Alexander Oetker, geboren 1982, ist der Frankreich-Korrespondent von RTL und n-tv und profunder Kenner von Politik und Gesellschaft der Grande Nation. Seine Luc-Verlain-Krimis sind allesamt Bestseller, seine Romane und Reiseführer Erfolgsgaranten im Buchhandel. Alexander Oetker pendelt mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen zwischen Brandenburg, Paris und der französischen Atlantikküste.
Er legte den Kopf gegen das Fenster und versuchte zu schlafen. Wenn Maurice das tat, wenn er den Kopf so nah an die kalte Scheibe schmiegte, dann war es ihm, als flöge die Landschaft nicht vorbei, sondern als sei er selbst dort draußen. In diesem gelben Rapsfeld. Die Pflanzen wogten im Wind, als führten sie einen rhythmischen Tanz auf.
In der Spiegelung sah er sich selbst. Er konnte sein Gesicht in Graustufen erkennen, weil die Sonne die Farben stahl. Maurice berührte wie automatisch seine Wange, er hatte sich am Morgen ganz glatt rasiert. Der einzige Schimmer auf seinem Spiegelbild stammte von der alten Lampe mit dem roten Schirm aus Plastik, die auf dem Tischchen angebracht war. Er mochte dieses Überbleibsel aus den Achtzigern, das die alten TGVs noch besaßen. In Paris hatten irgendwelche Retrocafés sicherlich damit schon ihre Einrichtung bestückt.
Auf dem Gare Montparnasse hatte er sich an diesem Morgen eingebildet, dass er gleich im Zug gut würde arbeiten können. Endlich Ruhe, kein Handynetz, keine Erreichbarkeit.
Es würde Zeit sein für die E-Mails, die Bilanz des zweiten Quartals, das wichtige Schreiben ans Insolvenzgericht.
Doch kaum saß er und hatte seinen Laptop aufgeklappt, verschwammen schon die Zahlen vor seinen Augen. Die schwarzen Umrisse der Tabellen, die Cynthia am Vorabend geschickt hatte, sahen aus, als seien sie verrutscht, als hätte Excel einen über den Durst getrunken.
Dieser Zug machte ihn immer so müde. Jeden Mittwoch um acht Uhr bildete er sich ein, dass es diesmal anders sein würde. Jeden Mittwoch um halb neun wusste er, dass es keinen Sinn hatte, auch nur zu versuchen, sich zu überwinden. Die rasante Fahrt, das Rattern, die Gleichförmigkeit der Bewegung, all das machte ihn so müde.
Das Licht schien fahler zu werden, je tiefer sich der Zug seine Schneise gen Westen grub. Die Bauernhäuser draußen wurden vereinzelter, die Felder breiter, länger, so säuberlich angeordnet, als hätten die Traktoren ihren eigenen Sinn für Ästhetik.
Der Bahnhof von Rennes war für schnelles Umsteigen wie geschaffen, niemand wollte hier ausharren. Kaum saß er im Vorortzug nach Saint-Malo, fuhr der mit diesem elektrischen Surren an, sie glitten beinahe lautlos in die Ebene.
Ihm war dieses fruchtbare Land hier oben fremd. Es machte ihm ein schlechtes Gewissen, weil es so sehr nach Arbeit aussah. Die Menschen füllten die Speisekammern der Nation. Dort, wo er herkam, gab es nur karge rote Strände und reichlich Wind, nichts, was man auf einem Wochenmarkt kaufen konnte.
Maurice konnte die Abfolge langsam auswendig: Zuerst, kurz nach den Gewerbegebieten der Stadt, kamen die Gewächshäuser für die Tomaten. Später der Blumenkohl. Und dann natürlich die Artischocken, für die ganz Frankreich die Bretagne pries. Er hatte das nie verstanden, diese umständliche Pulerei, dieses Rumgebeiße auf den Blättern.
Nach den Feldern kamen die Wälder; dunkel, Steine, überall Steine. Ab und zu wand sich ein Flüsschen unter dem Zug durch. Pontchaillou, Combourg, Dol de Bretagne – ab dem Moment, in dem er den Fahrplan der Haltestellen auswendig konnte, wusste er, dass eine Liquidation mal wieder zu lange dauerte.
In La Gouesnière stieg er aus. In Cancale, dem Ort, in den er eigentlich musste, gab es nur einen Busbahnhof, er lag zu weit von der Bahnstrecke entfernt. In La Gouesnière lag der nächste Bahnhof. Ein schmaler Betonstreifen mit einem blauen Ortsschild. Fast zu übersehen.
Er zog seinen Koffer hinter sich her, einmal über die Gleise, eine Treppe gab es hier nicht. Der Pick-up des Alten stand mit laufendem Motor drüben an der Bushaltestelle. Als Maurice näher trat, sah er, wie eine Kippe aus dem Fenster geworfen wurde.
Als er die Tür öffnete, blickte der Alte ihn an wie jedes Mal, als sei er verwundert über sein plötzliches Auftauchen. Vielleicht war es aber auch nur sein normaler Blick.
»Bonjour, Monsieur. Gute Fahrt gehabt?«
Die Frage war nur ein Ritual.
»Danke.«
Der Wagen, ein alter grauer Toyota, fuhr an, obwohl Maurice nicht angeschnallt war. Im Radio lief France Info, doch der Diesel übertönte die Stimme des Ansagers. Maurice wusste mittlerweile genau, wie die nächsten zwölf Minuten ablaufen würden: hinein nach Saint-Méloir-des-Ondes, rechts ab nach Saint-Benoît, die Départementale hoch bis Les Portes, scharf rechts auf die neue Landstraße, die erst in die Oberstadt führte und dann hinunter zum Hafen.
Der Alte redete nicht, seine Hände umklammerten fest das Lenkrad, aber es wirkte so ungelenk – Maurice war sich sicher, dass sein Chauffeur es nur für ihn tat und sonst wohl mit dem Knie lenkte. Eine Hand hatte er sicher stets am Handy – mit wem sprach dieser Mann eigentlich? Mit der anderen hielt er die Zigarette. Seinem Fahrgast aber wollte er beweisen, was für ein vertrauenswürdiger Angestellter er war.
Maurice hatte vergessen, wie der Alte hieß. Es ärgerte ihn. Er war darauf geschult, sich derlei zu merken. Der Mann holte ihn jede Woche ab, 10.41 Uhr in La Gouesnière. Im Pick-up der Firma, einem von vier Dienstwagen.
Er war kein Chauffeur, er war der Hausmeister der Halle, putzte die wenigen Fenster, die es gab, und war Mädchen für alles. Maurice dachte in diesem Moment, dass der Mann vermutlich der letzte Angestellte sein würde. Derjenige, der die Rollläden herunterlassen, mit dem Schlüssel die Tür der Fabrikhalle abschließen, das Firmenschild über dem Portal abschrauben würde.
Hinter Les Portes wurde die Straße schmaler. Die Steinhäuser auf der Rechten, deren Dächer keck über die dauergrüne Hecke hervorlugten. Rechts die sonnenbeschienene Sichelbucht, spiegelglatt bis zum Horizont, weil das fahle Licht alles in ein grelles Weiß tauchte, sodass er die Augen zukneifen musste, damit sie nicht tränten.
Ebbe. Der Alte hatte das Fenster offen gelassen, sein dunkelbrauner muskulöser Arm hing heraus. Der Geruch, der hereindrang, war zum Begleiter dieser Tage geworden: eine Mischung aus Algen und Tang und Salz, auch Fisch, es roch nicht nur hier so, auf dieser gewundenen Straße, sondern auch unten im Ort und in der Fabrik.
Kurz wagte Maurice einen Seitenblick zum Fahrer, der stumm den Hügel hinabfuhr. Er sprach nie in diesen zwölf Minuten. Bis auf die Eingangsfrage kein Wort. Die Szenerie wechselte: nun die bretonischen Häuser aus Feldsteinen. Es sah aus wie in Cornwall, nur mit Sonne. Die Bebauung wurde dichter, und hinten rechts tauchte schon der Quai auf, für den der Ort berühmt war. Der Alte grummelte, weil vor ihm zwei Kleinwagen bremsten. Davor stand ein Wohnmobil quer, gelbes Kennzeichen, Holland. Er drückte fest auf die Hupe, lange und ausdauernd, sodass die Passanten zu ihnen hineinsahen, Maurice machte sich auf seinem Sitz kleiner. Nach Minuten hatte das Wohnmobil gewendet, sie konnten weiter, vorbei an den Restaurants, der Crêperie, die er immer mied, den Souvenirgeschäften. Auf dem Quai Gambetta drängelten sich die Menschen, dabei hatte die Saison noch gar nicht recht angefangen. Bis August musste er diesen Auftrag wirklich abgewickelt haben, dann würde es hier unerträglich.
Hinter dem großen Parkplatz bremste der Alte abrupt und hielt vor der Halle. Schwarzes Holz war gestapelt, Bohle an Bohle, einige Netze hingen davor, Ausstellungsstücke, als würden Touristen schnell ein paar Fischernetze mit nach Hause nehmen wollen.
Er bedankte sich und stieg aus. Er hatte gerade eben beide Füße auf den Gehsteig gesetzt, da fuhr der Pick-up wieder an. Wohin der Alte jetzt fuhr, konnte Maurice nicht sagen. Auch nicht, was er genau tat, an jedem Mittwochvormittag. Manchmal tauchte er den ganzen Tag nicht wieder in der Fabrik auf. Die ehemaligen Bosse hatten die Dinge wohl allzu lange schleifen lassen. Deshalb war Maurice nun hier.
Er stand vor der Fabrik und klopfte sich erst einmal den Staub vom Sakko, da waren auch Hundehaare dabei.
Die Luft lag voller Gerüche, die von den Austernbänken, welche keine zweihundert Meter von hier im Hafenbecken lagen, herüberwehten. Er verspürte auf einmal Lust, dort entlangzuspazieren, doch der Blick auf die Uhr bremste ihn. Er zog den kleinen Reisekoffer zur Tür und öffnete sie. Beim ersten Mal hatte er Lärm erwartet, die Geräusche von Maschinen. Er war erstaunt gewesen, wie ruhig es hier war. Die Stille war der Beleg für die Zahlen, die er in den Bilanzen gefunden hatte. Ein Rückgang der Nachfrage, ein Rückgang des Umsatzes, die Freistellung von Saisonkräften. Zwei Dutzend Angestellte waren übrig. Sie webten an den Netzen oder klebten die Austernsäcke zusammen, die ihre Kollegen in der Nachtschicht mit Draht gebunden hatten. Weiter hinten standen die Männer zusammen und tranken Kaffee, den sie auf der kleinen Kochplatte gemacht hatten. Maurice sah schnell weg. Wenn die Arbeitsaufsicht hier wäre und die Kochstelle mit offener Flamme über einer Gasflasche sehen würde, wäre die Halle sofort zu.
Die Frauen an den Werktischen weiter vorn sprachen leise miteinander. Eine von ihnen blickte auf und nickte Maurice zu. Sie war jünger als die anderen. Sofort ebbten die Gespräche ab. Er wusste, dass sie ihm misstrauten. Paris. Ihr Urteil manifestierte sich in seiner Herkunft. Vielleicht mochten sie ihn auch wirklich nicht, dachte er, aber wahrscheinlich lag es daran, dass er über sie heraufgezogen war wie ein Herbststurm. Eine letzte Zumutung, bevor das Unvermeidliche geschehen würde. Sie kannten ihn nicht, er kam von außen, um sie zu retten, ein Außerirdischer, mit seinem Rollkoffer und dem Sakko aus Tweed.
Er ging die Stiege hinauf, die unter ihm knarzte, oben lagen nur zwei Büros. Ein kleines Dachfenster ließ ein wenig streifiges Sonnenlicht durch. Er öffnete die Tür zu seinem Verschlag, sofort begannen die Staubkörner zu tanzen. Er stellte den Koffer hinein und ließ die Tür offen, damit der Raum durchlüften konnte. Dann ging er nach rechts und klopfte an die Tür, bevor er öffnete. Madame Le Goff war die Einzige, die ihn hier anlächelte und die in den letzten Wochen mehr als drei Worte mit ihm gewechselt hatte. Sie warf einen Blick auf die Uhr.
»Monsieur, Sie sind früh dran.«
»Bonjour, Madame Le Goff.«
Sie war beim Friseur gewesen, die grauen Haare waren erst vor wenigen Stunden gelegt worden, im Raum roch es nach Haarspray. Sie wusste nicht, was sie mit ihrer vielen freien Zeit machen sollte. Der Chef war ihr abhandengekommen, er saß in irgendeinem Haus an der Küste und wartete auf seinen Prozess. Ihr neuer Ansprechpartner kam nur einmal in der Woche.
»Wie war Ihre Anreise?«
»Wie immer sehr komfortabel. Wie war die Woche bisher?«
»Eine Kündigung, Madame Lefoyer, sie arbeitet jetzt im Carrefour in Saint-Malo, war näher an ihrem Wohnort.«
»Gab es neue Aufträge?«
Sie sah auf ihren Bildschirm, als könne sie sich nicht erinnern und müsse nachsehen. Dann schüttelte sie den Kopf.
»Eine Stornierung aus Arcachon. Einhundert Austernsäcke.«
Er verzog das Gesicht.
»Die Fischer sind unsicher, ob wir noch liefern können.«
»Es ist gar nichts hinzugekommen?«
Sie legte den Kopf schief, als würde sie schwer hören, vielleicht war es auch nur eine Übersprungshandlung, als wage sie es nicht zu verneinen. Er stützte sich auf ihrem Schreibtisch auf. Es war nicht seine Art, Nähe zu seinen Untergebenen auf Zeit herzustellen, aber er konnte mit der Stärke dieser Frau nicht umgehen und wollte ihr zeigen, wie wichtig es ihm war.
»Rufen Sie den Chef des Austernsyndikats von Cancale an. Ich möchte mit ihm sprechen. Morgen Vormittag. Wir brauchen einen großen Auftrag, sonst wird das ganz schwer. Ich bin Insolvenzverwalter – und kein Zauberer.«
Er hatte diese Floskel bei einem mehrtägigen Managerseminar aufgeschnappt. Damals fand er sie gut und richtig. Doch obwohl er sie mittlerweile unbändig hasste, wurde er sie nicht mehr los. Er räusperte sich verlegen.
»Gut, ich rufe Serge an und bitte ihn herzukommen.«
»Ich danke Ihnen. Ich bin in meinem Büro. Bitte keine Anrufe bis zum Mittag, ich sitze über den Büchern.«
Niemand hatte ihn in diesem Büro bisher angerufen. Nun gut, bis auf seinen Vater. Er hatte wohl sicherstellen wollen, dass sein Sohn wusste, was dessen neuer Arbeitsort für die Familie bedeutete: nur eine weitere Demütigung.
Die Zeit bis zum Mittag verging wie im Fluge, obwohl er nichts tat, als geschriebene Zeilen zu überfliegen. Er erkannte den Fortgang des Tages nur daran, dass es unter dem Dach immer heißer wurde. Es war ihm ein Rätsel, wie Madame Le Goff es hier am Nachmittag aushielt. Die dünnen Holzbohlen dämmten das Stockwerk nicht, sie ließen es stattdessen glühen. Im Winter musste es noch unerträglicher sein. Aber im Winter würde er nicht mehr hier sein.
Er besah sich die Fixkosten, beantwortete zwei Nachrichten vom Gericht aus Rennes, überflog die Tabellen und rechnete die verbliebenen Aufträge durch. Sie brauchten mehr, ganz klar. Er stöpselte den Laptop an den Strom, dann nahm er seinen Koffer und blickte in das Büro der Sekretärin. Es war leer. Er stieg die Treppen hinab und ging durch die nun leere Halle.
Maurice trat hinaus und sah die Angestellten der Firma, sie saßen alle drüben, im einzigen traditionellen Lokal, das das Städtchen noch besaß und das die Touristen den Bewohnern noch nicht abgetrotzt hatten. Einmal war er mit Madame Le Goff dort gewesen. Er hatte darauf bestanden, obwohl sie lieber woanders essen wollte. Doch es war ihm wichtig zu sehen, wo die Mitarbeiter aßen. Entrée, Plat, Dessert für acht Euro, ein Glas Muscadet inklusive.
Als er jetzt hinaustrat in die Sonne, sahen alle hinüber, als hätten sie auf ihn gewartet, dann wandten sie schnell den Blick ab. Nur Madame Le Goff schob ihre Sonnenbrille ins Haar und hob winkend den Arm, er nickte herüber, eine erkennende Geste.
Er hatte Hunger, doch er wollte zuerst den Koffer wegbringen. Langsam drückte das Wasser in die Bucht, die ersten Boote, die weiter draußen lagen, waren schon angehoben worden und schaukelten in der braunen Brühe. Er ging an den Austernständen vorbei, zwei alte Männer überboten sich mit Anpreisungen, einer hatte einen riesigen Anker auf seinen faltigen Arm tätowiert. Unten in der Bucht machten ihre Söhne die Ernte des Tages fest, bevor die Flut die Bänke wieder überschwemmen würde. Sie standen mit Gummistiefeln in dem kniehohen Wasser der Zuchtbecken, die, von grünen Algen umrankt, dalagen. Die Muschelfischer ließen unterdessen ihre Traktoren an Land rollen, bevor die Flut kam. Bei Ebbe fuhren sie mit den Gespannen ganz nach draußen, was merkwürdig aussah: die dicken Reifen der John-Deere-Modelle, die am Horizont auf und ab rollten, gleich dahinter das Meer. Die Möwen pickten im schon nassen Sand umher, ihre Geräusche waren gleichmütig, als würde sie nichts überraschen können.
Maurice überquerte die Place de la Chapelle, die Rue du Port stieg steil bergan, jedes Haus ein Stück höher als das vorherige, eine Kaskade von dunklem Stein und den Schornsteinen, die den Berg nachzeichneten.
Die Sonne lugte hinter einem Dach hervor, ein schräger Lichtstreifen. Ihm war, als müsste er sich plötzlich konzentrieren, er wusste nicht, warum. Das siebte Haus auf der linken Seite war höher als die anderen, drei Etagen, zwölf Zimmer. Er klingelte, die Tür surrte sofort. Eigentlich war es zu früh, um einzuchecken. Aber in den letzten Wochen war er stets zu dieser Stunde gekommen, und sein Zimmer war immer schon bereit gewesen.
Er stieg die paar Stufen hinauf, erblickte den Tresen, eine Leselampe beleuchtete den Kasten mit den Ausflugstipps, dem Gezeitenkalender und den wartenden Zimmerschlüsseln. Maurice trat von einem Fuß auf den anderen.
Er hörte ihre Schritte erst, als sich die Tür zum hinteren Raum schon öffnete, und als sie dann dastand, musste er sich kurz auf der Theke abstützen. Er musste es einfach tun, weil er sonst gestolpert wäre, umgefallen gar. Er hatte sie hier noch nie gesehen, die letzten Wochen war immer eine andere, ältere Frau da gewesen.
»Bonjour?«
Nur ein Wort, aber die Fröhlichkeit ihrer Stimme ging ihm durch und durch.
»Bonjour, Madame. Ich habe ein Zimmer reserviert, ich bin Monsieur van der Berge.«
Es war schummrig, deshalb musste er zweimal hinsehen, um ihre Erscheinung mit dieser bescheidenen Rezeption aus Holzfurnier zusammenzubringen. Sie kniff die Augen ein wenig zusammen, er stand im Gegenlicht, doch dann lächelte sie. Irgendwas Fragendes war da in ihrem Blick, Überraschung? Als erkenne sie ihn, könne ihn aber noch nicht einordnen. Es konnte nicht sein, er hatte sie noch nie gesehen, da war er sich sicher. Sie sah einen Moment zu lange zu ihm, dann erst räusperte sie sich und senkte den Kopf. Dabei fielen ihr die langen Haare ins Gesicht, sie wischte sie mit einer Geste zurück, schlug ihr Reservierungsbuch auf und blätterte darin, überschlug die Seiten, als müsste sie etwas prüfen. Er fand es beinahe intim, sie dabei zu beobachten. Er starrte – warum starrte er sie an? Es gelang ihm einfach nicht, seinen Blick von ihr zu lösen.
Da war etwas, ihr dunkler Teint, die Art, wie sie sich konzentrierte, die Ruhe, die sie ausstrahlte, ihre Lebendigkeit, die den Raum sofort heller erscheinen ließ.
Sie hob den Kopf wieder, als wollte sie prüfen, dass er noch da war, dass dieser Moment echt war, und als sie es sah, lächelte sie wieder.
»Ich wusste, dass heute ein merkwürdiger Tag werden würde, schon am Morgen wusste ich es. Kennen Sie das?«
Er nickte, weil ihm nichts einfiel, das er erwidern könnte. Und obwohl der Gesprächsbeginn so merkwürdig war, machten ihre Worte ihn nur noch nervöser.
»Jedenfalls ist es so, Monsieur van der Berge, ich sehe Ihre Buchung von letzter und vorletzter Woche. Ich sehe auch die Reservierungen nächste und übernächste Woche. Ich weiß, Sie sind der Mann, der immer am Mittwoch kommt. Für eine Nacht. Ich war einige Zeit im Urlaub, deshalb kann ich es mir nicht erklären.« Sie ließ die Arme sinken, als näherte sich die Zeit des Geständnisses. »Es ist so: Ich habe keine Buchung für heute, ich habe alles durchgeschaut, da ist nichts.«
Er verstand nun ihre roten Wangen und sagte fast reflexartig:
»Ich weiß nicht, vielleicht ist etwas schiefgegangen, ich … Können Sie mir ein anderes Zimmer geben? Ich bestehe nicht auf Zimmer sieben.«
»Das ist es ja«, sagte sie, »wir sind komplett ausgebucht, es ist verrückt, wir haben gerade eine ganze Woche das Haus voll, so viele Urlauber sind früh in der Saison gekommen, das ist noch nie passiert. Vogelbeobachter, eine Gruppe aus Südengland. Es tut mir wirklich sehr leid, aber ich fürchte, ich kann nichts machen.«
Er schüttelte den Kopf und spürte, wie sein Kopf rot wurde, er mochte keine Überraschungen. Er holte sein Handy hervor, das Licht beruhigte ihn, der Bildschirm bildete eine Ordnung der Dinge. Er suchte in der App seine Buchungen, dann hielt er das Handy über den Tresen.
»Hier, sehen Sie, meine Buchung, ich habe eine ordnungsgemäße Buchung für heute.«
»Ich weiß, Monsieur, ich weiß, das habe ich ja schon gesagt. Es ist mir unerklärlich, wie das passieren konnte – ausgerechnet bei Ihnen. Ich verspreche, das passiert nie wieder. Aber diesmal … Ich habe kein Zimmer. Ich würde Ihnen gerne eines bauen, aber das schaffe ich nicht bis heute Abend …«
Sie lachte offen, und er ärgerte sich, dass er zu nervös war, um den Scherz angemessen zu würdigen. Er wollte wütend sein, er war gerne aufbrausend in solchen Momenten, es war das Verhalten, das er sich von seinem rigiden Vater abgeschaut hatte – der brachte die Menschen immer dazu, sich zu beugen. Aber hier? Er konnte es nicht, irgendwas hielt ihn zurück.
»Und was mache ich nun?«, fragte er freundlich und irgendwie verlegen.
Sie überlegte kurz, zwei Finger spielten mit einer Haarsträhne, dann wurden ihre Augen klarer, als habe sie etwas entschieden.
»Ich habe eine Idee. Eigentlich müsste ich das mit der Besitzerin besprechen, aber es wird schon gehen. Ich rufe in einem Hotel außerhalb der Stadt an, ein sehr schönes Hotel. Sie werden es nicht bereuen. Ich habe noch etwas gut bei denen. Es ist … nun ja, sehr exklusiv. Viel teurer als unser Haus. Ich werde Sie dort einbuchen, die Differenz zahlen wir, es war ja unser Fehler. Sind Sie einverstanden? Bitte … tun Sie mir den Gefallen, nehmen Sie es an.«
Sie wartete seine Antwort nicht ab, sondern notierte etwas auf einem Zettel, sie schrieb in schöner Schrift, ihre Hand flog über das Papier.
»Hier, ich schreibe Ihnen die Adresse auf. Nehmen Sie ein Taxi vom Hafen, es kostet acht Euro, nicht mehr. Ich rufe dort an, es wird alles glattgehen. Fahren Sie heute Abend hin, ich verspreche, Sie werden dort wunderbar schlafen.«
Sie sagte es, als dulde sie keine Widerrede, als habe der Plan schon lange festgestanden. Die Frau gab ihm den Zettel, als er ihn annahm, waren ihre Finger für eine Sekunde an seinen. Sie trat einen Schritt zurück und blickte ihn fragend an.
»Sagen Sie, Monsieur van der Berge, ich frage mich, seit Sie hineingekommen sind, ob Sie …«
Er nahm seinen Koffer in die Hand, weil sie nicht weiterredete und weil er nicht wusste, was er sonst tun sollte. Doch dann schüttelte sie den Kopf und senkte ihren Blick.
»Ja, Madame?«
»Nein, nein, ich … Es ist nichts, entschuldigen Sie, ich wollte Sie nicht verwirren.«
Wieder eine Pause, dann wurde sie plötzlich geschäftig.
»Darf ich Ihnen noch damit helfen?«
»Hmm?«
Sie zeigte auf den Koffer, und Maurice verstand, aber winkte ab.
»Nein, nein, ich danke Ihnen.«
»Haben Sie einen schönen Tag, wir sehen uns bald.«
»Wie bitte?«
»Na, nächste Woche, wir sehen uns nächste Woche.«
»Ähm, ach so«, er musste nun mitlachen, »ja, stimmt. Merci, Madame.«
Er musste sich richtig losreißen, so sehr lag ihr Blick auf ihm. Er nahm die kleine Treppe, bei der vorletzten Stufe verfehlte er das Holz, sein Fuß rutschte ab, der Koffer knallte gegen die steinerne Wand, er fing sich.
»Alles in Ordnung?« Ihre Stimme ertönte von oben.
»Alles gut, Verzeihung!«, rief er. Dann öffnete er die Tür, trat hinaus und betrachtete die Straße und den blauen Himmel, als sehe er beides zum ersten Mal. Maurice schloss für einen Moment die Augen, bis sich ein älteres Touristenpärchen unsanft an ihm vorbeidrängelte. Er hatte mit seinem Koffer den schmalen Gehsteig blockiert. Er ging den Berg hinunter bis zum Hafen und setzte sich auf eine Bank. Auf der Mauer gegenüber saßen Urlauber und aßen Austern von Plastiktellern. Er faltete den Zettel auseinander, sie hatte ihn säuberlich Ecke auf Ecke gelegt.
Chateau Richeux stand darauf und eine Straße, die Départementale westlich von Saint-Méloir-des Ondes, dazu eine Telefonnummer. Er staunte, er wusste von diesem Hotel und fragte sich, in welcher Beziehung die kleine Pension in dem düsteren Haus und diese Herberge zueinander standen.
Wir sehen uns nächste Woche, hatte sie gesagt. Und er hatte nur rumgestottert.
Er wäre gerne am Strand entlanggegangen, bevor die Flut die letzten Reste des Sandes überspülen würde, aber er kam sich unpassend vor in seinem Sakko, dessen dicker Stoff ihm den Schweiß auf die Brust trieb. Unten lagen Familienväter unter bunten Sonnenschirmen, während die Mütter an der Wasserkante mit kleinen Kindern eine Burg bauten. Ein Paar lag eng umschlungen auf einem quietschbunten Handtuch unter dem fahlen Himmel. Er verspürte ein Stechen im Bauch.
Maurice ging auf die Fabrikhalle zu, als die Arbeiter zurückkehrten. Sie zogen ein wie die sieben Zwerge, es fehlte nur noch, dass sie ein kämpferisches Brigadistenlied sangen. Sie grüßten nicht, sie schienen ihn nicht einmal zu beachten. Er zog seinen Koffer hinter sich her und wechselte die Straßenseite. Auf dem Tisch der Arbeiter standen noch die leeren Gläser, die Tischdecke war voller Brotkrumen. Er setzte sich. Die Kellnerin sah ihn stirnrunzelnd an. Er bestellte das Menu du jour. Sie blickte in der Gegend umher.
»Nur bis 14 Uhr.«
»Es ist vier Minuten vor zwei.«
»Eben.«
»Was gibt es denn noch?«
»Salate. Eine Plat Direct