Die Frau, Mitte dreißig, führt ein etabliertes Berliner Leben: Der Freund ist Theaterkritiker, die kleine Tochter wird geliebt. Doch aus einem spontanen Fluchtimpuls heraus packt die Frau ihre Sachen und geht. Am äußersten Rand der Stadt betritt sie eine zwielichtige Kneipe, die Hellersdorfer Perle und begegnet dort einem Mann, der eine unerklärliche Anziehung auf sie ausübt. Sie wechseln einige Worte, messen ihre Kräfte, und er verlangt von ihr, sie solle am nächsten Abend wiederkommen, im Rock. Sie wird neugierig – und zu ihrer eigenen Überraschung lässt sich sich darauf ein. Klar, direkt und mit einer soghaften Sprache erzählt Katja Oskamp die Geschichte einer Frau, die ein Spiel beginnt, in dem sie sich selbst begegnet.
Über Katja Oskamp
Katja Oskamp, geboren 1970 in Leipzig, ist in Berlin aufgewachsen. Nach dem Studium der Theaterwissenschaft arbeitete sie als Dramaturgin am Volkstheater Rostock und studierte am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Zuletzt erschien von ihr »Marzahn, mon amour«, das zum Bestseller wurde.
Einmal im Monat informieren wir Sie über
Folgen Sie uns auf Facebook, um stets aktuelle Informationen über uns und unsere Autoren zu erhalten:
https://www.facebook.com/aufbau.verlag
Hellersdorfer Perle
Roman
Inhaltsübersicht
Informationen zum Buch
Newsletter
Kapitel I
Kapitel II
Kapitel III
Impressum
Ich wuchtete den Reisekoffer über die Schwelle und zog die Tür hinter mir zu. Mit dem Gepäck stieg ich die vier Stockwerke hinab. Draußen nieselte es. Jeder Atemzug entschwand als weißes Wölkchen in die Berliner Novembernacht. Ich stellte mich in den fahlen Schein einer Straßenlaterne und wartete.
Ab in den Urlaub, was?, sagte der Taxifahrer, das machen Sie richtig bei dem Scheißwetter!
Nach Prenzlauer Berg, sagte ich.
Meine Freundin Tina lachte mich überrascht an. Als sie den Koffer sah, wich die Freude dem Schrecken. Es war Sonntagabend.
Ist was passiert?, sagte Tina.
Kann ich paar Tage bei euch wohnen?, sagte ich.
Komm erst mal rein, sagte sie.
In der Küche saß Peter, Tinas Mann. Er stocherte in einer Salatschüssel. Tina rückte mir einen Stuhl an den Tisch.
Wie findest du unseren neuen Kaffeeautomaten?, sagte Peter.
Er ließ die Gabel in die Schüssel fallen und sprang zu einem Gerät, das in der Mitte der Arbeitsfläche stand.
Nicht so laut, zischte Tina, der Junge schläft!
Toll, sagte ich, schürzte die Lippen und betrachtete den Kaffeeautomaten, über dessen metallisch glänzendes Gehäuse Peter mit den Fingerspitzen strich.
Das Feinste vom Feinsten, sagte Peter, dieser Billigschrott von Tchibo kommt mir nicht ins Haus.
Ich bin ausgezogen, sagte ich.
Wie bitte?, sagte Tina.
Sie füllte mir ein Rotweinglas.
Ich hab’s nicht mehr ausgehalten, sagte ich.
Habt ihr euch gestritten?, sagte Tina.
Ihre großen braunen Augen drückten Sorge aus. Peter spielte in stummer, liebevoller Versunkenheit am Kaffeeautomaten. Dann nahm er sich ein Bier aus dem Kühlschrank und verschwand. Ich sah auf die Küchenuhr. Es war zehn nach acht.
Nicht gestritten, sagte ich, jedenfalls nicht richtig.
Tina legte ihre Hand auf meine und entließ mich nicht aus ihrem Blick. Meine Freundin wartete auf einen Redeschwall, auf Kurzatmigkeit und Hysterie, auf lautes Schluchzen und Tränenbäche. Vor fünfzehn Minuten hatte ich Micha verlassen und vermutlich eine Lebensweiche umgelegt. Aber ich spürte nichts. Ich fand Worte unpassend. Statt in meine stieg das Wasser in Tinas Augen.
Es hat mich angekotzt, sagte ich, um Tina von ihren Gefühlen abzulenken.
Der Trott?, sagte sie, die verdammte Routine?
Alles, sagte ich, der Mann, unsere Wohnung, mein Leben.
Und Paula?, sagte Tina.
Paula hab ich vorhin ins Bett gebracht, sagte ich, wie immer.
Ach, sagte Tina, und jetzt verlässt du mal schwuppdiwupp Mann und Kind.
Sie zog einen Mundwinkel in die Höhe, als habe sie einen schlechten Witz gehört.
Ich zuckte mit den Schultern.
Was ist denn vorgefallen?, sagte Tina.
Nichts, sagte ich.
Das glaube ich dir nicht, sagte Tina, man trennt sich nicht ohne Grund.
Meine Freundin reckte das Kinn und legte den Kopf schräg.
Das renkt sich wieder ein, sagte sie, ihr habt doch wohl einiges zu verteidigen.
Was denn?, sagte ich.
Die gemeinsamen Jahre, die ganzen Erlebnisse, die Vertrautheit, sagte sie, kann ja sein, das alles liegt verschüttet unter banalen Alltagsproblemen.
Tinas Blick huschte unruhig auf meinem Gesicht herum.
Verschüttet, sagte ich.
Ja, sagte Tina, eine Beziehung bleibt eben Arbeit.
Wieso willst du meine Beziehung retten?, sagte ich.
Tina suchte meine Augen nach einer Regung ab.
Weil es sich lohnt, sagte sie, Peter und ich ringen täglich um Respekt voreinander.
Ich habe keine Lust auf Respekt, sagte ich.
Sei nicht kindisch, sagte Tina, worauf hast du denn Lust?
Ich musste kichern.
Du darfst jetzt auf keinen Fall alles zerstören, sagte sie.
Dazu hätte ich Lust, sagte ich.
Tina schaute mich ungläubig an. Sie wusste nicht, ob ich sie veralberte. Die großen braunen Augen lauerten.
Peter kam in die Küche, warf einen Blick auf den Kaffeeautomaten, holte sich ein neues Bier aus dem Kühlschrank, verschwand ins Wohnzimmer. Meine Freundin spielte mit zwei Fingern am Fuß ihres Weinglases.
Wir haben doch alle mit Hochs und Tiefs zu kämpfen, sagte sie.
Tina blickte ihrem Mann nach und seufzte. Aus dem Wohnzimmer drang Sirenengejaule.
Kein Wunder, sagte ich und versuchte, wenigstens einen Bruchteil jenes Mitgefühls aufzubringen, das Tina pausenlos produzierte.
Ich trank meinen Rotwein aus und schenkte mir nach. Tina hielt die Hand über ihr Glas.
Morgen früh um fünf sitz ich schon im ICE, sagte sie und goss sich roten Traubensaft ein.
Meine Freundin war Schauspielerin. Seit einem Jahr spielte sie eine vom Leben gebeutelte Flamenco-Lehrerin in einer Vorabendserie. Die Woche verbrachte sie in Köln, Stunden in der Maske, Stunden in der Garderobe. Während sie auf ihre Szenen wartete, las Tina diszipliniert sämtliche Drehbücher durch. Sie empfand eine Mitwirkungspflicht, die weit über Textlernen, Gutaussehen und Pünktlichsein hinausging. Sie rannte den Autoren die Türen ein und machte andauernd Verbesserungsvorschläge, um die Serienschreiber vor dem allerpeinlichsten Schwachsinn zu bewahren. Eine Serie war so konzipiert, dass sie möglichst niemals endete. Deshalb steigerten sich die Schicksalsschläge, die Tina in ihrer Rolle erlitt, ins Unermessliche. Die Flamenco-Lehrerin hatte bereits ein Dutzend gescheiterte Affären, diverse Sportunfälle mit Gips bis zum Hals und das Coming out ihres schwulen Seriensohnes hinter sich, der direkt nach seinem Geständnis ins Koma gefallen war. Niemand von Tinas Freunden und Verwandten nahm die dramatischen Geschehnisse noch zur Kenntnis. Allein Johnny, Tinas echter Sohn, bestand darauf, sich Folge um Folge anzuschauen. Also hockten der Junge und sein Papa Tag für Tag vor dem Fernseher, leerten zwei Fischkonserven und eine Tüte Chips und sahen zu, wie ihre Mama für die Familie das Geld verdiente.
Tina massierte sich mit Daumen und Zeigefinger die Nasenwurzel. Dann lächelte sie versonnen.
Heute Morgen habe sie ihren Jungs das Frühstück ans Bett serviert, Käsecroissants aus dem Bioladen. Danach, schwärmte Tina, hätten sie zu dritt einen Spaziergang gemacht und die Enten gefüttert. Hand in Hand seien sie durch die Kälte gewandert und hätten über dies und das geplaudert. In Nullkommanix hielt das pure Glück Einzug in Tinas Gesicht. Sie fühle einfach, dass sie zusammengehörten. Mit den Jahren werde das innere Band immer stärker. Wahrscheinlich sei es schlichtweg Liebe, man müsse sie nur erkennen. Überhaupt stelle sich die Frage, wieso alle immer diesen Riesenanspruch auf Erfüllung erhöben, das seien höchstens Momente, und ansonsten komme es darauf an, nicht zu erstarren. Tina sah mich nachdenklich an. Ein Anflug von Weisheit streifte ihre Züge.
Bewegung, sagte sie, dass die Dinge in Bewegung bleiben, für einen selbst, in der Beziehung, im Leben, das ist das Allerwichtigste.
Der Minutenzeiger der Küchenuhr zuckte. Es war drei viertel zehn.
Jetzt müsste Micha es merken, sagte ich.
Was denn?, sagte Tina.
Dass ich weg bin, sagte ich.
Wieso gerade jetzt?, sagte Tina.
Peter kam hereingeschlurft. Tina sprang auf und schmiegte sich verliebt an ihn.
Zu Ende?, sagte sie.
Peter nickte und nahm sich sein drittes Bier aus dem Kühlschrank.
Diese Kommissare, sagte Peter, spielen eine derartige Scheiße zusammen.
Tina sah ihren Mann von unten an und strich ihm zärtlich die Locken aus der Stirn. Ich stand auf.
Ich geh noch mal raus, sagte ich.
Wohin denn?, sagte Tina erschrocken.
Keine Ahnung, sagte ich, frische Luft schnappen.
Du warst schon immer anders, sagte Tina, ich bau dir im Wohnzimmer das Bett auf.
Sie begleitete mich in den Flur und gab mir einen Wohnungsschlüssel.
Das kriegen wir alles wieder hin!, rief sie mir nach.
*
Ich zog mir die Kapuze des Mantels über den Kopf und schob die Hände in die Taschen. Es nieselte noch immer. Die Straße war menschenleer. Der Schein der Laternen spiegelte sich in den Pfützen. Kippen schwammen darin. Wohin sollte ich gehen? Darauf kam es nicht an, Hauptsache Bewegung, hatte ich eben gelernt. Aus einer Haustür trat ein Mann in Jogginghosen. Er ließ seinen verfetteten Dackel am Bordstein sein Geschäft erledigen. Ich wich Mann und Hund aus. Ich genoss die Kälte. Es roch nach Kohle, ein Duft längst vergangener Zeiten. Die Häuserwände ragten steil in den verhangenen Nachthimmel. Keine Sterne, kein Mond. Hinter manchen Fenstern flackerte graugrün das Licht der Fernseher. In anderen Fenstern erlosch es. Auf der Hauptstraße rasten Autos durch Pfützen. Ich ging unter Balkonen, um mich vor dem Regen zu schützen. Ich hielt mich dicht an den Fassaden, um nicht vom Dreckwasser bespritzt zu werden. Ich war froh, in die nächste Seitenstraße flüchten zu können. Aus einer Kneipe drang Country-Musik. Ich warf einen Blick durch die Scheibe. Holztische, Biergläser, volle Aschenbecher und rote, zerfurchte Gesichter. Alte Säufer brüllten sich gegenseitig an. Ich erreichte Tinas Straße. Ich sah mehrere Männer mit Hunden. Im Gegensatz zu meiner Freundin litten sie allesamt unter Bewegungsmangel. Reglos standen die Vierbeiner und ihre Besitzer im Laternenlicht, dicke Bäuche, hängende Köpfe, zottelige Frisuren. Hast Du ne Zigarette, raunte ein Mann. Auf seiner Stirn schimmerte Schorf. Nee, sagte ich und beschleunigte den Schritt. Vor dem Hauseingang tastete ich nach dem Schlüssel in der Manteltasche und hielt inne. Ich wollte noch nicht hinaufgehen. Ebenso wenig wollte ich mich zwischen diese verwahrlosten Tierhalter stellen. Tina würde jetzt Zähne putzen, sich die parfümfreie Pflegemaske ins Gesicht schmieren und ins Designerbett fallen. Sie würde die Arme um Peter schlingen und sich kurz glücklich fühlen. Dann würde sie sich auf die andere Seite drehen. Vielleicht würde sie nicht einschlafen können, weil sie sich Sorgen um mich machte, sich hin und her wälzen und auf das Geräusch des Schlüssels in der Wohnungstür warten. Bewegung – so hatte schon Tinas Lieblingsfach auf der Schauspielschule geheißen. Ich lief los, in die Richtung, aus der ich eben gekommen war. Wie auf Kommando schlichen die Männer in die Hauseingänge, jeweils gefolgt von einer zerzausten, traurigen Kreatur auf vier Beinen. Sollte ich eine weitere Runde ums Karree drehen? Die Kneipe mit den brüllenden Säufern wagte ich nicht zu betreten. Der Regen wurde stärker. Wind kam auf. Laub fegte über das Pflaster. Micha würde jetzt die leere Bierflasche in die Küche schaffen und ins Bett gehen, wo er mich vermutete. Aber dort lag ich nicht. Ich stapfte durch kalten Regen, hatte die falschen Schuhe an und wich Hundehaufen aus, die sich im Wasser aufzulösen begannen. Tina hatte seinerzeit die Wohnungslage mit Bedacht gewählt: ein normaler Kiez mit normalen Bewohnern, Stuck, Parkett und Flügeltüren inklusive, unbedingt in Fußnähe zum Szeneviertel mit Spezialitätenrestaurants und Bioläden. Sollte ich dorthin gehen, wo jugendliche Pärchen auf Wandbänken nebeneinander saßen, gebeugt über Schüsseln hingen und Nudelsuppe mit Stäbchen aßen?
Als ich die große Kreuzung erreichte, fing es an zu stürmen. Das Regenwasser sickerte durch den Stoff meines Mantels und schaffte es an den Schultern bis auf die nackte Haut. An meinem Gesicht triefte das Wasser hinab und tropfte in den Ausschnitt. Ich hätte jetzt meinen Schal gebraucht. Was hatte mich geritten, die schwarzen Lederstiefel mit den hohen Absätzen anzuziehen? Ich hatte Micha wohl mit einem selbstbewussten Gang verlassen wollen. Jetzt bekam ich nasse Füße und vermisste meine derben Herbsttreter mit den Profilsohlen oder die Gummistiefel aus dem Keller. Die Scheibenwischer der vorbeirasenden Autos liefen auf Hochtouren. Eine Straßenbahn kam. Der hell erleuchtete Riesenwurm düste auf die Haltestelle zu. Das trockene und warme Gehäuse in Aussicht, rannte ich los, überquerte mehrere Ampeln bei Rot und sprang in die Bahn. Ich ließ mich auf einen der gepolsterten Sitze fallen. Bis auf zwei Mädchen, die um die Wette husteten, saß niemand im Wagen. Aus den Heizkörpern roch es leicht verschmort. Zwischen den Sitzen klemmten zerquetschte Kaffeebecher. Eine leere Bierflasche rollte durch eine klebrige Lache über den grauen Boden. Wie lange war ich nicht Straßenbahn gefahren? Micha und ich erledigten alle Wege mit dem Auto. Ich setzte die Kapuze ab und knöpfte den Mantel auf. An meinen schlammbespritzten Hosensäumen saugte sich die Nässe hoch. Die Stiefel waren verdreckt. Ich saß in der Linie sechs. Auf dem Display erschienen in gelber, eckiger Schrift abwechselnd die Worte Riesaer Straße und Hellersdorf. Das klang nach Plattenbau. Vor jeder Station ertönte aus einem Lautsprecher, den ich nirgends entdecken konnte, ein Pling-plang-plong, und eine Frauenstimme sagte Straßennamen an, die ich noch nie gehört hatte. Die Bahn vollführte regelmäßig Vollbremsungen. Ich musste mich festhalten. Die Bierflasche klirrte gegen Metall. Niemand stieg ein. Die Türen blieben geschlossen. Bei Abfahrt beschleunigte die Straßenbahn, als sei sie auf Verfolgungsjagd. Die Mädchen husteten. Im Fahrerkabuff musste ein Vollidiot sitzen. Vielleicht war es seine letzte Tour für heute, und er versuchte, von kleinlichem Ehrgeiz gepeinigt, drei Minuten herauszuschinden. Wahrscheinlich aber litt er unter Aggressionen, und sie hatten ihn für die Nachtschicht eingeteilt, weil er für den Berufsverkehr untragbar war. Die Bahn rauschte mit mir durch die leergefegte, düstere Stadt. Der Regen verlieh dem Asphalt einen kohlrabenschwarzen Glanz. In den Pfützen schlug er Blasen. Schräg peitschten die Tropfen an die zerkratzten Scheiben. Der Fahrtwind verzerrte sie zu wüsten Strichen und trieb sie am Glas hinab. In den Wartehäuschen hingen protzige Werbeplakate für Radiosender, Billigdiscounter, Fluggesellschaften. Ein uralter Playboy, den ich als Kind im Fernsehen gesehen hatte, zeigte im Satinmorgenmantel seine faltige, haarlose, solariumsbraune Brust. Rechts und links hielt er zwei vollbusige Mädchen im Arm, und die blondierten Haare, falschen Zähne und goldbehängten, dürren Handgelenke brachten den Greis, den sie kaschieren sollten, ans Licht. Eitel strahlte das Reptil dem Tod entgegen. Die Straßen wurden breiter, geleckte Pisten. Neben dem Gleisbett reihten sich blattlose Minibäume in Stützkonstruktionen. Irgendwann stiegen die beiden Mädchen aus. Wohin beförderte mich der durchgeknallte Fahrer? Die vielen Kurven erschienen mir sinnlos. Die Häuser wurden höher, die Fenster quadratischer, die Lichter trostloser. Hieß das hier Lichtenberg? Hohenschönhausen? Im Nebel erahnte ich die Silhouetten der Neubaublocks. Sie säumten die Strecke in allen Varianten: kurze dicke Würfel, lange dünne Quader, hochkant aufgestellt, quergelegt, freistehend oder zusammengeklebt, sogar gebogen. Eine chaotische Legolandschaft unter dem weiten, schwarzen Himmel, unterbrochen von Brachland, Gestrüpp, Bauzäunen. Vor Autohäusern wehten klatschnasse Fahnen an hohen Stahlmasten. An Supermärkten und Shoppingcentern leuchteten Schriftzüge. Die Frauenstimme sagte: S-Bahnhof Marzahn.
Ich hatte die riesigen Betonzonen noch nie unterscheiden können. Dabei war ich selbst im Plattenbau groß geworden, allerdings in der Mitte der Stadt, unweit vom Alexanderplatz und zu Zeiten, als die Spielplätze und Springbrunnen intakt und die Familien jung waren. Meine Eltern, vor dreißig Jahren stolze Erstbezügler, waren in der Platte geblieben. Sie würden auch in der Platte sterben. So grün!, so zentrumsnah!, pflegte mein Vater stets auszurufen, wenn ich versuchte, ihn zu einem Wohnungswechsel zu überreden. Ich wollte nach Hause. Ich wollte in mein Bett oder wenigstens auf Tinas Sofa. Ich wollte zurück in bekannte Gefilde. Die Schlammspritzer auf meinen Hosenbeinen begannen zu trocknen. Draußen regnete es. War das hier nicht die Gegend, in der minderjährige Mütter ihre Säuglinge aus der achtzehnten Etage warfen? Ich hielt Ausschau nach einer Uhr. Es gab keine. Sie hatten in Berlin die Uhren abgeschafft. Und die Briefkästen auch. Den Brief mit den drei Worten hatte ich vorhin für den Empfänger auf dem Küchentisch hinterlegt. Micha würde mich in der Wohnung suchen und den Zettel finden. Er würde davon absehen, spät bei Leuten anzurufen und nach mir zu fragen. Er würde niemanden verrückt machen wollen, zu allerletzt sich selbst, das Problem auf morgen vertagen und darauf vertrauen, dass ich zurückkäme. Er würde davon ausgehen, dass mich einer dieser hysterischen Rappel ereilt hatte, von denen ich mich in aller Regel nach ein paar Tagen erholte. Sollte Paula quiekend aus einem der Träume erwachen, in denen sie gegen Tiger oder Eisbären kämpfte, würde Micha ihr ein Glas Apfelsaft bringen und sie über den Kopf streicheln, bis sie friedlich weiterschlummerte. Er würde ausnahmsweise ein viertes Bier trinken und dann schlafen. Wie Paula. Wie Tina und Peter. Die Hochhäuser glotzten mich an, Riesen mit viereckigen Lichtaugen, wahllos über die spröden Betonkörper verstreut. Tankstellen, Asia-Imbisse, Parkplätze. Beschmierte Wände, überquellende Mülleimer, Schrotthaufen. Leerstand, Abriss, Bauschutt. Helle Mitte, sagte die Frauenstimme. Helle Mitte? War das ernst gemeint? Oder vergab hier eine Humorkanone die Straßennamen? Um auszusteigen, fehlte mir der Mut. Ich hatte bis jetzt kein einziges Taxi gesehen, dafür schon die dritte Polizeistreife und einen Notarztwagen. Ich würde mit dem Vollidioten von Fahrer bis zur Endhaltestelle schlingern und in der Bahn sitzen bleiben, bis sie zurückfuhr. Am Straßenrand bewegte sich ein Auto. Es stand, wackelte aber. Ich sah einen Mann, der eine Frau gegen die Karosse warf. War das eine Schlägerei oder Sex? Die Bahn raste an den beiden vorüber, und obwohl ich mich umdrehte, konnte ich das wackelnde Auto nicht mehr sehen. Aus dem Lautsprecher klimperte ein Akkord. Riesaer Straße, sagte die Frauenstimme, Endhaltestelle, bitte aussteigen. Die Türen öffneten sich. Ich blieb sitzen. Die Türen schlossen sich. Die Bahn fuhr in eine Schleife und hielt. Der durchgeknallte Fahrer lief draußen in blauer Uniform entlang und schaute prüfend durch die Scheiben. Der Frust stand ihm ins Gesicht geschrieben. Als er mich sah, machte er eine zackige Kopfbewegung. Ich zögerte. Dann stieg ich aus. Ich setzte die Kapuze auf, mummelte mich in den Mantel und ging bis zur Haltestelle, von wo die Bahn nachher abfahren musste. Ich schaute auf den Fahrplan. Ich hatte keine Uhr. Sollte ich mich in das Glashäuschen stellen, auf dessen Dach der Regen prasselte? Ich lief ein paar Schritte hin, ein paar Schritte her, um nicht auszukühlen. Mir fiel ein, dass ich gar keinen Fahrschein gelöst hatte. Früher, als Teenager, war ich immer schwarzgefahren. Ich musste pinkeln. Ich war müde. Mir war kalt. Ich lief zur Straße. Ein kubistisches Konstrukt aus Rohren stand auf einem Stück Wiese. War das Kunst oder Kanalisation? Ich ging auf nassem Beton in die Richtung, aus der die Bahn gekommen war, drückte mich an parkenden Autos vorbei und blieb an stachligen Büschen hängen. Das alles hier war nicht für Fußgänger gemacht. Ich hörte ein Baby schreien. Ich entdeckte einen kleinen, unförmigen Flachbau. Zwischen zwei Blocks lag er zurückversetzt im Dunst. Hellersdorfer Perle stand in goldenen Buchstaben auf einem dunkelgrünen Schild, angestrahlt von drei Lichtquellen. Ich umkreiste die seltsame Hütte. Wegen der geschwärzten Scheiben konnte ich nicht ins Innere sehen. Ich nahm die Kapuze vom Kopf. Ich lief eine Rampe für Rollstuhlfahrer hinauf, löste den Zopf, schüttelte die Haare und legte die Hand auf die kalte Aluminiumklinke. Erst als ich die Tür hinter mir geschlossen hatte, sah ich auf. Zigarettenqualm, Dämmerlicht, Biergeruch, in der rechten Ecke ein Tresen, hinter dem ein dürres, blondiertes Wesen weiblichen Geschlechts hantierte. Links saßen um ein rundes Tischchen drei Rollstuhlfahrer. Sie hielten Spielkarten in den Händen. Unter dem Tischchen sah ich keine Beine, nur Räder. Ich empfing feuchte, zynische, geile Blicke von den Beinlosen. Mein Auftritt war eine Sensation. Guten Abend, sagte ich und schluckte. Ingeborg, einen Sekt für die Dame, sagte jemand. Er schaute nicht. Er saß am Tresen, der Mantel hing über den Barhocker. Er blickte in sein Bierglas. Er hatte einen grauen, akkurat gestutzten Bart und eine Hakennase. Er sah blass aus. Ich ging zum Tresen und setzte mich auf den Hocker rechts neben ihm. Der Mann sah mich noch immer nicht an. Vielleicht hatte er ein versteiftes Rückgrat. Als die Tresenkraft mir einen Sekt vor die Nase stellte, zuckte ihr rechtes Auge. Der Mann hob sein Bierglas und trank. Ich trank auch. Wer sind Sie, sagte er. Ist das wichtig, sagte ich. Als ich ihn für einen Moment aus dem Augenwinkel ansah, entdeckte ich ein Hörgerät hinter dem rechten Ohr. Der Mann griff in die Innentasche seines Mantels und legte einen Geldschein auf den Tresen. Er hatte die Hände eines Bauarbeiters. Er stieg vom Barhocker. Er tastete nach etwas unter dem Tresen. Er schaute mich nicht an. Langsamen Schrittes ging er zur Tür. Er humpelte. Der Mantel verhüllte den Gehfehler. Der Stock aus Holz pochte auf den Boden. Morgen abend um elf, sagte er. Ziehen Sie bitte einen Rock an, sagte er. Dann verschwand der Mann in die Hellersdorfer Nacht.
*
Tinas große braune Augen füllten sich mit Tränen. Warum bist du so kalt?, wimmerte sie. Der schöne Mann schwieg. Tina schlug die Augen nieder, und zwei Tränen kullerten an ihren Wangen hinab. Wirst du mich verlassen?, hauchte sie. Tina legte ihre Stirn behutsam an die Schulter des schönen Mannes. Auf ihrem Gesicht spiegelte sich der Abglanz weiblicher Ermattung. Der Alltag hat uns mürbe gemacht, erwiderte der schöne Mann. Hochs und Tiefs, sagte Tina, doch auch Momente des Glücks. Der schöne Mann schwieg. Die Erlebnisse, die Vertrautheit, hauchte Tina, wir haben etwas zu verteidigen. Der schöne Mann schaute eisig in die Ferne. In Tinas Antlitz verwoben sich Furcht und Hoffnung zu einem ergreifenden Standbild. Ich werde um dich kämpfen, sagte Tina, und es klang wie ein Schwur, ich bin mit dem Herzen immer bei dir. Dann kam der Abspann mit der aggressiven Erkennungsmelodie. Peter schaltete den Fernseher aus. Neben Peter saß Johnny in einem zu kleinen Schlafanzug auf dem Sofa und stopfte sich eine Handvoll Chips in den Mund.
Wieso hat der Mann Mama nicht mehr lieb?, sagte er empört.
Die Chips knirschten zwischen seinen Zähnen.
Klassischer Cliffhanger, sagte Peter.
Ich ging in die Küche und suchte im Kühlschrank etwas zu essen. Peter kam mir hinterher.
Kannst du Johnny ins Bett bringen?, sagte er.
Klar, sagte ich und schnitt mir eine Scheibe vom harten Brot ab.
Und den Geschirrspüler ausräumen?, sagte Peter, ich muss noch mal weg.
Er warf sich in seine gefütterte Markenjeansjacke und klaute mir die Scheibe Brot. Dann verließ er die Wohnung.
Gestern Nacht war ich mit dem Taxi zurückgekommen. Ich hatte bis elf auf dem Sofa gepennt und es den ganzen Tag nicht verlassen. Micha hatte sich nicht gemeldet. Peter hatte mir Folge 146 bis 150 in den DVD-Player geschoben und gemeint, erst im Zusammenhang könne ich deutlich erkennen, wie sauber Tina sämtliche Situationen spiele, astreines Handwerk eben, und was für ein grauenhaft unbegabter Macho ihr aktueller Partner sei.
Es war zehn vor acht. Ich ging in Johnnys Zimmer und setzte mich auf die Bettkante. Ich streichelte Johnny und erschrak wie immer über seine dürren Ärmchen. Johnny konnte als unterernährt gelten, und die großen braunen Augen, die er von seiner Mutter geerbt hatte und unter denen sich bläuliche Ringe zeigten, machten ihn vollends zum Hungerhaken. Gegen Johnny war Paula ein Wonneproppen. Wenn ich sie ins Bett brachte, koste ich den Kinderbauch, biss ich in die strammen Schenkel, kniff ich in meinen Lieblingspo, bis Paula außer sich geriet vor Lachen und Müdigkeit. Nun aber saß Micha an Paulas Bett, und würde sie nach ihrer Mama fragen, würde er im Brustton der Überzeugung antworten, dass ich zum Arbeiten irgendwohin gereist sei und bald wiederkäme. Paula würde sich insgeheim ein bisschen wundern, dass ich mich nicht von ihr verabschiedet hatte. Dann würde sie sich ins Kissen kuscheln, ihrem Papa und der ganzen Welt ihr volles Vertrauen schenken und einschlafen.
Gute Nacht, sagte ich und deckte den blassen Jungen zu.
Ich löschte das Licht und ließ die Tür des Kinderzimmers angelehnt. In der Küche schnitt ich mir eine Scheibe Brot ab, räumte den Geschirrspüler aus und wischte mit dem Lappen über den Kaffeeautomaten. Sobald Peter auftauchte, würde ich meinen Krempel schnappen und die völlig überspannte Fluchtaktion abbrechen. Ich würde mit dem Taxi nach Hause fahren, mich bei Micha entschuldigen, morgen früh Paula wecken und an der bettwarmen Kinderhaut schnuppern, wie immer. Ich setzte mich aufs Sofa, kaute auf dem harten Brot herum, schaute im Fernsehen eine Quizsendung und wartete auf Peter.
Drei viertel zehn kam er zurück, in der Hand ein Sixpack Bier. Er setzte sich neben mich und öffnete die erste Flasche.
Hast du den Kaffeeautomaten angefasst?, sagte er.
Abgewischt, sagte ich.
Sei vorsichtig, die Teile sind extrem sensibel, sagte er.
Als Peter mich fragte, ob ich auch ein Bier wolle, verneinte ich.
Wir könnten Folge 135 gucken, sagte Peter, da kriegt der eitle Macho in die Fresse.
Ich hau jetzt ab, sagte ich.
Ich schlüpfte in Mantel und Stiefel und verließ den Haushalt mit den Designerstücken, in dem es nichts zu essen gab.
Die Linie sechs brachte mich ins Ghetto. Ich stieg an der Station vor der Endhaltestelle aus und lief zur Hellersdorfer Perle. Auf der Rampe für Rollstuhlfahrer löste ich die Haare und schüttelte sie. Ich trat ein. Das dürre, blondierte Wesen hantierte mit Gläsern. Die drei Beinlosen unterbrachen ihren Skat. Der Mann fehlte. Ich setzte mich auf den Hocker. Einen Sekt, sagte ich. Die Tresenkraft stellte das Glas vor meine Nase. Ihr rechtes Auge zuckte. Ich bemerkte, dass das linke aus Glas war. Das falsche Gebiss mit den zu weißen, zu gleichmäßigen Zähnen war mir gestern schon aufgefallen. Wie spät ist es?, sagte ich. Die Frau schaute lange auf ihre winzige goldene Armbanduhr. Gleich elf, sagte sie. Am faltigen Hals befanden sich Narben, vielleicht von einer Schilddrüsenoperation. Wie alt mochte die Tresenkraft sein? Sechzig? Achtzig? Sie stakste zum goldenen Zapfhahn. In aller Ruhe ließ sie einen halben Liter Pils in den Humpen laufen und stellte eine wunderschöne Schaumkrone her. In der dunklen Ecke hinter der Eingangstür hockte krumm eine Omi an einem Tischchen. Sie trug eine Pudelmütze, die ihr zu groß war. Das runzlige Gesicht zeigte keinerlei Regung. Die Omi starrte in Richtung der Beinlosen, vor sich ein schales Bier. Hatte sie gestern auch dort gesessen? Draußen prasselte der Regen gegen die geschwärzten Scheiben. Weder hörte ich Autos durch Pfützen fahren, noch eine Straßenbahn über die Gleise düsen. Gegen elf schien in Hellersdorf keine Menschenseele mehr unterwegs zu sein. Die Skatkarten der Beinlosen klatschten auf das Tischchen. Die Omi bewegte sich nicht. Die Tresenkraft stakste durch die Kneipe. Die Oberschenkel waren nicht dicker als die Waden. Beides wurde von großen Kniescheiben zusammengehalten, die sich wie Eishockeypucks unter der schwarzen Strumpfhose abzeichneten. Auf einem Tablett brachte die Tresenkraft den Beinlosen drei Bier und drei Korn. Wie konnte sie mit diesen streichholzdünnen Armen solche Gewichte stemmen? Die Beinlosen bedankten sich mit Gemurmel, dann hörte ich in meinem Rücken das dumpfe Klirren der Schnapsgläser. Die Tresenkraft stakste auf ihren Pfennigabsätzen zurück. Unter dem Minirock war kein Hintern vorhanden. Ingeborg hatte der Mann sie genannt. Ich leerte das Sektglas. Unberührt stand das Bier auf dem Tischchen der Omi. Sie schien an ihrem Platz festgewachsen zu sein. Sollte ich gehen? Was hatte ich in dieser toten Spelunke verloren? Draußen regnete es Bindfäden. Hier passierte nichts mehr. Als ich das Portemonnaie zückte, um den Sekt zu bezahlen, ging die Tür auf. Der Mann mit dem Stock erschien. Er trug ein weißes Hemd unter dem Mantel. Die obersten zwei Knöpfe waren offen. Er sah mich nicht an. Hinter dem linken Ohr trug er ebenfalls ein Hörgerät. Die Beinlosen beachteten den Mann mit dem Stock nicht. Die Omi glotzte. Ingeborg stellte im Nu ein Bier bereit. Er setzte sich neben mich auf seinen Platz und lehnte den Stock unter den Tresen. Er hob das Glas und nahm einen großen Zug. Ich hörte ihn schlucken und vermied es, auf den Adamsapfel zu sehen und womöglich auf die Brust. Ich bedeutete Ingeborg, mir einen weiteren Sekt zu servieren. Der Mann blickte stur geradeaus. Der Geruch eines Rasierwassers ging von ihm aus. Aber da roch noch etwas, ein zweiter Duft, den ich nicht einzuordnen wusste. Als Ingeborg mir den Sekt vor die Nase stellte, zuckte ihr rechtes Auge. Zwinkerte sie mir zu? Ich führte das Sektglas langsam und vorsichtig gegen den Bierhumpen des Mannes. Kein Ton entstand. Der Mann reagierte nicht. Sein Glas war schon halb leer. Der Mann schwieg. Ich schwieg auch. Der Mann trank sein Glas in einem Zug aus. Die Bauarbeiterhände legten einen Geldschein auf den Tresen. Sie tasteten nach dem Stock. Der Mann stieg vom Hocker. Etwas knisterte. Er humpelte zur Tür. Der Gehschaden schien von der Hüfte herzurühren. Sie tragen keinen Rock, sagte er und verließ die Hellersdorfer Perle.
*