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Katja Heijnen mit Beate Sander

BEATE SANDER

Katja Heijnen
mit Beate Sander

Wie man reich und weise wird

BEATE SANDER

Die Biografie der erfolgreichsten Börsenexpertin Deutschlands

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Originalausgabe, 2. Auflage 2021

© 2021 by FinanzBuch Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

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Redaktion: Silke Panten

Korrektorat: Anja Hilgarth

Umschlaggestaltung: Sonja Vallant, München

Umschlagabbildung: © Nina Wellenstein

Satz: Helmut Schaffer, Hofheim a. Ts.

Druck: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN Print 978-3-95972-429-6

ISBN E-Book (PDF) 978-3-96092-805-8

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-96092-806-5

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.finanzbuchverlag.de

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Inhalt

Vorwort von Beate Sander

Teil I
Über das Leben

Life is what happens to you

Die erste Begegnung

Lehrertochter mit grünem Daumen

Starre Rollen

Das »andere« Kind

Das gespaltene Haus

Die Nachkriegszeit

Die Außenseiterperspektive

Fairer Wettkampf

Flucht aus der DDR

Unterforderung an westdeutschen Schulen

Die Versuchung

Auf der Überholspur

Stärken stärken

Fördern und fordern

Von wegen Gleichberechtigung

Mut als wichtige Tugend

Faszination Börse

Die große Bühne

Vorbilder

Gesichtsblindheit

Teil II
Die Börse und mehr

Einfach mal die Million knacken …

Auf in die Zukunft

Teil III
Letzte Dinge

Erfahrungen mit Krankheit, Tod und Sterben

Was kommt nach dem Tod?

Lebensbilanz

Tröstende Worte

Der Krebs fordert seinen Tribut

Der Kampf für selbstbestimmtes Sterben

Teil IV
Lernen von der Börsenoma

Sieh Geld als das, was es ist: ein Mittel zum Zweck

Vergleiche dich nicht mit anderen

Suche dir Leitbilder statt Vorbilder

Suche dir eine selbstbestimmte und herausfordernde Arbeit

Versuche täglich etwas Neues dazuzulernen

Setze dir hohe, aber erreichbare Ziele

Erwarte nicht zu viel von anderen und vom Leben

Finde deinen Kompetenzkreis

Hilf deinem Glück auf die Sprünge

Entscheide dich

Sei dankbar statt zu jammern

Sei diszipliniert

Treibe Sport und bewege dich

Lebe nachhaltig

Akzeptiere Krisen als Teil des Lebens

Lerne Risiken richtig einzuschätzen

Gehe weg vom Sparbuch, hin zu Aktien

Teil V
Letzte Fragen

Epilog

Danke

Anhang

Über die Autorin

Abbildungsnachweise

Vorwort von Beate Sander

Ulm, 18. September 2020

Wenn Sie dieses Buch in den Händen halten, werde ich nicht mehr leben. Dennoch ist mir diese Biografie wichtig. Nach dem Interview, das die SWR1-Moderatorin Katja Heijnen für ihre Sendung Leute führte und das auf YouTube zu sehen ist, bekam ich ungemein viel Zuspruch: Unzählige Menschen schrieben mir E-Mails, riefen mich an, posteten Kommentare in den sozialen Medien. Viele Fans dankten mir nicht nur für Börsentipps und mein Bemühen, sie weg vom Sparbuch und hin zur Börse zu führen. Es beeindruckte die Hörer und Leser, dass ich mit meiner Lebensgeschichte und dem Umgang mit der Krebserkrankung dazu ermutigte, sich auch von schweren Schicksalsschlägen nicht unterkriegen zu lassen.

Meine Lebensgeschichte zeigt, dass man Hürden überspringen und an Hindernissen wachsen kann. Es bestätigte sich, dass sich Disziplin, Anstrengung und Kampfgeist lohnen. Krisen sind auch als Chancen zu sehen. Und statt nur zögerlich abzuwarten, gilt es, gute Gelegenheiten zielstrebig zu nutzen, statt sie zu verpassen. Ebenso wichtig ist es, sich erreichbare Ziele zu setzen, an seinen Aufgaben zu wachsen und sich einen möglichst hohen Kompetenzkreis mit Alleinstellungsmerkmalen aufzubauen.

Viele Menschen sind erstaunt darüber und finden es ungewöhnlich, wie gelassen ich mit meinem baldigen Lebensende umgehe. Natürlich frage auch ich mich, warum es gerade jetzt, hier und heute so passiert. Alles in allem aber bin ich dankbar und demütig. Der wachsende Ruhm, die erfreuliche Resonanz, die meine Bücher bei den Lesern erfahren, aber auch das positive Echo in Fernsehen, Rundfunk, Tages- und Fachpresse sowie in den neuen Medien waren Antrieb, alles so gut wie nur möglich zu machen. So durfte ich in den letzten Jahren erstaunliche Dinge erleben. Ich bin auch froh und dankbar, dass meine beiden Kinder und meine fünf Enkel wohlgeraten sind und zupackend ihr Leben meistern.

Ich freue mich, dass die Biografie von dem Verlag herausgegeben wird, den ich liebe und in dem alle meine Bücher seit geraumer Zeit erschienen sind. Der FinanzBuch Verlag mit Christian Jund und Georg Hodolitsch ließ mir alle Freiheiten bei meinen Büchern. Nie wurde ich gegängelt. Nie musste ich mich verbiegen. Ganz im Gegenteil. Ich durfte mich in meinen Werken frei entfalten, meine Kreativität einbringen und neue Ideen umsetzen. Dafür ein herzliches Dankeschön. Immer ging es mir darum, alle Lesergruppen leicht verständlich, spannend und anschaulich anzusprechen. Einerlei, ob viel oder wenig Geld zum Anlegen, ob jung oder alt, ob kenntnisreich oder unwissend.

Bis zum letzten Atemzug ist und war es mir ein Hauptanliegen, authentisch und ehrlich zu sein, in Vorträgen, Interviews, Webinaren und Seminaren für Spannung zu sorgen und Langeweile in meinem Leben und bei den Menschen, die ich damit erreichte, gar nicht erst aufkommen zu lassen. So gab es auch mal das ein oder andere deftige Wort oder ein vergleichendes anschauliches Beispiel, das zum Schmunzeln aufforderte. Noch kurz vor meinem Ableben arbeitete ich leidenschaftlich als Lehrerin und Dozentin, für die selbstbestimmtes Lernen ein Grundprinzip war. Mein Leben bestand nicht nur aus der Aktienwelt. Meine Kindheit und Jugendzeit waren kein Rosenbeet. Mit dieser Rückbesinnung und dem Blick auf meine Lebensbilanz fällt mir der Abtritt auch deshalb nicht allzu schwer: Ich habe stets alles aufgearbeitet, statt etwas zu verdrängen. So bedanke ich mich bei allen Menschen, die mir dabei halfen zu werden, was ich wurde.

In diesem Sinne, Ihre oder Eure »Börsenoma« Beate Sander

»Ein Seemann, der nicht weiß, welches Ufer er ansteuern soll, für den passt kein Wind.«

Beate Sander

Prolog

Es ist der 30. Oktober, ein typischer Herbsttag. Obwohl es nicht wirklich kalt ist, fröstelt es mich in meinem schwarzen Hosenanzug. Als die Sonne kurz hinter den Wolken hervorkommt, leuchten die Blätter des Kastanienbaums vor mir rot und werfen tanzende Schatten auf die Erde. Das hätte ihr gefallen, denke ich, sie mochte den Herbst. Mein Blick fällt nach vorne auf das Loch in der Erde, in dem vor wenigen Minuten die Urne versenkt wurde, ein unscheinbares Metallgefäß, und streift dann die Menschen, die sich auf dem Friedhof versammelt haben, um Abschied zu nehmen. Einer nach dem anderen geht nach vorne, bleibt kurz stehen, verbeugt sich oder legt eine Blume nieder. Die meisten davon sind mir völlig unbekannt. Um es genau zu sagen: Bis vor zwei Monaten kannte ich noch nicht einmal die Frau, deren Asche jetzt in der Urne liegt – zumindest nicht persönlich, nur einige ihrer Bücher. Und doch würde ich gleich mit den vielen mir unbekannten Menschen in ein italienisches Restaurant gehen, das sie sehr mochte, um dort an einer Abschiedsfeier teilzunehmen, die sie selbst geplant hatte. Wir alle würden den Klaviertönen der berühmten Préludes Nr. 2 von Rachmaninow lauschen, bevor wir dann gemeinsam essen und trinken würden – kein schnelles Essen, sondern ein richtiges Menü in »bester Qualität« – darauf hatte Beate Sander Wert gelegt. Zwischendurch würden die Trauerreden gehalten, und dann würde auch ich aufstehen und eine Rede halten – eine Rede auf eine Frau, die mir in dieser kurzen Zeit ungemein vertraut wurde und doch immer ein Stück weit fremd blieb, weil sie so ganz anders war als alle anderen Frauen, die ich kenne. Eine Frau, die mich mit ihrer sprühenden Intelligenz immer wieder aufs Neue überrascht und herausgefordert hat. Sie war eine der stärksten, klügsten und auch originellsten Frauen, die ich bislang kennengelernt habe. Beate Sander ganz zu durchdringen, war jedoch unmöglich.

Teil I

Über das Leben

Life is what happens to you

Das erste Mal, dass ich mit Beate Sander persönlich in Berührung kam, war im März 2020. Inmitten der ersten Welle der Coronakrise hatte der DAX innerhalb von 28 Tagen mit einem Tiefststand von 8255 Punkten den schnellsten Absturz seiner Geschichte erlebt. Die Kurse vieler Aktien waren eingebrochen. Ich selbst hatte bislang nie in Aktien investiert. Das Geld, das ich gespart hatte, schlummerte auf einem Tagesgeldkonto mit Minimalverzinsung vor sich hin. In erster Linie, wie ich zugeben muss, aus Trägheit – immer waren mir irgendwelche anderen Dinge wichtiger gewesen. In zweiter Linie aus der diffusen Angst heraus, bei einem Absturz der Kurse mein Geld »verlieren« zu können. Außerdem graute mir vor der spröden Materie »Finanzen« – schon die alljährliche Steuererklärung zögere ich stets so lange hinaus wie möglich. Als die Börse dann jedoch abgestürzt war, beschloss ich, jetzt endlich den Schritt zu wagen und das Geld in Aktien zu investieren. Ich war mir sicher, die Coronakrise würde irgendwann vorbei sein und spätestens dann würden auch die Kurse wieder steigen. Allerdings hatte ich keinerlei Idee, welche Aktien und ETFs, also börsengehandelte Indexfonds, ich kaufen sollte. Ich googelte also unter Stichworten wie »Aktienkauf für Einsteiger« oder »Börse für Dummies« und stieß auf Beate Sanders Einführungsbuch Der Aktien- und Börsenführerschein. Dieses Buch wurde für mich zum Augenöffner in eine Welt, die mir bislang verschlossen geblieben war. In klarer, verständlicher Sprache und guter Gliederung erklärte die »Börsenoma« alles über Aktien, Fonds, ETFs und Zertifikate. Ich lernte Begriffe wie »Volatilität«, den Unterschied zwischen KGV (Kurs-Gewinn-Verhältnis) und KBV (Kurs-Buchwert-Verhältnis), warum ein MDAXETF, der die Wertentwicklung der 60 größten Unternehmen, die auf den DAX folgen, wiedergibt, im Zweifel mehr Rendite verspricht als ein DAXETF. Ich erfuhr, was eine Value-Strategie ist und was die Unterschiede zwischen Stammaktien und Vorzugsaktien sind. Ich lernte ihre »Hoch/Tief-Mut strategie« kennen und orientierte mich beim Kauf einiger Aktien und ETFs an den Musterdepots, die sie für verschiedene Anlegertypen in ihrem Buch zusammengestellt hatte. Was mir 49 Jahre lang undenkbar erschienen war, wurde plötzlich Realität: Der Wirtschaftsteil der Zeitung, den ich sonst meist ausgelassen hatte, wurde mit einem Mal zu einer spannenden Lektüre, die einiges über die Welt verriet. Es machte mir Spaß, an der Börse zu handeln, und ich begeisterte und motivierte damit einige Freundinnen und meinen Mann, es mir gleichzutun.

Von da an verfolgte ich die Auftritte von Beate Sander im Internet und fand sie – auch als Person – höchst geistreich und amüsant. Als ich hörte, dass sie im September einen Vortrag bei der Wohlstandsgenossenschaft in Mainz halten sollte, um Frauen für die Börse zu begeistern, regte ich an, sie als Gast in unsere Leute-Sendung einzuladen, die ich seit über 20 Jahren als Redakteurin verantworte und moderiere. Ich war mir sicher, dass die witzige und intelligente »Börsenoma« ein Garant für ein unterhaltsames und spannendes Gespräch sein würde und dass auch unsere Hörer davon profitieren würden. SWR1-Leute ist ein Radiotalk, in dem immer entweder ein Promi zu Gast ist oder einfach jemand, der etwas Spannendes erlebt und geleistet hat.

Beate Sander war kein »A-Promi«, wie wir Medienleute so schön sagen, also nicht mit dem Bekanntheitsgrad anderer Gäste wie Peter Maffay, Moritz Bleibtreu oder Boris Becker zu vergleichen. Dafür war sie aber »Deutschlands bekannteste Aktionärin« und durch ihre Börsenbestseller innerhalb der Börsenwelt schon länger berühmt. In den letzten Jahren hatte sie aber auch außerhalb der Finanzwelt als »Börsenoma« einen gewissen Promistatus erreicht. Ich freute mich darauf, sie zu interviewen. Sie für die Sendung zu gewinnen, war nicht schwer. Beate Sander war sogleich begeistert. Sie kannte die Sendung, liebte ohnehin Medienauftritte und sagte kurz, nachdem ich ihr eine Mail geschrieben hatte, zu.

Wenn man einen Gast in eine Sendung einlädt, hat man natürlich immer bereits eine grobe Vorstellung davon, wie die Sendung später aussehen soll: Im Falle von Beate Sander plante ich eine unterhaltsam-informative Sendung mit der »Börsenoma«, die ruhig ein wenig schrullig rüberkommen durfte. Mich interessierte, wie jemand, der vorher Realschullehrerin war, auf die Idee kommt, mit 59 seine erste Aktie zu kaufen, und es dann schafft, zur Börsenmillionärin zu werden und dabei noch etliche Bücher über Aktien und Anlagestrategien zu schreiben, die zum Teil Bestseller wurden. Ich hoffte auf ein paar gute Finanztipps für unsere Hörer und freute mich auf ein paar lustig-skurrile Anekdoten aus dem Leben der 82-Jährigen, die dafür bekannt war, kein Blatt vor den Mund zu nehmen. Doch wie sagte schon der amerikanische Schriftsteller und Maler Henry Miller: «Leben ist das, was uns zustößt, wenn wir uns gerade etwas ganz anderes vorgenommen haben.« Oder John Lennon in seinem berühmten Song Beautiful Boy: »Life is what happens to you while you’re busy making other plans.« Und so war es auch mit Beate Sander.

Eine Woche vor der geplanten Sendungsaufzeichnung bekam ich folgende Mail von ihr:

Liebe Frau Heijnen,

Sie haben mich freundlicherweise zur SWR-Sendung eingeladen. Aufgrund unerwartet stark wuchernder Krebstumore möchte ich noch am 4. September möglichst einen weiteren Bestrahlungstermin bekommen, muss also flott nach dem Frühstück am Freitag nach Ulm zurückreisen. Würden Sie mich bitte vom Hyatt am Mittwoch zu der von Ihnen gewünschten Zeit vom Hotel abholen bzw. unbedingt wieder dorthin zurückfahren? Ich habe seit einigen Tagen starke Probleme beim Gehen, kann aber im Sitzen alle Fragen bestens beantworten. Deshalb möchte ich Ihre Einladung so gern annehmen.

Viele Grüße

Beate Sander

Die Mail hatte mich kalt erwischt. Ich hatte nicht gewusst, dass Beate Sander so krank war, als ich sie angefragt hatte. Sie hatte drei Jahre zuvor Darmkrebs diagnostiziert bekommen und sich einer Operation unterzogen. Was jetzt entdeckt worden war, waren schlimme Metastasen in der Hüfte und in einigen Organen. Das war mir aber zum damaligen Zeitpunkt nicht bekannt, und wenn ich sie in kurz zuvor aufgenommenen Onlinevideos gesehen hatte, wirkte sie immer extrem energiegeladen. Rasch schrieb ich eine Antwortmail:

Liebe Frau Sander,

das tut mir sehr leid und ich wünsche Ihnen von ganzem Herzen gute Besserung! Selbstverständlich hole ich Sie gerne im Hotel ab und bringe Sie auch wieder zurück. Ich bin um 10 Uhr an der Rezeption und freue mich sehr, Sie kennenzulernen!

Alles Gute bis dahin!

Mit freundlichen Grüßen

Katja Heijnen

Nur wenige Minuten später ging abermals eine Mail von Beate Sander ein:

Liebe Frau Heijnen,

ich durfte so viel Schönes, Spannendes, Interessantes mit den unterschiedlichsten Medien erleben. Da nehme ich dies jetzt alles klaglos und demütig hin. Umso mehr freue ich mich auf Ihren Studiobesuch, so eine Art Abschiedsgeschenk. Ich bin um 10 Uhr am 3. September an der Rezeption.

Beste Grüße

Beate Sander

Ich musste schlucken, als ich diese Mail las. »Abschiedsgeschenk«? Ich fragte mich unwillkürlich, wie es gesundheitlich tatsächlich um sie stand. Aber vor allem: Wenn es so ernst um sie stand, dass das Wort »Abschiedsgeschenk« angebracht war – welche Kraft hatte diese Frau, dann noch zu schreiben, dass sie das alles jetzt klaglos und demütig hinnehmen würde? Einfach weil sie bereits so viele schöne Dinge erlebt hatte? Ich antwortete erst mal nicht, weil ich nicht wusste, was ich auf ihre Mail schreiben sollte und mir zudem alles Wesentliche gesagt zu sein schien. Drei Tage später, am 28. August, erreichte mich dann folgende Mail, verbunden mit der Frage, ob man die Aufzeichnung nicht per Skype oder Zoom – ich in Mainz, Beate Sander zu Hause in Ulm – machen könnte.

Liebe Frau Heijnen,

die schnell wachsenden Tumoren fressen meine Knochen an und zerstören sie, erkennbar an Anbrüchen und Druck auf die Nervenbahnen. Das ist unerträglich. Andererseits schütte ich absolut verlässlich bei jedem Auftritt, egal welcher Art und Länge, so viel Adrenalin aus, dass bislang immer, auch gestern noch, alles auf hohem Niveau möglich ist. Am morgigen Samstag und am Sonntag dreht BILD einen Film über mich bei mir zu Hause. Ab dann sollten Sie möglichst bald morgens oder nachmittags eine Aufzeichnung einplanen. Ich wäre so glücklich, wenn dies mit dem hochangesehenen SWR möglich ist. Im Hotel käme ich allein nicht mehr zurecht, weil ich nur winzige Trippelschritte gehen kann. Bitte machen Sie mir rasch einen Vorschlag (notfalls mit Alternativen) bezüglich Datum und Zeit. Ich habe mit zahlreichen internationalen Medien schon Webinare vereinbart. Ihr SWR hat da noch Priorität. Und Sie sparen sich Kosten.

Beste Grüße

B. Sander

Das war der Moment, in dem ich beschloss, zum Hörer zu greifen und Beate Sander anzurufen. Ich wollte ihr klarmachen, dass eine Skype oder Zoom-Aufzeichnung von der technischen Qualität her für ein Webinar völlig ausreicht, nicht aber für eine Hörfunksendung wie die unsere geeignet ist, bei der es oft auch um persönliche Themen geht. Unsere Hörer sind es gewohnt – und da spielt neben dem Inhalt eben auch die Tonqualität eine entscheidende Rolle –, das Gespräch zu Hause im Wohnzimmer so verfolgen zu können, als säßen sie am Tisch mit dabei. Außerdem hatte ich das Bedürfnis, ihr etwas von dem Druck zu nehmen, den sie sich selbst zu machen schien. Ich wollte auf keinen Fall, dass sie dachte, die Sendung unbedingt machen zu müssen, nur weil sie einmal zugesagt hatte. Ich wollte nicht, dass sie mit unserer Sendung die Grenzen ihrer eigenen Belastbarkeit überschreiten würde.

Ich gebe zu, es kostete mich Überwindung, die Nummer von Beate Sander zu wählen. Was sagt man jemandem, der so schwer an Krebs erkrankt ist, dass er den Weg nach Mainz nicht mehr schafft, dessen Knochen durch Tumoren zerstört werden und der von »Abschiedsgeschenk« spricht? Erschwerend kam hinzu, dass ich Beate Sander zum damaligen Zeitpunkt noch nicht mal persönlich kannte, sondern nur über ihre Bücher und Interviews, die sie gegeben hatte. Das Gespräch, das dann folgte, war das unglaublichste Telefongespräch, das ich in meinem Leben je geführt habe. Längere Grübeleien, ob ich die richtigen Worte finden würde, um das auszudrücken, was ich ausdrücken wollte, blieben mir erspart. Beate Sander nahm nach wenigen Sekunden den Hörer ab. Ich meldete mich freundlich, bedankte mich für ihre Mails und sagte ihr, dass es mir leidtue, dass sie so schwer erkrankt sei und solche Schmerzen habe.

Sie unterbrach mich: »… das muss Ihnen nicht leidtun. Sie können ja nichts dafür. Ich habe geschätzt noch acht bis vierzehn Tage zu leben – das ist aber okay für mich. Ich hatte eine wirklich gute Zeit in den letzten Jahren.«

Ich war sprachlos. Acht bis vierzehn Tage? Jeder von uns hat sich vermutlich schon mal überlegt, wie er reagieren würde, wenn man ihm sagen würde, er sei schwer erkrankt und habe nur noch eine kurze Zeit zu leben. Würde man verzweifeln? Kopflos werden? In eine Art Schockstarre verfallen? Oder würde man es schaffen, in dieser kurzen Zeitspanne, die einem bliebe, noch so handlungsfähig zu sein, dass man zumindest einige wichtige Dinge regeln und von seinen liebsten Menschen Abschied nehmen könnte? Was mich betrifft – ich weiß es nicht.

»Hallo, sind Sie noch dran?«, hörte ich vom anderen Ende der Leitung.

Ich schluckte und beschloss, ehrlich zu sein. »Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll …«

»Das ist völlig in Ordnung. Besser, Sie sagen nichts, als dass Sie solche Plattitüden wie ›Es gibt bestimmt noch Hoffnung …‹ oder ›Vielleicht ist ja doch nicht alles so schlimm …‹ sagen. So was nervt mich nämlich wirklich, wenn Leute einfach nicht der Wahrheit ins Gesicht sehen können!«

Damals wusste ich noch nicht, dass dieses Beharren auf Ehrlichkeit, dieses unbedingte Aussprechen von scheinbar Unaussprechlichem auch in anderen Bereichen zu den Dingen gehörte, die Beate Sander extrem wichtig waren. Schönfärberei jeglicher Art lehnte sie ab und für aus Hilflosigkeit geborene Versuche, unschöne Dinge positiver zu umschreiben, hatte sie keinerlei Verständnis und reagierte darauf sogar grob und zuweilen aggressiv. Ich beschloss instinktiv, die Flucht nach vorne anzutreten und auf die Sachebene auszuweichen: »Das kann ich verstehen. Was für eine Art von Krebs haben Sie denn?«

Beate Sander erklärte mir ausführlich, dass sie vor drei Jahren Darmkrebs gehabt habe. Sie sei damals operiert worden und es sei ihr die letzten Jahre gut gegangen – so gut, dass sie noch vor einer Woche darüber nachgedacht habe, ihr Abonnement im Fitnessstudio um ein Jahr zu verlängern. Sie sei sich jedoch nicht sicher gewesen, ob sich das wirklich rentiere, weil sie so viele Buchprojekte geplant habe, dass sie fürchtete, nicht ausreichend Zeit dafür zu haben. Außerdem gäbe es da natürlich auch noch Corona … Und dann habe sie letzte Woche bei der Gartenarbeit plötzlich einen heftigen Schmerz in der Hüfte verspürt. Zwei ihrer Schüler – Beate Sander gab zum damaligen Zeitpunkt noch mehrere Börsenkurse an der Volkshochschule in Ulm – hätte ihr einen Termin bei einem Radiologen besorgt. »Da wartet man ja sonst als Normalmensch ewig!«, meinte Beate Sander dankbar. Der Radiologe hätte schließlich einen 10 Zentimeter großen Tumor im Beckenknochen gefunden – weitere Metastasen in der Leber. »Schlimmer geht nimmer«, stellte sie abschließend fest.

»Sind Sie sicher, dass sie schmerztherapeutisch gut betreut sind?«, fragte ich sie, als sie darüber klagte, ihr Körper würde weder auf Morphium noch auf andere Opiate ausreichend reagieren, die Schmerzen seien die Hölle. Ich war mir sicher, dass man durch Umstellen der Medikamente oder Verabreichen anderer Wirkstoffe gute Chancen hätte, ihre Schmerzen deutlich zu reduzieren, und empfahl ihr einen mir bekannten Schmerztherapeuten.

»Auf keinen Fall«, erwiderte sie in einer Entschiedenheit, die keinen Widerspruch zuließ. »Ich werde die wenige Zeit, die mir noch verbleibt, auf keinen Fall in den Wartezimmern von Ärzten verbringen!« Sie wisse durchaus, dass sie die Möglichkeit habe, mehr oder noch andere Schmerzmittel einzunehmen – das ginge aber auf Kosten ihrer geistigen Wachheit und die wolle sie auf keinen Fall einbüßen.

»Sind Sie sich wirklich sicher, dass Sie unter diesen Bedingungen noch die Sendung machen möchten?«, fragte ich sie vorsichtig. »Sie müssen sich da zu nichts verpflichtet sehen. Ich verstehe vollkommen, wenn Sie jetzt wichtigere Dinge zu tun haben …«

Sie erklärte in aller Deutlichkeit, die Sendung unbedingt machen zu wollen, einerseits, weil sie die Sendung sehr mögen würde – andererseits wäre das für sie durch die willkommene Ablenkung die beste Schmerztherapie. Also verabredeten wir, dass ich gemeinsam mit einem Kameramann zwei Tage früher als ursprünglich geplant bei ihr in Ulm vorbeikommen würde, um die Sendung bei ihr zu Hause in guter technischer Qualität fürs Radio und für YouTube aufzuzeichnen.

Wir sprachen noch ein wenig über die eigentlich mit ihr als Referentin geplante Veranstaltung der Wohlstandsgenossenschaft in Mainz, die sich dem Kampf gegen Altersarmut und der Aufklärung über typische Armutsfallen verschrieben hat – Fallen, in die gerade Frauen, die sich oft zu wenig um ihre Finanzen kümmern, immer wieder tappen. Diesbezüglich Aufklärungsarbeit zu leisten, war ein Herzensanliegen von ihr. Umso mehr beschäftigte es sie, dass sie diese Veranstaltung nun absagen musste. Als wir uns voneinander verabschiedet hatten und ich aufgelegt hatte, fiel mir siedend heiß ein, dass ich vergessen hatte, mit ihr eine konkrete Uhrzeit zu vereinbaren. Ich schrieb ihr also erneut eine Mail:

Liebe Frau Sander,

welche Uhrzeit für die Aufzeichnung wäre Ihnen denn recht? Wir brauchen von Mainz nach Ulm etwa dreieinhalb Stunden. Halten Sie Mittagsschlaf? Wäre Ihnen 12 Uhr zu spät? Wenn ja, würden wir versuchen, hier eher loszukommen. Sagen Sie bitte einfach, was für Sie okay ist, wir richten es dann irgendwie ein …

Herzliche Grüße

Katja Heijnen

Wenige Minuten später erfolgte die Antwort:

Liebe Frau Heijnen,

ich habe noch nie Mittagsschlaf gehalten und werde es bis zum Schluss nicht tun. Mir ist um 12 Uhr nicht zu spät, aber auch keine Zeit zu früh. Fahren Sie bitte so los, wie es Ihnen angenehm ist. Ich freue mich so sehr auf diese Sendung.

Ihre Beate Sander

Ich musste schmunzeln, als ich das las. Es passte wunderbar in das Bild dieser agilen, kämpferischen Frau, das ich in unserem Telefonat gerade gewonnen hatte. Wie hatte ich nur unterstellen können, dass jemand wie Beate Sander Mittagsschlaf hält?! Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, dass sie ohnehin immer nur vier Stunden pro Nacht schlief. »Ich kann mich nicht daran erinnern, einmal in meinem Leben sechs Stunden am Stück geschlafen zu haben«, erzählte sie mir später.

Der nächste Tag war ein Samstag und ich schaute erst um 14 Uhr in meine Mails. Umso entsetzter war ich, folgende Mail von Beate Sander vorzufinden, die sie mir um 6.28 Uhr geschickt hatte:

Betreff: Es sieht so aus, dass ich durch die brüchigen Knochen durch den Tumor einen neuen Oberschenkelhalsbruch habe

Wahrscheinlich ist dies schon das Ende. Falls nicht, melde ich mich wieder. Das alles tut mir so leid, liebe Frau Heijnen.

Ich war fassungslos. Welche Kraft hat diese Frau, dass sie sich in dieser Situation noch an den Computer schleppt und daran denkt, unsere Verabredung abzusagen? Würde sie meine Antwort auf ihre Mail noch lesen? So wie die Mail klang, bezweifelte ich das zwar. Ich verspürte jedoch ein tiefes Bedürfnis, dieser Frau, der ich noch nie gegenübergesessen hatte und jetzt vermutlich auch nie mehr gegenübersitzen würde, mitzuteilen, wie sehr sie mich in unserem letzten Gespräch beeindruckt hatte – und das sowohl aufgrund ihres tapferen Umgangs mit der eigenen Erkrankung als auch aufgrund der Tatsache, dass sie, die aktuell wirklich genügend eigene Probleme hatte, noch die Kraft fand, sich Gedanken über Frauen zu machen, die in Altersarmut rutschen. Ich tippte folgende Zeilen:

Liebe Frau Sander,

ich denke ganz fest an Sie! Sie sind eine großartige Frau und ein echtes Vorbild für mich und viele andere Frauen. Fühlen Sie sich herzlich umarmt von

Ihrer Katja Heijnen

Im Laufe des Nachmittags war ich mit meiner Familie in Frankfurt – der »Börsenstadt«, wie Beate Sander gesagt hätte. Das Gedränge in der Stadt erschien mir nach der langen Phase, in der wir wegen Corona viele Menschenkontakte vermieden hatten, merkwürdig fremd. Immer wieder ertappte ich mich dabei, heimlich aufs Handy zu schauen in der Hoffnung, vielleicht doch noch ein Lebenszeichen von Beate Sander zu erhalten. Ob sie im Krankenhaus war? Ob sie so starke Schmerzmittel erhalten hatte, dass sie jetzt sediert war und nichts mehr von ihrer Umgebung mitbekam – ganz anders, als sie es wollte? Seit dem Gespräch am Vortag bekam ich diese Frau nicht mehr aus dem Kopf. Am Abend, als wir schließlich in einem netten griechischen Restaurant saßen und ich mich über die sonst üblichen Absprachen, kein Handy bei Tisch zu benutzen, hinweggesetzt hatte, sah ich das übliche Symbol auf meinem Display auftauchen, das den Eingang einer Mail ankündigte. Der Absender: Beate Sander. Sie schrieb mir, dass Sie heute mit BILD einen großen Abschiedsfilm gedreht und ihr das so viel Energie gegeben habe, dass sie trotz erneuter Knocheneinbrüche die »Leute«-Sendung noch machen wolle – allerdings zwei Tage früher als geplant. Die Mail endete mit zwei Fragen, die mich gleichermaßen bestürzten wie mit dem Gefühl erfüllten, dass mir da gerade eine große Ehre zuteilwurde: »Darf ich Sie zu meiner Trauerfeier einladen? Würden Sie eine kurze Rede halten?«

Nochmal mehr spürte ich, dass ich diese Frau unbedingt kennenlernen wollte. Ich wollte alles versuchen, um das Interview noch aufzeichnen zu können, und sagte beides zu.

Die erste Begegnung

Zwei Tage später saß ich dann im Zug nach Ulm, um dort zu übernachten und am nächsten Morgen pünktlich um 9 Uhr bei Beate Sander zu sein. Mein Kollege Tom wollte am Dienstagmorgen im Auto und mit der Kamera nachkommen. Ich hatte einige Blätter mit Fragen dabei, die ich Beate Sander unbedingt stellen wollte – und ein flaues Gefühl im Magen. Mir war die Vorbereitung auf die Sendung nicht leichtgefallen und ich hatte die Chance genutzt, mit einer Kollegin über einige Dinge, die mich besonders beschäftigten, zu diskutieren: Dass die ursprünglich geplante unterhaltsame Sendung mit der etwas skurrilen »Börsenoma« so nicht würde stattfinden können, stand außer Frage. Klar war auch, dass ich offen ihre Situation ansprechen musste. Andererseits wollte ich nicht, dass das ganze Interview allein um das Thema Sterben und Tod kreisen würde – Beate Sander hatte so viel mehr zu erzählen. Mit welchen Worten sollte ich mich in der Sendung von jemandem verabschieden, den ich mutmaßlich nie wiedersehen würde, weil klar war, dass er sterben würde? Floskeln wie »Viel Erfolg« oder »Alles Gute«, die bei anderen Gesprächspartnern durchaus angebracht waren, verboten sich von selbst. Hinzu kam, dass wir unseren Gästen am Ende der Sendung immer ein kleines persönliches Geschenk machen. Was aber schenkt man jemandem, der Schmerzen und nur noch wenig Zeit hat? Ich hatte zum Glück gelesen, dass Beate Sander eine Leidenschaft für gutes Essen hatte – und ganz besonders für hochwertige Pralinen aus dunkler Schokolade. Die hatte ihre Klavierlehrerin in Rostock immer dabeigehabt, als sie noch ein Kind war. Wenn die Stunde erfolgreich gelaufen und die kleine Beate gut geübt hatte, durfte sie sich immer eine davon nehmen – ein Geschmack, den sie bis an ihr Lebensende mit glücklichen Kindheitserinnerungen verbinden sollte. Ich hatte also eine große Schachtel der besten dunklen Pralinen im Gepäck, die ich in einer Konditorei in Mainz hatte finden können.

Eigentlich hätte ich nicht überrascht sein sollen, als ich am nächsten Morgen vor dem Reihenhaus von Beate Sander im Ulmer Stadtteil Bilfingen stand: Ich wusste aus Zeitungsartikeln, dass die »Börsenoma« trotz inzwischen fast 2,8 Millionen Euro im Depot keine Luxusvilla bewohnte – ebenso wenig wie Warren Buffett übrigens, der ebenfalls immer noch in dem schnörkellosen Haus wohnt, das er für seine Frau und seine drei Kinder 1958 in seinem Heimatort Omaha gekauft hatte – für eine Summe, die heute umgerechnet 400 000 Dollar entspricht. Sich zu vergrößern oder umzuziehen wäre ihm nie in den Sinn gekommen. Warum auch, entspricht doch das Haus allen seinen Bedürfnissen. Und so war es bei Beate Sander eben auch. Nichtsdestotrotz erschien mir das weiße Reihenhäuschen, in dem sie wohnte, für eine Börsenmillionärin dann doch sehr schlicht. Es stammte aus einem sozialen Wohnungsbauprojekt der 1960er-Jahre. Einziger Blickfang war die leuchtend blaue Haustür, die offen stand. Ein Pappschild wies den Weg: »Besuch für Frau Sander. Treppe hoch.« Im Erdgeschoss standen Schuhe im Treppenhaus. Es war vermietet. »Wäre doch Platzverschwendung sonst«, erklärte Beate Sander mir später. Sie selbst bewohnte zu diesem Zeitpunkt eine übersichtliche Dreizimmerwohnung im ersten Stock. Mein Kollege Tom stand schon mit seiner Kamera am Eingang und trat nervös von einem Bein aufs andere. Auch für ihn war es keine alltägliche Situation, ein Interview mit einer Frau zu filmen, die weiß und in aller Selbstverständlichkeit erzählt, demnächst sterben zu müssen.

Sterben ist etwas, was man verdrängt, über das man nicht spricht, das im Krankenhaus stattfindet. Nicht in einem 1960er-Jahre Reihenhaus, das man gerade betritt, um mit einer Frau zu sprechen, die trotz ihrer zierlichen Statur überhaupt nicht zerbrechlich, sondern so energiegeladen wirkt, als wolle sie gleich aus ihrem Rollstuhl aufspringen. Die nächsten Male, die ich Beate Sander sehen werde, wird sie nicht mehr darin sitzen. Sie wird sich erst mühsam gebeugt an Schränken und Regalen entlanghangeln, um zu ihrem Schreibtisch oder auf die Toilette zu kommen, um mir dann bei unserem letzten Treffen zwar unter Schwierigkeiten und Schmerzen mit kleinen Schritten, aber dennoch ohne jede Stütze entgegenzulaufen. Es wird sie dann ärgern, wenn die Tatsache, dass sie plötzlich wieder laufen kann, einige Besucher zu der begeisterten Schlussfolgerung veranlasst, es ginge ihr wohl wieder besser. »So ein Blödsinn«, wird sie dann sagen, »da gibt’s überhaupt keine Kausalität. Ich hatte vorher einfach geglaubt, dass ich nur noch im Rollstuhl sitzen kann, weil mir die Ärzte das gesagt hatten, und hatte das überhaupt nicht hinterfragt. Ich hätte von Anfang an ohne Rollstuhl klarkommen können, wenn ich es nur versucht hätte.«

Doch das wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht, ebenso wenig, dass es zu weiteren Treffen kommen würde. »Waren Sie in einem guten Hotel untergebracht?«, fragte Beate Sander und schüttelte mir kräftig die Hand. Ich nannte ihr den Namen des Mittelklassehotels, in dem ich übernachtet hatte. Sie schnalzte abfällig mit der Zunge. »Da gibt’s wirklich bessere …« So wenig Wert wie Beate Sander auf Luxus in ihrem Privatleben legte, so viel Wert legte sie darauf, in hochklassigen Hotels zu übernachten, wenn sie unterwegs war. Sie liebte das kurzzeitige Abtauchen in eine andere Welt, voller dicker Teppiche, luxuriöser Spa-Bereiche und riesiger Frühstücksbuffets, die sie ausgiebig genoss.

Ich ließ meinen Blick über ihren 1960er-Jahre Nussbaum-Wohnzimmerschrank schweifen, dessen Holz im Laufe der Jahrzehnte ausgebleicht war. Gegenüber stand eine Vitrine, vollgestopft mit Büchern, die sie selbst geschrieben hatte, vor allem mit allen zehn Exemplaren ihres Bestsellers Der Aktien- und Börsenführerschein, die dort fächerförmig aufgebaut waren, sodass man jedes einzelne Exemplar ausgiebig bewundern konnte. Rechts daneben standen jede Menge Pokale und Medaillen, die sie beim Sport gewonnen hatte: Beate Sander spielte schon in ihrer Jugend Hockey in der DDR und wurde mit ihrem Team DDR-Jugendmeister; später spielte sie in der ersten Bundesliga Tischtennis, schaffte es dort sogar mal, gegen eine Europameisterin zu gewinnen, um dann nach ihrem Wechsel zum Tennis mit dem Titel »Der größte deutsche Tennisfreak« ausgezeichnet zu werden: Beate Sander war offensichtlich eine Frau, die Pokale und Erfolge sammelte wie andere Briefmarken. Da ich auch Tennis spiele, hatten wir gleich ein gemeinsames Thema, fachsimpelten ein wenig über die aktuellen Leistungen von Novak Djokovic im Vergleich zu Rafael Nadal und sie erzählte mir von den Turnieren, in denen sie die Pokale gewonnen hatte. »Haben Sie den Hockey-Pokal bei Ihrer Flucht aus der DDR mitgenommen?«, fragte ich sie neugierig. »Ja, sonst wäre er nicht hier«, antwortete sie trocken.

Später saßen wir uns an ihrem Esstisch gegenüber, um die Sendung aufzuzeichnen. »Sie können mich alles fragen!«, sagte sie und ich spürte ihre wachen braunen Augen auf mir ruhen. Ich begann das Gespräch, indem ich die ungewöhnliche Situation erklärte, in der wir uns befanden, und stellte ihr die Frage, die man als Journalist als Einstiegsfrage tunlichst vermeiden sollte, weil sie normalerweise völlig belanglos ist, in diesem besonderen Fall aber wichtig: die Frage, wie es ihr aktuell gehe. Sie erklärte ohne jegliches Pathos, dass sie nur noch wenige Tage zu leben habe, damit aber »sehr locker umgehen« könne. Sie erzählte von ihren schlimmen Krebstumoren, die die Knochen zerfressen, auf die Nerven drücken und ihr zum Teil höllische Schmerzen bereiten würden, und davon, dass sie gemerkt habe, was die beste Arznei gegen diese Schmerzen sei: sich Herausforderungen wie diesem Interview zu stellen. Das würde bei ihr eine Adrenalinausschüttung bewirken, die sie für die Dauer des Gesprächs die Schmerzen vergessen ließe. In aller Deutlichkeit formulierte sie ihr Ziel, bis zum letzten Atemzug am Leben teilzunehmen. »Ich will aus jedem Tag noch etwas machen!« Beeindruckende Worte. Ich fragte sie, ob sie nachvollziehen könne, dass nicht alle so gelassen mit dem Thema Sterben und Tod umgehen könnten wie sie selbst. Ihre Antwort war klar und pointiert: Selbstverständlich könne sie das nachvollziehen! Sie selbst könne nur so entspannt aus dem Leben scheiden, weil sie 82 sei und für niemanden mehr verantwortlich. Wenn sie an jüngere Menschen denke, die ihre Kinder zu versorgen hätten, oder an Menschen, die noch ihre alten Eltern versorgten und diese dann zurücklassen müssten – das sei unvorstellbar grausam. In gewisser Weise verstand ich ihre Einstellung, dennoch fand ich ihren entspannten Umgang mit dem Thema Tod ungewöhnlich. Ich hakte nach und wollte wissen, woher sie die Kraft dazu hatte. Sie schien die Frage zu erstaunen: »Weil ich diese Kraft schon immer brauchte. Ich habe weiß Gott kein einfaches Leben gehabt. Und wenn ich den Mut oder diese Kraft nicht hätte, dann wäre ich nicht das geworden, was ich heute bin.« Als ich daraufhin erklärte, ich fände es darüber hinaus noch überraschender, dass sie sogar die Kraft habe, ihre eigene Trauerfeier zu planen, reagierte sie noch erstaunter: »Find ich jetzt gar nicht!« Das sei, erklärte sie, eher Ausdruck einer Wertschätzung gegenüber den anderen. Sie schilderte ihre Trauerfeier so, wie sie sie sich wünschte: ein Pianist, der »wilde Klassik« spielen sollte wie Rachmaninow oder Tschaikowski, ein gemütliches Beisammensein mit kurzen Rückblickreden und gemeinsamem Essen und Trinken. »Und dann wird auch nicht geheult und nicht gejammert.« Weil sie so ungeheuer vital bei der Beschreibung ihrer Trauerfeier wirkte, kam es mir in diesem Moment vollkommen absurd vor, davon auszugehen, dass dieses Ereignis tatsächlich unmittelbar bevorstehen könnte. Mir rutschte deshalb ein Satz heraus, für den ich mir bereits Sekunden später auf die Zunge hätte beißen können. »Das dauert aber hoffentlich noch ein bisschen, Frau Sander!«

»Nein, das dauert nicht noch ein bisschen«, widersprach die »Börsenoma« in aller Deutlichkeit, »das wird im September geschehen! Aber das macht mir jetzt nicht viel aus. Ich bin nur froh für jeden Tag, an dem ich noch etwas machen kann.«

Wir sprachen über ihre Kindheit im Krieg in Rostock, über ihr schwieriges Verhältnis zu ihrer Mutter, über ihre Flucht aus der DDR mit 14 Jahren, ihren harten Weg ohne Abitur zur Realschullehrerin, über ihre Idee, für ihre Schüler eine Börseneinführung zu schreiben, die ihr erster Bestseller wurde, bis hin zu ihrem Entschluss, mit 59 Jahren ihr komplettes Erspartes – damals 30 000 Euro – an der Börse zu investieren und daraus mithilfe einer eigenen Anlagestrategie, der von ihr entwickelten »Hoch/Tief-Mutstrategie«, 2,8 Millionen zu machen. Am Ende sprachen wir über das Thema, das ihr aktuell am wichtigsten war: das Thema Nachhaltigkeit. Angesichts des Klimawandels hatte sie das für sich als das Zukunftsthema schlechthin identifiziert. In der Woche darauf sollte ihr Buch über Aktienanlagen in nachhaltig arbeitende Unternehmen Gutes Gewissen und dennoch erfolgreich auf den Markt kommen. Als Tom und ich bei ihr waren, klingelte der Postbote und brachte ihr einige Vorabexemplare, die ihr ihr Verlag schon mal zugeschickt hatte, und so durften wir beide erleben, wie stolz sie war, dieses Buch in den Händen halten zu können.

Auch früher habe sie darauf geachtet, keine Aktien von Konzernen zu kaufen, die zum Beispiel für die Rüstungsindustrie tätig waren, erklärte Beate Sander. Inzwischen habe sie sich aber dazu entschlossen, darüber hinauszugehen, und habe in letzter Zeit nur noch Aktien von Unternehmen gekauft, die aktiv etwas tun, um den Klimawandel zu bekämpfen und den CO2-Ausstoß zu reduzieren – sei es durch Herstellung entsprechender Produkte wie Solaranlagen oder geeigneter Ersatzstoffe für Plastik – oder in Unternehmen, die zumindest in der Produktion darauf achten, nachhaltig zu sein, indem sie zum Beispiel keine Kohleenergie nutzen. Beate Sander war es extrem wichtig, dem Klischee des »bösen« Kapitalismus ihre Vision eines sozialverträglichen ökologischen »guten« Kapitalismus entgegenzusetzen: Nur wenn man dafür sorge, dass diese nachhaltig arbeitenden Firmen ausreichend Geld zur Verfügung hätten, betonte sie mehrfach, könnten sie ihre Produkte herstellen und hätten ausreichend Geld, um in die Entwicklung neuer Umwelttechnologien zu investieren. »Wenn wir es nicht tun, dann haben junge Leute wie Sie oder auch die Kinder und Enkel keine Zukunft mehr!«

Ich beendete das Interview mit dem Satz: »Es war mir eine Ehre, dieses Gespräch mit Ihnen führen zu dürfen!« Er kam von ganzem Herzen. Wir tranken noch eine Tasse Kaffee zusammen, serviert von Beate Sanders Sohn Uwe, der aufgrund der akuten Situation seiner Mutter aus Stuttgart gekommen war, um bei ihr zu sein. Die Stimmung war heiter, gelöst. Beate Sander erzählte von einem jungen Verehrer aus Holland, der sie täglich anrief und ihr Pralinen schickte. »Der ist echt nett, aber mir wird das alles zu viel!« Dann hieß es Abschied nehmen. Es ist ein merkwürdiges Gefühl, sich von jemandem zu verabschieden, von dem man denkt: Das war das letzte Mal, dass du diesen Menschen in deinem Leben sehen wirst, weil es ihn nämlich bald nicht mehr geben wird – vor allem wenn man gerade noch zusammen gelacht hat. Als ich dann vor ihr stand, geschah alles ganz automatisch. Ich beugte mich zum Rollstuhl runter, wir nahmen uns in den Arm. »Viel Kraft«, sagte ich. »Viel Erfolg für die Sendung und gute Fahrt«, sagte sie.

Schließlich saßen Tom und ich im Auto. Wir schwiegen erst eine Weile, dann sprachen wir lange über Beate Sander, darüber, wie sehr sie uns beeindruckt hatte, und darüber, wie großartig es ist, wenn jemand es sich zum Ziel gesetzt hat, bis zum Schluss am Leben teilzuhaben. Wir beide kannten in unserem Umfeld alte Menschen, bei denen das anders war: die sich immer mehr in ihre eigene Welt zurückzogen, sich nicht mehr dafür interessierten, was außerhalb ihrer eigenen vier Wände passierte, sich zum Teil auch abgehängt fühlten von einer technischen Entwicklung, die immer rasanter fortschritt. Diese Menschen haben es aufgegeben, sich mit neuen Technologien wie Handy und Internet zu beschäftigen, und haben damit den Anschluss an eine jüngere Generation und an das, was diese beschäftigt, vollkommen verloren. »Wenn man so gelassen wie Beate Sander aus dem Leben scheiden kann, dann hat man etwas richtig gemacht!«, waren wir uns einig.

Den nächsten Tag brachte ich damit zu, die Sendung mit Beate Sander zu schneiden. Auch am Tag darauf schweifte ich mit meinen Gedanken immer mal wieder zu ihr und einzelnen Aussagen von ihr ab. Wie immer ging es aber zu Hause mit Hund und zwei Teeniekindern sehr lebhaft zu, und es tat gut, von der Schwere der letzten Tage ein wenig wegzukommen. Der Alltag hatte mich wieder. Am Donnerstagabend hatte ich mich dann zum Saisonabschluss mit Mitgliedern meiner Damen-Tennisabteilung zum Essen verabredet. Die Stimmung war heiter. Irgendwann fragte mich jemand, welchen Gast ich als Nächstes in meiner Sendung hätte. Ich begann, von Beate Sander zu erzählen, die Geschichte, wie ich eigentlich ein zwar informatives, aber auch lustiges Gespräch mit der »Börsenoma« geplant hatte und dann alles ganz anders gekommen war. Ich erzählte von ihren Börsenerfolgen, welche Hürden sie in ihrem Leben überwinden musste, von ihrem ungewöhnlich unbefangenen Umgang mit dem eigenen Tod und ihrem Wunsch, bis zum Schluss am Leben teilzunehmen. Um mich herum war es still geworden. »Gibt’s eine Biografie, in der man das alles nachlesen kann?«, fragte meine Freundin Steffi. »Nicht, dass ich wüsste«, sage ich, »da musst du schon meine Sendung hören!«

»Dann schreib doch du die Biografie«, sagte meine andere Freundin Inge. »Du hast doch gerade mit ihr gesprochen!«