Vorhof des Tempels und durch diesen hindurch zur Pforte des Tempels selbst führt.

Wenn bei einer Seele nach manchem Leben des Strebens dieser Wille zum Dienen aus einem bloßen Flüstern der Seele zu einer klar erkannten Absicht geworden ist, kommt der Zeitpunkt, in dem diese Seele, reiner und weiser geworden, den Mut aufbringt, die gewundene Straße zu verlassen und einen Pfad zum Aufstieg zu benützen, der direkt aufwärts zum Allerheiligsten führt. Es ist eine gewaltige Aufgabe, die sie damit auf sich nimmt, versucht sie doch nicht weniger, als das, zu dessen Ausführung die Menschheit Tausende von Leben benötigt, innerhalb eines Zeitraumes von wenigen Leben zu vollbringen. Man könnte fast sagen, sie sei sich ihrer Göttlichkeit bewusst geworden, denn dies ist sicherlich eine Aufgabe, die würdig eines göttlichen Wesens ist.

Auf diesem Pfad gelangt die Seele dann zu der Pforte, die in den Vorhof des Tempels führt. Mit entschlossenem Willen klopft sie an die Pforte und verlangt mit einem Pochen Einlass, das keiner überhören kann, denn es birgt in sich die Stärke der Seele, die zur Ausführung ihres Vorhabens entschlossen ist und weiß, was sie auf sich genommen hat. So öffnet sich die Pforte des Vorhofes, um sie einzulassen – und die Seele tritt ein. Durch diesen Vorhof muss sie nun hindurchschreiten, Schritt für Schritt, bis sie zu den Pforten gelangt, die in das Innere des Tempels führen, den Pforten, die die großen Einweihungen darstellen.

Ist sie durch die erste dieser Pforten geschritten, dann ist sie in das Innere des Tempels eingetreten, um ihn nie wieder zu verlassen.

Jetzt steht sie erst an der Schwelle des Vorhofes. Was wird hier ihre Arbeit sein? Wie wird ihre Lebensführung beschaffen sein müssen, damit sie würdig wird, an das Tor des Tempels zu pochen? Dies ist der Gegenstand, mit dem wir uns nun zu beschäftigen haben. Ich weiß, dass manches, was darüber zu sagen ist, nicht anziehend, manches sogar abstoßend erscheinen wird. Es ist schon hart genug, den Weg zum Vorhof des Tempels zu finden und alle jene Tugenden zu üben, welche die Menschenseele fähig machen, an seine äußere Pforte zu klopfen. Denn niemand gelangt dorthin, der sich nicht endgültig dem Dienen gewidmet hat, der nicht die flüchtige Natur der irdischen Dinge klar erkannt, der blumenreichen Straße, die den Berg umschlingt, den Rücken gekehrt und den bestimmten Entschluss gefasst hat, gerade aufwärts zu klimmen, unbekümmert um die Anstrengungen, die jeder Tag des Lebens in rascher Folge bringt. Im Vorhof selbst aber heißt es zu kämpfen, mit großem Mut zu kämpfen, denn viel muss dort errungen werden innerhalb einer kurzen Spanne Zeit.

Die folgende Einteilung dieser Arbeit ist nur eine willkürliche. Es sind nicht aufeinanderfolgende Schritte, die durch den Tempelhof führen, es muss vielmehr gleichzeitig an allen gearbeitet werden, lediglich der klareren Erläuterung halber werden sie hier in die Abschnitte „Läuterung“, „Gedankenbeherrschung“, „Charakterbildung“, „Spirituelle Alchemie“ und „An der Schwelle“ geteilt, um sie besser verstehen zu lernen. Aber während aller Leben, welche die Seele im Vorhof verbringt, muss sie gleichzeitig an ihnen allen arbeiten, sie muss sie nicht vollständig bemeistert haben, aber sie muss sie wenigstens teilweise erlernt haben, ehe sie die Pforte des Tempels selbst, die Pforte der ersten Einweihung, erreichen kann.

Einen Teil ihrer Arbeit muss also die Läuterung bilden, die Läuterung der niederen Natur, bis jeder ihrer Teile harmonisch mit der höheren schwingt, bis alles das rein geworden ist, was zum zeitlichen Menschen gehört, zu dem, was wir seine Persönlichkeit nennen – das, was nicht die bleibende Individualität selbst ist, sondern die Stimme der Eigenschaften und Merkmale, die sie sich im Laufe der einzelnen Inkarnationen erworben hat, die Gewänder, in die sie sich kleidet und die sie oft Leben auf Leben mit sich führt, alles, was sie wieder aufnimmt, wenn sie zur Verkörperung zurückkehrt, was sie während der Verkörperung um sich ansammelt und woraus sie dann die Essenz zieht, um sie in ihr stets wachsendes, ewiges Selbst einfließen zu lassen.

Ein Ausdruck, der die Haltung der Seele in dem Augenblick, in dem sie bewusst in den Vorhof eingetreten ist, richtig beschreibt, ist „treue Gefolgschaft dem höheren Selbst gegenüber“. Es bedeutet den wohlüberlegten Entschluss, alles aufzugeben, was zeitlich ist und der niederen Persönlichkeit angehört, und jedes Leben in dieser niederen Welt nur dem Zweck zu widmen, nützliches Material zu sammeln, um es dem höheren Selbst zu übergeben, das von dem, was das niedere sammelt, lebt und dadurch wächst. Es bedeutet auch, als zeitlicher Mittler zu wirken, um alles das zu sammeln, dessen das bleibende Selbst bedarf, das ja sein eigentliches Wesen ist, und das dadurch in die Lage versetzt wird, die ständig wachsende Individualität aufzubauen, die höher steht als die Persönlichkeit eines einzelnen Lebens. „Treue Gefolgschaft dem höheren Selbst gegenüber“ bedeutet die Anerkennung dieser Verpflichtung seitens der Persönlichkeit sowie die Erkenntnis, dass das niedere Ich nicht mehr für sich selbst zu leben hat, sondern dem zu dienen verspricht, das von Dauer ist. So ist das ganze Leben im Vorhof ein Leben entschiedener Treue gegenüber dem höheren Selbst, die ganze Arbeit eine Arbeit für das Größere, das nun als das wahre Selbst erkannt wurde, das die Jahrtausende überdauert. Durch diesen bewussten Dienst des in die äußere Welt entsandten Boten wird die wahre Individualität zu immer vollerem Leben entfaltet werden.

Das, was in den großen heiligen Schriften der Welt manchmal als Vorbereitung für eine erfolgreiche Suche nach der Seele bezeichnet wird, muss hier schon hinter der Seele liegen. In einer der Upanischaden heißt es, wenn ein Mensch seine Seele finden will, muss er zuerst „von bösen Wegen ablassen“. Dies muss die Seele bereits getan haben, ehe sie den Vorhof betreten hat. Über die gewöhnlichsten Versuchungen des irdischen Lebens muss sie schon hinausgewachsen sein. Auch wenn ihr Gewissen, das ja keineswegs bereits vollkommene Erfahrung besitzt, noch manchmal Missgriffe bei seiner Wahl macht und falsch wählt, so wird es doch zumindest schon eifrig bestrebt sein, die richtige Wahl zu treffen. Das niedere Selbst wird dieser Stimme nicht mit Vorbedacht zuwiderhandeln, denn wer dies tut, ist noch nicht reif, den Vorhof zu betreten. Die Seelen, die sich dort befinden, haben mindestens die Wahl getroffen, nach dem Rechten zu streben. Sie werden dieser Stimme gerne gehorchen und nicht vorbedacht ungehorsam sein.

Im Vorhof aber werden sie es mit feineren und größeren Versuchungen zu tun haben. Hier, im Tempelbereich, haben sie weder die Möglichkeit, spielerisch mit Versuchungen umzugehen, noch die Zeit, Tugenden allmählich auszubilden. Hier werden sie vor allem intellektuelle Versuchungen finden – die Versuchung zu intellektuellem Ehrgeiz oder Hochmut, zur