Über Ece Temelkuran

Foto: © Muhsin Akgün

Ece Temelkuran, geboren 1973 in Izmir, ist Juristin, Schriftstellerin und Journalistin. Aufgrund ihrer oppositionellen Haltung und Kritik an der Regierungspartei verlor sie ihre Stelle bei einer der großen türkischen Tageszeitungen. Ihr Roman Was nützt mir die Revolution, wenn ich nicht tanzen kann wurde in 22 Sprachen übersetzt und erschien 2014 im Atlantik Verlag. Bei Hoffmann und Campe erschienen zuletzt das Sachbuch Euphorie und Wehmut. Die Türkei auf der Suche nach sich selbst (2015) und der Roman Stumme Schwäne (2017).

 

 

Die Übersetzerin

Michaela Grabinger studierte Germanistik, Philosophie und Psychologie. Sie lebt in München. Zu den von ihr übersetzten Romanen und Sachbüchern zählen Werke von Anne Tyler, Elif Shafak, Joy Fielding, Michael Crichton, P. D. James, Tan Twan Eng, David Graeber und Alain de Botton.

Fußnoten

Karl Jaspers, Geleitwort, in: Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München: Piper 1986, S. 10.

Bezieht sich auf eine Zeile des Gedichts »The Second Coming« von W. B. Yeats aus dem Jahr 1919: »Things fall apart; the centre cannot hold« – »Alles zerfällt; die Mitte hält nicht mehr« (M. G.)

Donald J. Trump unter Mitarbeit von Tony Schwartz, So werden Sie erfolgreich – Strategien für den Weg nach oben, übers. v. Ursula Bischoff, München 2008: Redline Wirtschaft, Finanzbuch Verlag, S. 70.

UK Independence Party (dt. Partei für die Unabhängigkeit des Vereinigten Königreichs)

Megan McArdle, »›Deplorables‹ and the Myth of the Single-Issue Voter«, Bloomberg, September 2016.

Fiona Hill, »This is what Putin Really Wants«, 24. Februar 2015.

Der Originaltitel des auf Deutsch unter dem Titel Was nützt mir die Revolution, wenn ich nicht tanzen kann erschienenen Romans lautet Dügümlere üfleyen kadinlar (auf Deutsch etwa: »Die auf Knoten blasenden Magierinnen«) und bezieht sich auf Sure 113, die vorletzte Sure des Korans. Anm. des Verlags.

J. P. Stern, Hitler. Der Führer und sein Volk, aus dem Englischen vom Autor und von Fred Wagner, München: dtv 1981, S. 148.

Vgl. Yanis Varoufakis, »The High Cost of Denying Class War«, Other News, 13. Dezember 2017.

Bezeichnung für den Regierungschef der Regionalregierung in Wales, Schottland und Nordirland. (M. G.)

Fabio Bordignon and Luigi Ceccarini, »Five Stars and a Cricket: Beppe Grillo Shakes Italian Politics«, South European Society and Politics, 21. Februar 2013.

Kelefa Sanneh, »Intellectuals for Trump«, New Yorker, 9. Januar 2017.

Oppositionelle Stimmen werden durch die Behauptung herabgewürdigt, kritische Intellektuelle seien ausschließlich von ihren eigenen Kreisen beeinflusst.

Mit diesem Etikett wurde andersdenkenden Intellektuellen in der Türkei unterstellt, sie wären islamophob und hätten eine krankhafte Angst vor einer islamischen Republik.

Diesen Ausdruck verwendete Trump während des government shutdown (Stilllegung der Regierung) im Januar 2018.

Albert Camus, Weder Opfer noch Henker. Über eine neue Weltordnung, aus dem Französischen von Lislott Pfaff, Zürich: Diogenes, S. 11.

Primo Levi, Die Untergegangenen und die Geretteten, aus dem Italienischen von Moshe Kahn, München: dtv 2015, S. 89.

Anspielung auf Emily Dickinsons Gedicht Nobody, dessen letzte Zeile »to an admiring bog« lautet. (M. G.)

Michail Bachtin, Rabelais und seine Welt: Volkskultur als Gegenkultur; aus dem Russischen von Gabriele Leupold, herausgegeben und mit einem Vorwort versehen von Renate Lachmann, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1987, S. 58.

François Rabelais, Gargantua. Pantagruel, aus dem Französischen übersetzt und kommentiert von Wolf Steinsieck, Übersetzung der Verse und Nachwort von Frank-Rutger Hausmann, Stuttgart: Reclam 2013, S. 15.

a.a.O., S. 111.

a.a.O., S. 140.

Vgl. John Milton, Das verlorene Paradies, übersetzt von Adolf Böttger. http://www.zeno.org/Literatur/M/Milton,+John/Epos/Das+verlorene+Paradies/Zweiter+Gesang, letzter Aufruf am 02.01.2019

Vgl. Michael Hardt und Antonio Negri, Multitude – Krieg und Demokratie im Empire, Ffm.: Campus 2004.

dessen Name in meiner Muttersprache

»Hoffnung« bedeutet.

Wie kann ich Ihnen helfen?

Die Düsenjäger schneiden den dunklen Himmel in riesige geometrische Stücke, so als wäre die Luft eine feste Masse. Es ist der 15. Juli 2016, die Nacht des Putschversuchs in der Türkei. Ich versuche, die zitternden Fensterscheiben mit Kissen zu schützen. Offenbar wurde gerade die Brücke bombardiert, aber ich sehe kein Feuer. »Ist es jetzt so weit?«, frage ich mich. »Findet heute Nacht der Reichstagsbrand statt, der alles zerstört, was von der türkischen Demokratie und meinem Land übrig ist?«

Das Fernsehen zeigt, wie mehrere Dutzend Soldaten die Bosporusbrücke sperren und die verdutzten Zivilisten anblaffen: »Geht nach Hause! Das ist ein Militärputsch!«

Trotz ihrer riesigen Gewehre haben einige Soldaten schlicht Angst, und alle wirken hilflos. Im Fernsehen wird von einer Machtergreifung durch das Militär gesprochen, doch es ist kein Staatsstreich, wie wir ihn gewohnt sind. Ein Putsch setzt so gut wie immer ein Pokerface auf; keine Hektik, kein Verhandeln und bestimmt keine Bedenken, was den Einsatz schwerer Waffen betrifft. In den sozialen Medien wird die absurde Situation bereits sarkastisch kommentiert. Dieser Art von Humor geht es nicht unbedingt um den Lacherfolg; es ist eher ein Wettstreit in bitterer Ironie, was jedoch nur die Teilnehmer selbst normal finden. Die meisten Witze

Als der Himmel über Istanbul und Ankara kurz darauf voller Kampfjets ist, vergeht den Leuten ihr schwarzer Humor, und wir lernen die Sprache des Krieges in Echtzeit. Was ich für eine Bombe gehalten habe, war ein »Überschallknall«, das explosionsartige Geräusch, das entsteht, wenn Düsenflieger die Schallmauer durchbrechen – Fachausdruck dafür, dass die Luft in riesige Teile zerbirst und als Angst auf uns niederprasselt, als die Angst, wir könnten noch vor Sonnenaufgang unser Land verlieren.

Mittlerweile versuchen die Menschen in der Hauptstadt Ankara zu unterscheiden, wann sie nur einen Überschallknall hören und wann die echten Bomben, die das Parlament und die Geheimdienstzentrale treffen. Absurde Fernsehmeldungen legen sich wie ein Schleier auf die Katastrophe vor unseren Augen. Live wird gezeigt, wie Militärpolizisten auf der Suche nach dem längst in Vergessenheit geratenen Luftschutzkeller um das Parlamentsgebäude herumrennen und, als er endlich gefunden ist, keiner von ihnen weiß, wo sich der Schlüssel befindet, während draußen auf den Straßen Männer im Schlafanzug mit Kippe im Mund gegen Panzer treten und zu den Düsenjägern hinaufbrüllen.

Vielen fällt auf, wie ungewöhnlich es ist, dass sich die Fernsehmeldungen überschlagen. Noch jeder Staatsstreich der jüngeren türkischen Geschichte begann damit, dass die Armee Politiker in Gewahrsam nahm und die Informations

Erdoğan meldet sich über FaceTime – seine Botschaften werden von CNN Türk übertragen – und fordert alle Bürger auf, in die Innenstadt zu kommen. Wie die meisten anderen erwarte auch ich nicht, dass die Regierungsanhänger tatsächlich auf die Straße gehen und sich dem Militär entgegenstellen werden. Seit der Gründung der modernen Republik durch Kemal Atatürk im Jahr 1923 ist die Armee traditionell die angesehenste Institution im Lande, wenn nicht gar die am meisten gefürchtete. Doch offenbar hat sich viel geändert seit dem letzten Militärputsch, 1980, als die Linken Widerstand leisteten und ins Gefängnis gesteckt und gefoltert wurden, denn Tausende folgen dem Aufruf des Präsidenten.

Kaum zeigt das Fernsehen, wie der Mob junge, verängstigte Soldaten erschlägt und erwürgt, tönt von allen Minaretten des Landes das endlos lange Sela-Gebet, das normalerweise auf Beerdigungen gesprochen wird. Man muss nichts über islamische Bräuche wissen, um dem schaurigen Klang anzuhören, dass es um etwas Unumkehrbares geht, dass hier ein Ende verkündet wird. Nach dem Sela werden die

 

Wir mussten im Lauf der Zeit lernen, dass in der Türkei jeder Putsch, egal von wem er ausgeht, auf die gleiche Weise endet. Frei nach dem berühmten Bonmot des früheren englischen Fußballspielers und späteren TV-Experten Gary Lineker, wonach Fußball ein simples Spiel von 120 Minuten Dauer ist, das am Ende immer die Deutschen im Elfmeterschießen gewinnen, findet jeder Putsch in der Türkei innerhalb einer 48-stündigen Ausgangssperre statt, und am Ende sitzen die Linken im Knast. Danach erfolgt die Entwurzelung einer weiteren Generation fortschrittlicher Menschen, weshalb die Seele des Landes dann noch mehr darbt als zuvor.

Als ich mich in dieser Nacht durch die regierungsfreund

In den Straßen ertönen immer mehr »Allahu akbar«-Rufe, begleitet von Maschinengewehrschüssen aus umherfahrenden Autos. Offenbar hat sich die Treue zur Armee nach den vielen Jahren unter der Herrschaft der AKP (Adalet ve Kalkınma Partisi, dt. Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) in eine quasireligiöse Verbundenheit mit Erdoğan verwandelt. Vor unseren Augen werden sein Gesicht und sein Name zum Sinnbild der neuen Türkei, in der wir morgen aufwachen. Inmitten von Chaos und Lärm arbeitet die sorgsam konstruierte Propagandamaschine wie geschmiert an der Vorbereitung des neuen politischen Reichs, das am Morgen entstehen wird. Und da ich Erdoğans Regime seit langem kritisiere, ist mir beim trostlosen Tagesanbruch vollkommen klar, dass es in dieser neuen Demokratie für Menschen wie mich keinen Platz geben wird.

 

Katastrophen haben eine betäubende Wirkung; wie Millionen andere im Land bin ich innerlich leer. Während die Hilflosigkeit mit dem wachsenden Unheil zunimmt, verdichtet sich die Kakophonie zu einer einzelnen Sirene, einem unablässig tönenden Refrain: »Du kannst nichts mehr tun, das ist das Ende.« Inzwischen berichten auch die internationa

 

Ich erinnere mich genau an den Tag, an dem ich zum ersten Mal einen Sonnenaufgang sah. Eines frühen Morgens wurde ich vom Radio im Wohnzimmer geweckt, das mit voller Lautstärke lief. Meine Eltern saßen kettenrauchend vor dem Gerät und hörten zu, wie man einen Putsch ausrief. Je heller es draußen wurde, umso mehr verdüsterten sich ihre Mienen. An diesem 12. September 1980 sah ich in den klaren blauen Himmel und sagte mir: »Ach, das ist also ein Sonnenaufgang!« Ich war acht, und in jenen Minuten begann einer der schlimmsten Militärcoups der modernen Geschichte. Meine Mutter weinte leise in sich hinein. Das sollte sie in den Jahren nach diesem Sonnenaufgang noch oft tun.

Von jenem Tag an wuchs ich wie Millionen anderer Kinder, deren Eltern eine gerechte, gleiche und freie Türkei wollten, auf der Seite der Besiegten auf; als eine derer, die stets auf der Hut zu sein hatten und, wie meine Mutter immer sagte, wenn ich nicht die besten Noten nach Hause brachte, »klüger als die an der Macht« sein mussten, um es »denen« zu zeigen. In der Nacht des 15. Juli 2016 waren »wir« wie immer klüger als »die«, weil wir messerscharfe Analysen mit

 

Am 15. Juli 2016 war mein Neffe Max Ali genauso alt wie ich am 12. September 1980. Sein eineinhalb Jahre jüngerer Bruder Can Luka und er sind halb Türken, halb Amerikaner und leben in den Vereinigten Staaten. Nach einem wunderschönen Urlaub bei ihrer babaanne – meiner Mutter, ihrer Großmutter – sollten sie am 16. Juli die Heimreise in die USA antreten. Max Ali ist ein Riesenfan von babaannes Frühstück. Er gehört zu den wenigen Glücklichen dieser Welt, die türkische Frühstücksgelage kennen – die babaanne seiner Meinung nach als Einzige zu zelebrieren weiß. Die ganze Familie ist stolz darauf, dass er lieber zu Tomaten und türkischem Käse greift als zu Cheerios, die für meinen Vater nichts anderes als »Tierfutter« sind.

Hätten die beiden Jungs den Sonnenaufgang am Tag des Staatsstreichs nicht erlebt, hätten sich ihre Erinnerungen an ihre babaanne auf opulente Frühstücke beschränkt. Doch anstatt an diesem Morgen zum Flughafen zu fahren, sahen sie bei Tagesanbruch ihre babaanne vor dem Fernseher weinen und eine Zigarette nach der anderen rauchen. Meiner Mutter zufolge stellte ihr Max Ali dieselbe Frage wie ich sechsunddreißig Jahre zuvor: »Ist etwas mit der Türkei passiert?« Weil seine babaanne zu müde war, um ihm zu erzählen, dass in diesem Land jede Generation ihre eigene dunkle Erinnerung an einen Sonnenaufgang hat, gab sie ihm die gleiche Antwort wie mir sechsunddreißig Jahre zuvor: »Ach, das ist sehr kompliziert, mein Schatz.«

 

»Bestimmt schauen die Türken jetzt zu und lachen sich kaputt!«, twitterte ein Amerikaner in der Nacht von Donald Trumps Wahlsieg keine fünf Monate nach dem gescheiterten Putsch. Nein, wir haben uns nicht kaputtgelacht, sondern höchstens gequält den Mund verzogen, um mit unserem schiefen Lächeln die Verzweiflung darüber zu kaschieren, dass wir denselben deprimierenden Film nun noch einmal zu sehen bekamen, nur diesmal auf der gigantischen Leinwand der US-Politik. Mit dem gleichen Lächeln haben wir auf das Brexit-Referendum, auf die Wahlen in den Niederlanden und in Deutschland und immer dann reagiert, wenn

In der Nacht der amerikanischen Präsidentenwahl, am Tag der Bekanntgabe des Brexit-Ergebnisses und wann immer irgendwo ein Populist eine erstaunlich große Menschenmenge mit einer völlig unsinnig klingenden Rede zum Kochen brachte, fragten sich viele Menschen in ihrer jeweiligen Sprache: »Ist das noch mein Land? Sind das meine Mitbürger?« Nach fast zwanzig Jahren, in denen sie sich diese Frage gestellt und den allmählichen politischen und moralischen Verfall ihrer Heimat mit angesehen hatten, keimte in den Türken der gefährliche Verdacht, der Mensch wäre womöglich von Natur aus schlecht – ein Verdacht, der die endgültige Niederlage des menschlichen Geistes besiegelt. Es dauert lange und kostet große Anstrengung zu erkennen, dass schon die Frage an sich falsch ist. Dieses Buch möchte seine Leserinnen und Leser davon überzeugen, Zeit und Mühe zu sparen, indem sie den Horrorfilm, in dem sie sich seit einiger Zeit befinden, vorspulen. Und es möchte sie auf die wiederkehrenden Muster des Populismus aufmerksam machen, damit sie besser darauf vorbereitet sind als wir Türken damals.

Selbst wenn Trump oder Erdoğan morgen gestürzt würden oder Nigel Farage nie zum Meinungsführer aufgestiegen wäre, gäbe es die Millionen aufgehetzter Menschen weiterhin, und sie wären auch weiterhin bereit, den Befehlen ähnlicher Gestalten Folge zu leisten. Wir Türken haben die schreckliche Erfahrung gemacht, dass man den Anhängern solcher Leute auch im Privatleben nicht einmal dann entkommt, wenn man sich bewusst aus allem Politischen her

 

»Wie können wir Ihnen helfen?«

Die Frau im Publikum faltet emphatisch die Hände, während sie mir die Frage stellt. Ihre ratlose Miene signalisiert eine Mischung aus Mitleid und echter Sorge. Nur zwei Monate nach dem fehlgeschlagenen Putsch sitze ich im September 2016 anlässlich einer Lesung aus meinem Buch Euphorie und Wehmut: Die Türkei auf der Suche nach sich selbst in London auf einem hell erleuchteten Podium und versuche insgeheim herauszufinden, was alles in der Frage steckt. Offensichtlich bin ich in den Augen dieser Frau ein bedürftiges Opfer, und offensichtlich hat sie großes Vertrauen in die Immunität ihres Landes gegen die politische Misere, die mein Land ruiniert hat. Vor allem aber ist sie trotz des Brexit-Votums fest davon überzeugt, Großbritannien könn

Weil zu diesem Zeitpunkt noch viele glauben, Donald Trump könne die Präsidentenwahl unmöglich gewinnen, weil so mancher noch allen Ernstes hofft, das Brexit-Referendum werde schon nicht zu einem tatsächlichen EU-Austritt führen, und weil die Mehrheit der Europäer die neuen Wortführer des Hasses als eine vorübergehende Erscheinung betrachtet, entlockt mein zynischer Scherz den Zuschauern nicht einmal ein Lächeln.

Nachdem der Rubikon überschritten ist, wage ich mich noch ein Stück weiter vor und sage: »Ob Sie es glauben oder nicht – das, was in der Türkei passiert ist, blüht Ihnen erst noch. Dieser politische Irrsinn ist ein globales Phänomen. Und deshalb gebe ich die Frage an Sie zurück: Wie kann ich Ihnen helfen?«

 

Damals beschloss ich, die politischen und sozialen Ähnlichkeiten diverser Länder zusammenzufassen, um das allen gemeinsame Muster des erstarkenden Rechtspopulismus sichtbar zu machen, und zwar mit Hilfe von Geschichten. Denn durch Geschichten lassen sich meiner Ansicht nach nicht nur menschliche Erfahrungen am besten vermitteln, sondern auch Krankheiten der menschlichen Seele am besten bekämpfen. Die Verwandlung des Populistenführers von einer Witzfigur in einen furchteinflößenden Autokraten vollzieht sich meiner Erkenntnis nach in sieben Schrit

Gründen Sie eine Bewegung

»Der Hirsch muss auch mit! Er muss mit!«

Kreischend fordert die vierjährige Leylosh, dass wir auch den imaginären Hirsch auf der unendlich großen Rückbank unseres imaginären Autos verstauen, die bereits mit diversen anderen Tieren besetzt ist, darunter einem Dinosaurier, den wir zum Glück vor dem Erfrieren retten konnten. Wir sind auf dem Weg von Lewisburg, einer einst blühenden Kleinstadt hundert Kilometer nördlich von Harrisburg, Pennsylvania, zum Haus von Leyloshs Großmutter in Istanbul, wo wir die gemeinsam gebaute und anschließend auf einem Kinderherd gebratene Lego-Ente abliefern wollen. Leylosh kneift die Augen zusammen, um sie vor dem imaginären Wind zu schützen, und liefert mit tiefer Stimme den schaurig heulenden Winter-Soundtrack zu unserer beschwerlichen Fahrt: »Uuuuuhhhh!« Hin und wieder prüft sie mit einem schnellen Seitenblick, ob ich noch ganz bei der Sache bin, dreht sich, sobald meine Einbildungskraft den Test bestanden hat, zu unseren Passagieren um und versichert ihnen: »Keine Angst, bald sind wir bei der Oma. Heute ist kein Kindergarten.«

In einem wesentlich weniger spannenden Paralleluniversum wird sie in fünfzehn Minuten den Kindergarten betreten, während ich in einer Stunde in der Bucknell University,

Sezi ist Hammerklavierpianistin und Expertin für Musikinstrumente des 18. und 19. Jahrhunderts. Wahrscheinlich glaubt Leylosh, alle Mütter würden ihren Töchtern auf antiken Klavieren Chopin vorspielen, damit die Kinder ihr Frühstück essen, und es erscheint ihr bestimmt genauso normal, dass ihr Vater, ein Ethnologe, in regelmäßigen Abständen indigene Stämme im Amazonas-Regenwald aufsucht. Die Tagesstätte für die Sprösslinge der Universitätsmitarbeiter, Zufluchtsort für Kinder kosmopolitischer Wissenschaftler in einer amerikanischen Kleinstadt, wird von lauter Kindern wie ihr besucht – mindestens zweisprachig, regelmäßig zwischen den Kontinenten unterwegs und nicht ahnend, dass das von ihnen als normal empfundene Leben in Wirklichkeit ganz und gar nicht gewöhnlich ist.

Als sie am Morgen nach der Wahl mit ihrer Mutter im Kindergarten ankam, begrüßten die drei Erzieherinnen sie wie immer am Eingang. Neu war, dass sie dabei die Hände in die Hüften stemmten und süffisant grinsten. »›Tja, da müsst ihr jetzt durch!‹ sollte das wohl heißen«, sagt Sezi. »Alle drei sind Trump-Anhängerinnen und betreuen die Kinder von Leuten, die Bernie oder Hillary gewählt haben. Seitdem nehmen die Spannungen zu und wirken sich inzwischen auch auf die Kinder aus.« Sezi sucht nach den richtigen Worten. »Die drei haben sich von einem Tag auf den anderen so verändert, als würden sie plötzlich einer anderen Spezies angehören.«

»Eine kleine Stadt ist eine große Hölle«, besagt ein argentinisches Sprichwort, das auf die Welt von heute ganz besonders zutrifft, weil das Phänomen des erstarkenden Populismus viel mit der Provinz zu tun hat. Die erste Begegnung mit dieser soziopolitischen Strömung erfolgt oft in Kleinstädten, auch wenn die Leute dort sie meist nicht so exakt beschreiben können wie die Politanalysten und, selbst wenn sie es können, mit ihren Befürchtungen weitgehend auf taube Ohren stoßen. Das mobilisierende Narrativ der neuen politischen

Sezi nennt weitere Beispiele dafür, wie sich der Umgang miteinander in ihrer Kleinstadt seit Trumps Wahlsieg verändert hat – Beispiele, die Großstadtbewohnern wahrscheinlich unerheblich erscheinen: Restaurantgäste, die demonstrativ grinsen, sobald einer dieser linken Akademiker das Lokal betritt, Schilder mit der Aufschrift »Make America Great Again«, die noch Monate nach der Wahl in den Vorgärten stehen, und so weiter. Während Sezi die Beispiele aufzählt, wirkt sie, als wollte sie einen seltsamen Geruch beschreiben. »Als wäre es schon lange da gewesen, als hätte da schon lange etwas leise gebrodelt. Und als hätte Trumps Sieg etwas ausgelöst, eine dunkle Kraft entfesselt.«

Ja, es wurde etwas entfesselt in der westlichen Welt. In einer ganzen Reihe von Ländern wabert ein unsichtbares, geruchloses Gas von der Provinz in die Großstädte, ein Gas, das aus Ressentiments besteht. Endzeitstimmung liegt in der Luft und macht sich breit. Das Volk verlässt die Kleinstädte und begibt sich in die Metropolen, um endlich Herr über sein Schicksal zu sein. Jetzt wird alles anders, heißt es. Jetzt entsteht ein neues Wir, dem Sie, die besorgten Leserinnen und Leser dieses Buchs, höchstwahrscheinlich nicht angehören. Ich weiß noch gut, wie sich das plötzliche Ausgeschlossensein damals anfühlte.

 

Im Herbst 2002 nimmt eine erst im Jahr zuvor gegründete Partei an den türkischen Parlamentswahlen teil. Es ist die Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP), die sich eine lächerlich wirkende Glühbirne zum Emblem gewählt hat. Ich reise in meiner Funktion als politische Kolumnistin durchs ganze Land und versuche, der Nation in abgelegenen Städten und kleinen Dörfern vor dem Urnengang auf den Puls zu fühlen. In einer zentralanatolischen Kleinstadt treffe ich mich in einem Café mit Vertretern anderer, herkömmlicher Parteien. Etwas abseits stehen drei Männer und warten mit arrogant hochgezogenen Augenbrauen ungeduldig auf das Ende meines Interviews. Als ich sie zu uns bitte, lehnen sie höflich ab, wobei sie mir das Gefühl geben, in einem unsichtbaren Sumpf zu sitzen, von dem sie nicht beschmutzt werden wollen. Kaum haben die anderen den Tisch wenig später verlassen, nähern sich mir die drei mit aller Eleganz, zu der anatolische Machos fähig sind. »Wir sind eine Bewegung, die Bewegung der Tugendhaften«, sagt einer. »Wir sind mehr als eine Partei. Wir werden dieses korrupte System von Grund auf verändern.« Vor lauter Stolz sieht er mich beim Sprechen kaum an.

Die beiden anderen nicken zustimmend, während ihr extrem lässig wirkender Wortführer Phrasen wie »dysfunktionales System«, »neue, politisch unverdorbene Vertreter des Volkes« und »eine neue, würdevolle Türkei« abfeuert. Das unerschütterliche, auf vagen, aber umso festeren Überzeugungen basierende Selbstvertrauen der Männer erinnert mich an die jungen revolutionären Linken aus diversen Ländern, über die ich jahrelang geschrieben habe. Etwas

Am Ende seiner Ansprache klopft der Wortführer leicht, aber nachdrücklich mit der Faust auf den Tisch. »Wir sind das türkische Volk. Und wenn ich ›Volk‹ sage, meine ich das wahre Volk.«

Zum ersten Mal höre ich den Begriff »wahres Volk« in diesem Sinne. Die anderen Politiker, rechte wie linke, ärgern sich über die Floskel und fragen spöttisch: »Was soll das heißen? Wir sind auch das wahre türkische Volk!« Doch es ist bereits zu spät. Die drei Männer freuen sich diebisch darüber, die Floskel als Erste verwendet zu haben. Sie gehört jetzt ihnen.

Nachdem sich die Szene mit geringfügigen Variationen in mehreren anderen Städten wiederholt hat, schreibe ich in meiner Kolumne: »Sie werden gewinnen.« Damit mache ich mich zwar zum Gespött meiner Kollegen, aber im November 2002 bildet die lächerliche Glühbirnenpartei der drei Männer im Café die neue türkische Regierung. Die Bewegung, die ihre Kraft in den Kleinstädten und Dörfern des Landes gewann, regiert das Land seit inzwischen siebzehn Jahren in Folge und hat ihr Versprechen, alles zu verändern, erfüllt.

 

Es ist Mai 2017. Erst in London, dann in Warschau spreche ich über mein Buch Euphorie und Wehmut: Die Türkei auf der Suche nach sich selbst und berichte einer sehr heterogenen Zuhörerschaft, wie das wahre Volk von meinem Land Besitz ergriffen und den Rest, das angeblich nicht wahre Volk, in den politischen und sozialen Würgegriff genommen hat. Die Leute nicken besorgt, und immer lautet ihre erste Frage: »Woher kommt eigentlich dieses wahre Volk

Sie kennen den Begriff, weil das politisierte und mobilisierte Ressentiment der Provinz seinen großen Auftritt auf der Weltbühne in unterschiedlichen Ländern mit der im Grunde immer gleichen Behauptung eingeläutet hat: »Wir sind eine Bewegung, eine neue Bewegung des wahren Volkes jenseits von und über allen politischen Lagern.« Jetzt möchten viele wissen, wer dieses wahre Volk ist und warum es diese Bewegung in die hohe Politik geschafft hat. Sie sprechen darüber wie von einer Naturkatastrophe, die ja auch erst nach ihrem plötzlichen Ausbruch berechenbar wird. Damit erinnern sie mich an die Leute, die sich jeden Sommer aufs Neue über die Hitzewelle in Skandinavien wundern und erst dann wieder an die im Winter zuvor gelesenen Berichte über den Klimawandel denken. Ich erkläre ihnen, dass uns dieses »neue« Phänomen schon seit geraumer Zeit begleitet.

 

Im Juli 2017 brach ein gigantischer Eisbrocken von der Antarktis ab. Tagelang zeigten die Nachrichtensender das träge dahintreibende schneeweiße Ungetüm, majestätisches Flaggschiff unseres Zeitalters, das uns in seiner knarzenden Eissprache aus den Bildschirmen der Welt entgegenraun

Die an den unterschiedlichsten Orten entstandenen fortschrittlichen Bewegungen – von den Protesten anlässlich der WTO-Konferenz in Seattle 1999 bis hin zu den Unruhen auf dem Tahrir-Platz in Kairo 2011 – waren eine Reaktion auf die gegenwärtige Zeit der Zersplitterung. In einer Welt, in der immer mehr Menschen reden, aber immer weniger gehört werden, wollten sie der restlichen Menschheit mit körperlichem Einsatz beweisen, dass wir uns ungeachtet aller Differenzen zusammenschließen können und müssen, um dem Zerfallsprozess gemeinsam entgegenzutreten und zu verhindern, dass alles auseinanderbricht. Sie klagten Würde und Gerechtigkeit ein und forderten die Welt auf, sich bewusst zu machen, dass der globale Lauf der Dinge nur durch eine Gegenbewegung umgekehrt werden kann. Sie zeigten, dass Rückzug nicht die einzige mögliche Reak

Nach und nach wurden jedoch viele dieser Bewegungen niedergeschlagen, marginalisiert oder vom bestehenden politischen System geschluckt und konnten ihre Ziele aus diversen, durchaus verständlichen Gründen nicht erreichen – noch nicht. Doch immerhin wurden sie deutlich gehört, als sie der Welt verkündeten, dass sich die repräsentative Demokratie (von den Finanzinstitutionen missbraucht und sozialer Gerechtigkeit beraubt) in ihrer größten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg befinde.

Heute erleben wir die Reaktion vieler ganz anderer Menschen auf ganz ähnliche Ängste. Diese Menschen haben einen begrenzteren Wortschatz, kleinere Träume für die Welt und weniger Zutrauen in das gemeinsame Überleben aller. Auch sie behaupten, den Status quo verändern zu wollen – allerdings in Richtung einer Welt, in der sie zu den wenigen Glücklichen gehören werden, die sich unter der Führung eines starken Mannes behaupten. Nicht zufällig ist »Mauer«,

 

Im Gegensatz zu politischen Parteien, die innerhalb der Wirklichkeit agieren und das Spiel spielen, ohne sich zu bewegen, verheißen politische Bewegungen immer eine Veränderung vom Realen zum Möglichen. In Ländern von der Türkei bis zu den USA, darunter hoch entwickelte Staaten mit scheinbar starken demokratischen Institutionen wie Frankreich, Großbritannien und Deutschland, scharen sich Menschen hinter dreisten, skrupellosen Populisten, um sich gemeinsam zu bewegen und die von ihnen als Establishment bezeichnete Wirklichkeit, also das Spiel selbst, anzugreifen, das sie als dysfunktional und korrupt empfinden. Die Volksbewegung verkörpert den neuen Zeitgeist; sie verspricht, den mit Brackwasser gefüllten Sumpf auszutrocknen, zu dem die Politik angeblich verkommen ist, und den Menschen auf diese Weise ihre Würde zurückzugeben. Mit anderen Worten: Les invisibles, die Massen, denen lange unterstellt wurde, sie interessierten sich nicht für Politik und Weltgeschehen, entziehen dem derzeitigen repräsentativen System weltweit ihr vermeintliches Einverständnis. Und das klingt so, als

 

Ein belebter Sonntag auf der europäischen Seite des Bosporus im Sommer 2015. Sonntags sitzt Istanbuls obere Mittelschicht in den Cafés am Meer und frönt dem berühmten türkischen Frühstück, das sich mehr oder weniger den ganzen Tag hinzieht. Die Lokale liegen an der osmanischen Festungsmauer, wo blutige Kriege ausgefochten wurden, damit wir heute diese grandiosen Gelage genießen und uns ärgern können, wenn das Essen lange auf sich warten lässt. Eine Familie schlendert in ihrer schönsten Garderobe auf dem Gehweg dahin. Für einen Cafébesuch reicht es zwar nicht, aber die Leute kommen über die Runden, können durch die reichsten Stadtviertel am Bosporus spazieren und sich die anstrengende sonntägliche Frühstücksorgie ansehen. Die beiden kleinen Kinder gehen an der Hand ihrer jungen Mutter, die mühsam zu verbergen versucht, dass sie sich zum ersten Mal in dieser Gegend aufhält. Der Vater scheint im Gehen den Boden abzusuchen. Plötzlich bleibt er stehen, deutet auf den Bürgersteig und ruft selig: »Da! Da! Das ist es! Das habe ich gepflastert!« Stolz lässt er den Blick über die ganze Länge der Pflasterung schweifen. »Das ist die längste Straße in ganz Istanbul, und wir haben sie gebaut!«

 

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