Anna Schreiber
Körper sucht Seele
Anna Schreiber
Körper sucht Seele
Eine Psychotherapeutin blickt zurück
auf ihre Zeit als Prostituierte
Mit einem Geleitwort
von Eugen Drewermann
Inhaltsverzeichnis
Geleitwort von Eugen Drewermann
Vorwort
Wie alles begann
Zeitsprung
Innensicht
Es fängt arglos an
Überschreiten ihrer eigenen Grenzen
Das Gefühl „falsch“
Heutige Sicht
Das Erleben des Getrennt-Seins
Die Trennung ist eine Illusion
DER ERSTE FREIER
Zeitsprung
Außensicht
In roten Stiefeln in die Hände fremder Männer
„Geschäftstreffen“ zum Sex gegen Geld
Innensicht
Der männliche Blick auf „käufliche“ Frauen
Ausgleich durch Geld
Das erste Mal – eine unheilvolle Initiation
Geld für „verrichtete“ Sexualität
Heutige Sicht
Die unheilvolle Verbindung von Sex und Geld
Sexualität: Dienst am Leben versus Ort der Grausamkeit
DIE AGENTUR
Zeitsprung
Außensicht
Im idyllischen Dorf
Ein verklemmter Mann und der neue Ton
Eine gewisse Alltagsroutine
Innensicht
Prostitutionsname
Die Bordellbetreiberin
Bezahlt wird das Sich-auf-den-Mann-Einstellen
Der Mythos der Freiwilligkeit
Der Mann sagt, was er „will“ – die Prostituierte gibt, was er „braucht“ – zwei Beispiele
Die Erregung des Mannes am Widerstand der Frau
Fragen nach dem Privatleben
Dissoziation
Der Prostitutionsverdienst – zwischen Stolz und Scham
Loyalität der Frauen untereinander
Alkohol
Verachtung
Heutige Sicht
Die Sehnsucht des Mannes und Pornografie
Pornokonsum und seine Auswirkungen
ESCORTSERVICE UND HAUSBESUCHE
Zeitsprung
Außensicht
Escortservice
Hausbesuche
Fürst Metternich
Der Flugmodellkonstrukteur
Begleitung in Clubs
Paar ordert Paar
Innensicht
Warum ein Callgirl in der ehelichen Wohnung
Wie Prostitution die Ehe erhält
Warum Kontakt gefährlich ist
Die Frau als schmückende Beilage – der Hedonist
Ein geliebter Mensch darf keinen Sex gegen Geld machen
Heutige Sicht
Männer machen Prostituierte
Die Not der Männer, ein Tabu: Um Not zu lindern, müssen wir die Not derer verstehen, die sie verursachen
Die unerfüllte Sehnsucht des Mannes nach der Frau
Sehnsucht und Liebe
Intuition und intersubjektive Wahrnehmung
Paardynamik der Abweisung
Wenn der eigene Mann zu einer Prostituierten geht
Weibliche Selbstabwertung und Fehlannahmen
GEFAHR UND RETTUNGSVERSUCHE
Zeitsprung
Außensicht
Wohnwagen
Devot
Ich finde meinen Körper nicht mehr
Eine Lösung muss her: Telefonsex
Eine Lösung muss her: Strip, Bar und Séparée
Eine Lösung muss her: Anspruchsvoller Club
Das letzte Mal
Innensicht
Devote Szenerie
Harmlose Unterhaltung in harmlosen Etablissements?
Heutige Sicht
Prostitution: ein Beruf wie jeder andere?
Wenn äußere Verurteilung verinnerlicht wird
Innere Unvereinbarkeit – am Beispiel der On-off-Beziehung
DIE DOMINA
Zeitsprung
Außensicht
Outfit einer Domina
Ich lerne schnell
So kann es nicht weitergehen
Nie wieder Geld für Sex – es hört auf
Innensicht
Definitionen
Aktuelle Mediendarstellung
Wirkung der medialen Darstellungen
Der zahlende Mann bestimmt – auch hier
Was sucht ein Mann bei einer Domina?
Macht und Unterwerfung
Domina – auch ein Faszinosum für Frauen
Heutige Sicht
Begriffsklärungen
Nicht unsere Schwäche fürchten wir, sondern unsere Kraft
Unsere weibliche Göttinnennatur
In der Sexualität dem Mann als Göttin begegnen
DER WEG DES HEILENS
Zeitsprung
Die Heilung
Heilung geht den Weg über Verletzung
Nichtverurteilen heilt
Meine Heilungsräume und -wege
Heilungsraum: Klarheit
Heilungsraum: Liebesbegegnungen
Heilungsraum: Öffentlichkeit
DAS GUTE, DAS IST
Die Prostituierte als Lehrende
Die Prostituierte ist stolz
Die Prostituierte ist mutig
Die Prostituierte ist außergewöhnlich
Die Prostituierte weiß sich begehrt
Die Prostituierte verfügt über Wissen
Die Prostituierte kennt ihren Wert
Die Prostituierte zeigt sich
Die Prostituierte kennt Lösungen
Was mich die Prostitution gelehrt hat
Lust und Leid fließen ineinander
Dankbarkeit
Wie kostbar ist das Leben
Ich verneige mich tief vor dem Leid der Menschen
Die Tiefe männlicher Liebe
Ich achte die Weiblichkeit in ihrer Fülle
Wir sind lebenslang Lernende, Übende, Erforschende
Wir sind im Liebesdienst
Gewahr werden – manchmal bleibt nur das
Unser Körper als Eintrittspforte
Dank
Nachweis der Quellen
„Stark wie der Tod ist die Liebe,
die Leidenschaft ist hart wie die Unterwelt.
Ihre Gluten sind Feuergluten,
gewaltige Flammen.
Auch mächtige Wasser
können die Liebe nicht löschen,
auch Ströme schwemmen sie nicht weg.“
(Hoheslied 8,6–7)
Geleitwort von Eugen Drewermann
Wenn eine ehemalige Prostituierte beschreibt, was sie erlebt hat, erwartet man Erregendes, Aufregendes, Enthüllendes – die Fortsetzung erlittenen Leids durch Selbstveröffentlichung. Dies Buch ist anders. Es glaubt an die Liebe; und es findet sie selbst noch in den bizarrsten Formen des Begehrens, des Entbehrens, des Entehrens wieder.
Was sucht denn jemand wirklich, der „es“ sich für Geld besorgen lässt? Anerkennung sucht er, Gemochtsein sucht er, Bestätigtwerden sucht er – und verhindert es, indem er, was ihm als Person so wichtig ist, in eine käufliche Ware verwandelt. Er bestätigt das Gefühl des eigenen Unwerts, indem er seinen Wert abhängig macht von der Entwertung eines anderen.
Damit, ob er es weiß oder nicht, wird er selber ein Abhängiger. Er bekommt nie, was er sucht. Er wird ein Süchtiger. Er betrügt sich selbst. Er glaubt, seine Freiheit und Macht zu genießen, während er in Wahrheit ein Getriebener ist, ohnmächtig ausgeliefert dem Verlangen nach einer Erfüllung, die ihn immer mehr entleert. Was er als Liebe kauft, ist eine Hülle ohne Inhalt, ein kurzzeitiges Illusionstheater, das vielleicht ein wenig seine Sinne, niemals seine Seele zu befriedigen vermag. Und er bezahlt nicht nur mit Geld, er zahlt auch ein mit Schuld- und Schamgefühl und nicht zuletzt mit Einsamkeit und Selbstentfremdung. Die Rechnung, die da aufläuft, wird mit der Zeit schier unbezahlbar.
Was aber macht es mit der Frau, die für Geld „sowas“ mit sich machen lässt? Davon vor allem erzählt dieses Buch, aus persönlicher Erfahrung, in Beobachtungen, wenn „es“ geschieht, in Reflexionen über die Bedeutung des Geschehenen, in Rückblicken auf das, was damals war, und im Hinblick auf das, was es in der Gegenwart an Spuren hinterlassen hat.
In der Gegenwart ist die Autorin Psychotherapeutin, und um sich dahin zu entwickeln, musste sie die Zeit als Prostituierte einer ehrlichen Analyse unterziehen. Wie wird jemand eine „Käufliche“? – Nein, nicht in Selbstbestimmung und in freier Berufswahl. Sie hat keine Wahl. Sie hat einen Mann, den sie für ihren Retter hält und wirklich liebt und der sie doch nur schamlos ausnutzt, sie hat ein Kind, für das sie sorgen muss und dem sie niemals sagen kann, womit sie ihren Unterhalt verdient. Auch sie betrügt sich selbst. Auch sie ist eine innerlich wie äußerlich Getriebene. Wie hält sie durch, wenn sie sich hinhält?
Sie muss ihre Gefühle abspalten, sie muss darstellen und sein, was sie weder empfindet noch ist, sie muss ihre Seele aus dem Körper zurückziehen, bis er nur noch seelenlos bedienbar und bespielbar wird. In einer Berufsausübung ohne Berufung, in der ständig von Liebe die Rede ist, darf die Berufsausübende keinerlei Liebe mehr verspüren – es brächte sie um; denn es holte ihre Seele zurück, es brächte ihre Persönlichkeit wieder zum Vorschein. Das darf nicht sein, wenn es weitergehen soll. Nur: es geht nicht weiter.
Irgendwann wird der Ekel vor der Berührung, die keine ist, nur eine mit Geld kaschierte Gewalt, bis in die Symptombildungen des Körpers hinein unüberwindbar. Anna Schreiber hat dieses Gefühl immer höher getrieben und immer mehr an den Rand; um nicht mehr angefasst zu werden, floh sie als „Tänzerin“ auf die Bühne und als „Unterhalterin“ ins Séparée; schließlich wurde sie „Domina“, um Menschen zu beherrschen, die sie zur Sklavin der eigenen Selbstversklavung machten.
Es ist, als wenn die Wände der Seele durch den Druck ständiger Dissoziationen immer weiter auseinandergepresst würden und dazwischen ein Vakuum sich bildete, das keine Luft zum Atmen mehr enthält. Was rettet vor dem langsamen Ersticken?
Eigentlich nur dies: die Wahrheit und die Liebe. Doch wie kann man sie glauben in einer Welt der Lüge und Lieblosigkeit?
Was dieses Buch so faszinierend und in eigentlichem Wortsinne notwendig macht, ist das Verstehen, das es als Leitmotiv durchzieht. All das als unheilvoll Erlebte fügt sich zusammen, heilt und reift hindurch zu seiner Schönheit, Selbstachtung und Güte, weil es in allem und trotz allem niemals auch nur im Ansatz darum geht, in Klagen und Anklagen zu versinken. Es geht um Begreifen und Durcharbeiten, nicht um Urteilen und Verurteilen, um Wertungen und Abwertungen, um Anwürfe und Vorwürfe. Wohl: „Männer machen Prostituierte“, doch was machen Frauen mit Männern?
Statt zum „Kampf der Geschlechter“ aufzurufen, bestimmt dieses Buch die Einsicht, dass Männer und Frauen gerade infolge ihrer Unterschiedenheit einander brauchen, um sich zu ihrer Einheit zu ergänzen. Nicht von Schuld ist die Rede, sondern von Not, von Ausweglosigkeit, von Tragik und Verzweiflung. Es ist eine Ebene der Betrachtung, die das moralisierende Naserümpfen ebenso hinter sich lässt wie die gesellschaftliche Heuchelei mit ihrem Bestreben, die Urstromtäler der Liebe in ein gesetzlich geregeltes Kanalsystem für leistungsüberfrachtete Lastkähne zu verwandeln. Heilung ist nur möglich durch vorurteilsfreies Akzeptieren. Wer wüsste, wer benötigte das nicht so sehr wie jemand, der vollkommen draußen steht – außerhalb seiner selbst, außerhalb der Gesellschaft, außerhalb der Gemeinsamkeit, die er, wie jeder, braucht zum Leben?
Mit Absicht führt das Buch hin zu der Szene im Johannesevangelium, da die Schriftgelehrten eine Ehebrecherin zu Jesus bringen, die sie auf frischer Tat ertappt haben – ihre Schuld ist erwiesen, und nach Maßgabe des Gesetzes gehört sie dafür getötet durch Steinigung. So soll denn doch derart verfahren, meint Jesus, wer selber ohne Schuld erfunden wird. Wir alle leben nur, weil uns vergeben wird, doch selber können wir nur vergeben, wenn wir beginnen zu verstehen.
Dafür wirbt nicht dieses Buch, davon ist es überzeugt und davon überzeugt es jeden, der es liest. Man kann nur wünschen, dass es viele sind. Denn es umgeht die falschen politischen Fragestellungen: Soll man Prostitution als ein normales Gewerbe freigeben oder als Straftat kriminalisieren? Wer begreift, wovon er beim Wort Prostitution spricht, kann nur wünschen zu helfen, und Gesetze können nicht heilen, Verordnungen nicht das Herz eines Menschen ordnen; helfend und heilend ist einzig die Liebe.
Weil es eine Hymne ist auf die Liebe, gehört dieses Buch in die Hand so mancher Frau, die sich von ihrem Mann betrogen sieht, so manchen Mannes, der sich mit seiner Frau nicht mehr versteht, so manchen Mädchens, das inmitten seines Elternhauses sich verwaist und heimatlos vorkommt, so manches Jungen, der in den Pornodarstellungen auf seinem Handy Lust und Befriedigung zu finden hofft.
Es ist ein Buch, ergreifend subjektiv geschrieben, und doch gerade deshalb allgemeingültig in seiner objektiven Wahrheit. Es destilliert aus einem Meer von Leid das Heilmittel der Liebe, und das in einer feinen, scharfsinnigen, nie sentimentalen, doch emotional dichten Sprache. In den „Sachbüchern“ sonst läse man Auswertungen von Statistiken des Sexualverhaltens bei Menschen und Primaten, erführe etwas vom neuesten Stand der neurobiologischen Forschungen über die Ausschüttungen von Hormonen und die Wirkungsweise bestimmter Hirnareale – man lernte da manches; hier von alledem nichts. Hier lernt man der Sehnsucht zu folgen. Hier lernt man dem eigenen Herzen zu glauben. Hier lernt man zu lieben. Es ist kein Sachbuch. Denn Menschen, Gott sei Dank, sind nicht mehr länger Sachen.
Dr. Eugen Drewermann
Theologe und Psychotherapeut
Paderborn, im Juni 2018
Vorwort
Es gibt immer ein Vorher.
Vor dem Anfang gibt es ein Vorher.
Jede Geschichte hat ein Davor.
Keine Frau kommt als Prostituierte auf die Welt.
In diesem Buch berichte ich über eine Zeit vor mehr als drei Jahrzehnten, in der ich als Prostituierte gearbeitet habe, und darüber, wie ich heute – im Alter von siebenundfünfzig Jahren – diese Zeit sehe. Ich beschreibe, wie ich sie im Inneren und im Äußeren erlebt habe. Ich versuche die Mechanismen und verdeckten Dynamiken der Prostitution verständlich zu machen, nicht nur theoretisch, sondern an einem konkreten – an meinem – Leben.
Jede Prostituierte hat eine Geschichte, wie sie zur Prostitution gekommen ist. Bei vielen Frauen gibt es eine direkte, unmittelbar der Prostitution vorausgehende Gewalt: Die Frau wird vergewaltigt und danach zur Prostitution gezwungen. Hier scheint es auf den ersten Blick klar, dass Männer Prostituierte „machen“, denn die Gewalt und der Zwang sind offensichtlich. Anders ist es bei Frauen, die sich vermeintlich freiwillig prostituieren. Hier ist kein Mann sichtbar, der sie zwingt, keiner hat ihnen die Ausweispapiere weggenommen. Sie könnten einfach weggehen, könnten jederzeit aufhören. Wie kommt eine solche Frau also dazu, sich zu prostituieren?
Prostitution ist Not und Schicksal.
Prostituierte werden „gemacht“ – durch Männer. Wenn wir die Not der Prostituierten lindern wollen, müssen wir uns auch mit der Not derer befassen, die diese Not verursachen: mit der Not der Männer.
Heute arbeite ich als Psychologische Psychotherapeutin in eigener Praxis, bin glücklich verheiratet, vielfache Großmutter, die beiden zauberhaften Töchter erwachsen. Seit Jahren erlebe ich bei meinen Klientinnen und Klienten so oft, wie weit verzweigt die Wirkungen und Auswirkungen von Prostitution reichen können. Dass es mir nach meiner Zeit in diesem Gewerbe vergönnt war, einen neuen Weg einzuschlagen, hätte ich mir in der Prostitutionszeit nicht mal wünschen können. Damals sah ich eine Zukunft, in der ich spätestens Mitte dreißig auf einem Bahnhofsklo krepiere.
Mein Weg nach der Prostitution führte mich, mit Umwegen und langer eigener Therapie, schließlich zum Psychologiestudium mit akademischem Abschluss. Viele Jahre habe ich als systemische Paartherapeutin gearbeitet, nach einem weiteren Studium wurde mir die ärztliche Approbation verliehen. Seit langem ist mein Lebensrhythmus geprägt von täglicher Zen-Praxis.