Mit Epikur auf Wandertour
Ein Lesebuch für Nachdenkliche
Herausgegeben von Günter Stolzenberger
dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
Günter Stolzenberger studierte Soziologie, Philosophie und Politik und lebt als freier Publizist in Frankfurt am Main. Er hat mehrere erfolgreiche Anthologien herausgegeben, darunter ›Die Kunst des Wanderns‹.
Wie ist ein (wunschlos) glückliches Leben möglich? Der griechische Philosoph Epikur (341-270 v. Chr.) gibt uns dazu eindeutige Hinweise: »Strebe nicht nach Reichtum, Macht und Ruhm. Genieße, was du hast!« Seelenruhe also ist das Ziel seiner Philosophie, und die beste Voraussetzung, sie zu erlangen, ist mit Wenigem zufrieden zu sein.
Wandern erweist sich hier geradezu als Königsweg. Denn in einem Rucksack ist kein Platz für Überflüssiges. Nur das Wichtigste darf mit: Essen, Trinken, wetterfeste Kleidung und selbstverständlich ein gutes Buch. ›Mit Epikur auf Wandertour‹, ein Fundus an Lebensweisheiten aus mehr als zwei Jahrtausenden, bietet sich da als idealer Begleiter an. Inspiriert von der Glückslehre des antiken Denkers zeigen uns Philosophen, Wissenschaftler und Schriftsteller von Lukrez bis Adorno, von Rousseau bis Maya Göpel und von Thoreau bis Eva Demski, was zu tun ist für das Glück und wie es möglich ist, das Leben zu genießen.
Originalausgabe 2021
© 2021 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
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eBook-Herstellung im Verlag (01)
eBook ISBN 978-3-423-43850-6 (epub)
ISBNder gedruckten Ausgabe 978-3-423-34996-3
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ISBN (epub) 9783423438506
Ist das Schuhwerk in Ordnung, der Rucksack gepackt, die Karte auf dem neusten Stand? Dann kanns ja losgehen. Das Wetter ist gut, und der geplante Weg verspricht prächtige Aussichten. Vor uns liegt ein Ort, der wahre Wunder bewirkt: die Natur. Sie macht etwas mit uns, das wir im Alltag schmerzlich vermissen. Sie lässt uns fühlen, dass wir Menschen sind. Wandern ist ein Erlebnis. Wir gehen, wir steigen, wir setzen Fuß vor Fuß, wir spüren unsere Muskeln und Knochen, den Wind, die Sonne auf der Haut; begnadet ist, wer sehen, riechen, hören kann. Mehr braucht es nicht, um eine unbezahlbare Erfahrung zu machen: Es ist eine Lust, am Leben zu sein!
Nicht ohne Grund empfiehlt dieses Buch einen antiken Philosophen als Wegbegleiter mitzunehmen. Denn beim Wandern befindet man sich ganz von selbst auf seinen Spuren: auf den Spuren Epikurs, der vor mehr als zweitausend Jahren eine wegweisende Entdeckung gemacht hat: Der Mensch kann glücklich sein! Und er kann diesen Zustand mit einfachen Mitteln selbst herbeiführen. Wie das geht, zeigt uns seine Philosophie der Glückseligkeit, die mit einer einfachen Einsicht beginnt: Wir leben nur einmal. Wir haben ein einziges Leben, nur diese begrenzte Zahl von Jahren, Tagen, Stunden und Augenblicken. Besser, wir fangen rechtzeitig damit an, sie zu genießen.
Sonderbarerweise hat er sich damit nicht nur Freunde gemacht. Schon zu seinen Lebzeiten sah er sich dem Vorwurf ausgesetzt, ein unersättlicher Genussmensch zu sein. Bis heute wird diese als Hedonismus geschmähte Haltung mit ihm in Verbindung gebracht – zu Unrecht, denn gut zu leben bedeutete für ihn gerade nicht, den Lüsten hinterherzujagen. Sein Ziel war eher das genaue Gegenteil: die Seelenruhe, das zufriedene Gefühl, das sich einstellt, wenn wir wunschlos glücklich sind.
Idealerweise bedeutet das, weder Wünsche und Gelüste noch Schmerzen oder Ängste zu haben, nichts, was die Gemütsverfassung irgendwie in Aufruhr bringen könnte – ein Dasein in sinnlicher Gegenwart. Viele Kulturen haben ausgefeilte Techniken entwickelt, um diesen Zustand zu erreichen: die Meditation, das Gebet, die Askese, die Tiefenentspannung, Yoga; alle sind sie auf der Suche nach der inneren Ruhe; selbst unsere eigene umtriebige Zeit hat ein großes, wenn auch heimliches Verlangen nach ihr.
Ein Grund mehr, den Epikur dabeizuhaben, denn seine Seelenruhe ist eng verwandt mit der wohltuenden Ausgeglichenheit, die sich beim Wandern sozusagen beiläufig ergibt. Schon nach wenigen Kilometern stellt sie sich ein, besonders gern, nachdem man den mitgebrachten Proviant genossen hat, um sich auf einer sonnigen Bergwiese im Schatten eines windschiefen Baumes auszustrecken. Es ist der ideale Zeitpunkt, in die Philosophie der Glückseligkeit einzusteigen.
Sie besagt, dass der Mensch Bedürfnisse hat, natürliche Bedürfnisse vor allem, die der Erhaltung des Lebens und der körperlichen Gesundheit dienen. Die Natur hat es so eingerichtet, dass bei ihrer Befriedigung Lust entsteht, und weil das ein angenehmes Gefühl ist, hat sich der Lustsucher Mensch auf den Weg gemacht, seine Bedürfnisse zu verfeinern, vor allem aber zu vermehren – eine Entwicklung, der wir, nicht nur was Essen und Trinken betrifft, viel zu verdanken haben.
Es ließe sich daraus schließen, dass der eingeschlagene Weg so weitergehen kann, gäbe es da nicht eine unangenehme Begleiterscheinung: die Unlust. Sie wächst mit dem Aufwand, den wir für immer größere Bedürfnisse betreiben müssen. Das artet dann schnell in Arbeit aus. Ganze Wochen sind mit Unlust gepflastert, mit Stress und Ärger, mit Ängsten und Zwängen. Wir kennen das alle und wissen, was Unlust bedeutet, wenn sie am frühen Morgen in eben noch friedlichen Schlafzimmern mit ihrem Wecker rasselt.
Aus dieser Perspektive betrachtet, wird eine Kernthese epikureischen Denkens unmittelbar verständlich: Die größte Lust ist die Freiheit von Unlust. Die größte Lust ist die Seelenruhe. Sie ist das eigentliche Ziel unseres Handelns, unser höchstes Gut, und wer nach ihm strebt, darf sich weise nennen.
Uns Zeitgenossen des 21. Jahrhunderts erschließt sich dieser Gedanke nicht unmittelbar. Wir leben in einer Welt, deren Geschäft darin besteht, immer neue Wünsche zu erzeugen. Zufriedene Menschen kommen darin nicht vor, dürfen darin nicht vorkommen, denn damit sie funktioniert, müssen alle immer wieder unzufrieden sein. Nur zu diesem Zweck werden immer neue Dinge erfunden. Um sie zu besitzen, nehmen wir in Kauf, ganze Tage in bleierner Unlust zu verbringen; Jahre unseres Lebens geben wir dahin für Dinge, die schon in der nächsten Saison obsolet sind: Must-haves und Nice-to-haves; je lustloser wir werden, desto mehr von ihnen müssen wir haben, um in dem, was wir tun, noch irgendeinen Sinn zu sehen. Es ist ein trauriges Geschäft und ein schlechtes obendrein, aber solange wir es mitmachen, geht es immer weiter. Da hilft uns auch kein Epikur – oder vielleicht doch?
Die Situation, in der wir uns befinden, ist ihm jedenfalls nicht unbekannt. Viele Dinge zu besitzen, galt schon im Altertum als höchst erstrebenswertes Indiz für ein gelungenes Leben. Epikur erkennt darin einen Trugschluss, der auf falschen Meinungen der Masse beruht, auf der Meinung etwa, dass, wer reich, mächtig und berühmt ist, gleichzeitig auch glücklich und zufrieden sein müsse. Das Gegenteil ist der Fall, denn Reichtum, Macht und Ruhm haben einen nimmersatten Charakter. Sie können nicht genug bekommen, erwecken immer neue Begierden und verurteilen uns so dazu, ein endloses Rad zu treiben.
Genug! Das ist das Zauberwort, mit dem es Epikur gelingt, diesem Teufelskreis zu entkommen. Nur wer genug hat, kann zufrieden sein. Der Schlüssel zum glücklichen Leben liegt in der Genügsamkeit. So sehen das alle antiken Glückslehren, aber während der Kyniker Diogenes, der Genügsamste von allen, in einer Tonne wohnt und sich die Stoiker gegen jegliche Unbill mit unerschütterlichem Gleichmut wappnen, wählt Epikur eine moderate Variante des genügsamen Lebens. Sie weiß die Annehmlichkeiten der Zivilisation sehr wohl zu schätzen, ist sinnlichen Freuden nicht abgeneigt, kennt die Köstlichkeit edler Speisen und Getränke und hat auch keine Berührungsängste mit gelegentlichem Luxus. Nur eine Regel hat sie zu befolgen: Lebe naturgemäß!
Er verlangt damit keineswegs den Rückzug in die Wildnis, wohl aber eine gewisse liebhaberische Neugier für die Vorgänge in der Natur. Sie ist der Ursprung, das große Ganze, und der Mensch ist selbstverständlich Teil von ihr. Naturgemäß zu leben bedeutet demnach auch, sich selbst zu kennen, die eigene Natur mit ihren unverwechselbaren Bedürfnissen, Fähigkeiten und Talenten – vergrabene Schätze, die nur darauf warten, gehoben zu werden.
Keine leichte Aufgabe, aber die Suche nach ihnen führt durch ein abwechslungsreiches Gelände. Es gilt, Höhen und Tiefen zu überwinden. Irrwege sind nicht ausgeschlossen und gelegentlich kann es auch anstrengend werden, vor allem für den Kopf. Denn der Mensch ist nicht nur ein Teil der Natur. Er ist auch ein vernunftbegabtes Wesen und verfügt über einen freien Willen; nicht zu vergessen seine Vorstellungskraft und seine Fähigkeit, arbeitend in die Welt einzugreifen und sie damit nach seinen Wünschen zu gestalten. Die Aufklärung hat uns diesen Weg gewiesen, aber mehr als zweitausend Jahre vor Kant hat Epikur dieses Programm ganz ähnlich formuliert. Nutze deine Vernunft, um ein Leben zu führen, das dich glücklich macht.
Es ist dies in aller Kürze das Programm der Lebenskunstphilosophie, jener Disziplin also, der es um die ältesten Fragen der Menschheit geht: Wie ist das Leben überhaupt möglich? Wie lässt es sich so gestalten, dass es ein gutes Leben wird? Die Antworten fallen unterschiedlich aus, aber in einem Punkt sind sich alle einig: Leben ist kein Selbstläufer. Es will in die Hand genommen und geführt werden, damit es nicht verlorengeht auf seinem Weg, der voller Hindernisse ist und voller Widerstände aus Naturnotwendigkeiten und gesellschaftlichen Zwängen.
Die Kunst zu leben besteht darin, sich diesen Widerständen keinesfalls zu ergeben, sie stattdessen aufzuheben oder, wo das nicht möglich ist, sie zu umgehen, ihnen auszuweichen, nach Nischen zu suchen, nach Lichtungen und Freiflächen, diese auszubauen, um Plätze zu schaffen, Zeiträume, um Mensch zu sein auf dem Planeten Erde, der uns als Heimat geschenkt ist für ein paar wunderbare Jahre. Besser, wir fangen rechtzeitig damit an.
Die Weisheit der Philosophie kann uns dabei eine große Hilfe sein. Ihre Aufgabe besteht darin, uns Argumente zu liefern, die Ordnung der Dinge in unseren Köpfen zurechtzurücken, damit das wirklich Wichtige seinen Platz bekommt. Epikur hat das Leben an die erste Stelle gerückt und so einen philosophischen Maßstab gesetzt, der das rastlose Treiben der Menschheit radikal in Frage stellt.
Er hat damit Anhänger in allen Epochen gefunden. Seine Gedanken wirken fort im antiken Rom, im frühen Christentum, in der Neuzeit, und wenig überraschend ist, dass sie in der krisengeschüttelten Gegenwart eine Renaissance erleben. Angesichts einer steigenden Zahl bedrohlicher Klimaphänomene trifft seine Forderung nach naturgemäßem Leben den Nerv der Zeit, und sie befreit ganz nebenbei die Diskussion über den Umbau einer wachstumssüchtigen Ökonomie von ihrem Dauerthema Verzicht. Er erklärt Weniger zu Mehr und hat dafür die besten Argumente: die Lust, das Glück und das Leben.
Weniger ist mehr, das gilt auch für dieses Buch, denn es könnte um vieles dicker sein, soll aber schließlich in einen Rucksack passen. Es beschränkt sich also darauf, die Perlen epikureischen Gedankenguts zu sammeln. Sie stammen aus philosophischen Abhandlungen, Erzählungen, Gedichten und wissenschaftlichen Analysen. Das Ergebnis ist – so die Absicht des Herausgebers – ein ebenso unterhaltsamer wie aufschlussreicher Wegbegleiter, der hoffentlich auf sonnigen Bergwiesen und in dämmerigen Gaststuben für spannende Diskussionen sorgen wird. Vorausgesetzt, das Wetter hält, bleibt nur noch zu wünschen, dass die Schuhe gut, die Wege schön und die Aussichten prächtig sind.
Günter Stolzenberger
Wir sind nur ein einziges Mal geboren.
Zweimal geboren zu werden ist nicht möglich.
Die ganze Ewigkeit hindurch werden wir nicht mehr sein.
Du aber bist nicht Herr des morgigen Tages
und verschiebst immerzu das Erfreuende.
Epikur
Ein Leben im Glück
Ein Leben im Glück, Bruder Gallio, wünschen sich wohl alle, ebenso tappen aber auch alle im dunkeln, wenn es darum geht, sich die Voraussetzungen für ein echtes Lebensglück deutlich vor Augen zu stellen. Es ist aber auch nicht einfach, ein solches Lebensglück zu erlangen. Hat man nämlich den Weg einmal verfehlt, kann man sich sogar vom Ziel entfernen, und zwar um so weiter, je hastiger man sich ihm nähern will. Denn führt der Weg in entgegengesetzte Richtung, läßt gerade die Geschwindigkeit den Abstand immer größer werden. So muß man sich zuerst das Ziel seines Strebens klarmachen und sich dann nach Möglichkeiten umsehen, es recht rasch zu erreichen. Dabei wird man – vorausgesetzt, der eingeschlagene Pfad ist richtig – gewissermaßen unterwegs begreifen, welche Strecke man täglich vorwärtskommen kann und um wieviel wir dem Ziel unseres natürlichen Verlangens nähergekommen sind. […]
In unserem Fall führt gerade der beliebteste und am meisten empfohlene Weg am ehesten in die Irre. In der Hauptsache müssen wir uns also davor hüten, wie das liebe Vieh der Herde unserer Vorgänger zu folgen und weiter mitzugehen, wohin man eben geht und nicht, wohin man eigentlich gehen sollte. Nichts verwickelt uns nämlich in größere Schwierigkeiten als unsere Neigung, sich nach dem Gerede der Leute zu richten, das heißt, immer das für das Beste zu halten, was allgemein Beifall findet, und sich an die bloße Zahl der Beispiele zu halten, also unser Leben nicht nach Vernunftgründen, sondern nach verwandten Erscheinungen zu gestalten. Darum stürzt immer einer über den anderen, und es kommt zu einer so gewaltigen Zusammenballung. Was sich bei einem großen Volksauflauf alles abspielt, wenn ein einziges Menschenknäuel sich schiebt und drückt, keiner fallen kann, ohne seinen Nachbarn mitzureißen, die Vordersten den Nachfolgenden zum Verhängnis werden, dasselbe kannst du überall im Leben beobachten: Keiner begeht für sich allein einen Irrtum, jeder ist gleicherweise Grund und Urheber fremden Irrtums. Es ist nun außerordentlich schädlich, sich einfach seinen Vorgängern anzuschließen. Weil es nämlich einem jeden lieber ist, etwas auf Glauben anzunehmen, als sich selbst ein Urteil über eine Sache zu bilden, kommt es nie zu einer Beurteilung unserer Lebensführung. Immer verläßt man sich nur auf andere, und Irrtümer, von Hand zu Hand weitergereicht, halten uns erst zu Narren und stürzen uns zuletzt in den Abgrund. Sich nach anderen richten führt zum Untergang! Geheilt werden können wir nur, wenn wir uns vom großen Haufen absondern.
Et in Arcadia ego
Ich sah hinunter, über Hügel-Wellen, gegen einen milchgrünen See hin, durch Tannen und altersernste Fichten hindurch: Felsbrocken aller Art um mich, der Boden bunt von Blumen und Gräsern. Eine Herde bewegte, streckte und dehnte sich vor mir; einzelne Kühe und Gruppen ferner, im schärfsten Abendlichte, neben dem Nadelgehölz; andere näher, dunkler; alles in Ruhe und Abendsättigung. Die Uhr zeigte gegen halb sechs. Der Stier der Herde war in den weißen, schäumenden Bach getreten und ging langsam widerstrebend und nachgebend seinem stürzenden Laufe nach: so hatte er wohl seine Art von grimmigem Behagen. Zwei dunkelbraune Geschöpfe, bergamasker Herkunft, waren die Hirten: das Mädchen fast als Knabe gekleidet. Links Felsenhänge und Schneefelder über breiten Waldgürteln, rechts zwei ungeheure beeiste Zacken, hoch über mir, im Schleier des Sonnenduftes schwimmend – alles groß, still und hell. Die gesamte Schönheit wirkte zum Schaudern und zur stummen Anbetung des Augenblicks ihrer Offenbarung; unwillkürlich, wie als ob es nichts Natürlicheres gäbe, stellte man sich in diese reine scharfe Lichtwelt (die gar nichts Sehnendes, Erwartendes, Vor- und Zurückblickendes hatte) griechische Heroen hinein; man mußte wie Poussin und sein Schüler empfinden: heroisch zugleich und idyllisch. – Und so haben einzelne Menschen auch gelebt, so sich dauernd in der Welt und die Welt in sich gefühlt, und unter ihnen einer der größten Menschen, der Erfinder einer heroisch-idyllischen Art zu philosophieren: Epikur.
Keine Angst
Im Achtzehnten Jahrhundert führte Kant den Nachweis: daß menschliche Vernunft nichts ausmachen könne über die Existenz Gottes; das brachte ihm den Namen ›Alleszermalmer‹ ein, weil viele sich hierdurch zermalmt fühlten. Und man kann noch heute in den Briefen des deutschen Dramatikers Heinrich von Kleist nachlesen, wie furchtbar er sich Kants Skepsis zu Herzen nahm. Epikur und die Seinen stellten hingegen die freundliche Seite der Unerforschlichkeit des Alls ins Licht.
Es gibt wirklich eine sehr freundliche Seite. Epikur lehrte: »Von den vielen Furcht erregenden Erscheinungen umgeben, bildet sich der Mensch die Meinung, es gebe viele ewige und mächtige Götter.« Furcht schuf – Götter. Und dann schufen Götter – Furcht. Deshalb sind die Götter ein Feind menschlichen Glücks. Gegen diesen Feind lehrte Epikur: »Man soll sich vor keinem Gott fürchten, sondern sich freimachen vom Wahnglauben.« Der Kampf gegen die Furcht ist das Herz seines Atheismus gewesen.
Die Furcht ist ein gewaltiges Hindernis auf dem Wege zum Glück; das sah Epikur zwei Jahrtausende vor der Psycho-Analyse. Und bekämpfte diese Furcht in allen ihren Erscheinungen. Die Furcht vor den Göttern war damals sehr verbreitet. So brachte er tausend Verängstigten die frohe Botschaft: daß die Götter, falls sie überhaupt existieren, in seliger Abgeschiedenheit leben, irgendwo im unendlichen Weltenraum. Sie belästigen die Menschen nicht – und wünschen nicht, von ihnen belästigt zu werden. Und Götter sind sie, falls sie überhaupt sind, nur darin, daß sie glücklicher leben als wir irdischen Kreaturen. »Sie sind voll Lust und ruhen in der höchsten Seligkeit, ohne sich selbst oder andern etwas zu schaffen zu machen«: das war die fröhliche Theologie des Epikur. Alle Epikuräer fanden die Erde erst unter einem entgöttlichten Himmel – göttlich. Friedrich Nietzsche jubelte, am Ende des letzten Jahrhunderts: »Das größte Ereignis: Gott ist tot.«
Und der Tod ist tot! verkündete Epikur.
Er focht, um des Menschen-Glücks willen, gegen autokratische Götter. Und er focht, allerdings mit geringerem Erfolg, um des Menschen-Glücks willen: gegen den Tod. Weshalb ist der Tod so schrecklich? fragte er. Viele Griechen (und viele Christen nach ihnen) stellten sich das Leben nach dem Tode ganz entsetzlich vor. Es ist mit dem Tode wie mit den Göttern, beruhigte Epikur die Entsetzten. Das Jenseits, das Ihr Euch da zurechtgemacht habt, ist nichts als ein fauler Zauber. Habt also keine Angst vor dem schlechten Leben nach dem Tod!
Manche aber fürchteten sich gar nicht vor dem Jenseits. Sie fürchteten sich vor dem Ende des Lebens. Epikurs großer Schüler, der römische Dichter Lukrez, beschrieb einmal: wie sehr die Vorstellung von diesem Ende das menschliche Leben beeinflußt; man wäre nicht so gierig, meinte Lukrez, wenn man nicht immer daran denken müßte, daß eines Tages gründlich abgedeckt wird. So schlingt jeder noch einmal schnell hinunter, so viel er kann.
Wie bekämpft man den Schrecken des Todes? Mit Philosophie! Nichts ist im Leben furchtbar für den, der erfassen kann, daß im Nichtsein nichts Furchtbares liegt. Epikur kämpfte nicht (wie zum Beispiel: Bernard Shaw) gegen den Tod, sondern – gegen die Furcht vor dem Tod. Er bekämpfte sie mit einem Beweis – einem der berühmtesten Beweise in der Geschichte der Philosophie. Er lautet: »Das schauerlichste Übel, der Tod, geht uns nichts an, weil, solange wir sind, der Tod nicht da ist; ist er aber da, so sind wir nicht mehr.«
Wer immer zur Schar des Epikur gehörte, sah eine der Haupt-Pflichten der Philosophie darin, mit dem Tode fertig zu werden. Montaigne nannte einen seiner berühmten Essays ›Philosophieren heißt sterben lernen‹. Nur wer das Sterben gelernt hat, kann glücklich werden; und die Philosophie ist dazu da, das Leben glücklich zu machen. Epikur war vom Glück nicht abzubringen, schrieb im Neunzehnten Jahrhundert der französische Psychologe Guyau.
Epikurs Philosophieren war eine Anleitung zum Glücklichsein. Aristoteles hatte gelehrt: »Die Wissenschaft ist um so vornehmer, je weniger sie irgendeinem Ziel dient.« Für diese vornehme Wissenschaft hatte Epikur nichts übrig. Er war ein leidenschaftlicher Denker – um des Glückes willen, nicht um dieser vornehmen, völlig uninteressierten Wissenschaft willen. Dieses Denken im Dienste des Glücks hielt er für die wichtigste Angelegenheit des Daseins. Er tadelte jeden, der sagte: ›Er wolle noch nicht mit der Philosophie beginnen – oder: die Zeit dazu sei vorüber.‹ »Wer so etwas sagt«, erklärte er, »gleicht einem Menschen, der sagt, die Zeit zum Glück sei noch nicht oder nicht mehr da.«
Er war ein Schüler des Demokrit, wandte sich aber ebenso gegen die Diktatur der Natur-Notwendigkeit – wie er sich gegen die Diktatur der Götter gewandt hatte. Aus demselben Grund. »Denn besser wäre es«, schrieb er, »den Fabeln über die Götter zu folgen als Sklave des Naturgesetzes zu sein; jene gewähren wenigstens Hoffnung auf Gebets-Erhörung, die Naturnotwendigkeit aber ist unerbittlich.« So schrieb er den Atomen eine Art von Freiheit zu und lehnte die eherne Notwendigkeit als Wahn ab – zweitausend Jahre vor der Nach-Newtonschen Physik.
Es gibt soviele Philosophien – wie es Motive gibt, aus denen sie wuchsen. Nun hat Kant den griechischen Philosophen nachgerühmt: sie hätten ihre Ideen mit einer Konsequenz entwickelt, die unerhört sei in der Moderne. Epikur war so ein Konsequenter. Mit einer durch die Jahrtausende nachwirkenden Energie hat er das Glück zu seiner Sache gemacht. Seine Lehre war in jedem Stück ein Instrument dieses Glücks. Und dies Instrument war besonders für zwei Aufgaben angefertigt.
Die Philosophie sollte den Menschen befreien von der Furcht: von der Furcht vor den Göttern, vor dem Tod, vor den unmenschlichen Naturgesetzen, vor den Despoten der Gesellschaft. Epikur behandelte die verängstigte Menschen-Seele. Sein Schüler, der Römer Lukrez, der im letzten Jahrhundert vor Christi Geburt lebte, rückte vor allem diese Befreiung in den Mittelpunkt seiner Beschreibung der Lehre des Meisters. Und zweitausend Jahre später, am Ende eines langen Freiheitskampfs, jubelte der Epikuräer Friedrich Nietzsche: »Wir Furchtlosen.«
Die zweite Aufgabe der Philosophie Epikurs war: nachzudenken über dieses sehr problematische Glück. Er dachte nach mit der Schwerfälligkeit des Anfängers. Er fragte: welches ist die Rangordnung der Quellen des Glücks, deren es doch viele gibt – den Magen, das Geschlecht, die Augen, die Ohren, die Seele? Seine Antwort war nicht eindeutig: manchmal neigte er dazu, alles Glück auf die Freuden des Bauchs zurückzuführen – und dann heißt es wieder: »So ist es denn klar, daß ein hoher Grad von Lust oder Unlust der Seele für ein glückliches oder unglückliches Leben von größerer Bedeutung ist, als eine körperliche Empfindung, wenn sie gleich lange dauert.« Und er meinte: die geistige Lust erstrecke sich auch auf Vergangenheit und Zukunft, die sinnliche nur auf die Gegenwart. – Mit diesen und ähnlichen Sätzen begann eine Jahrtausend-Diskussion.
Er fragte dann weiter: ist das Glück der Sekunde unabdingbar – oder ist es bisweilen zu opfern für ein zeitlich umfänglicheres Glück? Er opferte die Sekunde – wandte sich aber schon scharf dagegen: daß dem Morgen der absolute Vorrang eingeräumt wird vor dem Heute. Dem hielt er die Warnung entgegen: »Wir sind einmal geboren; es gibt keine zweite Geburt. Wir werden nach unserem Tod nicht mehr existieren – in alle Ewigkeit nicht. Und doch achtet Ihr nicht auf das Einzige, was Ihr habt: diese Stunde, die ist. Als ob Ihr Macht hättet über den morgigen Tag! Unser Leben wird ruiniert, weil wir es immer aufschieben – zu leben. So sinken wir ins Grab, ohne unser Dasein recht gespürt zu haben.« Der römische Dichter Horaz preßte dies in die zwei berühmten Worte: Carpe diem, ›nutze den Tag‹!
Schließlich fragte er noch: ist Glück nur die Abwesenheit von Unglück? Und antwortete: »Seelenfrieden und Freisein von Beschwerden sind Lust in der Ruhe; Vergnügungen und Freude aber sind Erregungen, welche die Seele in Tätigkeit versetzen.« Es gibt also neben dem Freisein von Beschwerden, neben dem Seelen-Frieden, noch ein positives Glück. Glück ist nicht nur die Negation des Unglücks. Das unterscheidet die Epikuräer von allen, die Glück und Schmerzlosigkeit, Glück und Seelenfrieden gleichgesetzt haben.
Wieweit Epikur dieses von ihm so leidenschaftlich durchdachte Glücklichsein in seiner Problematik entfalten konnte, war abhängig von seiner geschichtlichen Erfahrung und den Denkmitteln, welche ihm seine Vorgänger im Denken (bis zu Aristoteles hin) überliefert hatten. Wie sein eigenes Glücklichsein aussah, war bestimmt von seinem Platz als bescheidener Athenischer Lehrer im winzigen Griechenland – zur Zeit, da es die kleine, wenn auch feine Provinz eines nicht sehr stabilen Imperiums wurde. Aber dieser Anfänger im Philosophieren und Glücklichsein ist noch nicht der erlauchte Ahn aller Epikuräer – bis zu diesem Tag.
Der ist weit mehr gewesen als ein glücklicher Pädagoge in einem Garten bei Athen; weit mehr als ein früher Psychologe, der die ersten Schritte machte in der Zergliederung des rätselhaften Phänomens ›Glück‹. Und er ist auch noch mehr gewesen – als der römische Poet Horaz mit seinem ›bene vivere‹ beschrieb.
Er ist die Verkündigung gewesen: es kommt alles darauf an, daß Du, Mensch, der Du heute und hier lebst, glücklich lebst. Du bist nicht da für einen Gott und seine Kirche und nicht für einen Staat und nicht für eine Aufgabe der großmächtigen Kultur. Du bist da, um Dein einziges, einmaliges Leben mit Glück zu füllen. Diese Entdeckung trägt den Namen Epikur.
Pflücke den Tag!
Ob dieser Winter der letzte, ob Zeus noch andre hinzufügt,
die das tyrrhenische Meer an wilden Felsen zerschellen;
erwart es und klär deinen Wein, auch passe die Hoffnung der Zeit an!
Noch während wir plaudern, entflieht die nur zu flüchtige Jugend;
pflücke den Tag, und traue nicht blind dem trügenden Morgen.
Folge deiner Natur
In welch tiefer Finsternis, in welch bösen Gefahren vergehen die kurzen Tage des Lebens! Dass ihr nicht seht, was die Natur verlangt, nicht mehr nämlich, als dass Schmerzen weit ferngehalten werden vom Leib und der Geist sich, von Sorge erlöst und Furcht, heiter fühle und gelassen!
Sehen wir doch, wie der Leib von Natur nur Weniges verlangt, das vor allem, was den Schmerz verbannt, und wie er uns viele Genüsse ausbreiten kann. Es müssen in festlichen Hallen nicht goldene Statuen, Jünglinge mit Fackeln in der Rechten, den Gästen beim nächtlichen Mahle leuchten, es muss im Haus kein Silber schimmern, kein Gold glänzen, der Klang der Lyra nicht widerhallen von goldverzierter Täfelung – wer seiner wahren Natur folgt, wird sich um sein Glück keineswegs betrogen fühlen. Sicher nicht, wenn er im Kreis der Freunde neben rinnendem Wasser im weichen Gras unter den Ästen hoher Bäume lagert, wenn die Freunde ohne großen Aufwand ihren Leib erfrischen können, wenn dazu noch die Sonne lacht, die Jahreszeit Blüten streut ins Grün des Grases. Fieber verlässt den Leib keineswegs schneller, wenn dieser nicht unter ärmlichen Decken, sondern in besticktes Brokatgewebe gehüllt auf Purpurpolstern gebettet krank daniederliegt.