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Nicht von der Literatur selbst handeln die folgenden Seiten, sondern von Wegen ihrer Vermittlung und von einigen ihrer Institutionen. Nicht von den Schönheiten und Schwierigkeiten poetischer Texte sind sie veranlasst worden, sondern von diesen Institutionen selbst: von gesellschaftlichen Einrichtungen, deren Daseinszweck es sein soll, die Schönheiten und Schwierigkeiten der Sprachkunst allen zugänglich zu machen, die sie angehen.
Wovon die folgenden Texte handeln, das bestimmt auch ihre eigenen Formen: als Reden und Ansprachen, als Zwischenrufe und Randnotizen, die sich jedes Mal aus konkreten Anlässen, Anfragen, Anforderungen ergeben haben. Sie sind Ergebnisse und Spuren einer Praxis, die es immer wieder mit dem Umstand zu tun hat, dass auch eine ganz autonome Poesie, wenn es sie gäbe, doch noch immer angewiesen bliebe auf die unpoetischen Formen der Vermittlung an ihre Adressaten: auf Verlage und Lektoren, auf Literaturkritik und literaturwissenschaftliche Forschungseinrichtungen, auf Freiheit von Zensur – und dass schon kleine Einschränkungen solcher Vermittlungswege genügen, um diese Freiheit empfindlich zu verletzen. Zugleich aber sind die folgenden Texte auch bestimmt von der Erfahrung, dass zum Wesen der schönen Literatur doch immer eine eigentümliche Freiheit gehört, die alle Ordnungen ihrer Institutionen produktiv in Frage zu stellen, zu unterlaufen und zu verändern vermag.
Keines der damit knapp umrissenen Themen wird hier literarhistorisch, soziologisch oder systemtheoretisch erörtert. Jedes aber wird in konkreten Situationen so (und so weit) reflektiert, wie Lichtstrahlen auch von Glasscherben reflektiert werden können. Diese Texte erheben keinen wissenschaftlichen Anspruch, weil von ihren Veranlassern ausdrücklich die Vermeidung eines Wissenschaftsdiskurses gewünscht worden ist. Sie ergeben sich aber aus den praktischen Erfahrungen eines Wissenschaftlers, Schriftstellers und Kritikers. Und umgekehrt: Sie beruhen auf persönlicher Erfahrung und sind, wenn nötig, polemisch und subjektiv, weil auch dies bei den jeweiligen Schreib- und Redeanlässen erwünscht war. Aber sie versuchen diese subjektiven Erfahrungen, soweit möglich und zweckmäßig, in nachvollziehbare Argumente zu transformieren.
Was diese Texte verbindet, ist mit anderen Worten die Frage nach denjenigen Formen der Öffentlichkeit, die von der Literatur selbst gefordert und mitgeformt werden, vom Feuilleton bis zur Akademie, von der populären Sprachkritik bis zur Nobelpreisjury, von der Erstleseerfahrung bis zur Lektoratsarbeit. Was sie verbindet, ist die Frage nach Ermöglichung und Verteidigung dessen, was, groß gesprochen, die Freiheit von Sprache und Dichtung heißen kann und, kleiner und persönlicher gesprochen, die dankbare und nie ganz unbesorgte Freude an der Vielstimmigkeit.
Wenn der Vorsitzende einer Institution namens Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung im Goethe-Institut das Wort ergreift, dann gibt das zu Befürchtungen Anlass. Die Amtsbezeichnung könnte die Besorgnis wecken, der Redner wolle in einem gewissermaßen standesgemäßen Kulturpessimismus grämlich den allgemeinen Sprachverfall des Deutschen beklagen und dagegen allerlei Ge- und Verbote fordern. Diese Sorge ist unbegründet: erstens weil glücklicherweise überhaupt niemandem in unserem demokratischen Gemeinwesen, unserer – und da bin ich schon bei meiner wichtigsten These – lebendigen Sprachgemeinschaft eine sprachpolizeiliche Autorität zukommt, und zweitens weil ich vom Germanistikstudium bis in die Arbeiten der Deutschen Akademie hinein so viel Respekt vor der zünftigen Linguistik gelernt habe, dass ich in meinen Ansichten über Sprachgebrauch und Sprachverfall jedenfalls sehr viel vorsichtiger geworden bin.
Als die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung im Jahr 2013 ihren Ersten Bericht zur Lage der deutschen Sprache öffentlich vorstellte, da war der Publikumsandrang so überwältigend, wie wir das für eine linguistische Fachpublikation nicht erwartet hatten, selbst wenn diese sich ausdrücklich an alle Interessierten wenden sollte. So viel Neugier, beim Vorstellungsabend in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, dann in den Zeitungen und den Radiosendungen und notabene auch bei den Käufern der Buchausgabe: das ist eine unverhoffte Ermutigung für alle, die sich von einer Kulturnation eine größere Neugier auf und Sensibilität für sprachliche Entwicklungen wünschen.
Der Magen der deutschen Sprache, das zeigt der auf breiter Datenbasis gründende, mit viel Scharfsinn erarbeitete Bericht mit beruhigender Überzeugungskraft, der Magen der deutschen Sprache hat gerade in den letzten hundert Jahren, die der Sprachbericht erfasst, erstaunlich viel verdaut. Und es ist dem Deutschen – um im Bilde zu bleiben – meistens sehr gut bekommen. Viel besser, als diejenigen argwöhnen, die bei jeder neuen Speise gleich vor Übelkeit, Brechreiz und Kollaps warnen. Nie war der Wortschatz unserer Sprache so umfangreich und differenziert wie heute, keineswegs haben die Merkmale einer bürokratischen Amtssprache überhandgenommen, fremdsprachliche Wörter wie die viel beargwöhnten Anglizismen hat das Sprachsystem des Deutschen sich ebenso selbstbewusst einverleibt und angeeignet, wie es das in früheren Jahrhunderten mit dem Lateinischen und dem Französischen getan hat.
Nun haben uns, von jenem Berliner Vorstellungsabend an, auch wohlmeinende Kritiker beharrlich daran erinnert, dass Sprachsystem und Sprachgebrauch zwei grundsätzlich voneinander zu unterscheidende Bereiche bilden und dass die erfreuliche Stabilität des einen nicht automatisch einen Optimismus im Blick auf das andere begründen könne. Weil der Wandel des Sprachgebrauchs uns tatsächlich alle angeht, nicht nur in der politischen, wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und medialen Öffentlichkeit, sondern bis in unsere persönlichsten Lebensvollzüge hinein: darum muss über die Lage der deutschen Sprache als eines Systems hinaus weiter gefragt werden nach ihrem tatsächlichen Gebrauch in Gegenwart und nächster Zukunft. Wir wollen wissen, wohin die sprachliche Reise geht. Nach dem Sprachgebrauch in den neuen elektronischen Kommunikationsmedien also muss gefragt werden, nach dem Deutschen als einer Sprache der Wirtschaft und als einer Wissenschaftssprache und nach dem Verhältnis zwischen dem Deutschen und den Sprachen der nach Deutschland Eingewanderten und Einwandernden. Erlauben Sie, dass ich mich mit einigen Bemerkungen vor allem zu den letzten beiden Fragen begnüge: zu den Migrationen und zu den Wissenschaften.
Auch wenn Sprachsystem und Sprachgebrauch zwei verschiedene Dinge sind, so könnte die Einsicht in die Stabilität des Ersteren uns doch an das Motto Johannes Pauls II. erinnern: »Habt keine Angst«. Zum Beispiel vor einem von innen kommenden Sprachverfall, etwa in den diversen Erscheinungsformen dessen, was man verallgemeinernd Jugendsprache nennt. Die einfallsreichen Ausdrucksformen der Jugendsprache in den Kurz- und Kürzestformen von SMS und Twitter, in den diversen Umgangs- und Szenesprachen, in dialektähnlichen Formen wie dem türkisch-deutschen Kanak Sprak: wo Kulturpessimisten nur ein Abgleiten in ein Schrumpfdeutsch wahrnehmen, da ließe sich, tritt man nur ein paar Schritte zurück, auch eine »Kultur des Witzes« erkennen – sehr anders in ihren Ausdrucksformen, aber oft keineswegs weniger geistreich und witzig als in den Moden von Spätaufklärung und Rokoko, für die diese Formel einmal geprägt worden ist.
Habt keine Angst, zum Beispiel vor der vermeintlichen sprachlichen ›Überfremdung‹. Wer regelmäßig die Regionalnachrichten in den Tageszeitungen liest, kann nicht selten auf ein- und derselben Seite zwei Meldungen finden, die in unterschiedlichen Teilen der Republik dieselbe Entwicklung anzeigen: Im Saarland, so war neulich zu lesen, besinnt sich die Bildungspolitik wieder auf die Vorzüge der Grenzlage zu Frankreich, darum soll die Zweisprachigkeit nicht nur in den Schulen, sondern auch im Alltag von Behörden, Restaurants, Kinos gestärkt werden. Und in der Lausitz, so heißt es, wollen die politisch Verantwortlichen künftig ihre Anstrengungen erheblich verstärken, die Kultur und Sprache der sorbischen und wendischen Minderheit zu fördern und lebendig zu erhalten. Aus meiner eigenen Berufserfahrung könnte ich ein weiteres Beispiel hinzufügen: die wachsende Neugier auf und Zuneigung zu den Sprachen der friesischen und der dänischen Minderheiten in Schleswig-Holstein. Diese Entwicklungen sind, glaube ich, keine Nebensachen, keine Randerscheinungen in den Grenzprovinzen.
Bedenken Sie: Gut anderthalb Jahrhunderte lang galt die Universitäts- und Landeshauptstadt Kiel in ähnlicher Weise als Bollwerk gegen ein feindseliges Dänentum, wie Saarbrücken als Bastion im Sprachen- und Kulturkampf galt und das Sorbische in deutschnational vernebelten Köpfen als landes-, wenn nicht ›art‹fremd. Grenzregionen haben das an sich, dass sie eben vor allem als Regionen der Abgrenzung wahrgenommen werden, mehr noch: dass sich von ihnen aus das jeweils Eigene überhaupt erst konstituiert. Minderheitensprachen stören nicht nur den glatten Betriebsablauf, sie stehen jeder aus dieser Abgrenzung begründeten Nationalitätsbildung im Wege. Die Nachbarschaft mit Fremdsprachigen als Bereicherung zu erkennen, nicht wie jahrzehntelang geschehen als Bedrohung: das ist eine historisch noch immer so neuartige Entwicklung, dass der manchmal populistisch offene, manchmal klammheimliche Widerstand dagegen eine zwar dumme, aber lange Geschichte auf seiner Seite hat. Es ist immer ein schöner Anblick, wenn Bollwerke zu Brücken werden; es sieht beinahe so aus wie die Umarbeitung von Schwertern zu Pflugscharen. Aber es weckt auch die uralte Angst vor der Wehrlosigkeit.
Was die Zeitungen aus dem Saarland und der Lausitz meldeten, das ergibt beinahe eine Allegorie für Vorgänge, die sich in unserem Land fast jederzeit und überall abspielen. Auf Schulhöfen zum Beispiel oder in Bildungsprogrammen. Nur sind es da nicht immer die altvertrauten Nachbarn, die von Erbfeinden zu Gesprächspartnern werden. Als ich mich in einem Interview mit der dpa zustimmend zur Wahl des »Unwortes des Jahres 2013« geäußert hatte, dem Wort »Sozialtourismus«: da erreichte mich der Brief eines empörten Zeitunglesers, eines akademischen Kollegen übrigens, der mir in scharfen Worten erklärte, es sei ihm unbegreiflich, warum ausgerechnet der Präsident einer Deutschen Akademie sich nicht gegen die, so drückte er sich aus, Einwanderung von Osteuropäern in unsere deutsche Kultur ausspreche. Der Brief zeigt, so scheint mir, dieselbe Haltung wie die alten Grenzkämpfe. Das Fremde ist danach zuerst und zuletzt das Gefährdende, weil es das Andere ist. Und die Sprachkritik wird dann neben der Verteidigung der Sozialsysteme zum bevorzugten Schauplatz der Kulturkämpfe, der Grenzkämpfe.
Dabei steht die Angst vieler wohlmeinender Sprachkritiker vor dem Fremden in erstaunlichem Gegensatz zu dem Nutzen, den sie selber daraus ziehen. Dass auch die patriotischsten Sprecher des Deutschen von Job und Manager reden, ist unvermeidlich; dass sie eine fenestra öffnen und kein Windauge, das wird, natürlich, von niemandem mehr als irgendwie ›undeutsch‹ wahrgenommen, so wie man auch dem »Film« seinen amerikanischen Ursprung längst nicht mehr anmerkt. Die erfolgreichen Fremdwörter, manchmal auch die Modewörter von heute sind die geschmeidigen Lehnwörter von morgen; und diejenigen Anglizismen, die tatsächlich bloß töricht und doof sind, Ausdrücke wie der international call für ›Ferngespräch‹, verschwinden ganz von selber wieder aus einem Wortschatz, dem sie ja ohnehin nur zwanghaft von Werbeagenturen eingeflößt werden sollten. Gegen die Anglizismen haben eigenartigerweise auch diejenigen etwas, denen ein embarras de richesse und ein tant mieux elegant über die Lippen gehen. Wo das geschieht, da gilt der Widerstand eigentlich nicht den fremdsprachigen Wendungen selbst, sondern den