Gespenster

Über Dolly Alderton

Foto: © Alexandra Cameron

Dolly Alderton ist eine preisgekrönte Bestsellerautorin, Journalistin und Podcasterin. The High Low hat Millionen Hörerinnen und steht regelmäßig auf Platz eins der Charts. Dolly Alderton ist Starkolumnistin der Sunday Times und tritt als Jurorin und Speakerin zu Themen aus Popkultur, Literatur, Film und Musik auf. Sie ist, kurz ge­sagt, die Stimme ihrer Generation.

 

Die Übersetzerin

Eva Bonné ist studierte Amerikanistin und übersetzt Literatur aus dem Englischen, unter anderem von Rachel Cusk, Anne Enright und Michael Cunningham. Über Gespenster sagt sie, sie habe »selten so viel gelacht beim Übersetzen« und sei »immer wieder in die Rolle der entzückten Leserin gerutscht.«

Am Tag meiner Geburt, dem 3. August 1986, war »The Edge of Heaven« von Wham! auf Platz eins der Charts. Seit ich denken kann, ist es eine jährlich wiederkehrende Tradition, das Lied an diesem Tag sofort nach dem Aufwachen und möglichst laut zu hören. Wenn ich an die Geburtstage meiner Kindheit zurückdenke, habe ich sofort George Michaels trotziges »yeah, yeah, yeah« im Ohr: Ich hopse im Pyjama durch das Bett meiner Eltern, zum Frühstück gibt es Toast mit Zuckerstreuseln. Das Lied erklärt auch meinen zweiten Vornamen: Nina George Dean. Als Teenie fand ich ihn unendlich peinlich. Mit den flachen Brüsten und dem markanten Kinn wirkte ich auch so schon männlich genug, es wäre gar nicht nötig gewesen, mich nach einem alternden Popstar zu benennen. Doch das, was wir in der Kindheit als beschämende Abweichung von der Norm empfinden, trägt im Erwachsenenalter nicht selten zu einem interessanten und bunten Lebenslauf bei. Der ungewöhnliche zweite Vorname, das am Geburtstagsmorgen dick mit Margarine bestrichene und in Hunderte, Tausende Streusel getunkte Toastbrot – all das hatte sich zu meinem persönlichen und einzigartigen Gründungsmythos zusammengefügt. Eines Tages würde ich ebenso stolz wie verwundert im Radio darüber reden, und die Leute würden gebannt zuhören. Beschämendes Außenseitertum + Zeit = fesselnde Exzentrik.

An meinem zweiunddreißigsten Geburtstagsmorgen am 3. August 2018 putzte ich mir die Zähne und wusch mir das

Ich griff zum Handy. Meine Eltern hatten mir ein lachendes Selfie geschickt und wünschten mir alles Gute zum Geburtstag. Meine beste Freundin Katherine hatte ihre kleine Tochter Olive gefilmt, wie sie »Happy Birthday, Tante Niino« sang (sie konnte meinen Namen immer noch nicht richtig aussprechen, obwohl ich es oft mit ihr geübt hatte). Von meiner Freundin Meera bekam ich das GIF einer langhaarigen, sehr teuer aussehenden Katze mit Martini in der Pfote. Die Nachricht darunter lautete: »KANN DEINE PARTY HEUTE ABEND GAR NICHT ERWARTEN, GEBURTSTAGSKIND!!!!!«, was bedeutete, dass sie auf jeden Fall vor elf im Bett liegen würde. So läuft das immer, wenn junge Mütter sich zu sehr auf einen freien Abend freuen – sie verausgaben sich durch hohe Erwartungen, ziehen mit einem zum Scheitern verurteilten Amüsierwillen los, bekommen Lampenfieber und gehen am Ende nach zwei Bier heim.

Ich lief nach Hampstead Heath, um ein bisschen im Ladies’ Pond zu schwimmen. Nach der dritten Runde setzte ein unaufdringlich leichter Sommerregen ein. Ich liebe es, bei Regen zu schwimmen, und ich wäre noch viel länger im Wasser geblieben, hätte die matronenhafte Bademeisterin mich nicht

Nachmittags war ich wieder zu Hause in meiner neuen – und ersten eigenen – Wohnung, einem kleinen Zweizimmerapartment im ersten Stock einer viktorianischen Villa in Archway. Die Maklerin hatte die Immobilie generös als »gemütlich, individualistisch und renovierungsbedürftig« beschrieben. Der Teppich hatte die Farbe von Instantkaffeekörnchen und fühlte sich auch genau so an, im apricot gekachelten Bad gab es ein stillgelegtes Bidet, und in der Kiefernholzküche waren zwei Schranktüren kaputt. Ich war überzeugt, dass ich für die Modernisierung bis an mein Lebensende würde arbeiten müssen, aber wenn ich morgens die Augen aufschlug und die verkrusteten Putzwirbel unter der Decke sah, war ich jedes Mal überglücklich. Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal eine Immobilie in London besitzen würde, und dass der Wunschtraum sich erfüllt hatte, machte sie zur schönsten Wohnung aller Zeiten.

Ich hatte zwei Nachbarn. Über mir wohnte eine ältere Witwe namens Alma, deren Treppenhausgeplauder über erfolgreiche Tomatenzucht auf dem Fensterbrett ebenso reizend war wie ihre großzügigen Spenden von selbstgemachten Kibbeh. Im Erdgeschoss lebte ein Mann, dem ich noch nie begegnet war, obwohl ich nun seit Monaten hier wohnte und mehr als einmal versucht hatte, mich vorzustellen. Ich ging runter und klopfte an, aber nichts passierte. Alma sagte, auch sie habe noch nie mit ihm gesprochen, allerdings habe sie sich einmal mit seiner Mitbewohnerin über die Stromzähler im Haus unterhalten. Ich hörte ihn immer nur – er kam abends um sechs von der Arbeit

Für die Anzahlung hatte ich mein Erspartes zusammengekratzt, außerdem bekam ich Tantiemen für mein erstes Kochbuch Taste und hatte für das zweite, The Tiny Kitchen, einen Vorschuss erhalten. Taste war eine Sammlung von Rezepten, zu denen mich die Essensgewohnheiten meiner Familie, meine Freundschaften, meine einzige Langzeitbeziehung, meine Reisen und meine Lieblingsköche inspiriert hatten. Zwischen den Rezepten erzählte ich abschnittweise meine Lebensgeschichte. Die Grundaussage war, dass ich mich über meine kulinarischen Vorlieben selbst kennengelernt hatte. Erst auf diesem Umweg hatte ich erfahren, was ich im Leben wollte und brauchte. In Taste schilderte ich, wie ich mein Hobby – private Koch-Events an Abenden und Wochenenden – und meinen Job als Englischlehrerin unter einen Hut gebracht und dann eines Tages genug gespart hatte, um mich als Food-Journalistin selbstständig zu machen. Es ging darin auch um die Beziehung mit Joe, meinem ersten und einzigen Freund, und um unsere einvernehmliche Trennung. Er hatte nichts dagegen gehabt, dass ich über ihn schreibe. Das Buch wurde ein Überraschungserfolg und handelte mir eine eigene Kolumne in einer Zeitungsbeilage ein, dazu noch ein paar Werbedeals mit Lebensmittelherstellern (schlecht fürs Seelenheil, aber sehr gut für mein Bankkonto) und einen zweiten Buchvertrag.

The Tiny Kitchen war gerade fertig geworden. Das Buch handelte von der Zeit, als ich nach der Trennung von Joe in ein Einzimmerapartment ohne Vorratskammer gezogen war, und davon, wie es sich dort gekocht hatte. Der Herd war so klein wie ein Spielzeug gewesen und hatte nur eine einzige Kochplatte gehabt. In Gedanken war ich schon bei meinem dritten Buch, für das ich noch einen Titel suchte. Es würde vom Kochen und Essen nach Jahreszeiten handeln und befand sich noch in der

Ich ließ mir eine Wanne ein und schmiss eine alte, heißgeliebte iTunes-Playlist an, die ich in meinen Zwanzigern oft gehört hatte. Ursprünglich hatte sie »Auf in den Kampf« geheißen, aber vor ein paar Jahren hatte ich sie in »Gute alte Zeit« umbenannt, um meine Entwicklung weg von körperlicher Enthemmung hin zum achtsamen und wohlüberlegten Vergnügen zu dokumentieren. Ich hatte sie in meinem ersten Jahr an der Uni zusammengestellt und regelmäßig gehört, wenn ich mich abends fertig machte. Die Lieder begleiteten eins nach dem anderen mein Ritual der Verweiblichung, wie ich es seit fünfzehn Jahren befolgte: Haare waschen und kopfüber trocken föhnen, um einen Volumenzugewinn von mindestens zehn Prozent zu erzielen; Oberlippe enthaaren; zwei Schichten Mascara auftragen; einen zweiten Drink zu sich nehmen; zwei Spritzer Parfum in die Luft geben und durch die Wolke schreiten. Wenn das vorletzte Stück lief (»Nuthin’ but a ›G‹ Thang«), stand das Taxi schon vor der Tür, während ich mir über der Küchenspüle die Waden mit einer Einwegklinge zerschnitt, weil ich vergessen hatte, sie unter der Dusche zu rasieren.

Inzwischen waren meine Haare wieder naturbraun und schulterlang. Vor einiger Zeit hatte ich mir einen Pony schneiden lassen, um die ersten Fältchen an meiner Stirn zu verdecken. Sie waren hauchzart wie bei zerknitterten Taschentüchern, aber in meinen Augen sichtbar genug, um versteckt zu werden. Mit dem Make-up musste ich mich glücklicherweise nicht lange aufhalten; im Grunde hatte es nie zu meinem Gesicht gepasst. Ich war glücklich darüber, schließlich kostete mich das Föhnen und Rasieren schon genug Zeit und verursachte mir darüber hinaus Schuldgefühle, weil ich es irgendwie unemanzipiert fand, genau wie mein totales Desinteresse

Zu meiner Geburtstagsparty trug ich ein hochgeschlossenes schwarzes Kleid mit tiefem Rückenausschnitt. Ich verzichtete auf den BH, allein um damit anzugeben, dass ich keinen brauchte, was aber nur ein schwacher Trost dafür war, so kleine Brüste zu haben. Inzwischen machte mir das allerdings nichts mehr aus, meinem Körper gegenüber war ich mehr oder weniger gleichgültig geworden. Ich benötigte eine ärgerliche Kleidergröße L bei einer Größe von einem Meter dreiundsechzig. Ich war froh, dass dicke Hintern wieder in Mode waren, und hatte nicht ohne Stolz ermittelt, dass sie auf den gängigen Pornoseiten mindestens zwei eigene Unterkategorien besetzt hielten.

In diesem Jahr hatte ich gewisse Leute absichtlich nicht eingeladen, vor allem meinen Exfreund Joe nicht. Ich hätte mir gewünscht, dass er dabei wäre, aber in dem Fall hätte ich auch seine Freundin Lucy einladen müssen. Lucy war harmlos, sah man von der Tatsache ab, dass sie eine Handtasche in der Form eines Stiletto besaß. Aber sie litt unter dem dauerhaften Eindruck, zwischen uns müsste etwas geklärt werden. Wenn sie ihre drei Gläser Spezialrosé intus hatte (»Ist der auch blush?«, fragte sie den genervten Barmann und war damit an diesem Abend die hundertvierunddreißigste Frau mit derselben Frage), war es Zeit für eine Aussprache. Sie wollte wissen, ob ich ein Problem mit ihr hätte oder ob unser Verhältnis angespannt sei. Sie erzählte mir, wie wichtig ich für Joe sei und wie viel ich ihm bedeutete. Sie umarmte mich immer wieder und betonte

Ich hatte ungefähr zwanzig Gäste in den Pub eingeladen, hauptsächlich Freunde von der Uni oder noch aus Schulzeiten. Ein paar ehemalige Kollegen waren auch dabei, und Leute, mit denen ich gerade beruflich zu tun hatte. Außerdem noch einige Menschen, die ich genau zwei Mal im Jahr sah, auf ihrer Geburtstagsparty und auf meiner, und mit denen es eine unausgesprochene Vereinbarung auf Gegenseitigkeit gab: Wir wollten die Freundschaft nicht ganz aufgeben, hatten aber absolut keine Lust, über die zwei jährlichen Treffen hinaus Zeit zu investieren. Das Arrangement fand ich ebenso traurig wie tröstlich.

Der Form halber waren Lebenspartner und Ehegatten mit eingeladen, die meisten davon bemühte, aber wenig charismatische Männer. Die Hoffnung auf interessante Gespräche mit ihnen hatte ich längst aufgegeben. Ich wusste, sie würden in einer Ecke sitzen, Bier trinken und jedes Mal »Herzlichen Glückwunsch!« rufen, wenn sie mir auf dem Weg zum Klo begegneten, und irgendwann würden sie müde und weinerlich werden und ihre Freundin oder Frau zum Gehen überreden. Ich war fasziniert von den Männern, die meine Freundinnen

Am liebsten sind ihnen Momente banaler Übereinstimmung. Ich habe das bei ausnahmslos jeder Geburtstagsfeier meiner Freundinnen beobachtet. Die Männer suchen nach ähnlichen Gedanken und Erfahrungen, um sich einem Mit-Mann verbunden zu fühlen, ganz ohne ihn mühsam kennenlernen oder verstehen zu müssen. Oh, mein Bruder hat auch in Leeds studiert. Wo hast du gewohnt? MEINST DU DAS ERNST, o Gott, okay, also du kennst doch die Silverdale Road beim Studentenwohnheim? Also, links davon. Da war das. Die Freundin von einem meiner Kommilitonen hatte da eine Wohnung. Die Welt ist ja so klein! Warst du schon mal in dem Pub an der Ecke? Im King’s Arms? Nein? Oh, du solltest mal hingehen, der ist echt super, ein toller Pub.

Ich konnte mich nur für einen einzigen der mitgebrachten

Dan und Gethin kamen, tranken jeweils zwei Gläser Limonade, erzählten von dem Albtraum, den sie gerade durchmachten – der Baum eines Nachbarn wucherte bis auf ihr Grundstück –, und verabschiedeten sich vor acht, um »gen Bromley« aufzubrechen. Aus ihrem Mund klang es wie eine Reise nach Mordor.

Die Gäste hatten äußerst passende Geschenke mitgebracht, was mir bewies, dass sich meine Persönlichkeit auf eine gelungene und unmissverständliche Weise in meinem Lebenswandel und meinen geschmacklichen Vorlieben spiegelte. Ich bekam eine frühe Ausgabe der Whitsun Weddings von Philip Larkin, eine scharfe Spezialsauce, die ich sehr mag und die es nur in Amerika gibt, und einen Chinesischen Geldbaum, der sich als Einzugsgeschenk ebenso eignete wie als Glücksbringer für mein neues Buch. Das einzige unpassende Geschenk stammte

Eddie und Meera boten mir Kokain an, denn sie waren fest entschlossen, aus ihrem »ersten kinderfreien Abend seit achtzehn Monaten« das meiste herauszuholen. Meera hatte Schwangerschaft und Entbindung hinter sich gebracht und gerade mit dem Stillen aufgehört, was bedeutete, dass sie sich bis oben mit Alkohol abfüllen konnte, ohne das Baby zu gefährden. Beide hatten ein gieriges Flackern in den Augen, wie ich es auch schon bei anderen jungen Eltern am ersten kinderfreien Abend gesehen hatte. Das Kokain lehnte ich höflich ab. Ich hatte nichts dagegen, dass sie auf meiner Party koksten, aber mir war bewusst, wie lang und breit Meera sich über die Elternzeit auslassen würde, sobald sie high war. Ihre Lieblingsphrase war »die starren patriarchalischen Strukturen der Elternschaft«. Eddie trat unruhig von einem Bein aufs andere, weil er sich nicht entspannen konnte, und beide fingen immer wieder von Glastonbury an, als hätten sie das Festival persönlich erfunden.

Meine einzige Singlefreundin Lola nahm mich beiseite und erklärte nervös, sie fühle sich von den anwesenden Paaren verurteilt und ignoriert. Sie trug roten Lippenstift und eine merkwürdige Hochsteckfrisur. Die eine Hälfte der gewellten Strähnen war aufgedreht, die andere hing offen herunter, fast wie bei einer Richterperücke. So sah sie nur aus, wenn sie sehr

Meine älteste Freundin Katherine, die ich seit meinem ersten Tag in der weiterführenden Schule kenne, wollte wissen, was ich mir vom neuen Lebensjahr erwarte. Ich sagte, ich sei bereit, jemanden kennenzulernen, worauf sie mit ungezügelter Freude reagierte. Vermutlich glaubte sie, meine Entscheidung, mir endlich einen Freund zu suchen, käme der lange vorenthaltenen Billigung ihrer Heirat und Familiengründung gleich. Mir war aufgefallen, dass viele Menschen Anfang dreißig dazu neigen: Sie fassen jede Entscheidung, die man für sich persönlich trifft, als Kritik an ihren Lebensumständen auf. Wenn man

Seit meiner Trennung von Joe vor zwei Jahren war ich inaktiver Single – einer, der nicht auf Verabredungen geht. (Wir waren sieben Jahre lang ein Paar gewesen und hatten vier davon zusammengewohnt, sodass unser Leben und unsere Freundeskreise mehr oder weniger deckungsgleich gewesen waren. Irgendwann hatte er angefangen, Sachen zu sagen wie »Hallöchen« statt Hallo oder »Gesichtsbuch« statt Facebook.) Nach der Trennung versuchte ich, den vielen Sex nachzuholen, den ich zwischen zwanzig und dreißig nicht gehabt hatte, und ließ es ein halbes Jahr lang richtig krachen. In meinem Fall hieß das, dass ich mit drei verschiedenen Männern schlief und jeden einzelnen zu meinem nächsten festen Freund machen wollte. Nachdem ich mir eine Selbstdiagnose als liebessüchtig gestellt hatte, beschloss ich, vor meinem dreißigsten Geburtstag auf kein Date mehr zu gehen und herauszufinden, was es heißt, Single zu sein. So kam es, dass ich zum ersten Mal überhaupt allein wohnte und reiste und nebenbei den Übergang von der Lehrerin und Hobbyköchin zur Autorin schaffte. Mühsam trainierte ich mir alle Gewohnheiten ab, die sich während einer knappen Dekade der gemütlichen, behaglichen Zweierbeziehung eingeschlichen hatten.

Um elf rief der Barmann die letzte Runde aus. Katherine hatte sich schon vorher verabschiedet, weil sie wieder schwanger war. Sie hatte nichts davon gesagt, aber ich konnte es daran sehen, wie sie sich über die Pickles hermachte. Sie klaute den

Der schlimmste Patzer (und in derselben Liga wie jemanden nach seinem Alter fragen, in der Öffentlichkeit rülpsen oder das Messer ablecken) ist, wenn man eine offensichtlich schwangere Frau fragt, ob sie schwanger sei. Und wenn sie ihre Schwangerschaft dann endlich öffentlich macht, darf man auf keinen Fall sagen, man habe es längst gewusst. Das hassen sie. Sie brauchen die Theatralik der großen Offenbarung. Ich kann das verstehen, ehrlich, wahrscheinlich würde ich es nicht anders handhaben. Wenn man neun Monate lang keine Cocktails anrühren darf, muss man eben sehen, wo der Nervenkitzel herkommt. Deswegen nickte ich nur verständnisvoll und sagte nichts, als Katherine sich früh und mit der Ausrede verabschiedete, sie müsse am nächsten Morgen »das Auto in die Werkstatt bringen«.

Gegen zehn kamen erste Überlegungen auf, in einen rund

Zu Hause hörte ich mir die erste Hälfte meines aktuellen Lieblingspodcasts an, ein beschwingter Streifzug durch die Geschichte der Serienmörderin. Dabei schminkte ich mich ab, putzte mir die Zähne und benutzte sogar Zahnseide. Ich stellte meine neue alte Ausgabe der Whitsun Weddings ins Regal und den Chinesischen Geldbaum auf den Kaminsims und war ungewohnt und restlos zufrieden. An diesem Augustabend, während der ersten Stunden des zweiten Tages meines dreiunddreißigsten Lebensjahrs, fühlte es sich an, als wären alle willkürlichen Komponenten meiner Existenz vor langer Zeit entworfen worden, um sich just in diesem Moment zusammenzufügen.

Ich legte mich ins Bett und lud mir zum ersten Mal überhaupt eine Dating-App runter. Lola, eine Veteranin des Online-Dating, hatte mir Linx empfohlen (das Logo zeigte den Umriss einer schleichenden Wildkatze), weil es die höchste Erfolgsrate für Langzeitbeziehungen hatte und sich dort angeblich die meisten brauchbaren Kandidaten herumtrieben.

Ich füllte die »Ich über mich«-Seite aus. Nina Dean, 32, Ich lud ein paar Fotos hoch, und dann schlief ich ein.

Noch unspektakulärer hätte ich meinen zweiunddreißigsten Geburtstag nicht feiern können. Es war die perfekte Art, das seltsamste Jahr meines Lebens einzuläuten.

»Unsere Vorstellungskraft ist verantwortlich für die Liebe, nicht unser Gegenüber.«

Frei nach Marcel Proust

Meine Eltern hatten aus rein pragmatischen Gründen entschieden, in einem nördlichen Vorort von London zu wohnen. Wenn ich sie fragte, was sie bewogen hatte, East London zu verlassen, als ich gerade einmal zehn Jahre alt war, verwiesen ihre Antworten immer nur auf das Praktische: Es war dort ein bisschen sicherer, die Häuser ein bisschen größer, es war immer noch nah genug an der Stadt, es gab eine gute Verkehrsanbindung und gute Schulen. Über ihr Leben in Pinner sprachen sie wie jemand, der einen frühen Flug gebucht hat und deswegen ein Hotel in Flughafennähe braucht. Es war bequem, anonym und unkompliziert und erfüllte keinen Zweck, außer seinen Zweck zu erfüllen. Nichts am Wohnort meiner Eltern verschaffte ihnen zusätzliche Freuden oder Genüsse, weder die Landschaft noch die Geschichte des Ortes, auch nicht die Architektur, die Parks, die Gemeinde oder die Kultur. Sie lebten in einem Vorort, weil man dort alles fußläufig erreichen konnte. Sie hatten ihr Zuhause – und damit ihr Leben – um die Bequemlichkeit herumgebaut.

Als wir noch zusammen waren, hat Joe seine Herkunft aus dem Norden Englands oft gegen mich verwendet. Er hielt sich für den authentischeren Menschen, für bodenständiger und deswegen im Recht. Es gab nur wenig an ihm, was ich noch unangenehmer fand als seine Art und Weise, die eigene Integrität an Yorkshire auszulagern und die harte Arbeit an der eigenen Person auf romantische Klischees von Bergleuten und

In den letzten Jahren habe ich mich oft nach der vertrauten Vergangenheit gesehnt. Nach der Einkaufsstraße mit den ungewöhnlich vielen Zahnarztpraxen, Friseurläden und Wettbüros, wo es weit und breit kein cooles Café gab. Der lange Fußweg vom Bahnhof nach Hause. Die Frauen mit den immergleichen Bobs, die Männer mit der Halbglatze, die Teenies im Hoodie. Das völlige Fehlen von Individualität, die friedliche Kapitulation vor dem Alltag. Aus einem jungen Erwachsenen wird dort

 

Meine Mum öffnete mir die Tür, wie sie jedem die Tür öffnete – auf eine Weise, die deutlich machte, wie vielbeschäftigt sie war. Sie schenkte mir ein schiefes, zerknirschtes Lächeln und klemmte sich dabei den Telefonhörer zwischen Ohr und Schulter. »Sorry«, flüsterte sie und rollte die Augen. Sie trug eine merkwürdige schwarze Hose – zu weich, um eine echte Hose zu sein, zu locker für Leggings und zu eng für einen Pyjama – und dazu ein graumeliertes T-Shirt und ihr persönliches Mindestmaß an Schmuck: dickes Goldarmband, schmale goldene Armreifen, Perlenohrstecker, eine goldene Panzerkette und den goldenen Ehering. Wahrscheinlich kam sie gerade von irgendeiner sportlichen Betätigung, oder sie war auf dem Weg dorthin. Seit ihrem fünfzigsten Geburtstag war meine Mutter verrückt nach Sport, hatte aber, soweit ich das sehen konnte, noch kein halbes Kilo abgenommen. Die postmenopausale Erschlaffung umgab ihren Körper wie eine zusätzliche Schicht, sie hatte ein kleines Doppelkinn, eine fleischige Taille und überschüssige Haut, die seitlich aus dem BH herausquoll und sich deutlich unter dem T-Shirt-Stoff abzeichnete. Außerdem war sie umwerfend. Umwerfend auf eine kuhäugige Art. Meine Mutter sah nicht gerade spektakulär aus, aber die meisten Menschen fanden sie auf eine natürliche und heimelige Weise anziehend; in der Hinsicht war sie wie ein Lagerfeuer, ein Strauß rosa Rosen oder

»Ja, ja«, sagte sie in den Hörer und bedeutete mir hereinzukommen. »Super, ja, dann sehen wir uns nächste Woche zum Kaffee. Schick mir einfach die Uhrzeit, und ich bringe die Tarot-Anleitung mit, von der ich dir erzählt habe. Nein, gar nicht, du kannst sie behalten, ich kann sie jederzeit bei QVC nachbestellen. Okay. Okay. Bis dann, mach’s gut!« Sie beendete das Gespräch und umarmte mich. Dann schob sie mich von sich und musterte meinen Pony. »Das ist neu«, sagte sie wie beim Kreuzworträtsel, drei Buchstaben senkrecht.

»Ja«, sagte ich, stellte meine Handtasche ab und zog mir die Schuhe aus (alle mussten an der Tür die Schuhe ausziehen, hier wurde noch strenger kontrolliert als in der Blauen Moschee). »Hab ich mir vor meiner Party schneiden lassen. Ich dachte, damit könnte ich die zweiunddreißigjährigen Fältchen an meiner zweiunddreißigjährigen Stirn kaschieren.«

»Sei nicht albern«, sagte sie und schnippte vorsichtig gegen meine Haare. »Dafür braucht man keinen Mopp im Gesicht, sondern nur ein gutes Make-up.«

Ich lächelte, weder gekränkt noch belustigt. Ich hatte mich inzwischen daran gewöhnt, dass sie meine wenig weibliche Art enttäuschend fand. Wahrscheinlich hätte sie sich eine Tochter gewünscht, mit der man Urlaubskleidung shoppen und sich über den besten Primer austauschen konnte. Als ich ein Teenager war und Katherine regelmäßig zu Besuch kam, nötigte meine Mutter ihr ausrangierte Handtaschen und Modeschmuck auf. Die beiden wühlten im Schrank meiner Eltern wie zwei Mädchen im Kaufhaus. Als meine Mutter Lola zum ersten Mal sah, war sie auf der Stelle verliebt, bloß weil sie beide auf denselben exklusiven Highlighter schworen.

»Liest.«

Ich schaute durch die Doppeltür ins Wohnzimmer, wo mein Vater in seinem flaschengrünen Lehnsessel saß. Ich sah ihn im Profil, er hatte die Beine auf einen Hocker gelegt und neben sich einen großen Teebecher. Sein kantiges Kinn und die große Nase – er hatte mir beides vermacht – schienen sich einen Wettstreit zu liefern, wer zuerst über die Ziellinie kam.

Meine Mum und meinen Dad trennten siebzehn Jahre. Sie hatten sich kennengelernt, als mein Vater stellvertretender Direktor an einer staatlichen Schule in der Londoner Innenstadt war und sie von ihrer Zeitarbeitsagentur als Schulsekretärin eingesetzt wurde. Sie war vierundzwanzig und er einundvierzig. Der Altersunterschied wurde nur noch von der Unterschiedlichkeit ihres Charakters übertroffen. Mein Vater war feinfühlig, sanft, neugierig, introvertiert und intellektuell. Es gab im Grunde nichts, was ihn nicht interessierte. Meine Mutter war pragmatisch, zupackend, organisiert, direkt und bestimmend. Es gab im Grunde nichts, in das sie sich nicht einmischte.

Ich ließ mir einen Moment Zeit, ihn durch die Glastür zu beobachten. Von hier wirkte er wie der Vater, den ich kannte, er las den Observer und wartete nur darauf, mir alles über Müllverbrennung in China, zehn interessante Fakten über Wallis Simpson oder eine vom Aussterben bedrohte Falkenart zu erzählen. Mein Vater, der mich auf den ersten Blick erkannte; nicht nur mein Gesicht, sondern mich als ganzen Menschen. Der sich im Bruchteil einer Sekunde an meinen imaginären Sandkastenfreund erinnern konnte, an das Thema meiner Dissertation, an meine Lieblingsfigur in meinem Lieblingsroman und an die Namen aller Straßen, in denen ich je gewohnt hatte. Wenn ich jetzt in sein Gesicht blickte, sah ich immer noch meinen Vater, aber etwas in seinen Augen beunruhigte mich. Manchmal war es, als läge sein gesamtes Wissen in Scherben,

Vor zwei Jahren hatte er einen Schlaganfall. Wir hatten schon wenige Monate später gemerkt, dass er nicht mehr der Alte war. Mein Vater mit dem messerscharfen Verstand wirkte irgendwie verlangsamt. Er fing an, die Namen von Freunden und Verwandten zu vergessen, und die selbstbewusste Lässigkeit, mit der er sonst Entscheidungen traf, schwand dahin. Bei Ausflügen entwischte er uns regelmäßig und verirrte sich. Oft vergaß er, wo er wohnte. Anfangs schoben Mum und ich es auf das Alter, wir sträubten uns gegen die Möglichkeit, es könnte etwas Ernsteres dahinterstecken. Dann eines Tages rief ein Fremder an und sagte meiner Mum, mein Vater fahre seit zwanzig Minuten im selben Kreisverkehr. Irgendwie schafften sie es, ihn abzudrängen und zum Anhalten zu bewegen. Er hatte vergessen, wo er abbiegen musste. Wir begleiteten ihn zum Hausarzt, der ihn untersuchte, seine kognitiven Fähigkeiten testete und ein MRT machen ließ. Er bestätigte unsere schlimmste Befürchtung.

»Hey, Dad«, sagte ich und ging auf ihn zu. Er blickte von der Zeitung auf.

»Hey, du!«

»Bleib sitzen.« Ich beugte mich hinunter und umarmte ihn. »Was gibt’s Neues?«

»Eine Neuverfilmung von Überredung«, sagte er und hielt die Rezension hoch.

»Oho«, sagte ich, »Jane Austen für denkende Menschen.«

»Genau.«

»Ich helfe Mum beim Kochen.«

»Mach das, Liebes«, sagte er, und dann schlug er die Zeitung wieder auf und lehnte sich in die gewohnte Ruheposition zurück.

Meine Mutter stand in der Küche und hackte Brokkoliröschen klein, neben dem Brett stapelten sich Kiwischeiben. Aus

»Was ist das?«, fragte ich.

»Das ist Geschlechtsverkehr von Andrea Dworkin. Das Hörbuch.«

»Was?« Ich drehte den Ton ein bisschen leiser.

»Andrea Dworkin, eine berühmte Feministin. Du kennst sie bestimmt, ziemlich dick, aber sie hat keinen Humor. Sie ist irre schlau …«

»Ich weiß, wer Andrea Dworkin ist, ich wollte nur wissen, warum du das hörst.«

»Das ist für die Weinlese

»Der Buchklub, von dem du erzählt hast?«

Sie seufzte dramatisch und holte eine Gurke aus dem Kühlschrank. »Das ist kein Buchklub, Nina, sondern ein literarischer Salon.«

»Wo ist der Unterschied?«

»Nun ja«, sagte sie, und ihre zuckende Oberlippe verriet, wie glücklich sie war, wieder einmal den Unterschied zwischen einem Buchklub und einem literarischen Salon erklären zu dürfen. »Ich und ein paar Freundinnen haben beschlossen, uns alle zwei Monate zu treffen und nicht bloß über bestimmte Bücher zu reden, sondern über unsere Gedanken dazu. Das Ganze ist also weniger eng gefasst. Jeder Salon ist einem Motto gewidmet, es gibt eine Diskussion, eine Lesung und persönliche Berichte, die mit dem Thema zu tun haben.«

»Worum geht es beim nächsten Abend?«

»›Ist jeder heterosexuelle Verkehr automatisch eine Vergewaltigung?‹«

»Okay. Und wer ist eingeladen?«

»Annie, Cathy, Sarah aus meiner Laufgruppe, Gloria, Glorias schwuler Cousin Martin, Margaret von meinem Ehrenamt im

»Woher dieses plötzliche Interesse am Feminismus?«

Sie schaltete den Mixer ein, der die Stückchen unter schrillem Brummen und Raspeln zu blassgrünem Schleim verrührte.

»So plötzlich ist das nicht«, rief sie über das elektrische Tosen hinweg. Sie stellte den Mixer aus und goss die zähe Flüssigkeit in ein hohes Glas.

»Klingt super, Mum«, lenkte ich ein. »Ist doch toll, wenn man so engagiert und offen für Neues ist.«

»Ja«, sagte sie. »Und weil ich als Einzige Platz habe, werden wir unsere Weinlese-Treffen hier abhalten.«

»Du hast keinen Platz.«

»Das Arbeitszimmer deines Vaters!«

»Das braucht er noch.«

»Er kriegt es doch zurück. Wozu ein Zimmer haben, das kaum genutzt wird? Wir sind hier nicht im Blenheim Palace.«

»Was ist mit seinen Büchern?«

»Die kann ich hier unten in die Regale einsortieren.«

»Und seine Unterlagen?«

»Alles Wichtige ist abgeheftet, der ganze Rest kann weg.«

»Bitte lass mich vorher einen Blick drauf werfen«, sagte ich in einem leicht pampigen Kindertonfall. »Vielleicht ist ihm irgendwas davon wichtig. Vielleicht können wir es noch mal verwenden, wenn wir Material brauchen, um seine Erinnerung anzuregen und ihn …«

»Ja, ja, natürlich«, sagte sie mit bebenden Nasenflügeln und trank einen Schluck von ihrem Smoothie. »Es sind nur ein paar Kartons. Sie stehen oben auf der Treppe.«

»Okay, danke«, sagte ich, schenkte ihr ein stilles Lächeln als Friedensangebot und atmete wie beim Yoga tief und lautlos ein. »Was gibt’s sonst noch Neues?«

»Was? Warum?«

»Nancy hat mir nie gefallen. Viel zu altmodisch.«

»Findest du das nicht ein bisschen seltsam? Alle kennen dich als Nancy, es ist viel zu spät, niemand wird sich einen neuen Namen merken können.«

»Willst du damit sagen, ich sei zu alt?«

»Nein, ich finde nur, der geeignete Zeitpunkt für einen Namenswechsel wäre der erste Tag an der neuen Schule gewesen, nicht jetzt, wo du über fünfzig bist.«

»Tja, ich habe es aber nun mal entschieden, und ich habe auch schon recherchiert, wie es geht. So was ist überhaupt kein Problem. Es ist beschlossene Sache.«

»Und wie willst du heißen?«

»Mandy.«

»Mandy?«

»Mandy.«

»Aber.« Ich holte noch einmal tief Luft wie beim Yoga. »Mandy ist ein bisschen wie Nancy, findest du nicht? Also, vom Klang her.«

»Nein, finde ich nicht.«

»Doch, so was nennt man Assonanz

»Ich wusste, wie du reagieren würdest. Ich wusste, du würdest mich belehren, so wie immer. Ich verstehe überhaupt nicht, wieso das für dich ein Problem darstellt. Ich möchte einfach nur einen Namen tragen, der mir gefällt.«

»Mum«, sagte ich flehentlich. »Ich will dich nicht belehren. Aber du musst verstehen, dass das ziemlich seltsam klingt und völlig aus dem Nichts kommt.«

»Es kommt nicht aus dem Nichts! Ich habe dir immer gesagt, wie schön ich den Namen Mandy finde! Ich habe immer wieder gesagt, dass das ein sehr stilvoller und positiver Name ist!«

»Sei nicht albern. Es ist einfach nur eine kleine Namensänderung, da muss man kein großes Ding draus machen.«

»Es wird ihn verwirren.«

»Ich habe keine Zeit, das noch weiter zu diskutieren. Ich bin mit Gloria zum Vinyasa Flow verabredet.«

»Essen wir nicht zusammen? Ich bin extra fürs Mittagessen gekommen.«

»Der Kühlschrank ist voll. Du bist doch hier die Köchin. Ich bin in ein paar Stunden zurück«, sagte sie und griff nach den Schlüsseln.

Ich ging zurück ins Wohnzimmer. Dad las immer noch seine Zeitung.

»Dad?«

»Ja, Bohne?«, sagte er und hob den Kopf. Eine warme Welle der Erleichterung durchströmte mich – er hatte sich an meinen alten Kosenamen erinnert. Wie alle guten Kinderspitznamen hatte auch meiner viele unsinnige und komplizierte Abwandlungen durchlaufen – aus Nina-Bina wurde Mister Beanie, Bambini, Beanibohne und zuletzt nur Bohne.

»Mum ist ausgegangen, und ich wollte uns was kochen. Wie wäre es mit einer Frittata?«

»Frittata«, wiederholte er. »Wie heißt das in meiner Muttersprache?«

»Es ist so eine Art Omelett. Stell dir ein aufgebrezeltes Omelett vor.«

Er lachte. »Sehr schön.«

»Ich muss nur kurz nach oben und ein paar Unterlagen sortieren, und dann geht es los. Soll ich dir vorher noch einen

»Vielleicht«, sagte er und runzelte ganz leicht die Stirn. »Ich weiß nicht. Später.«

»Okay. Sag einfach Bescheid.«

Ich schleppte die drei Kartons in mein altes Kinderzimmer, das sich seit meinem Auszug vor über zehn Jahren kaum verändert hatte und aussah wie eine Museumsinstallation, die den Besuchern vor Augen führte, wie man als Teenager zu Beginn der Nullerjahre so gewohnt hatte. Die Wände waren lila, an der Schranktür hing eine Fotocollage der Schulfreundinnen und an der Ecke des Spiegels eine Sammlung zerfranster, vergilbter Festivalbändchen, die Katherine und ich gesammelt hatten. Ich breitete die Akten auf dem Boden aus. Die meisten dokumentierten das Verstreichen der Zeit, aber keine Gefühle oder Beziehungen. Ich fand ganze Keile aus Neunziger-Jahre-Filofaxseiten voller Zahnarzttermine und Ferienzeiten, dazu alte Zeitungen mit Artikeln, die er aus irgendeinem Grund aufbewahrt hatte. Ich fischte ein paar Briefe und Postkarten aus dem Papiermüll: eine geschwätzige Nachricht von seinem verstorbenen Bruder, meinem Onkel Nick, der sich über das fettige Essen auf Paxos beschwerte; eine Karte von einem ehemaligen Schüler, der sich für die Unterstützung bei der Oxford-Bewerbung bedankte und ein Foto mitgeschickt hatte, das ihn strahlend am Tag seiner Abschlussfeier am Magdalen College zeigte. Meine Mutter hatte recht, mein Vater brauchte diese banalen Relikte des Alltags nicht, aber ich konnte trotzdem verstehen, warum er daran festgehalten hatte. Ich besaß bis heute einen Schuhkarton mit den Kinokarten meiner ersten Verabredung

Plötzlich hörte ich das durchringende Gellen eines Rauchmelders. Ich lief nach unten und folgte dem Brandgeruch. Mein Vater stand hustend vor dem Toaster in der Küche und zupfte die angekokelten Reste des Observer aus dem Schlitz.

»Dad!«, rief ich über das Piepen hinweg und wedelte mit den Händen, um den Rauch zu verteilen. »Was tust du da?« Er fuhr zusammen und sah mich an, als wäre er aus einem Traum erwacht. Von der gefalteten, angesengten Zeitung in seiner Hand stieg eine dünne Rauchsäule auf. Er sah den Toaster an und dann mich.

»Ich weiß nicht«, sagte er.

Er hatte den Pub ausgesucht, was eine riesige Erleichterung war. Nach meinem Geburtstag hatte Lola mir via E-Mail und bei ein paar Drinks einen Crashkurs in Sachen »zeitgemäßes Dating« gegeben und mich vor den vielen Enttäuschungen gewarnt, die zweifellos auf mich zukommen würden. Eine davon war angeblich, dass die meisten Männer absolut unfähig waren, einen Ort für ein Treffen festzulegen oder auch nur vorzuschlagen. Für mich war diese apathische, unreife, gleichgültige Haltung ein echter Abturner; sie erinnerte mich an den faulen Praktikanten, der immer noch behauptet, er könne den Kopierer nicht bedienen. Lola sagte, ich müsse mich trotzdem überwinden. Andernfalls würde ich mich nie auf ein Date einlassen, den Rest meines Lebens in einem sexlosen Halbkoma auf dem Sofa verbringen und den Männern, die ich nie, niemals treffen würde, auf Linx die immer selben Nachrichten schicken: »Hey, hast du morgen Zeit? Wann? Wo würdest du gern hingehen?«

Max schlug mir noch während des ersten Chats einen Treffpunkt vor.

»Wäre eine Absturzkneipe für alte Männer okay?«, schrieb er.

»Nichts mag ich lieber!«, war meine Antwort. »Ich finde nur niemanden, der mit mir hingehen will.«

»Ich auch nicht!«

»Früher im Studium fanden alle solche Pubs gut, aber heute nicht mehr, weil es nicht mehr ironisch ist.«

»Du hast recht«, schrieb er. »Vielleicht sind wir den alten

»Vielleicht markieren die Alte-Männer-Pubs einfach nur den Beginn und das Ende unsere Trinkerkarriere. Erst ironisch als Teenager und dann als Rentner im Ernst«, schrieb ich.

»Und dazwischen sitzen wir im Fegefeuer der angesagten Bars und zahlen neun Pfund für ein Würstchen in Blätterteig.«

»Genau!«