AK-47 |
Avtomat Kalashnikova: sowjetisches Sturmgewehr |
Ale |
Biersorte |
Alpha-, Beta-, Omega-Wolf |
hierarchische Einteilung einzelner Mitglieder eines Wolfrudels; gilt in der Wissenschaft heute als umstritten |
Amnesie |
Gedächtnisstörung für zeitliche oder inhaltliche Erinnerungen |
Amygdala |
Teil des limbischen Systems im Gehirn |
aye |
schottisch: ja |
Badmin |
im britischen Soldatenjargon die Bezeichnung für einen Soldaten, der seine Ausrüstung nicht ordentlich beisammenhält |
Balmoral |
schottischer Landsitz der Königsfamilie |
Bartholomäusnacht |
Pogromnacht (vom 23. auf den 24. August 1572) an französischen Protestanten (Hugenotten) |
Behavioristen |
Verhaltensforscher |
Bestie von Gévaudan |
Name für ein Raubtier, das 1764 bis 1767 in Südfrankreich Menschen angriff |
Bravo Two |
Bezeichnung einer Militäreinheit |
Cairngorms National Park |
größter Nationalpark im Vereinigten Königreich im Hochland von Schottland |
Chinook |
militärischer Hubschrauber |
Chivas Regal |
Whiskymarke |
Combat Stress Centre |
Einrichtung zur Behandlung traumatisierter Ex-Soldaten |
Cortisol |
Stresshormon, das den Stoffwechsel anregt und entzündungshemmend wirkt |
Cougar Mastiff |
gepanzertes Militärfahrzeug |
County |
Grafschaft |
Crap Hats |
von den Fallschirmjägern (Red Berets) und den Soldaten des SAS benutzte abfällige Bezeichnung für Soldaten anderer Militäreinheiten |
Downtown Abbey |
britische Fernsehserie |
Dude |
Kumpel |
eejit |
schottisch: Idiot |
Enduring Freedom |
»Andauernde Freiheit«: US-militärische Großoperation im Kampf gegen den Terrorismus nach den Anschlägen auf das World-Trade-Center am 11.9.2001 |
Flashback |
durch einen Schlüsselreiz hervorgerufenes Wiedererleben eines vergangenen Ereignisses |
For the strength of the pack is the wolf. And the strength of the wolf is the pack. |
»Denn die Kraft des Rudels liegt im (einzelnen) Wolf. Und die Kraft des Wolfs liegt im (gesamten) Rudel.« Aus: ›Dschungelbuch‹ von Rudyard Kipling (1894) |
Fudge |
Karamellkonfekt |
Gao |
Stadt im Nordosten von Mali (Afrika) |
Gatekeeper Lodge |
Pförtnerhaus |
George Medal |
Orden; zivile Auszeichnung des Vereinigten Königreichs und des Commonwealth für außerordentlichen Mut |
Glen Affric |
30 Kilometer langes Tal in den schottischen Nordwest Highlands |
Haggis |
Spezialität aus der schottischen Küche; ein mit Herz, Leber, Lunge, Nierenfett vom Schaf, Zwiebeln und Hafermehl gefüllter Schafsmagen |
hämostatischer Verband |
Druckverband zur Blutstillung |
HERRICK |
britische Militäroperation in Afghanistan gegen die Taliban |
Highland Clearances |
Vertreibung der ansässigen Bevölkerung im schottischen Hochland zugunsten der Einführung der Schafszucht über weite Flächen (spätes 18. Jahrhundert bis zum Ende des 19. Jahrhunderts) |
Highland Games |
jährlich in der schottischen Ortschaft Braemar stattfindendes Volksfest, bei dem Disziplinen wie Baumstammwerfen, Tauziehen, Hammerwerfen u. Ä. aufgeführt werden |
Hippocampus |
Teil des menschlichen Gehirns; Schaltstelle zwischen dem Kurz- und dem Langzeitgedächtnis |
Hogmanay |
schottisches Silvester |
Holy Moly! |
Mein Gott! |
Hot Toddy |
schottisches Heißgetränk bestehend aus Wasser, Zitronensaft und Whisky |
Hybrid |
hier: Mischling zwischen Wolf und Hund |
IEDs |
Improvised Explosive Device, Unkonventionelle Spreng- oder Brandvorrichtung, die u. a. in Afghanistan gegen Soldaten der NATO eingesetzt wurden |
Infinite Justice |
siehe Enduring Freedom; ursprünglich vorgesehener Name der US-Militäroperation |
Injektionsgewehr |
Gasgewehr mit Betäubungsinjektionen für Wildtiere |
Inverness Caledonian Thistle |
Fußballverein in Inverness |
Isegrim |
Name des Wolfes in der Fabel |
Jakobiten |
Anhänger von Jakob II. von Schottland (bzw. Jakob VII., wie er in England genannt wurde) aus dem Haus Stuart. Zwischen 1689 und 1746 kam es mehrfach zu Aufständen der Jakobiter, die in der vernichtenden Niederlage in der Schlacht bei Culloden 1746 gipfelte |
Jedermannsrecht |
in Schottland gültiges Gewohnheitsrecht, das allen Menschen bestimmte grundlegende Rechte bei der Nutzung der Wildnis und gewissen privaten Landeigentums zugesteht |
Jinglytruck |
bunt bemalte und mit Ketten und Glöckchen geschmückte Lastwagen in Afghanistan |
KIA (Killed in Action) |
militärischer Begriff für »im Einsatz getötet« |
Land Reform Act |
siehe: Jedermannsrecht |
Leprechaun |
berühmter Kobold aus der irischen Mythologie |
LUPUS |
Institut für Wolfsmonitoring und -forschung in Deutschland |
Manor |
Herrenhaus |
Marmite |
englische vegetarische Würzpaste |
Massaker von Glencoe |
politisch motiviertes Massaker gegen den Clan der MacDonalds von Glencoe 1692 |
Mazàr-e Scharif |
viertgrößte Stadt in Afghanistan und Hauptstadt der Provinz Balch |
Midges |
kleine Beißfliegen |
Monadhliath Mountains |
»graue Bergkette«; verläuft westlich der Cairngorms und südöstlich vom Loch Ness |
nay |
schottisch: nein |
Never question your strength! |
»Zweifle nie an deiner Stärke!« |
O Captain, my Captain, our fearful trip is done! |
»O Kapitän, mein Kapitän, die grause Fahrt ist aus!«: Beginn des Gedichts von Walt Whitman über die Ermordung Abraham Lincolns (1865) |
One friendly force KIA |
militärischer Ausdruck für »ein Soldat der eigenen Truppe wurde getötet« |
Operation Toral |
britische Operation in Afghanistan nach 2014 im Rahmen der Resolute Support Mission der NATO |
Pie |
gebackene Teigschale mit salziger oder süßer Füllung |
Plumpudding |
auch Christmas Pudding genannt: traditionelles britisches Weihnachtsgericht aus Brot, Gemüse oder Fleisch bestehend; erhält seinen Namen dadurch, dass er in einer Form gekocht wird |
Point Man |
militärische Bezeichnung für den Vorwärtsstürmer, den Soldaten mit dem ersten Feindkontakt |
Präfrontaler Cortex |
wegen seiner Lage auch Stirnhirn genannt |
PTBS |
Posttraumatische Belastungsstörung |
Radgees |
schottisch: verrückte, junge Kerle |
Rememberance Poppy |
Mohnblume als Gedenksymbol für gefallene Soldaten |
Rendezvous-Platz |
Bezeichnung für den Ort, an dem ältere Wolfswelpen leben, nachdem sie die Wurfhöhle verlassen haben |
River Carron |
Fluss in Zentralschottland |
Rob Roy |
Robert Roy MacGregor (1671 – 1734): schottischer Volksheld und Geächteter; gilt als »schottischer Robin Hood« |
Robert Burns (1759 – 1796) |
berühmter schottischer Dichter |
Robert the Bruce (1274 – 1329) |
Anführer der aufständischen Schotten in den schottischen Unabhängigkeitskriegen gegen England, von 1306 bis 1329 König von Schottland |
Rotierende Beweidung |
ganzheitliches Weidekonzept, das durch geplantes Bewegen der Weidetiere zu besserem Graswachstum führt |
Roundabout |
Kreisverkehr |
Royal British Legion of Scotland |
schottische Veteranenorganisation |
SA3 |
mit Sprengstoff bestückte Rakete |
Sandhurst |
britische Militärakademie zur Offiziersausbildung |
Scottish Wildlife Trust |
Wohltätigkeitsorganisation, die sich der Erhaltung der Tierwelt und der natürlichen Umwelt Schottlands widmet |
Scrapbook |
besonders kunstvolle und kreative Form der Tagebuch- oder Kalenderführung |
Senckenberg Institut |
Institut in der Nähe von Frankfurt, das ein Labor für Wildtiergenetik betreibt |
Shortbread |
schottisches süßes Mürbeteiggebäck |
Should auld acquaintance be forgot |
bekanntes schottisches Lied (›Auld Lang Syne‹); wird im englischsprachigen Raum traditionell zum Jahreswechsel gesungen |
Snatch |
gepanzerter militärischer Landrover |
Special Air Service (SAS) |
Spezialeinheit der Britischen Armee |
Stone of Scone |
»Stein von Scone«: Krönungsstein am traditionellen Krönungsort Scone, von König Kenneth MacAlpin im 9. Jahrhundert aus Irland nach Schottland gebracht; Block aus rotem Sandstein |
Superdrug |
Drogeriemarktkette in Schottland |
Telemetrie |
wissenschaftliche Methode in der Wildtierforschung; die Tiere werden mit Sendern versehen, die Informationen über die räumliche Ausbreitung und Lebensweise der Tiere übermitteln |
Terry |
im Militär-Slang Bezeichnung für den Feind, in Afghanistan für die Taliban |
The sweets of love are wash’d with tears. |
»Der Liebe Süße ist in Tränen gewaschen.« Aus: ›The Primrose‹ von Robert Burns (1793) |
Timberwolf |
Amerikanischer Grauwolf |
Tories |
umgangssprachliche Bezeichnung für Mitglieder der Conservative Party in Großbritannien |
Two enemy force KIA |
militärischer Ausdruck für »zwei Feinde getötet« |
Vigenère-Chiffrierung |
Methode aus dem 16. Jahrhundert zur Verschlüsselung von geheimen Textnachrichten |
Who dares, wins. |
»Wer wagt, gewinnt.«: Leitspruch beim Special Air Service (SAS) |
William Wallace (1270 – 1305) |
schottischer Freiheitskämpfer und Anführer des Widerstands gegen König Eduard I. von England |
WMIK |
militärischer Landrover mit Waffenträger (Weapons Mounted Installation Kit) |
Wolfs-Monitoring |
Oberbegriff für die Maßnahmen zur Überwachung wildlebender Wölfe |
Yorkshire Pudding |
salziges Backwerk, das als Beilage zu Steaks serviert wird |
Die junge deutsche Wolfsforscherin Kaya wird von dem schottischen Milliardär Alistair MacKinley beauftragt, auf seinen Ländereien wilde Wölfe anzusiedeln. In dem noblen Herrenhaus in den Highlands trifft Kaya auch auf den verschlossenen Nevis, Alistairs attraktiven Sohn, mit sturmgraublauen Augen wie der Himmel über den schottischen Bergen. Der hochdekorierte Ex-Elitesoldat soll sich in der Heimat von seinen schweren Kriegsverletzungen erholen. Doch Nevis schottet sich ab, verweigert die Therapie und torpediert das Wolfsprojekt seines Vaters, wo er nur kann. Kaya ist irritiert und verärgert und fühlt sich gleichzeitig immer mehr zu Nevis hingezogen. Aber sie erahnt nicht das wahre Ausmaß seiner psychischen Probleme. Als Nevis bei dem Wolfsprojekt mitarbeiten soll, mündet das in eine Katastrophe …
Originalausgabe 2021
© 2021 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
Das Werk wurde vermittelt durch die Agentur Brauer, München
Umschlaggestaltung: zero-media.net, München
unter Verwendung von Motiven von
Thomas Lukassek / Niall Benvie / Alamy Stock Photo und FinePic®
Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Die Funktionalität der Web-Links wurde zum Zeitpunkt der Drucklegung (E-Book-Erstellung) geprüft. Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkungen nicht erkennbar.
eBook-Herstellung: Datagrafix GSP GmbH, Berlin (01)
eBook ISBN 978-3-423-43833-9 (epub)
ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-26287-3
Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website www.dtv.de/ebooks
Für Stefan
»I didn’t want you cosy and neat and limited.
I didn’t want you to be understandable,
Understood.
I wanted you to stay mad and limitless,
Neither bound to me nor bound to anyone else’s or
your own preconceived idea of yourself.«
Margaret Tait, »To Anybody At All«
Die Polster der Sitze sind so grau wie die Gesichter der Anzugträger um mich herum. Routinierte, gelangweilte Gelassenheit. Menschliche Leitwölfe, wie mein neuer Arbeitgeber, der ein Ticket für mich in der Business Class offenbar für angemessen hält. Während ich voll Unbehagen an ihnen vorbei den schmalen Gang hinunter zu der Tür des Airbus A320 spähe, stelle ich mir vor, wie ich die sieben Sitzreihen nach vorne sprinte, um das Flugzeug vor dem Start wieder zu verlassen. Meine Finger klammern sich an den verschlissenen Stoff des Rucksacks auf dem Schoß, als sich eine Flugbegleiterin zwischen mich und meinen Fluchtweg stellt und beginnt, ihr Sicherheitsprotokoll abzuspulen. Ich schließe die Augen und wünsche mich zurück in den Wald, atme wieder den würzigen Geruch von Fichten und Erde. Ich stütze mich im weichen Moos auf und sehe durch mein Fernglas bernsteinfarbene Augen, die mich aus dem Dickicht beobachten. Loan hat mich natürlich längst gewittert.
»Flugangst?«
Die Stimme neben mir lässt mich zusammenzucken. Sie gehört zu einer Frau, die so viele Falten im Gesicht hat wie weiße Pünktchen auf ihrer dunkelblauen Bluse. Nicht die Sorte grimmige Furchen. Vielmehr sieht sie aus, als hätte sie jede Menge Spaß gehabt, und auch jetzt liegt ein feines Lächeln auf ihrem Gesicht.
»Nein!«, beteuere ich schnell. »Mir geht es gut.« Glaubt sie mir, oder verständigt sie gleich die Flugbegleiter, weil sie Angst hat, ich könnte mich beim Start auf ihren wollweißen Plisseerock übergeben? Sie ist nach mir ins Flugzeug gestiegen, schmal und feingliedrig, aber mit aufrechtem Rücken und dem energischen Gang einer gealterten Coco Chanel. In dunkelblauen Mary-Jane-Schuhen mit breitem Riemen und kurzem Absatz, die Haare weiß, schulterlang und gewellt. Eleganz von Kopf bis Fuß. Ich kann nicht sagen warum, aber ich bin aufgestanden und habe sie ans Fenster gelassen, obwohl der Platz für mich reserviert ist.
»Möchten Sie doch lieber am Fenster sitzen?«, fragt sie jetzt. Sie muss meinem Blick gefolgt sein und hat ihn falsch gedeutet.
»Bitte legen Sie Ihren Rucksack in den Fußraum«, tönt eine männliche Stimme in diesem Moment neben mir, bevor ich ihr antworten kann. »Oder soll ich ihn für Sie oben verstauen?«
Ich schüttle den Kopf und setze den Rucksack vor mir ab. Der Flugbegleiter überprüft die Anschnallgurte und verschwindet so schnell aus meinem Blickfeld, wie er aufgetaucht ist. Von vorne höre ich ein dumpfes Geräusch und schaue zur Tür. Sie wird eben geschlossen. Jetzt ist es endgültig zu spät. Mein Mund wird trocken. Die Ansage der Rettungshinweise kommt über den Lautsprecher und passt nicht zu der pantomimischen Vorführung der Flugbegleiterin in der grellgelben Rettungsweste und dem puppenhaften Gesicht. Sie sirrt in meinen Ohren wie ein Alarmsignal. Der Geschäftsmann links von mir über dem Gang mustert mich inzwischen misstrauisch. Überhaupt habe ich plötzlich das Gefühl, alle würden mich anstarren. Ich fühle mich wie ein Wolf, eingesperrt in einen Zwinger. Der Drang, ausbrechen zu wollen, beherrscht plötzlich alles. Meine Hände werden feucht, und ich höre ein Rauschen. Zuerst denke ich, es wäre mein fliegender Puls, aber dann wird mir klar, dass es nur die Lüftung über mir ist, die gerade anläuft, und dass die alte Dame neben mir immer noch auf meine Antwort wartet.
Himmel, Kaya, du bist achtundzwanzig! Reiß dich mal zusammen! Die Hälfte deiner ehemaligen Studienkollegen würde für dieses Projekt freiwillig ihre Doktorarbeit wiederholen.
Ich räuspere mich und setze zu einer Antwort an. Die Frau lächelt immer noch, und ihr Blick scheint spielend alle Schichten meiner mühsam aufrecht gehaltenen Beherrschung zu durchdringen. »Danke, nein. Es sei denn, Sie möchten …«
»Sind Sie schon einmal Fallschirm gesprungen?«, unterbricht sie mich unvermittelt.
»Bitte?«
»Ich schon.« Sie zwinkert, und in ihre blassblauen Augen tritt ein Glanz, um den ich sie beneide. »Sobald die Tür aufgezogen wird und man zu der Öffnung rutscht, die Beine über den Bordrand schwingt und sie ins Nichts darunter baumeln lässt, glaubt man zu sterben. Der Trick ist, nicht nach unten zu schauen. Wenn man das tut, hat man verloren. Unser Überlebensinstinkt springt an und setzt alle möglichen Prozesse in Gang. Feuchte Hände, Herzrasen, na, die übliche Armada eben. Noch schlimmer ist es, wenn man zurück ins Flugzeuginnere schaut. Der hässlichste Frachtraum kommt einem plötzlich viel zu behaglich vor, um ihn freiwillig zu verlassen.«
Sie lacht leise, und ich lächle zurück und frage mich, warum sie mir das alles erzählt. Der Flugkapitän meldet sich zu Wort. Schnelles britisches Englisch, aber kein schottischer Akzent. Ein Ruck geht durch das Flugzeug, als es losrollt.
»Reisen Sie als Touristin nach Edinburgh?«
»Beruflich«, antworte ich knapp. Sie ist freundlich, aber das Letzte, was ich jetzt brauchen kann, ist Smalltalk über den wahrscheinlich größten Fehler meines Lebens. Gut, den zweitgrößten. Julian ist so schnell nicht zu toppen.
»Beim Springen muss man den Blick nach vorne richten, mitten in den blauen Himmel, und sich vorstellen, wie ein Vogel in seine Luftströmungen zu tauchen.«
Ich nicke mechanisch, kämpfe gegen die Beklemmung in mir an und taste nach dem kleinen Holzelefanten in der Tasche meiner Jeans. Lena hat ihn mir als Glücksbringer aus Indien mitgebracht. Meine Schwester, die schon immer viel mutiger gewesen ist als ich.
»Dasselbe gilt an den Wendepunkten unseres Lebens«, fährt sie fort, und ich blicke auf. »Wir dürfen weder zurückschauen noch in die ungewisse Ferne. Nur nach vorne, auf das Nächstliegende. Zum Beispiel«, sie streckt die Hand aus, zieht ein Faltblatt aus dem Netz des Sitzes und reicht es mir schmunzelnd, »was das Bordmenü zu bieten hat und welche Drinks kostenlos sind.«
Ich nehme vor Überraschung einen zu hastigen Schluck Tee und verbrenne mir die Zunge.
»Warum ich?«, stoße ich hervor und stelle die Tasse so heftig ab, dass ein Teil der braunen Flüssigkeit auf den Unterteller schwappt. Blaue Kornblumen auf weißem Porzellan mit Goldrand, seit zwei Jahrhunderten im Besitz meiner Familie. Jahrelang bin ich darauf konditioniert worden, mich in Stresssituationen zu beherrschen. Jetzt kostet es mich erstaunlich viel Kraft, die Tasse nicht einfach gegen die Damast-Tapete zu schleudern.
»Kann sie kein Taxi nehmen? Und wozu beschäftigst du einen Chauffeur?«
Wir sitzen beim Frühstück. Das heißt, ich sitze beim Frühstück. Es ist gegen elf, und mein Vater hat sicher schon vor fünf Stunden gefrühstückt, weshalb wir auch nicht im Speisezimmer, sondern im roten Salon sind, in dem nachmittags der Tee serviert wird. Alles muss schließlich seine Ordnung haben. Nach der vergangenen Nacht würde ich lieber allein frühstücken, doch ausgerechnet heute scheint mein Vater erschreckend viel Zeit für gezwungene Konversation übrig zu haben. Sir Alistair MacKinley sitzt mir gegenüber in seinem rotgepolsterten Ohrensessel mit Stickereien aus lachsfarbenen heraldischen Lilien, gekleidet in dem, was er einen lässigen Gentlemen-Style und ich den Gipfel konventioneller Spießigkeit nenne: graues Tweed-Sakko in Fischgrät, dunkelblauer Kaschmirpullover über einem weißen Hemd, dunkle Cordhose. Neuerdings trägt er dazu einen Bart, ein denkbar schlechter Ersatz für seinen zunehmenden Haarausfall. Hoffentlich bin ich nicht ausgerechnet mit diesen Erbanlagen gesegnet. Ich kenne den Text schon auswendig, bevor er ihn aufsagt. Seit einem Dreivierteljahr immer wieder dieselben Worte, im selben geduldigen Tonfall, wie bei einer seiner antiquierten Langspielplatten aus Schellack, wenn die Saphirnadel des Tonarms an einem Kratzer hängenbleibt.
»Muss ich dich an unsere Abmachung erinnern?«
Kurz vor meinem achtzehnten Geburtstag bin ich zum Militär gegangen, um genau dem und noch einigem anderen zu entfliehen. Es folgten meine Ausbildung zum Offizier in Sandhurst, Einsätze in Afghanistan, Somalia, Jemen, Mali und im Irak. Letztere als Mitglied der britischen Eliteeinheit Special Air Service (SAS). Ihr Motto »Wer wagt, gewinnt!« habe ich vor einem Jahr zusammen mit meinem Stolz und der mühsam erkämpften Freiheit von Familie und Tradition im roten Wüstenstaub, etwa fünfzig Kilometer westlich von Gao im Nordosten von Mali, begraben. Jetzt, mit neunundzwanzig Jahren, bin ich daheim gestrandet und führe innerlich eine Strichliste. Wie lange kann ich es hier ertragen, bis es mir endlich gelingt, mein Leben wieder selbst in die Hand zu nehmen?
»Unsere Abmachung sieht mindestens einen monatlichen Besuch im Combat Stress Centre bei Dr. Sutherland vor, nicht Chauffeurdienste für deine privaten Hobbys.«
»Ich bitte dich, Nevis! Es ist doch kein großer Umweg.«
Ich lache auf. »Genau genommen fahre ich auf meinem Rückweg von Ayr hier vorbei und dann in die entgegengesetzte Richtung weiter nach Inverness.«
»Du könntest über Perth fahren.«
»Klar, ich könnte auch noch einen Abstecher an die Küste nach Aberdeen machen, um ein wenig Seeluft zu tanken«, entgegne ich zynisch. Der Appetit ist mir vergangen. Das hat Alistair wieder geschickt eingefädelt. Er muss sich bei meinem Therapeuten nach dem nächsten Termin erkundigt und den Flug der deutschen Biologin darauf abgestimmt haben.
»Kaya Lehmann wird hier bei uns wohnen. Sie vom Bahnhof abzuholen, ist eine gute Gelegenheit, sie unterwegs kennenzulernen.«
»Du quartierst sie hier im Herrenhaus ein?«, frage ich entgeistert. Eine Fremde im Haus, womöglich noch in der Nähe meiner Räume, ist das Letzte, was ich in der momentanen Lage brauchen kann.
Alistair zieht eine Augenbraue hoch. »Hast du etwa gedacht, sie schläft wie Mogli bei den Wölfen? Wir haben über vierzig Zimmer, sie wird dir wohl kaum im Weg sein. Im Übrigen hat sie ausgezeichnete Referenzen. Martha hat sie als engagiert, freundlich und ausnehmend intelligent beschrieben.«
Ich verdrehe die Augen und denke an die blonde resolute Frau im Alter meines Vaters, die vor einem Monat hier aufgekreuzt ist und für noch mehr Wasser auf den Mühlen seiner Wolfseuphorie gesorgt hat. Sie ist die Leiterin eines Wolfsforschungsinstituts in Deutschland und Kaya Lehmanns Vorgesetzte. Und sie hat Alistair versichert, sie werde die junge Frau überreden, ihm in seiner misslichen Lage zu helfen und ihn bei dem Aufbau eines Wolfs-Informationszentrums zu unterstützen.
»Wenn sie so überaus intelligent wäre, hätte sie ihren Master in Biochemie oder Genetik gemacht und sich nicht ausgerechnet der Zoologie und den Wölfen verschrieben«, spotte ich, nur um ihm zu widersprechen.
Alistair hebt die Tasse, trinkt einen Schluck von seinem Tee und entgegnet ruhig: »Gerade du solltest ihre Intelligenz nicht voreilig mit einer gewinnbringenden Ausbildungsrichtung assoziieren.«
Alistair hat seinen Biss in all den Jahren unserer Schlagabtausche nicht verloren. Mir fallen sie momentan umso schwerer. Lange Gespräche ermüden mich, ich büße viel schneller als früher die Konzentration ein, und meine Gedanken wandern an Orte, die ich in den Tiefen meines Unterbewusstseins versenkt geglaubt habe. Dass Alistair meine Militärlaufbahn missbilligt, trotz all der Auszeichnungen, die ich erhalten habe, ist für mich dagegen nichts Neues und trifft mich schon lange nicht mehr. Um ehrlich zu sein, bedeuten mir die Orden für außergewöhnliche Tapferkeit und herausragende Leistungen unter Gefahr für Leib und Leben auch nicht viel. Ich habe nur getan, was ich in der jeweiligen Situation für richtig hielt. Aber Alistair legt gewöhnlich viel Wert auf Titel und Verdienste. Zumindest bei anderen.
»Ich dachte an die intellektuelle Herausforderung, nicht an das Geld, das sie in alternativen Ausbildungsbereichen hätte verdienen können. Aber lassen wir das, Vater. Über den Wert des Geldes hatten wir schon immer unterschiedliche Ansichten, nicht wahr?«
Es ist nur ein minimales Zucken seines rechten Augenlids und ein unmerkliches Erblassen, aber ich weiß, dass mein Vater die Anspielung verstanden hat. Einen Augenblick lang ist es so still im Raum, dass ich das Wispern des feinen Regens an den Fenstern hören kann. Winzige Tropfen, die sich an den Scheiben zu einem netzartigen Mosaik verbinden, das die Sicht auf die grauen Umrisse der Monadhliath Mountains in verschwommene Unschärfe taucht.
Alistair räuspert sich. »Du weißt, wie sehr es mich freuen würde, wenn du dich in dieses Projekt ein wenig einbringst, zumindest bis du …«, er zögert, »… dich wieder neu orientierst.«
Ich fluche innerlich.
Das Wolfsprojekt ist leider nicht nur irgendein Hirngespinst meines Vaters, für das er mich kurzfristig einspannen will. Er hat das Projekt schon vor Jahren verfolgt, als ich noch in Afghanistan stationiert war. Alistairs Vision, dass in Schottlands Highlands künftig wieder wilde Wölfe umherstreifen, ist mittlerweile zur fixen Idee geworden. Er ist nicht der einzige Milliardär im Vereinigten Königreich, der sich neuerdings exzentrischen ökologischen Hobbys widmet. Weiter nördlich, am River Carron, gibt es ebenfalls ein mit privaten Mitteln finanziertes Naturschutzgebiet mit der Absicht, nicht nur Wiederaufforstung zu betreiben, sondern ursprünglich in Schottland lebende Tierarten wieder anzusiedeln. Bislang ist dem Besitzer jedoch nur das Ansiedeln der schottischen Wildkatze genehmigt worden. In England, etwa zwanzig Kilometer südlich von Schottlands Grenze, macht sich eine Baroness für die Rückkehr von Bären stark. Ebenfalls ohne jeden Erfolg. Als Alistair mir das erste Mal von dieser Schnapsidee erzählte, lag ich gerade schwer verwundet im Krankenhaus und hatte wahrhaft andere Sorgen als die Wiederansiedlung eines ausgerotteten Raubtiers. Erst hielt ich das ganze Gerede von den Wölfen nur für einen Vorwand, nicht über das Offensichtliche mit mir sprechen zu müssen: dass ich als Krüppel mit einem amputierten linken Unterarm von einem SAS-Einsatz im Rahmen der Operation Toral gegen die Taliban aus Afghanistan zurückgekehrt bin. Ich sollte mich täuschen.
»Ich dachte, du bringst Miss Lehmann im Whitebridge Hotel unter, so wie Alexei.«
Mein Vater verzieht das Gesicht. Whitebridge ist ein weniger als hundert Einwohner zählendes Nest, nicht weit von uns entfernt, das seine touristische Beliebtheit vor allem der Nähe zu Loch Ness und dem jährlich im Oktober von hier startenden Marathon um den See verdankt. Seit es meinem Vater überraschenderweise vor eineinhalb Jahren gelungen ist, die Genehmigung für ein zwölf Quadratkilometer großes, eingezäuntes Wildtierreservat auf seinen privaten Ländereien zu erhalten, sind die Bewohner von Whitebridge, das nur wenige Kilometer von der neu zu errichtenden Anlage entfernt liegt, nicht mehr gut auf ihn zu sprechen. Man munkelt, der steinreiche Finanzexperte habe die Behörden bestochen. Ich bin mir zumindest sicher, dass mein Vater etliche Beziehungen hat spielen lassen, um seinen Traum zu verwirklichen. Alistair hat vergebens gehofft, das Misstrauen der Dorfbewohner werde sich legen, wenn die Wölfe erst einmal da sind, und quartierte, jedweder Vernunft zum Trotz, den Naturschützer und Wolfsexperten Alexei Kutuzow, den er kurzerhand zusammen mit einem Wolfspaar aus Weißrussland importiert hatte, im Whitebridge Hotel ein. Nur eine seiner folgenschweren Fehlentscheidungen. Insgeheim gebe ich dem ganzen Wolfshumbug maximal noch ein halbes Jahr. Dann wird Kaya Lehmann wie Kutuzow vor der ihr entgegenschlagenden Feindseligkeit der Einwohner kapitulieren und das Weite suchen. Selbst ein unverbesserlicher Sturkopf wie mein Vater wird das Scheitern seines Projekts einsehen und das mittlerweile sechs Wölfe zählende Rudel einem bereits länger eingesessenen Wildpark schenken müssen.
»Nicht jeder hat Kutuzows dickes Fell. Miss Lehmann wird besser hier wohnen und, wann immer sie es sich einrichten kann, auch an den gemeinsamen Mahlzeiten teilnehmen.«
Das wird ja immer schöner. Eine Eigenschaft, die ich an Alexei besonders geschätzt habe, war seine Schweigsamkeit. So ganz bin ich nie dahintergekommen, ob diese darin begründet war, dass der Weißrusse, der ungefähr fünf Jahre älter war als ich, nicht gerade fließend Englisch sprechen konnte oder ob er nur menschenscheu war. Den redseligen Gastwirten im Whitebridge Hotel ist er schon allein deshalb suspekt gewesen.
Ich stehe abrupt auf.
»Wo willst du hin?«, fragt Alistair verblüfft.
»Packen«, antworte ich, was nicht ganz gelogen ist, denn ich habe tatsächlich noch nicht meine Reisetasche für Hollybush vorbereitet. Allerdings dauert es nur ein paar Minuten, die wenigen persönlichen Dinge, die ich für eine Übernachtung im Combat Stress Centre benötige, zusammenzusuchen. Aber ich bin die Unterhaltung leid. Es kommen massenhaft Probleme auf mich zu, wenn diese Kaya erst einmal bei uns im Haus untergebracht ist.
»Du hast mir noch keine Antwort gegeben«, ruft Alistair, als ich schon vor der Tür stehe. Der geschnitzte Pfau in dem rötlichen Kirschholz sieht so genervt drein, wie ich mich fühle. »Wirst du Miss Lehmann übermorgen am Bahnhof abholen?«
Vielleicht ist es gar keine üble Idee, mit der Biologin zu sprechen, bevor mein Vater ihr seine romantisierenden Visionen von den Wölfen in den Highlands in den Kopf setzt. Ich kann sie ungestört auf die harte Realität vorbereiten. Wer weiß, womöglich kehrt sie auf der Stelle wieder um?
»Wenn es sein muss«, seufze ich und verlasse den Salon.
Die Gangway schwankt unter meinen Füßen, während ich in den feinen Nieselregen hinaustrete, und ich bin mir nicht sicher, ob das an der wackligen Konstruktion, dem Wind oder dem Sauerstoffschock für mein alkoholbenebeltes Gehirn liegt. Was habe ich mir nur dabei gedacht, auf die alte Dame zu hören und fünf Drinks zu bestellen? Ich trinke so gut wie nie Alkohol. Schon nach einem Glas Sekt bin ich leicht beschwipst! Aber es hat sich einfach richtig angefühlt. Mir ist wohlig warm geworden, und die Aussicht, bald als private Zoologin eines schottischen Milliardärs die alleinige Verantwortung für seinen Wildpark und das Gelingen seines ehrgeizigen Wiederansiedlungsprojekts zu tragen, erscheint mir plötzlich gar nicht mehr utopisch. Ich klammere mich an den Handlauf und spüre, wie ein feuchtkalter Windstoß unter meine Strickjacke fährt. Natürlich habe ich kein Mittelmeerklima in Schottland erwartet, aber es ist immerhin Anfang August, zumindest milde Frühlingstemperaturen sollten mich empfangen. Mir ist ein wenig übel, und meine Zähne schlagen vor Kälte aufeinander, als ich endlich die Halle mit den Förderbändern der Gepäckausgabe erreiche. Um mich herum summt das Stimmengewirr wie in einem Bienenstock. Marie Clark, meine Sitznachbarin, der ich den benebelten Zustand und einen zugegeben höchst amüsanten Flug mit vielen Anekdoten aus dem Leben der einstigen Journalistin verdanke, hat ihren kleinen Trolley schon gefunden.
Sie umarmt mich herzlich zum Abschied, reicht mir ihre Visitenkarte, für alle Fälle, und erklärt augenzwinkernd: »Verlieren Sie Ihr Herz bloß nicht an einen Highlander, Schätzchen. Er lässt Sie nie wieder gehen.«
Ich bin eigentlich nicht der Typ, der Menschen gleich in Schubladen steckt. Sicher ist der Alkohol schuld daran, dass in diesem Moment vor meinem inneren Auge ein stämmiger Kerl mit rotem Bart und grünkariertem Kilt auftaucht, der mich morgens mit Dudelsackmusik aus dem Schlaf reißt und auf dessen Schoß ich abends whiskytrunken im Pub sitze, während er Haggis in sich hineinschaufelt. Ich winke Marie nach und wende mich dann schaudernd wieder dem Gepäckband zu. Womöglich ist mir jetzt noch ein Stück übler.
»Mit einem stärkeren Traditionsbewusstsein wirst du dich in Schottland schon abfinden müssen«, hat Martha erklärt. Sie ist nicht nur meine Vorgesetzte im Wolfsforschungsinstitut LUPUS. In den letzten drei Jahren ist sie mir eine ältere Freundin geworden, weshalb ich auf ihren Rat gehört und sicherheitshalber zwei große Koffer gepackt habe, um nicht in die Verlegenheit zu geraten, mich in Schottland erst einmal einkleiden zu müssen. Nicht dass meine Garderobe besonders extravagant ist. Der größte Teil lässt sich in zwei Kategorien einteilen: bequemer Couch-Potato-Style oder wasserdicht und atmungsaktiv für das Gelände. Aber ein paar hübsche Lieblingsstücke habe ich dennoch, wie meine Flared Jeans mit der hohen Taille und den gestickten schwarzen Rosen am Hosenbein und die weiße Bluse mit Florentiner Spitze. Oder mein dunkelgrünes Partykleid mit Spaghettiträgern.
»Bei deiner Figur kannst du ruhig etwas weniger Langweiliges tragen«, tönt es in meinen Ohren. Ich schnappe nach Luft und zwinge mich, die Umgebung nicht panisch zu inspizieren. Bleib ruhig, er ist bestimmt nicht hier!
Aber Julians Stimme trifft mich manchmal so klar und deutlich, dass Erinnerung und Realität verschwimmen. Unmittelbar nach unserer Trennung habe ich ihn mehrmals täglich gehört. Jetzt kommt es nur noch ein paarmal im Monat vor.
Verdammt! Ich hätte wirklich nicht so viel trinken dürfen! Während ich den ersten Koffer vom Band wuchte, verdränge ich jeden Gedanken an Julian und rufe mir lieber die bezaubernde Geschichte der alten Dame in Erinnerung.
Marie hat mir erzählt, wie sie einem schottischen Schriftsteller verfallen war, den sie kurz vor ihrer geplanten Hochzeit mit diesem unverschämt attraktiven amerikanischen Fotojournalisten interviewt hat. Die Trauung mit dem Amerikaner platzte eine Woche später, und Marie zog zu ihrem Highlander nach Edinburgh.
»Es sollte das letzte Interview vor meiner Hochzeitsreise für meinen Leitartikel Die geheimen Gärten erfolgreicher Menschen werden. Ich hatte für den Artikel bereits die unterschiedlichsten Menschen interviewt und die eigenartigsten Gärten zu Gesicht bekommen. Vom streng in Form gestutzten französischen Park eines Bankiers bis zum exotischen Palmenhaus mit Schmetterlingen einer Modedesignerin. Wissen Sie, ein Garten ist immer auch ein Spiegel der Seele seines Besitzers. Und nichts, absolut nichts konnte mich auf das vorbereiten, was ich bei Sean vorfand.«
Ich schmunzele bei dem Gedanken daran, wie Marie den Garten ihres geliebten Sean als ein aus Mittelerde entsprungenes, fantastisches, botanisches Kunstwerk beschrieben hat, mit Drachenskulpturen, Weidentunneln und Labyrinthen. Nahezu jede Pflanze und Skulptur in seinem Reich entstammte einem literarischen Werk. Sean wurde nicht müde, ihr davon zu erzählen, bis Marie sich erst in seinen Garten, dann in seine Stimme und am Ende in ihn selbst verliebte und den gutaussehenden Fotojournalisten alleine die Welt bereisen ließ.
Das kann mir zumindest nicht passieren. Erstens ist mein künftiger Arbeitgeber über sechzig, und sein Herrenhaus liegt einsam in den Wäldern nahe der Seenlandschaft rund um den Loch Ness. Ich werde höchstens einem Schafhirten über den Weg laufen, und was der von einer wolfsenthusiastischen Biologin hält, ist nicht schwer zu erraten. Zweitens hat es keinen Mann mehr in meinem Leben gegeben, seit ich mich von Julian vor drei Jahren getrennt habe. Auch wenn die Wunden längst vernarbt sind, so ist die Haut dünn wie das Eis eines Sees an einem sonnigen Wintertag Anfang März.
»Willst du ab jetzt etwa das Leben einer Klosterschwester führen? Vermisst du den Sex überhaupt nicht?«, hat mich meine Schwester Lena unverblümt gefragt, als sie mich wieder einmal zu einem Date mit einem ihrer zahlreichen Bekannten überreden wollte. Mir ist von ihrer Offenheit die Luft weggeblieben. »Ich meine das ernst, Kaya.«
Statt einer Antwort bin ich einfach aufgestanden und gegangen.
»Du kannst nicht ewig davonlaufen!«, hat Lena mir hinterhergerufen.
Als ob ich das nicht wüsste!
Der zweite Koffer rollt an mir vorbei, ein dunkelblaues Monster mit einem bunten Freundschaftsband an seinem Griff. Ich habe ihn zu spät gesehen, trete zurück, laufe mit dem Band mit und quetsche mich ein paar Meter weiter wieder in die wartende Menge. Als ich nach dem Koffer greife, beugt sich im selben Moment ein dunkelhaariger Mann vor, um mir zu helfen, ihn herunterzuheben. Seine Finger schließen sich dabei kurz über meinen.
»Du wirst nirgendwohin gehen!«
»Julian, lass mich los!«
Aber seine Finger drücken nur umso fester zu, reißen mich mitsamt Koffer an sich. Ich spüre seinen heißen Atem auf der Haut und erschaudere vor dem wilden Blick und dem wutverzerrten Gesicht, das mir plötzlich so nah ist.
Der Fremde vor mir lächelt freundlich, aber auf meinen Armen hat sich Gänsehaut breitgemacht. Vor Schreck lasse ich fast den Koffer fallen. Er sieht Julian nur geringfügig ähnlich und doch: Sekundenlang steht die Welt still, das Band bewegt sich nicht mehr, die braunen Augen des Mannes haben mich im Visier, und ich tue instinktiv das, was man im Angesicht eines Raubtiers tut. Langsam, ohne hastige Bewegungen zurückweichen.
Der Fremde blinzelt, und erst als sein Lächeln erstirbt und er sich mit einem Ausdruck von Verwunderung wieder abwendet, fahre ich herum, schnappe mir den zweiten Koffer und haste zum Ausgang. Das Blut steigt mir heiß in die Wangen, und ich kämpfe gegen das Gefühl von Angst und Scham, während ich mich frage, ob mein Körper jemals wieder diesen Fluchtmodus abschalten wird.
Sex? Lena hat keine Ahnung, was allein ein Händedruck in mir auslösen kann!