Peter Michel • Charles W. Leadbeater
Peter Michel
Charles W. Leadbeater
Mit den Augen des Geistes
Die Biographie
eines großen Eingeweihten
Aquamarin Verlag
1. eBook-Auflage 2020
© Aquamarin Verlag GmbH
Voglherd 1 • D-85567 Grafing
Umschlaggestaltung: Annette Wagner
ISBN 978-3-96861-199-0
Inhalt
Einleitung
Das Leben
1. Die frühen Jahre
2. Helena P. Blavatsky und die Begegnung mit der Theosophie
3. Adyar und die Mahatmas
4. Unter Anklage
Die Vorwürfe
Die Gegner
Die Fallbeispiele
Die Gerichtsverfahren
Die Stellungnahme der Meister
Moral
5. Krishnamurti
6. Freimaurerei und Liberal-Katholische-Kirche Neue Wege in Australien
7. Die letzten Jahre
Das Werk
8. Hellsehen
Natur
Musik und Mantras
Nahrungsmittel und Drogen
Gedanken
Charakter
Karma
Okkulte Chemie
Leadbeaters Hellsichtigkeitaus der Sicht seiner Zeitgenossen
9. Unsichtbare Welten
10. Die höheren Körper des Menschen
11. Die Entwicklung des Lebens
12. Die Meister und der Pfad
13. Theosophie
Gott
Schöpfung
Ehrgeiz und Stolz
Vertrauen
Positives Denken
Selbstlosigkeit
Zeremonien
Pazifismus
Einheit
Liebe
14. Wirkungsgeschichte
Schlußwort
Bibliographie
I.Werke
II. Sekundärliteratur
Anmerkungen
An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen.
Einleitung
Es zählt zu den eigenartigen Phänomenen der modernen Geistesgeschichte, daß über die vier großen Gründergestalten der Theosophie - Helena P. Blavatsky, Henry S.Olcott, Annie Besant und Charles W. Leadbeater - zahlreiche ausführliche Biographien erschienen sind, teils wohlwollend, teils feindselig, nur nicht über Charles Webster Leadbeater. Die Zahl der biographischen Studien zu Helena P. Blavatsky und Annie Besant ist kaum noch überschaubar, allein zu Leadbeater gibt es, mehr als ein Dreiviertel Jahrhundert nach seinem Tod, nur eine einzige Biographie, Gregory Tilletts „The Elder Brother“1 sowie ein unbedeutendes kleines Heftchen von Hugh Shearman2, das schon seit einiger Zeit vergriffen ist. Dies verwundert um so mehr, als Charles W. Leadbeater die umstrittenste Figur der ganzen theosophischen Bewegung darstellt und, wie später zu zeigen sein wird, der bei weitem einflußreichste theosophische Autor war und am Beginn des dritten Jahrtausends immer noch ist.
Bedauerlicherweise ist dann die einzige Biographie, jene von Tillett, sowohl in ihrer veröffentlichten Form als auch in der erweiterten Fassung, als Dissertation an der Religionswissenschaftlichen Fakultät der Universität Sydney, von einer extremen Einseitigkeit und tendenziellen Vorurteilsverhaftung gekennzeichnet. Aus einer beeindruckenden und äußerst sorgfältig recherchierten Materialfülle wählte Tillett nur jene Passagen aus, die seinem Leadbeater-Bild entsprachen und seinen Theorien zur Untermauerung dienten. Auch Gespräche, wie etwa mit den Theosophinnen Dora Kunz oder Radha Burnier, nutzte Tillett nur insoweit, als sie der Tendenz seiner Arbeit förderlich waren, wie mir von den genannten Personen selbst bestätigt wurde. Hier stehen die sorgfältige wissenschaftliche Arbeitsweise und die einseitige Interpretation in einem merkwürdigen Widerspruch. Dies zeigt sich meines Erachtens auch darin, daß Tillett sich zwar seitenweise mit Leadbeaters möglichen moralischen Verfehlungen auseinandersetzt, aber nur ganz am Rande die zentralen Themen von Leadbeaters Philosophie, Theologie und Kosmologie streift, obwohl er selbst in seiner Dissertation eine fehlende Studie darüber bemängelt.3 Statt dessen kommt er am Schluß seiner Arbeit zu so abwegigen Behauptungen wie jener, Leadbeater „gliche Emmanuel Swedenborg“.4 Wer sich jemals die Mühe gemacht hat, die endlosen Bibelauslegungen und religiösen Schriften Swedenborgs zu untersuchen5, dem bleibt nur Verwunderung über das Heranziehen eines so gänzlich unhaltbaren Vergleiches.
Doch derartige Mißdeutungen und Fehlinterpretationen sind charakteristisch für Leadbeaters Schicksal - zu seinen Lebzeiten und in den Jahrzehnten danach. Studiert man einmal das kurze Kapitel über Leadbeater in der sonst sehr verdienstvollen dreibändigen Enzyklopädie Karl Fricks über die Geheimgesellschaften der Neuzeit, so muß man feststellen, daß praktisch sämtliche Angaben falsch sind, bis hin zu den Jahreszahlen.6
Es verdient in diesem Zusammenhang festgehalten zu werden, als interessantes Detail am Rande, wer sich besonders exponiert als „Leadbeater-Feind“ zu erkennen gab. Hierzu zählen besonders kirchliche Kreise, obwohl gerade Leadbeaters Werke über die verborgene Seite der Sakramente von diesen mit großem Interesse studiert wurden; des weiteren die magischen Orden und Zirkel, an der Spitze so prominente Namen wie Aleister Crowley und Dion Fortune. Aber auch unter den Gurus der jüngsten New Age-Welle lassen sich Leadbeater-Gegner ausmachen, so etwa bei Rajneesh (Bhagvan/Osho) und seinen Jüngern. Es wäre interessant, vor allem unter dem Gesichtspunkt von Freiheit und Eigenverantwortung, einmal eine vergleichende Studie zwischen Leadbeater und den genannten Gegnern zu erstellen.
Leadbeater selbst wäre solchen kritischen Entgegnungen gegenüber weitgehend gleichgültig geblieben, wobei er nicht seine „Innenwelt“ verheimlichen und vor Nachforschungen verbergen wollte, wie Tillett in seinem Buch vermutet7, sondern eher weil er, wie Tillett in seiner Dissertation richtig beobachtet, völlig in der Zurückgezogenheit seiner geistigen Forschungen aufging.8 Die Außenwelt war für Leadbeater von zweitrangiger Bedeutung, weshalb es ihm auch immer schwerfiel, das politische Engagement von seiner engsten Weggefährtin, der Präsidentin der Theosophischen Gesellschaft, Annie Besant, zu verstehen. Das „innere Leben“ stellte für Leadbeater das eigentliche Leben dar, und dessen Erforschung hatte er sich ganz verschrieben.
Leadbeaters Zurückgezogenheit und Konzentration auf die Innenwelten führte allerdings nie dazu, den Kontakt mit den Menschen, vor allem mit seinen Schülerinnen und Schülern, zu verlieren. Die Erziehung junger Menschen gemäß seiner theosophischen Ideale blieb ihm stets ein Herzensanliegen, und die Zahl jener, die das Andenken des verehrten Lehrers ein Leben lang in Ehren hielten, übersteigt bei weitem die Anzahl jener, die sich später von der Theosophie abwandten. Wenn Tillett daher im Einführungskapitel seines Buches behauptet: „Von seinen engsten Schülern blieb ihm nur einer eng verbunden und setzte die Arbeit in der Theosophischen Bewegungfort“9, so entspricht das in keiner Weise der Wirklichkeit. Allein zwei spätere Präsidenten zählten zu seinen engsten Schülern und Freunden - Jinarajadasa und Sri Ram, dazu die spätere langjährige Präsidentin der amerikanischen Theosophischen Gesellschaft, Dora Kunz, nicht zu reden von ihrem Mann Fritz Kunz, der über viele Jahre einer der engsten Begleiter Leadbeaters war, und dessen Einfluß auf die moderne religiöse Bewegung, als Herausgeber von „Main Currents in Modern Thought“, gar nicht hoch genug veranschlagt werden darf. Hinzu kommen etliche prominente theosophische Autoren, die sich selbst als Schüler Leadbeaters bezeichneten, ohne immer unmittelbar in seiner Nähe gelebt zu haben, allen voran Geoffrey Hodson, einer der einflußreichsten Autoren der Post-Leadbeater-Ära, der seine Arbeit ganz im Sinne der Leadbeaterschen Theosophie verstand. Sie alle, sowie eine große Zahl nicht genannter Theosophen und mit der Theosophie Sympathisierende, trugen Leadbeaters Gedanken in die Welt und leisteten so ihren Beitrag, um ihn zu einem der einflußreichsten Wegbereiter der modernen spirituellen Bewegung werden zu lassen.
Besonders bemerkenswert erscheint es mir in diesem Zusammenhang, daß sich alle seine bedeutenden Schüler zu unabhängigen, kritischen und eigenständigen Persönlichkeiten entwickelten, die auch keineswegs dazu neigten, Leadbeater als Person zu glorifizieren. Stellvertretend für viele sei hier aus einem Brief des späteren Präsidenten der Theosophischen Gesellschaft, Sri Ram, vom Juli 1948 zitiert.
„Ich vertrete nicht die Ansicht, daß Leadbeater in allen seinen Beobachtungen unfehlbar war, wie ich dies auch für keine andere führende Persönlichkeit der Theosophie gelten lassen würde, unsere verehrte Gründerin Helena P. Blavatsky eingeschlossen. Wenn es sich zeigen sollte, daß er sich in der einen oder anderen Beobachtung geirrt haben sollte, würde das meinVertrauen in ihn nicht erschüttern; denn der Fehler ließe sich vielleicht durch eine momentane Erschöpfung oder ähnliche Umstände erklären. Aber die Schönheit, der innere Wert, die geistige Weisheit und Orientierungshilfe sowie die innere Schlüssigkeit seines Werkes sind so überzeugend und drücken so tief sein Wesen und seinen Charakter aus, daß die Kritik daran nicht ihren inneren Kern berührt. Es kommt mir vor, als wollte man die Schönheit eines bewunderten Bauwerkes dadurch schmälern, indem man auf den Boden schlägt, auf dem es errichtet ist. Die Schläge mögen eine gewisse Erschütterung auslösen, doch das Bauwerk bleibt in seiner Majestät davon unberührt.“10
Die Intention der nachfolgenden Biographie soll es sein, neben einem Überblick über Leadbeaters außergewöhnliches Leben, vor allem seinem epochalen Werk Gerechtigkeit angedeihen zu lassen. Ganze Generationen von sogenannten ‘Esoterikern’ stehen, teilweise sogar unwissentlich, auf seinen Schultern. Seine hellsichtigen Forschungen über unsichtbare Welten, die menschliche Aura, die Chakras oder die Meister der Weisheit beeinflußten die gesamte neuzeitliche spirituelle Bewegung und formten ein neues Welt- und Menschenbild.
Wenn daher heute manche Autoren aus einem pseudo-intellektuellen linken politischen Spektrum meinen, sie könnten Leadbeater oder andere theosophische Autoren in eine pränationalsozialistische oder rassistische Ecke stellen, nur weil sie, Jahrzehnte vor dem Dritten Reich, das Wort „Rasse“ verwandten, dann muß diesen Personen entgegnet werden, daß sie zuerst einmal die menschliche Güte dieses Mannes verstehen müssen, um sich seinen Gedanken in angemessener Form zu nähern.
Dieser Versuch soll im folgenden unternommen werden, wobei ich mich von der Mahnung des bedeutenden Steiner-Biographen Christoph Lindenberg leiten lassen möchte, der in seinem Vorwort den Biographen mahnt: „Der Biograph und der Geschichtsschreiber haben, so wie ich ihre Aufgabe verstehe, nicht eines Richteramtes zu walten, sondern zu verstehen und geistig zu beschreiben. Das heißt freilich nicht, daß sie sich jeglichen Urteils zu enthalten haben, aber dort, wo sie ihr Urteil zum Ausdruck bringen, sollte das der Leser bemerken können und das Urteil nicht mit dem Sachverhalt verwechseln.“11
Das Leben
1.
Die frühen Jahre
Am 17. Februar 1600 wurde Giordano Bruno in Rom verbrannt; und am 17. Februar 1907 starb Henry S. Olcott, einer der beiden Gründer der Theosophischen Gesellschaft. Da Annie Besant als Reinkarnation Giordano Brunos angesehen wurde, war dieser 17. Februar in theosophischen Kreisen ein markantes Datum.
Jenen Tag nun, den 17. Februar 1847, gab Charles Webster Leadbeater über viele Jahre als seinen Geburtstag an. Er wurde in zahlreichen Artikeln und Veröffentlichungen erwähnt und stand auch in Leadbeaters Paß.
Nach dem heutigen Stand der Forschung ist allerdings davon auszugehen, daß Leadbeater nicht im Jahre 1847, sondern erst am 16. Februar 1854 in Stockport geboren wurde. Sein Vater gab in der Geburtsurkunde „Buchhalter“ an. Er hatte Charles Mutter Emma, eine gebürtige Morgan, am 26. Mai 1853 in Lancaster geheiratet.12 Dieser von Tillett ermittelte Sachverhalt wurde auch durch eine neue Überprüfung seitens des englischen „Einwohnermeldeamtes“ (National Statistics) vom 20.10.1997 bestätigt. Selbst eine äußerst genaue Überprüfung der Daten brachte keinen am 17.2.1847 geborenen Leadbeater zu Tage.
Dies muß noch keine endgültige Antwort auf die Frage nach Leadbeaters Geburtsdatum sein, denn das Paßwesen in der Mitte des vorigen Jahrhunderts war sicher lückenhaft; doch muß bis zur Widerlegung der bisherigen Fakten davon ausgegangen werden, daß Charles Webster Leadbeater am 16. Februar 1854 das Licht der Welt erblickte.
Das veränderte Geburtsdatum ist für die weiteren Angaben Leadbeaters über seine frühen Lebensjahre von Bedeutung. Sollte er in der Tat erst 1854 geboren worden sein, konnte er wohl schwerlich als kleiner Junge dem Meister Morya im Jahre 1851 in London begegnet sein, wie er selbst in „Die Meister und der Pfad“ berichtet.13
Ungeklärt ist auch bis heute die von Leadbeater behauptete Reise nach Brasilien, wobei Joseph E. Ross in seinem sorgfältigen Bericht über die Theosophie in Kalifornien am Anfang dieses Jahrhunderts die Zeitangaben Leadbeaters schon korrigiert. Er geht vom korrekten Geburtsdatum (1854) aus und sieht die Familie 1867 nach Brasilien reisen, ohne allerdings dafür Quellenmaterial zu nennen.14
Dies ist insofern unwahrscheinlich, als Leadbeaters Vater 1862 in London an Tuberkulose starb. Auch der Bruder Leadbeaters, Gerald, der später als C.Jinarajadasa reinkarniert und von Leadbeater in Ceylon wiedergefunden wird, läßt sich in britischen und südamerikanischen Quellen nicht auffinden.
Solange nicht neues Quellenmaterial auftaucht, das Hinweise auf eine tatsächlich stattgefundene Reise der Leadbeaters nach Brasilien liefert, wird die Zeit zwischen 1860 und 1878 im Dunkeln bleiben. Weder die Frage der südamerikanischen Ereignisse, die in der dramatischen Ermordung von Leadbeaters Bruder Gerald gipfelten, noch die Zeit der frühen siebziger Jahre, vor Leadbeaters Eintritt in die Anglikanische Kirche, lassen sich aus dem Nebel der Vergangenheit ans klare Licht neuzeitlicher Geschichtsschreibung ziehen.
Waren es Geschichten, die Leadbeaters ausgeprägter Phantasie entsprangen, oder sind wichtige Dokumente und Aufzeichnungen verlorengegangen beziehungsweise wurden noch nicht gefunden, die einmal die Richtigkeit seiner Angaben bestätigen können? Fragen, die vielleicht nie eine endgültige Antwort finden werden.
Am 21.12.1878 wird Charles W. Leadbeater in der St.Andrews Kirche in Farnham zum Diakon geweiht. Gemäß den vorliegenden Dokumenten besaß Leadbeater damals keinen Universitätsabschluß, sondern nur ein Diplom als „Literate“, was eine Art externen Abschluß bezeichnet. Da sein Onkel über großen Einfluß in Kirchenkreisen verfügte, öffnete dieser ihm möglicherweise Türen (oder Kirchenportale), die ihm sonst verschlossen geblieben wären.15 Ein Jahr später wurde Leadbeater dann von Bischof Brown zum Priester geweiht. Von da an schien seine Karriere in der Kirche von England vorgezeichnet zu sein.
Doch Leadbeater war kein Kirchenmann der orthodoxen Glaubensrichtung. Er hatte schon als Kind ungewöhnliche Träume, die sich später als Bilder aus einem früheren Leben herausstellen sollten; und er zeigte ein ausgeprägtes Interesse an der damals stark aufkommenden spiritualistischen Bewegung. Das berühmte Medium D.D. Home beherrschte in jenen Jahren die Schlagzeilen und weckte auch Leadbeaters Interesse.
In diesem Zusammenhang muß ein Hinweise von Arthur H. Nethercot aufgegriffen werden, der bisher anscheinend völlig unbeachtet geblieben ist. Nethercot erwähnt im ersten Band seinen zweibändigen Biographie über Annie Besant einen Artikel im „Secular Chronicle“ vom 1. Juni 1873, in dem von einem gewissen J. Leadbeater die Rede ist, der den Vorsitz eines Komitees zum Studium des Spiritualismus führte, anläßlich einer Diskussion zwischen dem Freidenker Reddalls und J. Burns, dem Herausgeber von „Medium and Daybreak“.16 Sollte es sich in der Tat nur um eine Verwechslung des Vornamens handeln, würde diese historisch verbürgte Quelle ein völlig neues Licht auf Leadbeaters eigene Zahlenangaben werfen. Es ist kaum anzunehmen, daß in der englischen Gesellschaft des späten 19.Jahrhunderts ein Neunzehnjähriger ein Komitee zum Studium der spiritualistischen Phänomene geleitet haben könnte. Entweder war Leadbeater zu diesem Zeitpunkt bereits sechsundzwanzig, dann ergäbe die Geschichte Sinn, oder es gab zumindest zwei Männer gleichen Namens mit den gleichen Interessen - was noch einmal alle Fragen der Forschung nach den frühen Jahren Leadbeaters neu aufwerfen würde.
Der denkwürdige Artikel des „Secular Chronicle“ sollte zumindest eines bewirken - eine größere Behutsamkeit in der Bewertung von Leadbeaters Angaben über seinen frühen Lebenslauf.
Wenn Tillett von Leadbeaters „Lügen“ über seine ersten zwanzig oder dreißig Lebensjahre spricht17, dann urteilt er möglicherweise vorschnell. Auch der Vorwurf, sich gesellschaftlich im nachhinein einen höheren Status verschafft haben zu wollen, verblaßt angesichts des bescheidenen Auftretens von Leadbeater, etwa in der Darstellung von A.J. Hamerster, der im „Round Table Annual“ 1932 eine erste biographische Skizze verfaßt hatte, die aber eher einer Heiligenlegende glich. Leadbeater selbst wies etliche der darin erhobenen Behauptungen als überzogen zurück und bezeichnete sich nur als „Sucher“ nach der Wahrheit.18
Es scheint Tillett auch entgangen zu sein, wenn wir an dieser Stelle einmal annehmen wollen, daß Leadbeater in der Tat erst 1854 geboren wurde, daß nicht selten falsche Geburtsdaten oder Zahlenangaben von noch lebenden Persönlichkeiten nicht korrigiert wurden. Der bedeutende theosophische Schriftsteller I.K. Taimni erwähnte Radha Burnier, der Präsidentin der Theosophischen Gesellschaft, gegenüber einmal auf die Frage, warum er einige Irrtümer in einem Buch über sein Leben nicht korrigierte, ganz unverblümt: „Wen wird so etwas später einmal interessieren?“
Der große Kulturphilosoph Jean Gebser verfaßte selbst mehrere „Biographien“, die nach seinem Tode seinen Biographen zahlreiche Rätsel aufgaben, was darin Wahrheit und was Dichtung war. Er mochte seine inneren Gründe für sein Verhalten gehabt haben, und niemand kam deswegen auf die Idee, die Größe und Wahrhaftigkeit seines Werkes in Abrede zu stellen.
Auch einer der einflußreichsten Lyriker deutscher Sprache, Paul Celan, erfand eine ältere Schwester, berichtete von ihren Abenteuern im spanischen Bürgerkrieg und mußte sich später fragen lassen, was denn aus ihr geworden sei.19 Der Grund für dieses Verhalten liegt bis heute im Dunklen; aber niemand käme auf die Idee, deshalb die Integrität Celans und die Größe seiner Dichtung anzuzweifeln.
Diese Querverweise sollen keine Antwort auf das Rätsel der frühen Jahre von Charles Webster Leadbeater darstellen, sie sollen nur das Nicht-Einmalige eines solchen Verhaltens belegen.
Vielleicht wollte Leadbeater aus einer „romantischen Neigung“ heraus die Verbindung zu Giordano Bruno oder Olcott herstellen; vielleicht wollte er auch seine Verbundenheit mit Annie Besant zum Ausdruck bringen, die auch 1847 geboren wurde. Wir werden es wohl nicht mehr entschlüsseln. Vielleicht aber wird eine spätere Generation die Richtigkeit seiner Angaben bestätigen.
2.
Helena P. Blavatsky und die Begegnung mit der Theosophie
Die Beschäftigung mit dem Spiritualismus, für einen Kleriker der anglikanischen Hochkirche allein schon ein bemerkenswertes Phänomen, stellte eine gute Vorbereitung für Leadbeaters erste Begegnung mit dem theosophischen Gedankengut dar.
Anfang 1883 fiel Leadbeater Sinnetts Buch „Die okkulte Welt“ in die Hand, das er mit großem Interesse las. Es löste den Wunsch in ihm aus, der am Ende des Buches erwähnten Theosophischen Gesellschaft beizutreten. Es gelang ihm kurze Zeit später, über die damalige Präsidentin der englischen Gesellschaft, Dr. Anna Kingsford, in Kontakt mit Alfred P. Sinnett zu treten. Dieser gab ihm allerdings zu verstehen, er könne sich kaum einen Vertreter der Anglikanischen Kirche als Mitglied der Theosophischen Gesellschaft vorstellen.20 Schon bald allerdings sollte das neue Mitglied ständiger Gast im Hause Sinnett sein und vertiefte Einblicke in die theosophische Literatur und Weltanschauung gewinnen.21 Auch Francesca Arundale, die in späteren Jahren eine prominente Rolle innerhalb der Theosophischen Gesellschaft spielte, zählte den „Reverend Leadbeater“ zu ihren Gästen, und es wäre nicht verwunderlich, wenn H.P. Blavatsky zumindest an einigen Abenden diesen Treffen beigewohnt hätte.22
Formell wurde Leadbeater am 20.11.1883 Mitglied der Theosophischen Gesellschaft, wobei Jinarajadasa dieses Datum nur als Ausstellungsdatum des Ausweises sieht und Leadbeater schon 1882 zur Theosophischen Gesellschaft rechnet.23 Zur gleichen Zeit mit Leadbeater wurde der berühmte Naturwissenschaftler William Crookes in die Gesellschaft aufgenommen, was deren Ansehen in England erheblich steigerte.
Der Kontakt zur Theosophischen Gesellschaft, die Bekanntschaft mit ihren führenden Mitgliedern in England und das Studium theosophischer Werke machte Leadbeater mit einer ganz besonderen Gruppe von Menschen bekannt - den Meistern der Weisheit. Vom ersten Augenblick an muß Leadbeater davon überzeugt gewesen sein, daß die fortgeschrittensten Individuen der Menschheitsevolution nicht in dem von seiner Kirche verkündeten Himmel auf den Jüngsten Tag warteten, sondern in einer geistigen Welt aktiv die Weiterentwicklung der Menschheit leiteten.
Aufgrund seiner Verbindung mit einem der bedeutendsten Medien seiner Zeit, William Eglington, versuchte er, über diesen mit den Meistern in Kontakt zu treten. Am 3.März 1884 verfaßte er einen Brief an die Meister, übersandte ihn versiegelt in einem zweiten Umschlag an Eglington, der ihn über eine Art „okkulten Briefkasten“ seinem Geistführer „Ernest“ anvertrauen sollte.
Einige Tage später erhielt er den Umschlag zurück, der Name „Ernest“ war ausgestrichen und sein Name an die Stelle gesetzt. Der Brief war, so ergab eine eingehende Untersuchung, ungeöffnet; doch beim Aufschneiden des Umschlags stellte Leadbeater fest, daß der Brief an den Meister Kut Humi verschwunden war.24 Es sollte fast ein halbes Jahr vergehen, ehe eine kaum noch erwartete Antwort eintraf.
Leadbeater war am 30.10.1884 nach London gefahren, um sich von H.P. Blavatsky zu verabschieden, die zwei Tage später nach Indien zurückreisen wollte. Durch sie erhielt er die Mitteilung, sein Brief würde nicht unbeantwortet bleiben.
Am nächsten Morgen kehrte er nach Liphook zurück, der Bahnstation, an der seine Gemeinde lag. Dort fand er den nachstehenden Brief vor: „Vergangenes Frühjahr, am 3.März, schriebst Du einen Brief an mich und vertrautest ihn „Ernest“ an. Obwohl der Brief selbst mich nie erreichte, was angesichts der Natur des Überbringers auch höchst unwahrscheinlich war, empfing ich doch seine Botschaft. Ich beantwortete ihn damals nicht, sandte Dir aber eine Warnung durch Upasika (Blavatsky).
In Deinem Brief schriebst Du, daß es, nach der Lektüre von „Der Esoterische Buddhismus“ und „Isis Entschleiert“, Dein „großer Wunsch sei, als mein Chela (Schüler) angenommen zu werden und mehr über die Wahrheit zu lernen“. Nach Aussagen von Mr. Sinnett nahmst Du an, daß es „praktisch unmöglich sei, ein Chela zu werden, ohne nach Indien zu gehen“. Deine Hoffnung war es, dies in ein paar Jahren zu verwirklichen, da Du gegenwärtig durch zu viele Verpflichtungen gebunden seist, in England zu bleiben. Etc.
Ich möchte dazu und zu Deinen weiteren Fragen folgende Antworten geben.
1) Es ist nicht notwendig, für die siebenjährige Probezeit nach Indien zu kommen. Ein Chela kann sie überall absolvieren.
2) Jemanden als Chela anzunehmen, hängt nicht allein von meinem persönlichen Willen ab. Es ist ausschließlich das Ergebnis der Verdienste und Bemühungen des einzelnen in diese Richtung.
Zwinge einen der Meister, den Du wählen magst, indem Du gute Werke in seinem Namen vollbringst und aus Liebe zur Menschheit… vergiß Dein Selbst und denke nur an das Gute für andere Menschen - und so wirst Du den Meister zwingen, Dich als Schüler anzunehmen. ….
Die Stufe des Chelas hat sowohl eine pädagogische als auch eine prüfende Stufe, und der Chela allein bestimmt, ob sie in die Meisterschaft oder einen Fehlschlag einmündet. Chelas, die das ganze System mißverstehen, warten manchmal nur auf unsere Anweisungen und verschwenden so wertvolle Zeit, die für eigene Bemühungen genutzt werden sollte. Unsere Sache braucht Pioniere, hingebungsvolle Werkzeuge, vielleicht sogar Märtyrer. Aber sie kann dies von niemandem fordern. So wähle jetzt und suche Dir Dein Schicksal; und möge das Gedenken an unseren Herrn Tathagata (Buddha) Dich inspirieren, die allein richtige Entscheidung zu treffen.“25
Leadbeater reagierte unverzüglich und entschlossen. Er verfaßte einen Antwortbrief an den Meister K.H., steckte ihn ein und nahm den nächsten Zug zurück nach London.
Es kostete ihn einige Überredungskünste, um H.P. Blavatsky dazu zu bringen, den an ihn gerichteten Brief zu lesen. Schließlich bat er sie, dem Meister seine Antwort zu übermitteln; doch Frau Blavatsky erwiderte ihm nur, jener würde sie bereits kennen. Dann forderte sie ihn auf, an ihrer Seite zu bleiben und die Wohnung nicht zu verlassen.
H.P. Blavatsky saß kurz darauf in ihrem Lehnstuhl vor dem Kamin, als sie plötzlich ihre rechte Hand blitzschnell zum Feuer ausstreckte, die Handfläche nach oben gedreht. „Sie schaute überrascht auf ihre Hand, genau wie auch ich, der direkt neben ihr stand, den Ellbogen auf den Kaminsims gestützt. Die wenigen anderen Anwesenden sahen dann auch ganz deutlich, wie eine Art weißer Nebel sich in ihrer Handfläche bildete und sich schließlich zu einem Stück gefalteten Papier formte. Sie übergab es mir und sagte: „Hier ist Ihre Antwort.“ Alle umringten mich natürlich, aber sie sandte mich hinaus und sagte mir, ich solle niemanden den Inhalt wissen lassen.“26
Der Inhalt des Briefes lautete:
„Da Deine Intuition Dich in die richtige Richtung geführt hat und Du erkannt hast, daß es mein Wunsch war, daß Du sofort nach Adyar kommen sollst, kann ich mehr sagen. Je eher Du fährst, desto besser. Verliere möglichst keinen weiteren Tag mehr, wenn Du es vermeiden kannst. Nimm das Schiff am 5., falls es Dir möglich ist. Triff Upasika in Alexandria. Lasse niemanden wissen, daß Du fährst, möge der Segen unseres Herren mit Dir sein und möge mein bescheidener Schutz Dich vor allem Übel in Deinem neuen Leben bewahren.
Ich grüße Dich, mein neuer Chela.
K.H.
Zeige niemandem diese Nachricht.“27
Diese unmißverständliche Aufforderung, nach Indien zu kommen, als „Chela“ (persönlicher Schüler) des Meisters, stellte Leadbeater vor eine weitreichende Gewissensentscheidung. Würde er dem Ruf Folge leisten, bedeutete dies, alle Brücken hinter sich abzubrechen.
Tillett, der den objektiven Sachverhalt korrekt wiedergibt, übersieht nahezu vollständig die immense psychologische Spannung, unter der Leadbeater gelitten haben muß, als er die wenigen Zeilen des Meisters las. Leadbeater fühlte sich seiner Familie, vor allem seinem Onkel, verbunden; er liebte seine Gemeinde und seine Schüler, was der Brief von James W. Matley bezeugt, den Leadbeater als einen der wenigen von seiner Abreise in Kenntnis setzte.28 Zudem würde er sich weitgehend mittellos in ein Abenteuer mit unbekanntem Ausgang stürzen.
Leadbeater traf eine Entscheidung, die sein gesamtes weiteres Leben bestimmen sollte und die er nie widerrief - er vertraute seinem Meister!
Er ordnete, tagelang fast ohne Schlaf, alle seine Angelegenheiten; buchte mit großer Mühe eine Überfahrt nach Alexandria und verließ am Abend des 4.Novembers 1884 England. Nach stürmischer Kanalüberquerung erreichte er am 5.November morgens Paris, reiste von dort nach Marseille und bestieg das Schiff nach Alexandria. Als er dort eintraf, war H.P. Blavatsky allerdings schon nach Port Said weitergereist. Zu allem Überfluß steckte man ihn noch für fünf Tage in Quarantäne, was zu einer unerträglichen nervlichen Anspannung geführt haben muß, möglicherweise H.P. Blavatsky - und damit seine Lebensaufgabe - zu verpassen. Er gelangte dann doch noch rechtzeitig nach Port Said, wo ihn Frau Blavatsky mit den anerkennenden Worten begrüßte: „Gut, Leadbeater, trotz aller Schwierigkeiten sind Sie tatsächlich gekommen.“29
Noch ermutigender dürfte für ihn eine kurze Nachricht seines Meisters gewesen sein, die ihn während einer Zugfahrt von Ismailia nach Kairo über H.P.Blavatsky erreichte: „Sage Leadbeater, daß ich mit seiner Begeisterung und Hingabe zufrieden bin.“30
31