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Veronika Kracher

INCELS

Geschichte, Sprache und Ideologie
eines Online-Kults

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Veronika Kracher, 1990 in München geboren, beschäftigt sich mit der Incel-Subkultur, der Alt-Right, Imageboards wie 4chan und Rechtsterrorismus – irgendjemand muss es ja tun. Weitere Forschungsschwerpunkte sind Feminismus und Patriarchatskritik, Antisemitismus, Literaturtheorie und Popkultur. Regelmäßige Publikationen u. a. in »konkret«, »Jungle World«, »Neues Deutschland« und »Antifaschistisches Infoblatt«. Wenn sie sich nicht gerade durch die Sümpfe toxischer Online-Kulturen wühlt, guckt sie Horrorfilme, liest Romane von Gisela Elsner, spielt Video- und Pen-and-Paper-Rollenspiele, besucht Postpunk-Konzerte und trinkt Wein.

»testcard zwergobst« wird präsentiert vom Magazin »testcard. Beiträge zur Popgeschichte«. Weitere Bände der Reihe:

• Frank Apunkt Schneider: »Deutschpop halt’s Maul«

• Dagmar Brunow (Hg.): »Stuart Hall. Aktivismus, Pop und Politik«

• Jonas Engelmann: »Wurzellose Kosmopoliten. Von Luftmenschen, Golems und jüdischer Popkultur«

• Wolfgang Seidel: »Wir müssen hier raus! Krautrock, Free Beat, Reeducation«

• Yvonne Kunz: »Jihad Rap. An den Rändern muslimischer Subkulturen«

• Sonja Vogel: »Turbofolk. Soundtrack zum Zerfall Jugoslawiens«

• Jan-Niklas Jäger: »Factually. Pet Shop Boys in Theorie und Praxis«

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Diese Publikation entstand mit Unterstützung der Rosa-Luxemburg-Stiftung Rheinland-Pfalz

Lektorat: Jonas Engelmann

Ventil Verlag, Boppstraße 25, 55118 Mainz

Inhalt

Was sind Incels überhaupt? Und wieso über sie schreiben?

Let’s embrace the Memetic Warfare: Die Rolle von Memes innerhalb der Incel-Community

Von der Selbsthilfeseite zum misogynen Terror: Eine kurze Geschichte der Incel-Bewegung

Rote Pille, schwarze Pille: Ein Blick in den Online-Medizinschrank

Echokammern statt Selbsthilfe: Die Incel-Foren

His Twisted World: Eine Analyse des Manifestes von Elliot Rodger

Elliot Rodgers Jünger: Die Incel-Community 2020

Zwischen »Supreme Gentleman« und »Untermenschen-Abschaum«: Das Selbstbild von Incels

Frauenhass: Die gesellschaftliche Normalität

Männlichkeit als pathologisches Problem

Incels als autoritäre Persönlichkeit

Gewalt als Mittel zur Mannwerdung

Der Ausstieg aus der Incel-Szene

Ohne Angst verschieden sein können

Nachwort: Brief an einen Incel

Incel-Glossar

Literaturverzeichnis

Anmerkungen

Bildquellen

Danksagungen

Was sind Incels überhaupt?
Und wieso über sie schreiben?

Wissen Sie was, liebe Leser*innen? Eigentlich würde ich dieses Buch lieber gar nicht schreiben müssen. Es gibt so viel schönere Dinge, als sich durch die frauenfeindlichen Hasstiraden frustrierter junger Männer zu lesen. Kätzchen kraulen. Mit der besten Freundin Champagner trinken. Feministische Graphic Novels lesen. Pen-and-Paper-Kampagnen spielen. Sogar sich die Zehennägel zu schneiden ist angenehmer als die Recherche in Incel-Foren! Aber, um mal mein eigenes Motto zu zitieren: Irgendeine muss es ja tun.

Lange Zeit war es, wenn ich über Incels sprach oder schrieb, so, dass viele Zuhörer*innen oder Leser*innen – vor allem ein Publikum über 35 oder Personen, die weniger internetaffin sind als ich – mir sagten, dass sie gerade zum ersten Mal in ihrem Leben mit dem Thema konfrontiert worden wären. Incels waren lange Zeit ein primär nordamerikanisches Phänomen, in Deutschland berichtete man erst im Rahmen des Anschlags von Elliot Rodger in Santa Barbara 2014 und, dann auch im größeren Rahmen, als Alek Minassian 2018 in Toronto mit einem Sprinter in eine Menschenmenge raste. Ich hatte mich zu diesem Zeitpunkt sowohl intensiv mit der Geschlechterideologie der Alt-Right als auch mit der sogenannten »Manosphere«, also einem Online-Netzwerk antifeministischer Männerrechtsgruppen, befasst und auch einen Vortrag zum Thema konzipiert und begann, stärker zu dem damals in Deutschland noch vergleichweise obskuren Thema Incels zu recherchieren.

Das alles änderte sich nach dem 9. Oktober 2019, als ein junger Rechtsradikaler an Jom Kippur ein Attentat auf die Synagoge in Halle verüben wollte und seine Tat live im Internet teilte. Auch wenn die Tat, die zwei Menschen – Jana S. und Kevin L. – das Leben kostete, kein explizites Incel-Attentat, sondern ein antisemitischer Angriff war, stellten zahlreiche Medien, von der BILD-Zeitung1 bis hin zum leninistischen Blog Klasse gegen Klasse2, die Frage: »War der Täter ein Incel?« Diese Frage liegt nicht fern, da der Täter sowohl in seinem Livestream als auch seiner – dem Namen eines Manifestes unwürdigen – veröffentlichten Tatbeschreibung unter anderem Codes und Memes der von Incels frequentierten Imageboards wie 4chan verwendete, ein Alek Minassian gewidmetes Lied des Rappers Egg White hörte und durch seine Selbstgeißelung als »Versager« und »NEET«3 stark an den in hunderttausenden Foreneinträgen zelebrierten Selbsthass von Incels erinnerte.

Ich verbrachte den kompletten Tag nach dem Attentat damit, mich durch Imageboards wie Kohlchan und Foren wie Kiwifarms zu wühlen, mir den Stream des Täters anzusehen, die höhnischen Kommentare der globalen Online-Rechten zu lesen. Trauer über die beiden Opfer suchte man vergeblich, stattdessen fand man das zynische Lachen darüber, dass es dem Täter nicht gelungen war, die Betenden in der Synagoge zu ermorden.

Mir war schlecht. Die Anschläge von jungen Männern, die sich auf rechten Foren wie 4chan, 8kun, Kiwifarms oder incels.co radikalisiert hatten, die sich durch eine eigene Sprache, eigene Codes und das zynische Kokettieren mit Entfremdung, Nihilismus und Menschenhass auszeichneten, waren bisher etwas gewesen, das mehrere tausend Kilometer entfernt passierte: Incel-Attentate wie in Santa Barbara und Toronto, die antisemitischen Anschläge von Pittsburgh und Poway, die rassistischen Anschläge von Christchurch und El Paso. Die Täter: narzisstisch gekränkte junge Männer, die sich durch den Terroranschlag an der modernen Welt mit ihrem Feminismus und Kosmopolitismus zu rächen gedachten. Narzisstisch gekränkte junge Männer, für die der Terroranschlag eine Form der Wiedergutmachung der gefühlten Ungerechtigkeit war, nicht die Anerkennung, die Liebe und den Ruhm vor die Füße und die Schlüpfer williger junger Frauen an den Kopf geworfen zu bekommen, sondern tagtäglich erfahren zu müssen, ein unbedeutender Loser zu sein wie alle anderen auch – obwohl man sich selbst zu Größerem berufen fühlte. Es war ein Schock: Dieser Anschlag wäre der größte antisemitische Anschlag seit … Ja, seit dem Sieg über den Nationalsozialismus gewesen.

Mit dem Attentat auf die Synagoge von Halle, das gegen den Feminismus, People of Colour, vor allem aber gegen die vermeintlich hinter all diesen Übeln steckenden Juden gerichtet war, wurde die Möglichkeit dieser Form von Gewalt mit einem Mal auch in Deutschland real. Dass wir uns nicht falsch verstehen: rechter Terror hat in einem nur sehr unzureichend entnazifizierten Deutschland eine Tradition, die von der Wehrsportgruppe Hoffmann über den NSU bis hin zu rechtsradikalen Prepper-Gruppen wie Nordkreuz reicht. Dass jedoch ein Täter im Alleingang loszieht, ein mit zahlreichen Memes und Videospiel-Anspielungen gespicktes »Manifest« (na ja, eher: eine Loseblattsammlung) hinterlässt und seine Tat online überträgt, das gab es in der Form bisher nicht.

Ich schrieb auf Facebook einen längeren Post über den Anschlag und verbrachte die Nacht weitestgehend schlaflos und von Albträumen heimgesucht. Am nächsten Tag klingelte ab früh morgens das Telefon: Pressekontakte, die wissen wollten, ob es sich bei dem Attentäter um einen Incel handeln würde. Man hätte meinen Text gelesen und würde sich nun für meine Expertise interessieren. Ich korrespondierte an dem Tag mit meinem sehr geschätzten Kollegen Roland Sieber, mit dem ich gemeinsam auf Kohlchan und Kiwifarms recherchiert und viele Screenshots und Videos hin- und hergeschickt hatte. Er recherchiert zu Rechtsextremismus in der Gaming-Community und ebenfalls zu rechten Online-Foren, auch bei ihm stand das Telefon nicht mehr still. »Es ist bitter, dass wir seit Jahren über das Gefahrenpotential dieser Strukturen schreiben, und wir werden ignoriert. Und dann werden zwei Menschen ermordet und der potentiell größte antisemitische Anschlag in Nachkriegsdeutschland scheitert an der Synagogentür«, schrieb er mir.

Mit einem Mal war die Frage »Was sind eigentlich Incels?« auch in Deutschland angekommen. Wenige Tage nach dem Anschlag war ich zusammen mit meinem Verleger Jonas Engelmann auf eine Konferenz in Merseburg eingeladen, ich sollte dort zu Incels referieren. Merseburg ist nur wenige Kilometer von Halle entfernt. Ich hatte ein mulmiges Gefühl im Bauch, als ich im Zug saß. Das Gespräch mit den Veranstaltenden kam recht schnell auf das Attentat, auch da eines der Opfer, Kevin L., aus Merseburg stammte.

Wir wissen nicht, ob der Täter ein Incel war – sein Anschlag war, obwohl ihm eine antifeministische Komponente innewohnte, primär antisemitisch; seine »Alternativopfer« sollten Menschen mit Migrationshintergrund sein. Aber wir wissen, dass er die auf Selbst- und Frauenhass basierende Ideologie mit ihnen teilte.4 Und es war dieses Attentat, mit dem die längst überfällige Beschäftigung mit dem Gefahrenpotential online radikalisierter junger Männer auch in Deutschland begann – auf Kosten zweier Menschenleben.

Ich selbst beschäftige mich seit etwas mehr als zwei Jahren intensiv mit der Incel-Subkultur und kann guten Gewissens behaupten, deutschlandweit zu den Personen zu gehören, die sich am besten mit diesen »unfreiwillig im Zölibat Lebenden« auskennen. Wer hätte gedacht, dass ein Mangel an Respekt vor den eigenen psychischen und emotionalen Grenzen auch von Vorteil sein kann – man kann sich intensiv mit einem wirklich scheußlichen Thema befassen, von dem die meisten Menschen, und das auch zu Recht, lieber die Finger lassen, und – zack! – ist man gefragte Koryphäe auf dem Gebiet.

Die erste Frage, die mir in Interviews gestellt wird, lautet in der Regel: »Was sind Incels eigentlich?« Incels, antworte ich dann, ist die Kurzform für »Involuntary Celibate«, also: unfreiwillig im Zölibat Lebende. Es handelt sich um junge Männer, die der sogenannten Blackpill-Ideologie anhängen, das nihilistischere Derivat der verschwörungstheoretischen und antifeministischen Redpill-Ideologie.

Die Redpill-Ideologie ist, kurz skizziert, eine maskulinistische Verschwörungsideologie, die besagt, dass der weiße, heterosexuelle und cisgeschlechtliche Mann inzwischen der große Verlierer unserer Zeit ist, in der die Welt vom Feminismus beherrscht wird, der wiederum eine jüdische Erfindung sei. Deswegen müsse sich der Mann auf ursprünglich männliche Werte zurückbesinnen und, da Männlichkeit sich für diese Redpiller über die Abwertung von Weiblichkeit konstituiert, Frauen zeigen, wo sie hingehören: in die Küche und ins Ehebett. Die Redpill-Ideologie ist die Ideologie narzisstisch gekränkter Männer, die panische Angst vor dem Verlust ihrer Hegemonie haben, die nun einmal auf der Unterdrückung und Ausbeutung anderer basiert. Wenn People of Colour, Frauen und queere Menschen sich emanzipieren, wird die Aufwertung der eigenen Person über die Abwertung Marginalisierter um einiges erschwert, weshalb jegliche Emanzipationsbestrebungen bis aufs Blut bekämpft werden. Deswegen ist es auch nicht verwunderlich, dass Männerrechtsaktivismus die Einstiegsdroge in rechtsradikales Denken ist.

Incels identifizieren sich weitestgehend mit dem Antifeminismus, Antikommunismus und Antisemitismus dieser Redpill-Ideologie, wie auch mit der Inszenierung als Erleuchteter und Aufgeklärter. Sie treiben aber all diese Aspekte auf eine wahnhafte Spitze: die Blackpill.

Sie sind der Ansicht, dass der Mann als solcher ein naturgegebenes Recht auf Sex hätte. Frauen verweigern Incels dieses Recht jedoch, da sie – so das Verständnis der Incels – allesamt wirklich oberflächliche Schlampen sind, die nur mit gottgleichen Klischeezeichnungen von Hypermaskulinität, sogenannten »Chads« schlafen, denn alle Männer, die nicht den weiblichen Anforderungen von Attraktivität entsprechen, hätten den sexuellen Wettbewerb schon lange verloren. Incels betrachten sich als die größten Verlierer unserer Zeit: sie haben, so ihr Glaube, eine Niete in der »genetischen Lotterie« gezogen und seien viel zu unansehnlich, um von Frauen überhaupt beachtet zu werden. Die einzige Empfindung, die Frauen unattraktiven Männern entgegenbringen können, sei nämlich Verachtung. Schuld daran ist der Feminismus. Die Welt sei vor der Geißel des Feminismus nach dem Prinzip des »Looksmatching« gestaltet gewesen, was bedeutet: Incels sortieren Menschen, ähnlich wie Pick-up-Artists, in »Attraktivitätslevel« von eins bis zehn ein. Früher sei einem Mann des Attraktivitätslevels »vier« eine Frau des gleichen Attraktivitätslevels garantiert gewesen, heute seien Frauen jedoch dem Anspruchsdenken verfallen, nur noch »Chads« könnten ihnen genügen. Deswegen bleibe keine Frau mehr für den armen, einsamen und jungfräulichen Incel übrig (dessen Idealfrau übrigens minderjährig, jungfräulich, unterwürfig und einem grenzwertigen Anime entsprungen sein muss), ja eigentlich ist schon jeder Mann unter dem Level »acht« in den weiblichen Augen eine unerträgliche ästhetische Zumutung. Dieser vernichtenden Kränkung der »Sexlosigkeit« kann für Incels nur mit einem Mittel begegnet werden: dem Krieg gegen Frauen, der bis zum Femizid reicht.

Als der damals gerade 22 Jahre alte Elliot Rodger im Mai 2014 auf dem Campus der Santa Barbara-Universität in Kalifornien sechs Menschen erschoss und 14 weitere verletzte, wurde die Öffentlichkeit zum ersten Mal mit dem Phänomen der Incels konfrontiert. Nach dem Attentat tötete Rodger sich selbst, nicht jedoch ohne davor ein 137 Seiten langes Manifest unter dem Titel My Twisted World zu veröffentlichen, in dem er seine komplette Biographie akribisch nach Gründen absucht, wieso sein eliminatorischer Frauenhass eine legitime Wiedergutmachung der Kränkung sei, noch nie einen weggesteckt zu haben. Größere Bekanntheit erlangten Incels nach einem Attentat in Toronto: Am 23. April 2018 raste der 25 Jahre alte Alek Minassian mit einem Sprinter in eine Menschenmenge in einem belebten Geschäftsviertel. Er ermordete zehn Menschen, 16 weitere wurden verletzt. Auf Facebook ließ er verlauten: »Private (Recruit) Minassian Infantry 00010, wishing to speak to Sgt 4chan please. C23249161. The Incel Rebellion has already begun! We will overthrow all the Chads and Stacys! All hail the Supreme Gentleman Elliot Rodger!«5

Wenn man sich die Debatte über Incels anschaut, werden diese oft als psychisch krank, Freaks, Außenseiter, das Andere oder als ein Kult gelabelt – als etwas, mit dem der ganz normale Mann überhaupt nichts zu tun hat. Dies ist jedoch ein gewaltiger Fehlschluss – böse Zungen könnten gar behaupten, dass die Auseinandersetzung mit dem Incel als frauenhassendem Gewalttäter eine unbewusste Abwehr der Tatsache ist, dass der durchschnittliche Mann und der Incel ideologisch gar nicht so weit voneinander entfernt sind.

Die Gesellschaft, in der wir leben, ist auf der systematischen Unterdrückung von Frauen aufgebaut, und nicht nur Incels reagieren mit Gewalt auf die narzisstische Kränkung, von einer Frau abgelehnt zu werden. Männer weigern sich, Frauen als eigenständige Subjekte anzuerkennen, und bestrafen sie, wenn sie auf ihr Recht auf einen Subjektstatus pochen. Männer objektivieren Frauen, belästigen Frauen, stalken Frauen. Sie verprügeln Frauen, kaufen sich die Körper von Frauen und verfassen anschließend vor Frauenhass triefende »Bewertungen« in Freierforen. Sie vergewaltigen und sie ermorden Frauen. Laut einem Bericht des Bundeskriminalamtes wurden 2018 114.393 Frauen in Deutschland Opfer häuslicher Gewalt6, 122 Frauen wurden von ihrem Partner oder Ex-Partner ermordet.7 Männer unterdrücken Frauen sowohl auf gesellschaftlicher als auch individueller Ebene, in einem patriarchalen System, das die Herrschaft aller Männer über alle Frauen, wie auch generell über Menschen, die außerhalb binärer Geschlechterkategorien fallen, garantiert. Und selbst wenn man zu den selbsternannten feministischen Helden zählt, die eine Frau niemals aktiv vergewaltigen würden, profitiert man von einer Gesellschaft, in der Frauen permanent durch patriarchale Gewalt in die Schranken gewiesen werden. Denn Frauen wird von klein auf eingebläut, dass es einfacher ist, sich den patriarchalen Vorstellungen von Frausein zu unterwerfen, als gegen diese Strukturen aufzubegehren. Der Kampf gegen das Patriarchat ist ein schwerer und wird gegen die heftigen Widerstände von Männern und deren Steigbügelhalter*innen geführt. Jede Feministin, jeder Mensch, der von den hegemonialen Vorstellungen des Geschlechterverhältnisses abweicht, kann ein Lied davon singen.

Es ist also mitnichten so, dass Frauenhass ein Spezifikum von Incels ist. Er ist, tragischerweise, konstitutiv für unsere Gesellschaft. Das Phänomen »Incels« entsteht nicht in luftleerem Raum, sondern ist Resultat eines Systems, in dem patriarchales Anspruchsdenken, Misogynie und Gewalt gegen Frauen an der Tagesordnung sind.

Dieses Buch hat es sich zur Aufgabe gemacht, einen Einblick in die Incel-Subkultur zu liefern. Im ersten Teil werde ich einen Abriss über die Entstehungsgeschichte der Incels von einer Selbsthilfegruppe hin zu einem toxischen Kult liefern und über die Mitglieder der Szene sprechen – über die Anzahl, ihre Herkunft, ihr Alter und ihre Organisation auf unterschiedlichen Foren.

Im darauffolgenden Kapitel werde ich eine tiefenhermeneutische Analyse der Incel-Ideologie anhand Elliot Rodgers Manifest My Twisted World leisten, das innerhalb der Incel-Community inzwischen Kultstatus erlangt hat. Anschließend wende ich die Textanalyse auf Incel-Foren an und analysiere dort exemplarisch an der verwendeten Sprache die dahintersteckende Ideologie. Diese Ideologie basiert, wie ich aufzeigen werde, auf pathologischem frauenfeindlichen Verschwörungsdenken, Selbsthass und kultiviertem Nihilismus.

Des Weiteren wird in diesem Buch das Verhältnis von Incels zu Rechtsradikalismus, Islamismus und rechtsradikalem Terrorismus verhandelt – Frauenhass ist laut einer Studie der Anti Defamation League die »Einstiegsdroge« in rechtsradikales Denken8, und man kommt nicht umhin zu bemerken, dass auf Boards wie 8kun eine neue Generation an Terroristen heranwächst, die alle dem gleichen Tätertypus entsprechen: dem narzisstisch gekränkten, in der Regel weißen Mann, der in einem Terrorakt eine Wiedergutmachung seiner vermeintlich erfahrenen Kränkung sieht.

Diesen Tätertypus werde ich im letzten Teil des Werkes vor allem anhand der Theorien von Raewyn Connell, Rolf Pohl, Klaus Theweleit, Theodor W. Adorno und Kate Manne beschreiben und eine sozialpsychologische Analyse von Incels durchführen. Da ich einen materialistisch-feministischen Anspruch an meine Arbeit habe, wird diese Analyse vor einer Kritik am patriarchal strukturierten Kapitalismus erfolgen.

Zum Abschluss werde ich versuchen, Ansätze zu bieten, wie sich aus diesem toxischen Sumpf, der sowohl für seine Mitglieder als auch deren Opfer im Tod enden kann, entkommen lässt. Denn, und daran gilt es festzuhalten: Incels mögen glauben, ihr Zustand sei unausweichlich, er ist es jedoch nicht – genauso wenig wie die patriarchalen Verhältnisse, in denen er seinen Ursprung hat.

Außerdem, da Incels als klandestine Szene ihre sehr eigene, ideologisch aufgeladene Sprache haben, ist am Ende des Buches ein Glossar beigefügt, das die gängigen Begriffe und Memes der Incel-Szene übersetzt. Wer (außer Incels und den bemitleidenswerten Leuten, die zu Incels forschen) weiß denn schon aus dem Stegreif, was »Coomer«, »Lanklet« oder die »PSA-Skala« bedeuten?

Und bevor wir beginnen: dieses Buch behandelt sexuelle Gewalt gegen Frauen wie auch Kinder, Misogynie, Rassismus, Antisemitismus, Homo- und Transfeindlichkeit. Leider komme ich bei einer tiefgründigen Analyse meines Gegenstandes nicht umhin, mich intensiv mit der ihm innewohnenden gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit zu befassen. Auch für Personen, die Erfahrungen mit suizidalen Gedanken oder Depressionen haben, könnte die Lektüre beizeiten beschwerlich werden. Ich hoffe, meinem Anspruch an einen Mittelweg zwischen einer analytischen Betrachtung und einem sensiblen Umgang mit den Themen gerecht zu werden. Den einen oder anderen ironischen Seitenhieb wird mir die Leserin verzeihen müssen – manchmal ist ironische Distanz die einzig mögliche Bewältigungsstrategie, um einem Thema wie »Incels« begegnen zu können.

Let’s embrace the Memetic Warfare:
Die Rolle von Memes innerhalb der Incel-Community

Die Alt-Right, zu deren Auswüchsen die Incels gezählt werden müssen, ist eine onlinebasierte (Sub-)Kultur, die es sich selbst zur Aufgabe gemacht hat, mittels einer »Memetic Warfare« online eine Diskurshoheit zu erreichen und diese im besten Falle in eine Welt abseits obskurer Imageboards zu tragen – was ihr durchaus gelungen ist. 4chan-Trolle und rechte Reddit-User bildeten das Fußvolk von Donald Trumps Online-Armada, und mit Richard Spencer und Milo Yiannopoulos waren führende Figuren der Alt-Right Teil des engen Beraterstabs des US-amerikanischen Präsidenten. Es existieren zahlreiche Memes, die Donald Trump als oder mit »Pepe the Frog«, einem Maskottchen der Alt-Right, abbilden. Auch Donald Trump hatte auf Twitter ein (inzwischen gelöschtes) Meme von sich als Pepe geteilt9, sein Sohn Donald Trump Jr. tat es ihm einige Zeit später auf dem Fotoportal Instagram gleich.10 Es sei an dieser Stelle angemerkt, dass Pepe the Frog nie als rechtes Symbol intendiert, sondern die Figur eines Webcomics war. Seinen Schöpfer, Matt Furie, frustrierte die Verwendung seiner Figur in rechten Kontexten so sehr, dass er die Figur Pepe im Webcomic sterben ließ und letztendlich die rechtsradikale Plattform InfoWars wegen der unrechtmäßigen Verwendung von »Pepe« erfolgreich auf 15.000 Dollar verklagte.

Der Begriff »Meme« hat seinen Ursprung in dem von Richard Dawkins 1976 veröffentlichten Buch Das egoistische Gen und beschreibt einen kulturellen Code, der sich, einem Gen ähnlich, entwickelt, verbreitet und auch verändert. Inzwischen wird der Begriff »Meme« weitestgehend mit Internetphänomenen assoziiert. Die Kulturwissenschaftlerin Limor Shifman beschreibt ein Meme als »(a) eine Gruppe digitaler Begriffe, die gemeinsame Charakteristika in Inhalt, Form, und/oder Standpunkt teilen, die (b) im Gewahrsein auf andere Memes geschaffen wurden, und die (c) im Internet von vielen User*innen verbreitet, imitiert oder transformiert wurden.«11 Wir alle kennen und teilen Memes; sie sind zu einem integralen Bestandteil der modernen Kommunikation geworden, zu einem Code, der mittels eines Bildes über das Bild hinausgehende Inhalte und Botschaften vermitteln kann.

Neben ihrer alltäglichen Verwendung sind sie auch ein Mittel politischer Auseinandersetzung und spielen für die Alt-Right eine besondere Rolle. Bereits 2015 forderte der Trump nahestehende Strategieberater Jeff Giesea in der NATO-Publikation It’s time to embrace memetic warfare, Memes als politisches Mittel zu erkennen.12 Der Politikwissenschaftler Morris Kolman analysiert in seiner großartig mit I have no mouth but I must meme betitelten Studie, dass Memes, um eine gewisse Popularität zu erreichen und Klicks für ihre Seiten zu generieren, schnell verständlich, schnell teilbar und populär sein müssen. Politische Memes sind in sich geschlossene Botschaften und wesentlich einfacher zu rezipieren als etwas lästig Komplexes und von Widersprüchen Durchzogenes wie kritische Gesellschaftstheorie, die im schlimmsten Falle auch noch die Auseinandersetzung mit der eigenen Position innerhalb herrschender Verhältnisse verlangt. Memes werden in der Regel in einer politischen Echokammer konsumiert. Man kann sich mit den Inhalten und dem Netzwerk, auf dem das Meme gepostet wurde, identifizieren, und bekommt durch das Teilen des Memes vermittelt, man würde sich mit politischen Inhalten befassen oder gar politische oder theoretische Arbeit leisten.13

Gleichzeitig funktionieren Memes, gerade in einem Umfeld, das die eigene Klandestinität zelebriert, als eine Art »Erkennungszeichen«. Wer die obskuren Memes kennt, ist Teil einer »In-Group«. Nicht selten wird auf Boards wie 4chan, dem Ursprungsort zahlreicher Memes, darüber lamentiert, wenn die neueste Kreation von »Normies« entdeckt und adaptiert wurde. Die Alt-Right und White Supremacists schaffen immer wieder neue Memes, mit denen die Öffentlichkeit irritiert und vorgeführt werden soll. Ein Beispiel ist das »White Power«-Zeichen, das 2019 von der Anti Defamation League in die Liste der Hasssymbole aufgenommen wurde. Es ist das »Okay«-Handzeichen: Daumen und Zeigefinger bilden einen Kreis, die anderen drei Finger sind abgespreizt. Rechte haben es als Symbol adaptiert und posieren auf Fotos und Videos damit, um sich anderen »Eingeweihten« zu erkennen zu geben und so den Eindruck eines konspirativen Kollektivs zu erwecken. Memes (nicht nur) in Alt-Right-Kontexten haben also dreierlei Funktionen:

1.Das Vermitteln von auf den ersten Blick widerspruchsfreien, oberflächlichen Inhalten, denen jedoch eine tiefere ideologische Bedeutungsebene innewohnen kann, die nur Eingeweihten vorbehalten ist.

2.Die Identifikation der rezipierenden Person mit diesen Inhalten.

3.Das Schaffen eines Kollektivs, das sich mit dem Inhalt des Memes identifiziert und sich so von anderen abgrenzen kann.

Es verhält sich mit Memes also ähnlich wie mit den doch recht eigenen sprachlichen Codes der Alt-Right und der Manosphere: sie sind sowohl Mittel als auch Ausdruck einer Ideologie, die weit über das Wort oder Bild hinausgeht. Ich habe im Folgenden die gängigsten Memes von Incels aufgelistet sowie solche, die aus der Szene der White-Supremacists stammen, jedoch von Incels aufgegriffen wurden. Inzwischen sind viele dieser Memes aus ihrem 4chan-Kontext transzendiert und haben es in den Mainstream geschafft, wo sie, oftmals ungeachtet ihrer problematischen Herkunft, breitflächig rezipiert werden.

Rejected Doomer

Ein noch recht junges Meme ist der Rejected Doomer. Er ist ein Derivat des Anfang der 2010er Jahre etablierten »Wojack«- oder »Feels Guy«-Template: bei dem »Wojack« handelt es sich um die mit MS Paint gezeichnete Figur eines Mannes, der in der Regel Trauer, Frustration oder Einsamkeit ausdrückt. Der »Doomer« bezeichnet einen depressiven jungen Mann (es sind immer Männer, Frauen können für Incels lediglich als Projektionsflächen fungieren), der sich mit der allgemeinen Schlechtigkeit der Welt abgefunden hat. Er hat ein nihilistisches Weltbild, ist misanthropisch, und bleibt am liebsten für sich. Trotz allem bedauert er seine Einsamkeit, zieht sie aber der permanenten Enttäuschung vor, die ihn, seiner projektiven Betrachtungsweise nach, im zwischenmenschlichen Umgang erwartet. Das Meme spiegelt diese Enttäuschung wider: der Doomer stellt dem Objekt seiner Begierde eine Frage und wird von ihr enttäuscht – und somit in seinem Nihilismus wieder einmal bestätigt. Hass auf die Welt und die Mitmenschen werden so als Ausdruck von Weisheit, Abgeklärtheit und Lebenserfahrung kultiviert anstatt adäquat betrauert. Auch dieses Meme hat inzwischen seinen Ursprung transzendiert und wird auch in progressiven oder selbstironischen Kontexten verwendet, wie die Abbildung zeigt: Es greift satirisch auf, dass der reguläre Verfasser von Doomer-Memes Frauen unterstellt, sie hätten kein Interesse, sich mit Nischenthemen zu befassen, was als Sexismus entlarvt wird.

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Rejected Doomer: eine klassische
Version des Memes

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Eine subversive
Umkehrung und Kritik

Virgin/Chad

Wohl das Incel-Meme. Es stellt den jungfräulichen Versager neben den ihm in allen erdenklichen Kategorien überlegenen Chad, der als muskulös, selbstbewusst und mit einem sehr großen Penis ausgestattet dargestellt wird. Wie die meisten Memes hat auch »Virgin vs. Chad« seinen ursprünglichen Kontext inzwischen transzendiert und wird in der Regel verwendet, um einen Gegenstand in der Gegenüberstellung zu diffamieren; es ist oftmals ein Mittel der Polemik.

Eine neuere Version des Memes bedient sich des bereits referenzierten »Wojack«-Templates, das die überlegene Position des Chads noch verdeutlicht. Ausgehend von der antifeministischen Bezeichnung »Soyboy« für linke und profeministische Männer wird der Charakter des »Wojack« je nach Kontext als »Soyjack« tituliert, um aufzuzeigen, wie sehr ihn Feminismus verweichlicht hätte. Hier nimmt der Meme-Ersteller weniger selbstironisch die Rolle des Incels ein, sondern affirmativ die des maskulinen Chads, der dem Loser weit überlegen ist. Dieses Meme-Template wird auch regelmäßig verwendet, um stereotypisierte Darstellungen von weiblichem im Gegensatz zu männlichem Verhalten zu zeigen.

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Der jungfräuliche Versager neben einem überlegenen Chad

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Neuere Version des Memes: Soyboy vs. Incel in der Rolle des Chads

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Stereotypisierte Darstellung von weiblichem Verhalten

Clown Pepe/Honkler

Zahlreiche gekränkte Männer im Internet haben eine meines Erachtens ausgesprochen ungesunde Faszination für den Batman-Schurken Joker; ein psychisch kranker Clown, dessen Handeln Ausdruck nihilistischen Wahns und für den alles ein großer Witz ist. Die aktuelle Joker-Verfilmung von Todd Phillips – der besser bei seinem Hangover-Franchise hätte bleiben sollen (er selbst sagte, die »Political Correctness« hätte ihm die Comedy ruiniert) – wurde sowohl von Incels als auch Kritiker*innen, inklusive der Verfasserin dieses Buches, als Film für Incels zelebriert, respektive kritisiert. Es gibt zahlreiche Memes, die den Joker abbilden, und er macht ungezählte Profilbilder auf dem großen Incel-Forum incels.co aus. Das Meme, das auf dem 4chan-Board politically incorrect seinen Ursprung fand, ist Ausdruck des Habitus, das Leiden der Welt als zynischen Witz aufzufassen; statt einen depressiven Blackpill-Nihilismus zu zelebrieren, solle man lieber über die eigene Umwelt lachen. Dies bedeutet konkret – wir reden schließlich über das 4chan-Board, auf dem das Kokettieren mit Menschenfeindlichkeit zum guten Ton gehört –, über das Leid anderer, und vor allem Marginalisierter, zu lachen. Auch das Clown-Emoji wird regelmäßig von Rechten verwendet, um sich Eingeweihten gegenüber zu »outen«.

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Clown Pepe, eines der beliebtesten Memes

Happy Merchant

Das als »Happy Merchant« bekannt gewordene Meme stammt ursprünglich aus der Feder des amerikanischen Neonazis Wyatt C. Kaldenberg und zeigt die antisemitische Karikatur eines grinsenden Juden, der sich die Hände reibt. Auch der »Happy Merchant« fand seine Verbreitung durch 4chan und wird verwendet, um jüdische Verschwörungen zu suggerieren. Hierzu zählen der »Große Austausch«, Feminismus, der Holocaust als jüdische Propaganda oder auch die Idee eines »Zionist Occupied Government«. In der Incel-Subkultur wird das Meme vor allem verwendet, um den Feminismus als jüdische Erfindung zu denunzieren oder die jüdische Kontrolle über die Medien zu untermalen. Wir haben uns entschlossen, das Bild aufgrund seines extrem antisemitischen Inhaltes nicht abzubilden.

Von der Selbsthilfeseite zum misogynen Terror: Eine kurze Geschichte der Incel-Bewegung

Es ist eine bittere Ironie der Geschichte, dass der Begriff »Incel« von einer queeren Frau eingeführt wurde. Auch wenn das erste Forum für Menschen mit Schwierigkeiten bei der Partner*innensuche die bereits 1988 entwickelte Newsgroup alt.support.shyness war, etablierte Alana, die ihren Nachnamen lieber anonym belassen möchte, den Begriff in einer 1993 gegründeten Mailingliste, die später zu der Webseite Alana’s Involuntary Celibacy Network wurde. Solche frühen Incel-Foren wie Alanas Projekt oder alt.support.shyness stehen in starkem Kontrast zu dem, was sich heute als Incel-Community bezeichnet. Alana gründete die Seite, nachdem sie ihre erste Partnerin gefunden hatte, um einen Ort des Austauschs und der Reflexion zu schaffen und anderen, die sich in einer ähnlichen Situation befanden, eine Perspektive zu geben. Der »Involuntary Celibate«-Zustand wurde in diesem Kontext nicht als etwas die Identität vollständig Konstituierendes und Unabänderliches verstanden, sondern als etwas Temporäres, das überwunden werden kann. Eines ihrer Postings lautete: »Mein schwierigster Kampf war es, die Wahrheit darüber zu erkennen, was ich wahrnehme und was ich fühle. Ich konnte nicht mit Dating beginnen, bevor ich mir nicht selbst die Wahrheit vor Augen hielt: dass ich eine Partnerin wollte und dass ich eine liebenswerte und attraktive Person war. Dann musste ich das Risiko auf mich nehmen und anderen die Wahrheit erzählen: dass ich mich zu ihnen hingezogen fühlte. Jetzt, da ich meine Gefühle wahrnehmen und anderen darüber berichten kann, habe ich wesentlich mehr Kontrolle über mein Leben und meine Zukunft. Falls Du denkst, dass Du niemals eine*n Partner*in haben wirst, obwohl Du eine*n möchtest – ich hoffe, meine Geschichte hat gezeigt, dass es möglich ist. Und andererseits: vielleicht hast auch Du Schwierigkeiten überwunden, Beziehungen zu beginnen. Je mehr wir miteinander teilen, desto besser können wir einander helfen!«14 Dies ist meilenweit entfernt von dem weinerlichen und anklagenden Tenor, der heutzutage auf Incel-Foren herrscht.

Der Begriff des »Invcels«, der kurze Zeit später zu »Incel« wurde, sollte ursprünglich vorurteilsbelastete und mit dem Bild des »Losers, der im Keller seiner Mutter wohnt«, assoziierte Vorstellungen des Wortes »Jungfrau« vermeiden, wie Alana in einem sehr hörenswerten Interview mit dem Podcast Gimlet ausführt.15 Auf ihrer Mailingliste waren insgesamt ungefähr 100 Männer und Frauen unterschiedlicher sexueller Orientierungen vertreten. Die Seite war auf solidarischen Austausch und Selbstreflexion angelegt und verwies auf professionelle Hilfsangebote für Menschen mit Depressionen und Sozialängsten. Alana spricht in dem Podcast davon, dass es zwar »viel Empathie, aber wenig Lösungsansätze« gab, wie man das Problem, keine Beziehungen führen zu können, adäquat angehen konnte. Alana verließ die Gruppe 1997, da die Mitglieder weniger Interesse daran hatten, ihre Position durch (Selbst-)Reflexion zu überwinden, als vielmehr in Alana eine Therapeutin suchten – eine Aufgabe, der sie sich nicht gewachsen fühlte.

Anders als die Incel-Szene in ihrer aktuellen Form stellten frühere Seiten tatsächlich Selbsthilfegruppen dar. Vor allem auf der Seite IncelSupport, die 2004 zu IncelSite umbenannt wurde, war die Analyse des Incel-Zustandes wesentlich differenzierter als das heute vorherrschende »Ich bin hässlich und habe deswegen keinen Sex«. »Incel« beschrieb hier keine unausweichliche Identität, sondern einen temporären Zustand – auch Personen, die sich in einer sexlosen Ehe befinden, könnten sich laut der Seite als »Incels« bezeichnen; statt von einem objektiv unansehnlichen Äußeren wurde von einer negativen Selbstwahrnehmung gesprochen. Generell war die Herangehensweise an den Incel-Status eine eher analytische, die sowohl äußere Umstände (Umzug in eine andere Stadt, finanzielle Probleme) als auch persönliche Erfahrungen (toxische Familienbeziehungen und daraus resultierende Bindungsängste, schlechte Erfahrungen in vorherigen Beziehungen, Angst vor Dating) als mögliche Gründe für das Incel-Dasein benannte. Die Seite IncelSupport fokussierte sich darauf, Mittel und Wege aufzuzeigen, dem Incel-Dasein durch – manchmal etwas neoliberal anmutende – Selbstoptimierung zu entkommen.

Die User*innen sollten erlernen, wie man andere Menschen ansprechen und kennenlernen kann, ohne in die toxischen Aufreiß-Mechanismen von Pick-up-Artists zu verfallen. Im Gegenteil, es wurde explizit erwähnt, dass es wichtig ist, die Grenzen anderer Personen zu respektieren. Es fanden sich dort zahlreiche profeministische und patriarchatskritische Analysen sowie Verweise auf Therapiestellen. Gleichzeitig war IncelSite ein Ort, an dem man von eigenen Erfahrungen sprechen konnte. Er bot auch zahlreichen frustrierten Durchschnittsmännern Raum, allerdings wurde zum Beispiel User*innen auch empfohlen, ihrer Unsicherheit durch einen Besuch im Stripclub Herr zu werden. Es steht außer Frage, dass eine Objektivierung von Frauen kein adäquater Weg ist, im Umgang mit ihnen selbstsicherer zu werden und sie als Subjekte wahrzunehmen.

Viele der Probleme, sich auf zwischenmenschliche Beziehungen einlassen zu können, wurden als in früheren Erfahrungen begründet erkannt. IncelSupport postulierte zudem »Sieben Todsünden«, denen die User*innen sich verweigern sollten, um ihr unfreiwilliges Zölibat überwinden zu können: Apathie, Ausflüchte und Rechtfertigungen, Überanalysierungen des eigenen Elends, Naivität, Angst, Wut und Scham. Eine Umfrage auf der Seite, wieso man Incel sei, verorteten die Ursache hier in äußeren Umständen wie »Stress« oder »soziale Isolation«, und noch nicht in der eigenen Unattraktivität und weiblicher Oberflächlichkeit.16

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Umfrage der Seite IncelSupport, wieso man Incel sei.

Wenn sexuell frustrierte Männer über ihre sexuelle Frustration sprechen, ist Misogynie jedoch nie weit. Es ist Teil einer patriarchalen Sozialisation, vermittelt zu bekommen, man hätte ein irgendwie geartetes Recht auf weibliche Aufmerksamkeit. Und es ist wesentlich einfacher, dem Feindbild Frau die Schuld für die eigene Sexlosigkeit in die Schuhe zu schieben, anstatt hegemoniale Geschlechtervorstellungen oder die eigene Persönlichkeit zu hinterfragen. User, denen die Moderation auf IncelSupport zu viel Wert auf respektvollen Umgang und antisexistisches Verhalten legte, emigrierten auf die 2003 gegründete Seite love-shy.org. Die Seite, die wie alle frühen Incel-Seiten im Vergleich zu den heutigen relativ harmlos erscheint, wurde nach einigen Jahren von einem User namens »Rammspieler« übernommen. Auf einem noch bei IncelSupport veröffentlichten Posting artikulierte er seine Begeisterung für den frauenfeindlichen Mörder George Sodini und die beiden Schützen des Columbine-Massakers und bezog sich, ebenfalls positiv, auf den kroatischen Blogger Marjan Siklic, der, lange bevor der Incel-Begriff »government-assigned girlfriend« an Bekanntheit gewann, verlangte, dass die Regierung allen Männern Partnerinnen zur Verfügung stellt.17

Diese Ideologie sollte den Tenor von Love-shy vorgeben. Ein anderer Einfluss kam aus dem inzwischen zur Brutstätte der Alt-Right-Bewegung verkommenen Imageboard 4chan, vor allem von dem 4chan-Board /r9k/, kurz für »Robot 9001«, auf dem User sich über ihr mangelndes Sozialverhalten austauschten und gehässige Kommentare über das Sexleben anderer verfassten. Während die Incel-Szene zu Beginn nicht inhärent toxisch war, basierten später viele der chan-Boards auf emotionaler Kälte, Zynismus, vermeintlich ironisch zelebrierter Menschenfeindlichkeit und infantilem Provokationsgehabe. Laut dem Kulturwissenschaftler Tim Squirrell entwickelte sich 4chan zu »einer Community, in der die extremsten Dinge gesagt wurden, um mit der eigenen Traurigkeit umzugehen. Und weil sie nie gelernt haben, die eigenen Emotionen rational zu verarbeiten [...], externalisieren sie die Schuld auf alle, außer sich selbst [...]. Sie sagen Dinge, die so extrem sind, dass man sie extrem schwer zurücknehmen oder sich davon distanzieren kann.«18 Eine auf YouTube verfügbare Dokumentation namens Shy Boys der Regisseurin Sarah Gardephe folgt unter anderem einer Gruppe Love-shy-Mitglieder, zu denen auch ein Pickup-Artist zählt, der sich vorgenommen hat, den anderen Mitgliedern der Gruppe beizubringen, wie man »Frauen rumkriegt«. Den Pick-up-Artist zu beobachten verursacht fast physische Schmerzen, aber die Dokumentation ist sehr interessant.

Auf Love-shy wurde erstmals die Idee postuliert, das eigene Aussehen determiniere für immer den Dating-Erfolg – oder dessen Ausbleiben. Selbst einem Frauenfeind wie »Rammspieler« wurde es bei Love-shy gegen Ende zu toxisch, als populäre User begannen, sich offen für Vergewaltigung auszusprechen.19

Nicht wenige Nutzer, die auf Love-shy verkehrten, fanden sich früher oder später auf den Seminaren von sich als »Verführungskünstler« labelnden Tätern wieder, um zu erlernen, wie man denn Frauen für sich begeistern könnte. Der Erfolg blieb aus. Dies ist nicht verwunderlich, wenn man sich die Techniken der sogenannten Pick-up-Artists näher anschaut: Hinter dem schöngeistigen Begriff des »Verführungskünstlers« oder im Englischen »Pickup-Artist« (PUA) steckt die frauenfeindliche »Redpill«-Ideologie, nach der Frauen nichts anderes als Sexobjekte seien, die einem Untertan gemacht werden müssten. Diese Ideologie, der Pick-up-Artists anhängen, popularisierte sich Anfang der 2010er Jahre, das Subreddit r/Redpill wurde 2012 gegründet.

Redpiller, zu denen neben Pick-up-Artists auch andere Männerrechtsaktivisten zählen, hängen dem Irrglauben an, Männer seien gesellschaftlich unterdrückt und abgehängt. Frauen würden Männer mittels Schwangerschaften oder falscher Vergewaltigungsanschuldigungen kontrollieren, weswegen Männer ihr Dasein in permanenter Angst vor dieser gefährlichen weiblichen Sexualität fristen würden. Sie seien gezwungen, in einer Welt zu leben, in der man Frauen nicht einmal mehr Komplimente machen könne, ohne direkt eine Anzeige wegen Vergewaltigung am Hals zu haben (dass nur ein Bruchteil angezeigter Vergewaltigungen überhaupt verurteilt wird und viele Opfer sexueller Gewalt aufgrund von Stigmatisierung, unsensibler Polizeibeamter oder Angst vor dem Täter gar nicht erst anzeigen, wird natürlich ignoriert). Während Frauen dank überall drohender Paritäts- und Quotenregelungen Karriere machen, werde der Mann zunehmend verschwult und verweichlicht, ja, seiner Männlichkeit geradezu beraubt. »Redpiller« haben daher beschlossen, diese Entwicklung der Welt zu bekämpfen, ungeachtet der Tatsache, dass es sich dabei um ein projektiv aufgeladenes Hirngespinst handelt. Sie treffen sich im Internet und auf überteuerten Seminaren, um eine »ursprüngliche Männlichkeit« wiederzuentdecken, oder versuchen, Frauen zum Sex zu nötigen.

Wie eine Sekte haben auch die sogenannten »Verführungskünstler« ihren eigenen Jargon: der Umgang mit Frauen ist demnach ein »Game«, das es zu gewinnen gilt; Frauen werden auf einer Nummernskala von eins bis zehn angeordnet, attraktive Frauen bezeichnet man als »Hot Babes«. Man manipuliert Frauen mit Techniken wie dem »Push and Pull« und »Negging«, deren Prinzip darin besteht, eine Frau durch Abwertung zu verunsichern und anschließend durch ein Kompliment wieder an sich zu ziehen. Ein Beispiel hierfür wäre: »Du wirkst so kühl und selbstsicher. Andere Männer kannst Du sicher damit täuschen, aber ich sehe sofort, dass Du dich eigentlich nach Sicherheit und einer Schulter zum Anlehnen sehnst« oder »Ich mag deine blonden Haare – zu schade, dass sie offensichtlich gefärbt sind«.

Man(n) soll sich unnahbar und unbeeindruckt geben, »die richtigen Knöpfe drücken«, und schon hätte man eine Frau in der Tasche. Diese Vorstellung basiert auf der reaktionären Geschlechtervorstellung, dass Frauen eigentlich gar nichts anderes wollen, als von dominanten Männern gebrochen zu werden, lediglich der lästige Feminismus hätte ihnen den Floh ins Ohr gesetzt, als Subjekt respektiert werden zu wollen. Doch zum Glück wissen es die Pick-up-Artists besser und teilen bereitwillig ihre Weisheit! Nach Absolvierung des Seminares zieht man dann im Rudel los, um die erlernten Fähigkeiten in der Öffentlichkeit zu erproben. Für jene Frauen, die das Pech haben, sich zum selben Zeitpunkt wie die Brigade angehender Sexgötter in der Innenstadt aufzuhalten, bedeutet dies: sexuelle Belästigung, dumme Sprüche, Bedrängung. Anstatt zu dem naheliegenden Schluss zu kommen, dass diese aufdringliche und sexistische Masche nicht dazu geeignet ist, die Herzen der Damenwelt zu erobern, glauben die liebesschüchternen jungen Männer, sie seien schlicht zu hässlich, um von Frauen begehrt werden zu können – und Frauen seien ohnehin alle oberflächliche Schlampen. Dieses Denken bildet den Grundstein der »Blackpill«-Ideologie, und damit jener Überzeugung, der Incels anhängen: Frauen sei es unmöglich, einen unattraktiven Mann zu begehren. Unsere Gesellschaft sei oberflächlich und sexbesessen, und Glück und Erfolg messen sich nur daran, das »Game« zu gewinnen, was Incels aufgrund ihrer Unattraktivität und der daraus folgenden Sexlosigkeit für immer verwehrt bliebe. Sie hatten diese Gedanken schon auf 4chan und Love-shy gelesen, nun hatten sie ihre unzweifelhafte Richtigkeit am eigenen Leib erfahren. Enttäuscht fanden sie sich auf dem Anfang der 2010er Jahre aktiven Forum PUAHate zusammen, um ihrem Hass auf Frauen Ausdruck zu verleihen. Der Frauenhass zeigt sich in Postings wie dem Folgenden: »Ich möchte jeden auf PUAHate ermutigen, Dating-Profile von richtig fetten/hässlichen/deformierten/geistig behinderten Weibern anzulegen und sich so selbst zu beweisen, dass alles, was eine Frau braucht, um qualitativ höchstwertige Männer anzuziehen, ein paar Titten und eine Fotze sind«20. Andere User fragen, ob Frauen nicht per Gesetz daran gehindert werden sollten, das Haus zu verlassen, wenn sie nicht den »richtigen« Body-Mass-Index vorweisen könnten.21 2013 registrierte sich Elliot Rodger auf der Seite PUAHate, die später übrigens in Sluthate umbenannt wurde. Inzwischen ist das Forum geschlossen, was vor allem der medialen Aufmerksamkeit zu verdanken ist, die es nach Rodgers Anschlag erhielt.

Zu einem ähnlichen Zeitpunkt – Ende der nuller Jahre – begannen die antifeministischen YouTuber William Greathouse, Dwayne Holloway und Steve Hoca das Konzept der »Erzwungenen Einsamkeit« zu vertreten und weitere Grundsteine für die moderne Incel-Subkultur zu legen. Eine der von ihnen ins Internet geseierten Verschwörungstheorien behauptete, der Feminismus sei der Grund, warum Männer in Sachen Liebe und Sex so wenig Erfolg hätten. Holloway stellte die immer noch von selbsterklärten »Nice Guys« vertretene Behauptung auf, Männer hätten Sex verdient, nachdem sie sich dazu herabgelassen hätten, nett zu einer Frau zu sein. Hoca klagte darüber, dass »diese Weiber« einfach zu anspruchsvoll seien. »Diese Kombination aus Opferkomplexen, Anspruchsdenken und Antifeminismus ist charakteristisch für den Großteil zeitgenössischer Incel-Communities«, so Tim Squirrell. Zeitgleich begannen sich über Meme-Seiten wie ifunny oder 9Gag zunehmend junge Männer über die himmelschreiende Ungerechtigkeit der sogenannten »Friendzone« zu empören. Der Begriff der »Friendzone« beschreibt den tragischen Umstand, dass man Zeit und Energie in die Freundschaft zu einer Frau investiert hat, aber dieses Miststück zum Austausch nicht einmal mit einem schlafen will! Frauen werden in dieser Vorstellung als Automat wahrgenommen, der Freundlichkeit gegen sexuelle Gefälligkeiten eintauschen soll. Nimmt eine Frau einen Freund als das wahr, was er für sie ist – ein platonischer Freund –, ist dies eine vernichtende Kränkung. Für Männer, die über die »Friendzone« jammern, ist eine aufrichtige Freundschaft zu einer Frau lediglich der Weg zu einer Beziehung; Frauen werden von ihnen nicht als Subjekte wahrgenommen, sondern auch hier wieder als bloße Projektionsfläche für ihre Fantasie einer idealen Partnerin. Auch wenn die vom Internet als »Nice Guys« betitelten Männer, die sich auf erwähnten Meme-Seiten darüber beklagen, dass ein netter Kerl wie sie keine Weiber abbekommt und lediglich als Schulter zum Ausheulen dient, da Frauen nur auf Arschlöcher stehen, noch nicht bei den misogynen Vernichtungsfantasien eines Incels angekommen sind, ist hier das patriarchale Anspruchsdenken bereits angelegt.

Der Weg vom gekränkten »Nice Guy« über den Pick-up-Artist zum Incel ist ein Weg, den viele Männer beschritten haben. Incels verbleiben mitnichten im Internet, sondern tragen ihren Frauenhass mit erschreckender Regelmäßigkeit auf die Straße. Die radikalste Form dessen ist der frauenfeindliche Terroranschlag. Hier eine (unvollständige) Auswahl: