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Jakuta Alikavazovic

Das Fortschreiten der Nacht

Roman

Aus dem Französischen
übersetzt
von Sabine Mehnert

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Die Originalausgabe des vorliegenden

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Dieses Buch erscheint im Rahmen des Förderprogramms des französischen Außenministeriums, vertreten durch die Kulturabteilung der französischen Botschaft in Berlin.

Bild- und Zitatnachweise finden Sie auf Seite 256.

Edition Nautilus GmbH · Schützenstraße 49 a

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Inhalt

Nächte im Hotel

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Weder allein noch in Begleitung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Das Fortschreiten der Nacht

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Danksagung der Autorin

Danksagung der Übersetzerin

Zitatnachweise

Bildnachweise

Paul war mit Sylvia zusammen gewesen, als er erfahren hatte, wie es um Amélia Dehr stand. Im Bett mit Sylvia, die vor sich hindöste oder so tat, von draußen drang das gedämpfte Licht der Stadt und der vorbeifahrenden Touristenschiffe auf der Seine hinein, hüllte sie ein, glitt gleichgültig über ihre Körper, die Laken, zur Decke. Er hatte gedacht, sie könnten mit der Umgebung, mit den Kulissen verschmelzen, und vielleicht war ja genau das Glück oder doch der Zustand, der Glück am nächsten kam. Ein großangelegtes Tarnmanöver, hatte Paul gedacht.

Die Nachricht kam per Telefon, sie schwebte zwischen Leben und Tod, und Paul war sich sicher, wie es ausgehen würde, Amélia Dehr machte keine halben Sachen. Vielmehr zeigte oder verriet dieser Schwebezustand ihre Verletzlichkeit, die Schwäche, die sie befallen hatte, befallen haben musste – nicht, weil sie den Versuch unternommen hatte, sondern weil er ihr misslungen war, mit einer Ungenauigkeit, die ihr gar nicht ähnlich sah. Eine Ungenauigkeit, die für Paul den Beweis dafür darstellte, dass sie zum Zeitpunkt der Tat schon nicht mehr sie selbst gewesen war. Schon nicht mehr Amélia Dehr.

Die andere Möglichkeit, die andere Erklärung – nämlich dass ein Teil von ihr sich an das Leben klammerte, sich weigerte zu sterben; dass die wahre Amélia Dehr, die er gekannt, geliebt, begehrt und gehasst hatte, dass diese Amélia gegen den Tod ankämpfte; dass es diese Amélia war, die verlor, alles verlor – diese Vorstellung war Paul unerträglich. Lieber redete er sich ein, dass diejenige, die sterben würde, schon lange nicht mehr diejenige war, die gelebt hatte, dass sie zu Amélia Dehr, der seligen Amélia Dehr, nur in der losen Beziehung stand, die ein Blatt mit dem Baum verbindet, von dem es gefallen ist.

Sie war im Wahnsinn versunken, dachte Paul, sie, die mit zwanzig eine Pracht gewesen war, mit scharfem Verstand, blühender Phantasie, eine, die im Gras liegend wie die Verlängerung des Grases wirkte, mehr noch, wie der Ausdruck selbst des Grases, wie seine Sanftheit – im Gras liegend wirkte sie wie der Geist des Grases, wie sein ureigenes Wesen. Als er sie zum letzten Mal gesehen hatte, war er bestürzt gewesen, sie so vernachlässigt vorzufinden, schlimmer noch als vernachlässigt, achtlos, schlimmer noch als achtlos, erloschen. Sie hatte sich beobachtet gefühlt. Sie hatte ihn gebeten zu ihr zu kommen und war mit ihm in den Hof hinuntergegangen, damit er, dem sie vertraute, ihr bestätigte, dass man sie von unten nicht an ihrem Schreibtisch sehen konnte. Er hatte sie falsch verstanden. Hatte es vorgezogen, sie falsch zu verstehen, war versucht gewesen, die Sache leichtzunehmen, als Scherz. Aus Taktgefühl oder aus Feigheit. Oder aus Taktgefühl, das zugleich Feigheit war. Dann setzt du dich besser an deinen Schreibtisch, dann kann ich dir sagen, ob man dich dort sieht. Oder nicht. Sie hatte ihn mit einem Blick angesehen, der zwar nicht wirklich leer war, ihn aber doch nicht wahrnahm. Anderes wahrnahm als ihn. Seine Halsbeuge ansah, als ob sie ihn in dieser Leere zu finden glaubte. Und er fühlte sich selbst entschwinden, sein Geist oder seine Persönlichkeit oder seine Seele versetzten sich, wollten sich an diesen Ort versetzen, an dem er nicht war, nicht sein konnte, aber auf dem Amélia Dehrs Blick ruhte. Solche Macht hatte sie noch über ihn. Sie hatte seine Hand genommen und hastig, bevor sie aus Selbstachtung – das Einzige, so dachte er, was ihr von der Frau, die sie gewesen und gern gewesen war, noch blieb –, bevor sie aus Selbstachtung verstummte, hervorgestoßen: Nein, ich möchte, dass du mir sagst, ob ich jetzt gerade dort bin, du musst es mir sagen, Paul, bitte.

Sie gehörte zu den Menschen, die alles kaputt machen und es dann Kunst nennen.

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Damals war es unvorstellbar gewesen, dass ein junges Mädchen, eine Studentin, im Hotel wohnte. Das Etablissement hatte nichts Luxuriöses an sich; im Gegenteil, es handelte sich um eine dieser amerikanischen Hotelketten, die überall aus dem Boden sprossen; aber der einfache Satz Sie wohnt im Hotel war schon an sich unsäglich, skandalös. Ein achtzehnjähriges Mädchen in einem amerikanischen Hotel. Dieses achtzehnjährige Mädchen in einem amerikanischen Hotel. Alle fanden, sie hätte Schriftstellerin werden sollen, alle außer ihr selbst; die Schriftstellerin war ihre Mutter, und die Tatsache, dass ihre Mutter seit Langem tot war, hatte daran nichts geändert. Sie, Amélia Dehr, war eine Romanfigur und offensichtlich auch entschlossen, es zu bleiben. Und ob sie diese Figur selbst erschaffen hatte oder ob sie das Werk von jemand Anderem war, war nicht ganz sicher, blieb noch herauszufinden.

Nächte im Hotel

1.

Paul hatte nicht daran geglaubt, dass sie im Hotel wohnte. Besser noch, oder schlimmer, er hatte es gewusst und dann vergessen. An der Uni wurde über sie gesprochen, ihr ging eine Art Gerücht voraus; ihr Körper existierte schon, bevor er auftauchte, in einem Geflüster, aber es war nicht der Klatsch, der Paul interessierte, es waren die Mädchen, die Frauen, ihr Mund, ihre Haut. Er war achtzehn Jahre alt und führte ein Doppel-, ja ein Dreifachleben. Tagsüber ging er an die Universität, er starrte auf große schwarze oder weiße Tafeln, tauschte Mitschriften aus und verglich seine Notizen mit denen seiner Kommilitonen: Es war merkwürdig, manchmal hätte man schwören können, dass sie nicht dieselbe Vorlesung gehört hatten, und dann stieß man auf ein oder zwei identisch mitgeschriebene Sätze, die bestätigten, dass sie doch dieselbe Person vor sich gehabt hatten, aber ausgehend von diesen wenigen fixen Drehpunkten driftete die Bedeutung von einer Mitschrift zur anderen in Spiralen und Annäherungen dahin – diejenigen, die am besten verstanden, waren letztendlich diejenigen, die überhaupt nichts verstanden und – völlig verängstigt von ihrer eigenen Unwissenheit – krampfhaft einfach alles mitschrieben.

Lange Stunden, die in kleinen Cliquen im Café verbracht wurden; Mädchen, die ihre Finger durch seine Haare gleiten ließen und seine Kopfhaut streichelten, kühle Finger, die mit seinen Locken spielten, die Topographie seines Schädels erforschten, zarte Finger, die seinen Hinterkopf wie Brailleschrift lasen, auf der Suche nach einem Schlüssel, wenn auch aus einer anderen Zeit, auf der Suche nach den Unebenheiten, die ihnen das Geheimnis seiner Persönlichkeit oder seiner Seele offenbaren würden, Wölbungen der Lüsternheit, oder der Raubgier, oder der Gutmütigkeit, oder der Treue, unwissentlich an diskreditierte Wissenschaften erinnernd – wenngleich das Geheimnis, das diese achtzehnjährigen Mädchen zu enthüllen versuchten, die ihn mit einer solchen Leichtigkeit berührten, das ihres eigenen Begehrens war, ihres Begehrens nach diesem jungen Mann und ihres Begehrens im Allgemeinen, ihrer eigenen Lüsternheit, ihrer eigenen Raubgier oder ihrer Gutmütigkeit oder ihrer Treue (aber zu was?); all diese jungen Leute waren fröhlich, redeten zu viel, rauchten zu viel, tranken in unzumutbaren Mengen Kaffee, der ihren Herzschlag auf aufregende Weise unregelmäßig werden ließ, ihr Atem bildete kleine Wölkchen in der kalten Luft, insgeheim waren sie scheu und verängstigt wie junge Rehe, sogar und vielleicht vor allem die Jungen, sodass es wenig Körperkontakt gab, von Mund zu Mund noch viel weniger, obwohl sie sich alle sehr nahestanden und es ausreichte, dass einer von ihnen sich eine Erkältung holte, damit sich alle von ihnen erkälteten, wahrscheinlich wuschen sie sich nicht oft genug die Hände.

Dann waren da die Abende, die Nächte, die langen, berauschenden und anonymen Partys, auf denen Paul seine Freunde verlor, mit Absicht verlor, denn mit seiner Schwimmerstatur und seinen endlos langen Wimpern übte er eine gewisse Anziehungskraft aus, man drückte ihm Gläser in die Hand, Gläser voller klarer oder perlender Flüssigkeiten, die ihn manchmal in eine extreme Langsamkeit verfallen ließen, in der alles wie unter Wasser geschah und die Gesten nur zu neun Zehnteln abgeschlossen wurden, Nächte auf Dächern oder in Kellern oder in Privatvillen oder in verlassenen U-Bahn-Stationen, verrauchte Nächte, Nächte, in denen er seine Gefährten aus den Augen verlor und sie dann wiederfand, aber manchmal waren sie es nicht, nur sein eigenes Spiegelbild, Nächte, in denen vergeblich nach ihm gesucht wurde, um ihn irgendwo auf ein Bett zu legen, Nächte, in denen er von Sex besessen war, denn Paul war damals mit einem Fluch oder einem Zauber belegt, er konnte seine Jungfräulichkeit nicht verlieren, immer verschwand das Mädchen oder er ging selbst oder jemand kam oder sie zogen weiter an einen anderen Ort; und noch seltsamer, selbst wenn er mit jemandem schlief, was auch immer die genaue Definition dieses Aktes war, die gemeingültige oder die pornografische, die juristische oder die hilfsjuristische, selbst wenn er sein Geschlecht in ein anderes Geschlecht einführte, selbst wenn er mit einem kranken Zittern, das unmöglich zu kontrollieren war, darin kam und es das nun war, dachte er – endlich! – am nächsten Tag oder ein paar Tage später war es, als wäre nichts passiert, er war wieder Jungfrau und verzweifelt, es zu sein. Ein Albtraum, dachte er.

Er schlief wenig, aber gut; wo immer er war, an der Universität, im Café, in einem fremden Haus oder zu Hause, gab es meistens im Umkreis von weniger als zehn Metern einen Bildschirm, auf dem Bilder zu sehen waren – von Mord und Ermittlungen, von Beerdigungen und Tränen, von Zusammenbrüchen und Flucht, von Fragen und Antworten oder einfach nur von Fragen. Und er, gleichgültig gegenüber all diesen Dramen, schlief friedlich. Aber das war vor Amélia Dehr. Das war vor dem Hotel.

Es mangelte an Geld, sein Vater hatte da kein Blatt vor den Mund genommen, die Studiengebühren ja, den Rest nein. Paul hatte das erstbeste Angebot angenommen, geistesabwesend, ohne überhaupt zu wissen, worauf er sich einließ; gleichgültig oder zerstreut, auf etwas Anderes konzentriert, auf sein Leben, das gerade begann. Wachdienst – oder besser gesagt, simple Überwachung –, außerhalb der Hauptgeschäftszeiten, in einem Hotel. Das hieß am Abend, in der Nacht. Er langweilte sich dort. Als Entschädigung folgte er den Frauen. Ohne ihr Wissen, manchmal in ihrer Abwesenheit. Er suchte nach ihnen, er fand sie. Manchmal verlor er sie, aber es war ein Spiel, ein Spiel, das er mit sich selbst spielte und von dem sie nichts wussten, wie diese dort, die, als sie ihr Zimmer verlässt, verschwindet, sich in Luft auflöst. Um sofort wiederaufzutauchen, an anderer Stelle als erwartet. Sie verwischt ihre Spuren, bewegt sich von einem kleinen Fenster zum nächsten, wie von Zauberhand, ohne jegliche Kontinuität. Es gab neun Kameras und genauso viele Kästchen auf dem Überwachungsbildschirm, der Pauls Bildschirm war. Er spielte seine Überraschung, er spielte, dass er sich selbst überraschte; ihre Wege waren nur zu einem gewissen Grad vorhersehbar, da die spontanen Stopps, die Kehrtwendungen, weil man sich anders besonnen hatte, nicht mit einkalkuliert werden konnten. Man kann den Körper sehen, aber nicht, was im Kopf vorgeht. Nichts von dem, was dieser im Zimmer, auf dem Nachttisch, im Badezimmer vergessen hat; nichts von seiner Reue. Und dann manchmal, das waren Pauls Lieblingsmomente, jene flüchtigen Umarmungen auf der Feuertreppe, von denen er nichts als eine Brandschutztür sah, die sich langsam und träge wieder schloss. Man kann nicht sagen, dass er seine Arbeit liebte, die er nicht als Arbeit, sondern eher als unglücklichen Zufall betrachtete, oder weniger noch, als Zwischenfall, genau als das, was es eben war, ein Nebenjob; aber man kann durchaus sagen, dass er gerne Frauen ansah. Man kann sogar sagen, dass er von oben auf sie herabschaute, dass er gerne im Spiel (dachte er) von oben auf sie herabschaute, und dass das der einzige Ort, der einzige Moment war, an dem er dies tun konnte, dank der Gnade der Kameras, aus der Vogelperspektive, die sie ihm darboten, als ob er die Sonne wäre, oder Gott – Gott oder eine einfache Luftmasse, die in Deckennähe stagniert. Ja, die Perspektive dieser wärmeren aufsteigenden Luft, vielleicht jene Seufzer, die sie von sich gaben, während sie ihre Gesichter in den unendlichen Spiegeln des Aufzugs schminkten, vielleicht ihr sanfter Atem oder eine Erwärmung, die durch das bloße Eindringen ihrer Körper, ihrer warmen Haut in diese leeren, zu sehr belüfteten Räume hervorgerufen wurde; und diese Ausatmungen, die zur Decke steigen, würden sich dort ansammeln, bis daraus ein Blick, Pauls Blick entstehen würde. Träumte Paul.

Wenn die Frauen es satthatten, ein- und auszugehen oder er es satthatte, sie anzusehen, zwang er sich, zu lernen. Er liebte die Universität, aber vor allem liebte er es, Student zu sein, das berauschte ihn, so wie es seinen Vater berauschte, der stolz auf ihn war; was ihn nicht daran hinderte, ihm unterschwellig ein wenig, nur ein wenig, in den Abgründen seines Herzens, böse zu sein – Abgründe, die er selbst nicht kannte; aktiv und energisch ignorierte; verleugnete. Er hätte sich lieber einen Körperteil amputieren lassen, als das zuzugeben, denn er war ein guter Mensch, stolz auf seine Gutherzigkeit, wie er es auf seinen Sohn war, und ein guter Mensch ist nicht neidisch auf sein einziges Kind. Aber auf der Baustelle kommt es vor, dass er an diese Universität denkt und in den Mörtel spuckt oder in den Mörtel pinkelt, wie es seit jeher getan wird und wie man es auch heute noch tut – unabhängig von allem allgemeinen Hygienebewusstsein –, als Bindemittel, um (Paul wusste das; sein Vater nicht) den pH-Wert, den Säuregehalt und die Festigkeit zu ändern; und (das wusste sein Vater; Paul nicht) ein wenig von sich selbst in den Häusern Anderer zu lassen, in diesen Mauern, die man sich abrackert zu errichten, um dann nie darin zu leben. Um die Oberhand zurückzugewinnen, heimlich, unterschwellig, über den Wohlstand der Anderen. Denn sie kamen aus bescheidenen Verhältnissen und nahmen nichts als selbstverständlich hin, und schon gar nicht eine Hochschulbildung; sie lebten, hatten gelebt, dachte Paul, als ob sie nie festen Boden unter den Füßen hätten. Wie auf Wasser; und das dachte er damals nicht ausdrücklich so, er würde sich erst später erlauben, es zu denken, und zwar dank Amélia Dehr.

Er gab sich Mühe beim Studium, aber er hatte viel mehr zu lernen als seine Architekturkurse, die in verschiedene Fachrichtungen, Perioden und Ansätze unterteilt waren. Er hatte alle Brücken hinter sich abgebrochen oder dachte, er habe alle Brücken hinter sich abgebrochen oder versuchte, alle Brücken zu seinem Milieu abzubrechen, das er nicht als Milieu, sondern als Zwischenfall betrachtete, oder mehr noch, als einen unglücklichen Zufall. Seine ersten achtzehn Lebensjahre hatten ihm einen bestimmten Körper gegeben, und dieser Körper hatte eine bestimmte Beziehung zum Raum, zu Anderen, und seine Intuition sagte ihm, dass diese Beziehung nicht so war, wie sie sein sollte. Wie sie hätte sein sollen. Bei seiner Ankunft hatte er beobachtet. Und nachgeahmt. Zuerst die Kleidung, die er stahl; dann den Haarschnitt, und er hatte eine ganze Sprache erfinden müssen, um ihn beschreiben zu können, ihn so schneiden zu lassen – es war eine beispiellose Herausforderung gewesen, die den größten Entdeckungen, den größten Eroberungen ebenbürtig war. Zuletzt übte er sich, und das war das Heikelste, im Reden. Das erschöpfte ihn. Im Wohnheim der Cité Universitaire hatte er so manche Abende in seinem Zimmer verbracht, im Dunkeln; er lauschte den Geräuschen im Flur, und all die Aufregung der Studenten machte ihn seekrank; und wenn jemand an seine Tür klopfte, antwortete er nicht, gleichermaßen entsetzt bei dem Gedanken, dass es ein Irrtum sein könnte, wie bei dem, dass es keiner war. Er hatte befürchtet, dass es nie enden würde, und, ohne jemals zu enden, hatte es doch nur zwei Wochen gedauert, vielleicht drei, und schon war es vorbei. Schon fühlte er sich, dachte er, wie zu Hause. Er hatte Freunde, engere Freunde denn je, die er inbrünstig liebte, für die er, so dachte er manchmal, einen Arm hergegeben hätte. Für die er eine Niere hergegeben hätte, aber manchmal vergaß er ihre Namen, manchmal vergaß er ihre Gesichter, um drei oder vier Uhr morgens fiel ihm auf, dass es in seinem Gedächtnis anstelle dieser Person, dieses Freundes oder dieser Freundin, nur eine schemenhafte Silhouette gab. Und manchmal passierte es, dass er sie mit seinem eigenen Spiegelbild verwechselte. Vielleicht lebte ein Teil von ihm tief im Inneren noch immer im Dunkeln. Vielleicht hatte ein Teil von ihm seinen Platz noch immer nicht gefunden. Befand sich weiterhin im Schwebezustand, in der Finsternis. Und noch schlimmer: beunruhigender: hielt diesen Schwebezustand, diese Finsternis für das, was man gemeinhin – besonders wenn man mit einem Achtzehnjährigen mit Schwimmerstatur und endlosen Wimpern spricht, der zudem noch Student ist – das wahre Leben nennt.

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Für Menschen mit einer entsprechenden Empfindsamkeit hätte das Hotel Elisse sowohl Tatort als auch Tatwaffe sein können. Man hätte sogar sagen können, dass das Hotel Elisse die Wirklichkeit war; wenn man bereit war zuzugeben, dass die Wirklichkeit vor allem eine Enttäuschung war. Auf jeden Fall hielten sich Literatur- und Geschichtenliebhaber von hier fern. Manchmal verirrten sich ein oder zwei von ihnen aus einer anderen Generation, aus einem anderen Jahrhundert her, und Paul konnte mit bloßem Auge erkennen, wie sich die Verzweiflung und manchmal (aber selten) der Tod in ihren Seelen einnisteten, während sie sich für die Nacht in einem der Zimmer niederließen, das allen anderen Zimmern glich; nur vorübergehend, zum Glück. Ein Ort, der weder ob seiner Schönheit noch seiner Hässlichkeit zum Tode führen würde, vielleicht aber ob seiner Gleichgültigkeit. Genau das war es jedoch, was seit ihrer Gründung den Erfolg der Kette ausmachte, und es war genau das, was man hier suchte, insofern hier eine bewusste Wahl war; der ganze moderne Komfort, und das Geheimnis, die Struktur dieses Komforts basierten auf Neutralität und Anonymität. Nichts ähnelte einem Hotel Elisse mehr als ein anderes Hotel Elisse und aufgrund dieser Austauschbarkeit konnte man sich vormachen, dort jemand Anderes zu sein, und noch besser: überhaupt niemand zu sein. In Etablissements der Art war es möglich, man selbst und ein Anderer zu sein, man selbst und gar nichts. Die Fenster waren perfekt quadratisch und ließen sich nicht öffnen; die Klimaanlage quirlte die Keime ordentlich durch und verteilte sie absolut unparteiisch. Eine Vergesellschaftung der Ansteckungsmittel. Man war so wenig man selbst, dass man den Husten eines Anderen hustete, der vielleicht schon abgereist war. Paul langweilte sich dort entsetzlich und nach einer Weile des Alleinseins, langsam auf seinem Stuhl vor den leeren Überwachungsbildschirmen hin- und herdrehend, Blick auf die verlassene Lobby, wurde er von einer Lethargie ergriffen, die nicht weit von Trance oder Hypnose entfernt sein konnte. Der ewige Springbrunnen mit seinem ewigen Sprudeln half da auch nicht weiter. Er litt nicht unter Einsamkeit, es sei denn, man verstand Einsamkeit als die Summe bestimmter körperlicher Symptome: weniger ein Zustand als eine Umgebung, wie große Höhen oder Tiefen, und dadurch atmete er zwangsläufig anders, in einem anderen Rhythmus. Manchmal hatte er Ohrensausen. Er wartete darauf, dass etwas passierte, und manchmal führte die Isolation auch dazu, dass etwas passierte, aber nicht so, wie er es sich vorgestellt hatte.

Zwei bis drei Stunden lang gab es ein Kommen und Gehen, die übliche Kundschaft dieser Art von Etablissement, junge und weniger junge Führungskräfte, Individuen auf der Durchreise, die dort im Rahmen ihrer Stellung, ihrer Mission untergebracht waren, obwohl einige, so seltsam es auch erscheinen mag, Geschmack daran gefunden zu haben schienen. Betriebsräte, Wissenschaftler auf Konferenzen. Paul interessierte sich nicht für sie und sie interessierten sich noch weniger für Paul, auch wenn dies einen höflichen Wortwechsel, einen gelegentlichen Witz nicht ausschloss; sobald man sich umdrehte, verschwand das Lächeln von den Gesichtern und die Gesichter aus dem Gedächtnis. Dann wurde es totenstill, und an manchen Abenden, wenn mehrere Stunden lang niemand kam oder ging, weder durch die Lobby noch auf den Bildschirmen, wenn er seinen Stuhl mit dem Absatz etwas herumdrehte, nur ein wenig, zwanzig oder dreißig Grad, ohne darüber nachzudenken, und kein menschlicher Laut das Sprudeln des Wassers überdeckte, des ewigen Springbrunnens, der das erschuf, was Architekten ein Klima nennen – dann passierte etwas. Paul bemerkte es nicht, denn Paul wartete darauf, dass etwas vor seinen Augen geschah, dessen Zeuge er sein würde. Aber das, was geschah, geschah in seinem Inneren. Er saß dort, zwischen den Bildschirmen, die leere Aufzüge und leere Gänge und Dauernachrichtensender zeigten, und die Zeit verging, immer langsamer, als er es sich gewünscht hätte, und plötzlich, auf dem Höhepunkt seiner Langeweile, erschien ihm wie blitzartig etwas, zum Beispiel schien es ihm, dass sich die druckluftgesteuerten Türen gerade mit einem Seufzer geöffnet hatten, aktiviert durch die Bewegung eines Körpers, obwohl niemand da war; oder dass jemand gerade durch eines der neun Überwachungsfenster gelaufen war; oder, sehr detailreich, dass eine Frau am Rand des Springbrunnens saß, mit nassen Haaren, die sie gerade darin gewaschen hatte. Und er weiß, dass sie da ist, genau wie er weiß, dass sich die Tür gerade geöffnet hat und dass jemand hereingekommen ist – er weiß es und sie ist da, sie sind alle da, so lange, bis er aufblickt. Das Wasser tropft aus ihrem Haar auf ihre Bluse und durch die Feuchtigkeit wirken ihr Haar und ihre Kleidung dunkler, sie sieht ihn an, sie lässt sich Zeit, er auch. Er weiß genau, wo ihre Augen sind, aber sobald er aufschaut, ist dort niemand, wie er von Anfang an wusste.

Paul verjagte diese Eindrücke wie Streiche, die sein Verstand ihm spielte, wie Müdigkeitserscheinungen, künstliche Lichteffekte auf einer Oberfläche. Er betrachtete diese Sekunden, diese Irrtümer, nicht als Ereignisse. Er wartete. Er wartete, aber als er eines Nachts, nachdem die Türen verschlossen waren – ab einer bestimmten Uhrzeit mussten die Gäste klingeln, damit ihnen geöffnet wurde –, auf seinem Überwachungsbildschirm die auf der Straße wartende Amélia Dehr entdeckte, wie eine Erscheinung, ergriff ihn die Panik. Nie hatte er auch nur daran gedacht, sie dort anzutreffen, um zwei, drei Uhr morgens, an seinem Arbeitsplatz.

Seinen eigenen Aussagen zufolge war er jedoch nicht beeindruckt. Er fand sie ein wenig lächerlich oder fand lächerlich, was über sie gesagt wurde – was für ihn, der nie auch nur ein Wort mit ihr gewechselt hatte und auch keinen Grund dazu sah, ein und dasselbe war. Was man an der Uni über sie erzählte, hatte eine ganz andere Tragweite: ein Gewirr jugendlicher Phantasmen, sie war von atemberaubender Schönheit und ihre Seele war schwarz, Wenn sie einen Raum betritt, läuft jemand weinend heraus, ihr Vater war reich, oder tot, oder reich und tot; sie war Erbin, sie war die Erbin der Elisse-Hotels, sie hatte Dutzende von Liebhabern; sie war dieses, sie war jenes, eine Geschwulst von Klischees; so sehr, dass Paul, wie das eben so ist, als er sie zum ersten Mal sah, als jemand sie ihm in der Cafeteria zeigte, die sie gerade betreten hatte und mit ihrem Blick überflog, als ob sie jemanden suchte oder eher als ob sie die Notausgänge ausfindig machte, überhaupt nicht beeindruckt war und sie, zwangsläufig, kleiner fand, als er sie sich vorgestellt hatte. Kleiner und weniger symmetrisch, die Gesichtszüge weniger legendär, er wusste nicht, was er hätte erwarten sollen, aber jedenfalls nicht das, nicht eine Rothaarige, sie hatte diese Art von Haar, die im Gegenlicht lodert, und sie in den Armen zu halten, hatte Paul bei sich gedacht, war bestimmt eine Art Notbehelf, ein Ersatz, etwas, das man tat, wenn man wissen wollte, wie es ist, einen Fuchs anzufassen, ihn mit bloßen Händen zu packen und in seinem Mantel zu verstecken. Was für eine seltsame Vorstellung das war, was für eine seltsame und dunkle Erotik, und sowieso, hatte Paul bei sich gedacht, wenn dieses Mädchen einen derartigen Ruf hatte, dann weil diejenigen, denen sie gefiel, diejenigen, denen diese Haare gefielen, auch Gefallen fanden an einer bestimmten Art Gefahr; einer lebendigen Gefahr; und ihr den Hof machten und sich dann beschwerten, wenn sie gebissen wurden. Das ist Amélia Dehr?, hatte Paul gefragt und das Gesicht zu einer nicht gerade überzeugten Schnute verzogen, und seine Skepsis hatte einen Teil des Tisches vor Genugtuung, vor Genugtuung, aber auch vor Schreck – fast vor Schreck – erschaudern lassen, als ob er etwas viel Größeres in Frage stellte als die Existenz dieses Mädchens dort, an dieser Tür da. Als ob die Instabilität, die er gerade in das eingeflößt hatte, was bisher als Tatsache gegolten hatte – Amélia Dehr verdiente es, angeschaut zu werden –, sich zu verbreiten und andere Dinge zu kontaminieren drohte, von denen man allen Grund hatte, zu wünschen, sie mögen stabil bleiben, sie mögen so bleiben, wie sie waren.

Und hier war sie wieder, an der Tür zu einem Ort, an dem er sich befand; aber es war nicht wie an jenem Tag in der Universität, wo er sich seines Terrains sicher gewesen war, wo er sich stark gefühlt hatte durch die Gegenwart seiner Freunde, seinesgleichen. Dieses Mal war er allein, und sie war allein. Sie draußen, er drinnen. Also war es wahr, alles war wahr, sie wohnte im Hotel. Mit einem seltsamen Herzklopfen zog er in Betracht, ihr nicht zu öffnen, sondern sie dort stehen zu lassen, draußen, die ganze Nacht lang. Ja, die ganze Nacht lang, wenn es nötig sein sollte. Sie klingelte noch einmal, und Paul entriegelte schließlich die Glastür, die sich öffnete, um Amélia Dehr hereinzulassen. Und dann tat Paul etwas, das er noch nie zuvor getan hatte: Er versteckte sich. Er ließ sich leise auf den Fußboden rutschen, als ob seine plötzlich leeren Kleider zu Boden glitten und duckte sich unter seinen Schreibtisch. Er hörte Amélia Dehrs Schritte auf den Fliesen, auf diesem marmorierten grünschwarzen Boden, in dem man sich, wenn auch nur oberflächlich, wie in einem trüben Gewässer spiegelte, das die Silhouetten verzog. Er hörte, wie sie vor der Rezeption stehen blieb, zögerte, und dann zum Aufzug ging. Und er, während dieser ganzen Zeit, war nicht auf, sondern unter seinem Posten. In vagem Bewusstsein der Schande, die es darstellte, dort zu arbeiten, wo sie wohnte, was darauf hinauslief, dachte er, für sie zu arbeiten; und das, das konnte sein Stolz nicht verschmerzen, nein – sein Stolz war so real wie ein inneres Organ, ein lebenswichtiges Organ, und das wäre, dachte er, unter dem Druck von Amélia Dehrs Blick explodiert. Und das alles war durchaus verständlich und beruhte auf einem Denkfehler, oder, eher als auf einem Denkfehler auf einer Widersinnigkeit, denn wenn etwas eine Schande war, dann lag sie bei denen, die dort wohnen, wo Andere arbeiten, sie lag bei Amélia Dehr. Sie, zu ihrer Verteidigung, war sich dessen bewusst; aber Paul nicht, es war stärker als er; in seiner Unzufriedenheit darüber, arm zu sein, fühlte er sich auch schuldig, arm zu sein, er glühte vor Scham über alles, was ihm fehlte. Natürlich fehlte es ihm außerhalb des Sichtfeldes von Amélia Dehr an gar nichts; und so zog er es vor, sich unter den Tresen zu ducken, sich ganz klein zu machen, statt auf seinem Posten zu sein und somit unter ihren Blicken, zerfressen von Mangel, ausgehöhlt von Demütigung.

Dann begann ein seltsamer Walzer voller Ausweichschritte zwischen Paul und Amélia, oder zwischen Paul und der Amélia, die er vor sich sah, auf dem Bildschirm, oder zwischen Paul und der Amélia, die er sich ausmalte und die letztendlich wenig mit der echten gemein hatte, außer einigen fehlinterpretierten Zeichen, teurer Kleidung oder Kleidung, die Paul für teuer hielt; und Männern, dem Kommen und Gehen von Männern, junge und weniger junge, die unten, auf den Bänken vor der Rezeption und vor Paul warteten, und er schaute Amélia zu, wie sie ihr Zimmer verließ und hinunterging, ohne sich zu beeilen, und manchmal ihre Hand mit den geradegeschnittenen Nägeln an der Wand entlanggleiten ließ, als ob sie nur so herumschlenderte; er schaute sie im Aufzug an, sie hatte eine überraschende Art, sich nachzuschminken, fast brutal, und die ersten paar Male hatte er nicht verstanden, was sie machte, vor dem Spiegel biss sie sich in die Lippen, sie kniff sich in die Wangen, in Schwarz-Weiß konnte man natürlich nicht sehen, wie das Blut hineinstieg und ihre Haut kosmetisch rosa machte, was ihr ein gesundes, lebendiges Leuchten verlieh, das sie, nach diesen Gesten und ihrer Blässe zu urteilen, an sich zu vermissen schien; aber wenn sich die Aufzugskabine dort, fünf Meter von ihm entfernt, öffnete, erfand Paul eine Aufgabe im Nebengebäude oder vertiefte sich in ein sichtlich (hoffte er) spannendes Gespräch mit diesem oder jenem seiner Kollegen. Oder er kehrte ihr ganz einfach, und ziemlich ungehobelt, den Rücken zu, während Amélia durch die Lobby ging, ihren Kavalier begrüßte (woher habe ich denn dieses Wort, fragte sich Paul; diese Männer waren alles andere als das, alles andere als Kavaliere), und entweder mit ihm hinaus oder nach oben ging, und wenn sie mit ihm nach oben ging und sie sich in ihrem Zimmer einschlossen, verbrachte Paul dann mehr Zeit als ihm lieb war damit, den leeren Korridor im dritten Stock zu beobachten und darauf zu warten, dort jemanden zu sehen, der nicht wieder herauskam, nie wieder herauskam. Vielleicht sind sie alle da drin, dachte Paul bei sich, als er seinen Dienst beendete; vielleicht ist es eines dieser Zimmer, die man betritt und nie wieder verlässt.

Er sah sie manchmal ins Untergeschoss gehen, ins Fitnessstudio; manchmal saß sie in dem leeren Restaurant, im Halbdunkel, und er fragte sich, was sie dort machte – dort oder in den leeren Besprechungsräumen, deren Türklinken er sie eine nach der anderen versuchen sah, um einen offenen zu finden, und es gab immer einen, da die Mitarbeiter oft nachlässig waren, oder weniger nachlässig als in Eile, und vergaßen, sie nach den Betriebsratsversammlungen, nach den Industriekonferenzen, all diesen Veranstaltungen, deren Teilnehmer vor Langeweile umkamen, abzuschließen; es kam sogar vor, dass Paul hinunterging, und auf den Überwachungsbildschirmen konnte ihn niemand sehen, da er, Paul, ja im Untergeschoss war, man hätte meinen können, dass er die Türen abschloss, während er jedoch, dank seiner Schlüsselkarte, sicherstellte, dass einer der Räume offen blieb, zu Amélia Dehrs Verfügung, falls es ihr belieben sollte, sich an diesem Abend dorthin zurückzuziehen.

Ein paar Mal gab es Zwischenfälle, zu laute Partys, ausgelöste Rauchmelder, und ein- oder zweimal Schreie, Ich weiß nicht, was nebenan los ist, hatte die besorgte Zimmernachbarin gesagt, deren Namen Paul nie erfahren hatte; Ich weiß nicht, was los ist, aber man hört, wie Dinge zerschlagen werden, Stimmen sich überschlagen, da bin ich mir sicher; und vielleicht zerschlagen sie auch Möbel; und vielleicht, hatte sie angesichts von Pauls unbeeindruckter Miene hinzugefügt, auch Knochen; und Paul hatte in dieser Nacht keine andere Wahl gehabt als hinaufzugehen, diese Frau an seine Fersen geheftet, und an die Tür von Amélia Dehrs Zimmer zu klopfen, auch wenn vom Flur aus nichts zu hören war und sein Herz zum Zerbersten hämmerte, vor Scham und noch etwas Anderem; zu klopfen, dann gegen die Tür zu trommeln, und Amélia Dehr hatte schließlich geöffnet, ein wenig außer Atem, aber mit ruhigem Blick; obwohl ihre Lippen, hatte Paul bei sich gedacht, aussahen wie frisch gebissen, von jemand Anderem gebissen; und sie hatten sofort, ohne sich abzusprechen, wie in stillschweigender Übereinkunft, wie Verbündete bei einem Verbrechen, das es noch auszuhecken galt, beide so getan, als ob sie einander nicht kannten, als ob sie einander nie gesehen hätten. Ist alles in Ordnung bei Ihnen?, hatte Paul gefragt, und Amélia hatte geantwortet: Ja vielen Dank, alles in Ordnung, und es lag kein Lächeln in ihrem Blick. Er hatte versucht, an ihr vorbei ins Zimmer zu schauen. Ein zerwühltes Bett. Ein leicht geneigter Lampenschirm. Nichts.

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Nachdem Paul und Amélia Dehr überhaupt nichts füreinander gewesen waren, aber bevor sie Freunde und Liebhaber (oder Liebhaber und Freunde) wurden, standen Paul und Amélia Dehr miteinander im Wettbewerb. Ein diskreter, aber erbitterter Wettbewerb, und sie war diejenige, die gewann, was Paul damals wie eine Tragödie vorgekommen war, bevor es ihm mit der Zeit wie ein Segen erschien. Damals war der unbestrittene Star ihrer Universität, aller Universitäten (glaubten sie) Anton Albers, und nicht wenige warteten seit dem Morgengrauen vor dem Hörsaal, lange vor der Vorlesung, um sich einen Platz zu sichern. Das Warten, würde Paul später sagen, war Teil der Vorlesung. Das Warten, würde Amélia später sagen, war die Vorlesung; aber dem stimmte er nicht zu, stimmte er überhaupt nicht zu, seiner Ansicht nach war er nur unter den Fittichen von Anton Albers zu dem geworden, der er war. Amélia ganz offensichtlich nicht. Amélia war bereits, wer sie war; was Paul damals wie ein Segen vorgekommen war, bevor es ihm mit der Zeit wie eine Tragödie erschien. Sie war bereits wer, sie war: Sie konnte sich also nur noch verfallen lassen.

Anton Albers war ein internationaler Star, aber Paul wusste das nicht, man muss sagen, dass er bei seiner Ankunft absolut gar nichts verstand, er verirrte sich auf den Straßen, verirrte sich in den Fluren und in seinen Gedanken. Er brauchte zwei Wochen, um Albers’ Hörsaal zu finden, und als er ihn schließlich betrat, ging er gleich wieder hinaus, weil die Vorlesung voll war, die Notausgänge blockiert, und außerdem hörten diese Studenten, die in den Gängen saßen, auf den Stufen, an die Türen gelehnt, einer Frau zu, und Paul war sich sicher, dass dieser Professor, den er suchte, ein Mann war. Derart war sein anfänglicher Grad an Unwissenheit: Er hatte nicht einmal verstanden, dass Anton Albers eine Frau war. Eine kleine unauffällige Frau, deren Alter unmöglich zu erraten war, obwohl sie kein Geheimnis daraus machte: Sie war in Buenos Aires geboren, kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, Tochter eines deutschen Ingenieurs und Nazi-Sympathisanten, der mit dem Architekten Albert Speer in Korrespondenz stand und mit Wernher von Braun, dem Vater der Raketen, der in den Vereinigten Staaten mit offenen Armen empfangen worden war. Albers hingegen entschied sich für Argentinien, wo er seine Frau kennenlernte, dann für Chile, wo Antonia Albers in einer Seifenblase aufwuchs, bevor sie sich allein und minderjährig nach Mexiko und dann in die Vereinigten Staaten aufmachte. Sie benutzte nie das Wort Flucht, obwohl es genau das gewesen war; und äußerte sich stets nur in leeren, allgemeinen Floskeln über ihre Kindheit, die einen Eindruck von Vertrautheit erweckten, obwohl sie eigentlich gar nichts darüber gesagt hatte, ein Vater, eine Mutter, die Sonne auf der Terrasse, ein Hund. Der Vergangenheit ihrer Familie zum Trotz war es ihr Vorname, den sie änderte, sie amputierte eine Silbe, ein weibliches Suffix, aus Antonia wurde Anton; die wenigen Fotos aus dieser Zeit scheinen einen mageren jungen Mann mit feinem Haar und schmalen Lippen zu zeigen. Bedeutet das, Frau Albers, dass es schwieriger war, mit einer weiblichen Gegenwart, der Gegenwart einer Frau, zu leben, als mit einer zweifelhaften Vergangenheit?, ist eine der Fragen, die ihr oft gestellt wurden, und auf die sie nie geantwortet hat, Ich lasse Sie, sagte sie oft, Ihre eigenen Schlüsse ziehen; und einige verehrten diese Uneindeutigkeit, diese Weigerung sich zu äußern, die ihr eigentliches Engagement war und nach Pauls Ansicht eine Aufforderung, Autonomie zu beweisen, wirklich und, sofern man denn dazu in der Lage war, eigenständig zu denken. Und Andere verachteten sie, fanden sie feige, kurz gesagt unerträglich. Ihre Biografie ist nebulös, löchrig, sie studiert in verschiedenen Zeitzonen und auf allen Kontinenten. Sie scheint eine ewige Studentin zu sein, die Verfasserin einer Dissertation in Geschichte über die Nacht und einer Dissertation in Jura über die Nacht und einer Dissertation in Stadtplanung über die Nacht – es sei denn, es handelt sich immer um denselben Text, der in ihren offiziellen Biografien aufgeführt wird, den sie sich aber immer geweigert hat zu veröffentlichen, und später, als sie zu der Ikone wird, die sie ist, bewundert oder verleumdet, ist der Text aus dem Archiv der Universität Berkeley verschwunden, und wie üblich, wenn man das Albers gegenüber erwähnt, lächelt sie verschmitzt und zuckt mit den Schultern. Es fehlte ihr nicht an einem gewissen Charme, ihre Schönheit war jedoch die der Jugend gewesen und seit Anfang dreißig sah Albers so aus wie jetzt, als Paul sich seinen Weg durch den Hörsaal bahnte, ein asexuelles, schalkhaftes, altersloses Gesicht; wie manche Einsiedler, manche Nonnen. Es ist nicht klar, wann sie aufhört, sich als Mann auszugeben, vielleicht während ihrer Promotion, vielleicht später. In den 1960er Jahren und in der amerikanischen Wüste verkehrt sie mit Künstlern, mit solchen, die riesige Gräben in den Staub graben und das dann Kunst nennen; mit solchen, die Krater kaufen, um in den Himmel zu schauen, und das dann Kunst nennen; und die, von wenigen Ausnahmen abgesehen, kein gutes Ende nehmen. Kein gutes Ende zu nehmen ist etwas Konstantes, sei es bei Menschen, die Albers nahestehen, sei es allgemein bei solchen, deren Gesellschaft auch nur von geringstem Interesse ist. Sie hat eine Tochter, was einen fast überraschen könnte, die sie eher spät oder für die damalige Zeit eher spät zur Welt bringt und deren Vater nicht bekannt ist; das Kind lebt nicht lange. Damals hatte ihre Forschung bereits die ihr eigene Richtung eingeschlagen, hin zu der Poetik des Risikos, zur Zukunft der Städte, und somit, ihrer Ansicht nach, zur Zukunft der Welt. Ab diesem Zeitpunkt verläuft ihre Karriere außerhalb der traditionellen Bahnen, hebt ab; wird zu etwas Anderem, zu einer Philosophie, einer Vision, sie unterrichtet auf der ganzen Welt, sie spricht von verlorenen Städten und Piraten, sie spricht von verschwundenen und neu entstehenden Emotionen. Sie spricht vom Siegel des Grabes des Tutanchamun, einem Knoten, der dreitausendzweihundertneunundvierzig Jahre hielt. Ende der 1980er Jahre stellt sie als Antwort auf eine Frage zur europäischen Integration die Behauptung auf, dass nichts dem Europa der Zukunft so sehr ähnele wie eine belagerte Stadt. Auf die Frage, wie sie das 21. Jahrhundert sehe, antwortet sie in tadellosem Französisch: Im 21. Jahrhundert werden wir alle im Sicherheitsbereich sein, was der Journalist mit »in Sicherheit sein« wiedergibt, eine Fehlauslegung, aus der Anton Albers, wie sie mit ihrem ewigen unergründlichen Lächeln erklärt, Inspiration für zehn Jahre Arbeit zieht.

Ihre Vorlesungen selbst waren seltsam, faszinierend, sie hatte eine gleichzeitig klare und obskure Art zu sprechen, die nur ihr eigen war, es war eher, als würde man jemandem zusehen, der die Zukunft voraussagt, ja, es war eher so wie diese Sendungen, in denen man eine Zauberin sieht, eine Wahrsagerin oder Seherin, die mit dem Geist der Toten Kontakt aufnimmt, nur dass Albers in direkter Verbindung mit der zukünftigen westlichen Welt zu stehen schien, mit der Zukunft des Kapitalismus und der Industrie, während jene Leute, die Paul beim Zuhören in den Sinn kamen, ausnahmslos Betrüger waren. Der Titel dieses Semesters lautete »Die Stadt von morgen«, aber bisher hatte sie anscheinend nur über Angst gesprochen. Sie rekonstruierte, Stunde für Stunde, Woche für Woche, die Geschichte dieses Gefühls. Als der Herbst seinen Lauf nahm, als eisiger Regen auf die Glaskuppel des Hörsaals trommelte und sie noch kein einziges Mal »die Stadt« oder zumindest »morgen« erwähnt hatte, lichteten sich die Reihen, die Studenten blieben fern. Paul ging weiter hin, nicht wie man zum Unterricht geht, sondern eher wie man sich zu einer geheimen Zeremonie begibt, die ganze Zeit schien es ihm, als ob sie mehr sagte, als sie sagte, aber dieses Mehr, die verborgene Bedeutung entzog sich ihm unentwegt, wie eine Idee, die einem auf der Zunge liegt, das Wort, das einem fehlt, um den Tag, die Nacht zu verstehen, und all den Verrat, dessen man sich noch nicht imstande weiß, mit dem man aber dennoch bald zu leben versuchen muss.

Albers sprach über diese heute verschwundenen Städte, Städte mit einer, zwei oder drei Befestigungsmauern, mit unterirdischen Gängen, die ein Regiment von hundert Reitern beherbergen konnten, und sie las ihnen auf Altfranzösisch alle protokollarischen Einzelheiten vor: wie die Türen bei Einbruch der Dunkelheit zu schließen und Reisende unter Quarantäne zu stellen waren, die das Pech hatten, in der Finsternis einzutreffen und die Morgendämmerung abwarten mussten, in dieser steinernen Schleuse, diesem Raum zwischen zwei Räumen, diesem Kerker, dieser Schwebe. Und dann sprach sie über die Angst vor Wölfen, die Angst vor den Türken, sie zeichnete Luftansichten von Schutzwällen und Schemata der Ausbreitung von Angst und Schrecken, immer vom Innersten zum Entferntesten, betonte sie; was sie auf diese Weise über die Stadt und über morgen, über die Stadt von morgen sagen wollte, blieb ungewiss, aber das Thema der ersten Klausur präsentierte sich in Form einer Frage, und diese Frage war: Kann eine Stadt vor Angst sterben?

Die Reihen lichteten sich, aber Amélia Dehr, die nur selten zur Universität ging, verpasste nie eine Vorlesung, ebenso wenig wie Paul, und im zweiten Semester, als es darum ging, sich für die Wahlpflichtseminare anzumelden, waren sie die ersten, die ihre Namen auf die Liste von Anton Albers schrieben, die sie noch nicht kannte und keinerlei Anzeichen von Genugtuung zeigte, oder die sie bereits besser kannte, als sie dachten, was ohnehin nichts an ihrem Gesichtsausdruck änderte, einem vagen Anschein gleichgültiger Zufriedenheit oder zufriedener Gleichgültigkeit, wie eine Frau, die zutiefst davon überzeugt ist, dort zu sein, wo sie zu sein hat, und langsam (sehr langsam) das zu tun, was sie zu tun hat. Sie standen im Wettbewerb, wie es begabte und stolze junge Menschen tun, die in ihre eigene Intelligenz verliebt sind, die sie entdeckten, weil Albers, und nur sie, sie auf die Probe stellte; und ihr folgend waren sie geradezu gezwungen, sich in Gebiete vorzuwagen, die sie ohne sie nie betreten hätten oder erst viel später, gefährliche Gebiete, die sie, von Angst erfüllt vor dem, was sie von der Welt erfuhren oder von der Welt erahnten, erkundeten, aber vor allem hatten sie Angst, in einem Satz, einer Idee auf die Grenzen ihrer eigenen Intelligenz zu stoßen, was sie in den mittelalterlichen Furchtzustand derjenigen verfallen ließ, die in dem Glauben, dass die Erde flach sei, ihren Rand suchten und fürchteten, ihn zu finden. Sie sprachen kaum miteinander, Amélia und Paul, aber es ging darum, wer mehr gelesen hatte, wer alles gelesen hatte, sie kommunizierten über abwechselnd in der Bibliothek ausgeliehene Bücher, jeder im Regal fehlende Band war für Paul eine Beleidigung, der Beweis für die Existenz Amélias und ihre mögliche Überlegenheit. Letztendlich war das alles nichts Außergewöhnliches, aber ihre latente Rivalität trugen sie auch auf einem anderen Terrain aus, das überhaupt kein Terrain war, sondern dessen Gegenteil, eine Instabilität, eine Art dunkler Ozean – Albers gegenüber standen sie in einem Wettbewerb, wie nur zwei Halbwaisen ohne Mutter es können. Und in dieser Hinsicht sollte Amélia eindeutig gewinnen, was Paul fast das Herz brach, aber er fand sich damit ab, als ob er von Anfang an erwartet hätte, kläglich zu unterliegen. Albers und Amélia schienen sich sehr nahezustehen, schon im Unterricht ärgerte er sich darüber, ohne sich etwas anmerken zu lassen, was war denn bloß so interessant und bemerkenswert an diesem Mädchen?, wütete er innerlich (die Antwort: die Intuition des Desasters, der Instinkt der Katastrophe), und eines Abends, während der Februarferien, als es ihm vorkam, als ob alle verreist seien, Skifahren oder bei ihren Familien oder noch schlimmer Skifahren mit ihren Familien, und er in der Stadt geblieben war, einer kalten und feuchten Stadt, um sich ein paar Groschen zu verdienen, und sein Herz vor lauter Verlassenheit und Traurigkeit und Feuchtigkeit ganz beklommen war, entdeckte er, wie vertraut seine geliebte Professorin und Amélia Dehr wirklich miteinander waren, es war wahrhaftig ein schwieriger Monat für ihn. Geld war ein Problem, er hatte sich bei einer Zeitarbeitsagentur angemeldet und Einsätze im Wachdienst gefunden. Lagerhallen, Parkhäuser, im Dunkeln, im Echo seiner eigenen Schritte. In Uniformen, die für sich allein genommen eine semantische Anstrengung darstellten, eine Sprache. Sie hatten die Ausrüstung der französischen Bereitschaftspolizei zum Vorbild und strahlten etwas Militärisches, Paramilitärisches aus; hatten sich aber doch davon zu unterscheiden. Alles sollte an die Armee erinnern – eine der Stadt übergebene Privatarmee – und sich gleichzeitig von ihr abheben, und nie war Paul unglücklicher gewesen als in seinen hohen Schnürstiefeln, in seinen verstärkten Nylonjacken, mit dem gegen seine Hüfte schlagenden Gummiknüppel. In Lagerhallen. In Parkhäusern.