© Querverlag GmbH, Berlin 2021
Erste Auflage September 2021
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Umschlag und grafische Realisierung von Sergio Vitale unter Verwendung einer Fotografie © mauritius images / Westend61.
ISBN 978-3-89656-676-8
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Akazienstraße 25, 10823 Berlin
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– für Lea,
Curtis, Jensi und Andreas G. –
meine inneren Berliner Bezirke –
Alles sehnt sich nach ihm, denkt Bruno. Es ist immer dasselbe. Die Aufregung. Das Kribbeln. Wie viel einfacher wäre es früher gewesen, als ich noch jung war, und schön. In meinem Alter kann man nur noch hoffen.
Bruno hofft jeden Tag, an die zwanzig Male: in der Bahn, auf dem Markt, im Kino. Zwanzigmal am Tag, hundertvierzigmal die Woche, aber, ach, dieser eine Moment, der war besonders.
Ein tiefer Blick durch die Augen in die Seele. Ein Erkennen, vertraut!
Dass mir das noch einmal passiert. Ich habe schon mit dreißig gedacht, dass ich zu alt bin … und jetzt fühle ich mich wieder wie zwanzig.
Bruno durchquert das Wohnzimmer, betritt seinen großen Balkon und schaut auf die Straße hinunter. Es ist ein sonniger Tag, einer der letzten im Mai. Die Stadt erfreut sich am Frühling und keine kann das so wie Berlin.
Bruno atmet tief durch.
Dann dreht er sich um und blickt in die Wohnung hinein.
Der Einrichtung hat er sich mit viel Sorgfalt und Liebe gewidmet, auf gekonnte Weise Möbel, Farben und Materialien der zwanziger und der fünfziger Jahre miteinander kombiniert: Filigranes neben Wuchtigem, Verspieltes neben Geradlinigem, dunkle, warme Töne neben leichter Helligkeit in Pastellfarben, ein Wohnkonvolut aus Nierentischchen und Tütenlampen, aber auch zwei Kristalllüstern, antiken französischen Vitrinen aus Nussbaum und Bücherschränken aus Mahagoni. Massiv das Sofa, futuristisch die Cocktailsessel in Veloursamt.
Wie wird das alles auf ihn wirken? Wie werde ich auf ihn wirken!?
Unruhig schaut er nach seinem Spiegelbild in der Fensterscheibe, kontrolliert den Sitz seiner Haare und betrachtet mit einigem Unbehagen seine Silhouette, Schwerpunkt Taillenumfang.
Egal, da muss man durch.
Was ich bin, habe ich dir zu geben, beginnt es in ihm zu dichten.
Dass dem jungen Mann an seinen, Brunos, inneren Kostbarkeiten liegt und er glücklich ist, wenn er auf seine, Brunos, Echtheit stößt, danach sehnt sich Bruno.
Unsere Herzen werden klingen …, dichtet es in ihm weiter.
Ein Lachen ertönt vom Nachbarbalkon. »Na, da können schon noch eenige Pfunde runter!«, ruft Frau Horn von nebenan, und Bruno stolpert mit rotem Kopf ins Wohnzimmer zurück und verheddert sich kurz in der Gardine.
Unruhig fährt er sich mit der Hand durch die Haare. Und auf einmal ist er glücklich.
Flieder leuchtet auf dem Sofatisch, mit den Fingerspitzen fährt Bruno über die kleinen Blüten in Lila und Weiß. Düfte sind die Gefühle der Blumen, denkt er. Wie Tiere, die in der Wüste gierig Wasser saufen, strecken sie sich dem Licht entgegen.
Unruhig geht Bruno auf und ab.
Ohne Ende ich mich verschwende, dichtet es immer noch. Sogleich verwirft Bruno diesen Reim.
Er überlegt, einige Kerzen anzuzünden, nur, um absolut sicherzugehen. Das Licht der kleinen Flammen schmeichelt ihm mehr, aber die Sonne scheint zu grell, noch.
Später vielleicht.
Alles ist für Tee und Kuchen gedeckt, das gute Porzellan, Teekanne, Zuckerdose und Milchkännchen aus feinstem Sterling-Silber.
Ob er Tee überhaupt mag?
Bruno liebt Tee.
Wirkt das auf einen jungen Mann um die fünfundzwanzig oder dreißig eventuell tantenhaft?
Wer weiß, wann er kommt.
Ob er kommt?
Wird er mich lieben?
Oder nur meine Liebe?
Bruno wartet.
Er zündet doch einige Kerzen an, ihre Schatten sind vertraut, und setzt sich aufs Sofa.
Er wird kommen.
Und für uns werden die Sterne tanzen.
Bruno springt auf und macht einige Tanzschritte. Dann hält er mitten in der Bewegung inne und lacht über sich selbst.
Es läutet und mit klopfendem Herzen hastet Bruno zur Haustür und reißt sie auf, viel zu überschwänglich. Und vergebens.
Gähnend die Leere des Treppenhauses.
»Ach, wahrscheinlich wieder der Horn-Junge von nebenan«, sagt Bruno zu sich selbst. Der Junge und seine Freunde machen des Öfteren Klingelstreiche oder schlagen frühmorgens mit der flachen Hand an das Holz von Brunos Wohnungstür. Bruno sagt nichts. Was soll er sagen?
Man muss sich mit seinen Nachbarn gut stellen, daran hat sich nichts geändert. Sonst können sie einen anschwärzen.
Bruno schließt die Tür und betrachtet seine Goldene Schallplatte. Die Musikbranche hat seit Kurzem damit begonnen, diese Dinger zu verleihen. Er hat sie im Flur aufhängen lassen, und sie glitzert im Licht der Nachmittagssonne. Zu angeberisch? Ach, nein, er hat sie doch extra nur in den Flur gehängt und präsentiert sie nicht im Wohnzimmer.
Oder gar im Schlafzimmer, denkt er und kichert.
Dann hält er inne.
Eigentlich keine so schlechte Idee, oder? Womit soll er sonst punkten? Mit seinem Auftrag, für einen Musikverlag aus Pankow zehn der schönsten deutschen Volkslieder zusammenzustellen? Nein, die Menschen lassen sich von Ruhm, Erfolg und Geld blenden.
In meinem Alter müssen sämtliche Register gezogen werden!
Sofort schämt er sich ein bisschen vor sich selbst, er ist ja noch keine sechzig!, und beschließt, erneut zwischen den Geranien und dem Lavendel auf dem Balkon Stellung zu beziehen.
Plötzlich klingelt das Telefon.
O nein, bitte keine Absage! Ich werde nicht rangehen, dann bekomme ich keine Absage!
Das Telefon klingelt weiter.
Vielleicht ist es doch etwas Wichtiges? Andrerseits … was soll schon sein?
Das Telefon hört auf zu klingeln.
Gott sei Dank, hat sich erledigt.
Bruno atmet auf.
Das Telefon klingelt erneut.
»Lieber Gott, bitte lass es nicht Zarah sein, bitte, nicht schon wieder«, murmelt Bruno.
Das Telefon klingelt.
Und wenn es nun doch … ach, was soll’s!
Bruno hebt den Hörer ab. »Zarah! Wie schön!«
Er verdreht die Augen.
»Was kann ich … du bist schon im Studio? Wieso? Ach so, ja, natürlich, zum Proben. Ja, ich will, dass du das Lied singst. Es ist wie für dich geschrieben …«
Bruno setzt sich erschöpft auf den kleinen Sessel mit dem roten Lederbezug neben dem Telefon.
»Ja ja, es ist für dich geschrieben! Natürlich! Ich habe nur an dich gedacht, Königin! Es ist unser Lied, das Lied von uns dreien, von Maxe, mir und dir, das weißt du doch! Sonst funktioniert es nicht! Ja, wir werden immer zusammenbleiben, immer weiter Hits schreiben … Nein, du bist nicht zu alt, Zarahlein … «
Sehnsüchtig suchen Brunos Augen Zigaretten und Streichholzschachtel, beides außer Reichweite. Dafür qualmt Zarah am anderen Ende der Leitung für ihn mit.
»Nein, Maxe hat sich nicht geäußert, wieso, was hast du … Hör mal, ich habe wenig Zeit, wollen wir nicht später … Ja, ein fulminanter Comeback-Song für dich! Nein, du bist nie weg vom Fenster gewesen. Genau, zum Grand Prix d’Eurovision soll es damit gehen, das habe ich doch schon so oft … ja ja, so etwas wie die Weltmeisterschaft für uns Tunten, also ein Heimspiel für dich.«
Zarah singt in den Hörer, ihre Artikulation ist bereits etwas undeutlich, dafür trifft sie alle Töne professionell und genau. Ihre Stimme ist noch so kraftvoll wie vor zwanzig Jahren.
»Gewiss, wegen der Melodie musst du dich an Maxe wenden, ich bin doch nur für den Text zuständig. Ja, Zarah. Zarah, ja. Nein! Z-z-z-Zarah … Genau, ich muss jetzt … mach’s gut … also … ZARAH! … bis bald … A-a-adieu!!! Puh …«
Bruno legt den Hörer auf die Gabel und lässt seine Hand darauf liegen. Fast scheint es, als vibriere er noch von Zarahs tiefem Alt.
Wie aufgeregt sie ist, die Arme!
Aber ich bin nur für den Text zuständig und Maxe für die Musik.
Bruno lehnt sich zurück und seine Wange streift einen Mantel, der an der Garderobe über dem Telefon hängt.
Maxe komponiert am Schreibtisch und ich texte am Klavier. Absurderweise.
In Gedanken führt Bruno schon ein Gespräch mit ihm, seinem Besuch, auf den er wartet. Wenn er am Tisch sitzen und das Kerzenlicht sanfte Schatten auf sein schönes, wunderschönes Gesicht werfen wird: »Maxe hat mal in der Wohnung unter mir gewohnt«, hört Bruno sich im Geiste sagen, »noch vor dem Krieg. Da war unsere Zusammenarbeit besonders fruchtbar. Nur die Zusammenarbeit«, – beide werden sie lachen –, »und wenn einer von uns einen Einfall hatte, klopfte er an die Decke. Oder auf den Boden, natürlich, je nachdem. Und dann haben wir manchmal die ganze Nacht durchgearbeitet … bis alles so war, wie wir es uns wünschten, und bis wir fühlten, wir können daran nichts mehr verbessern.«
Und dann war nichts mehr zu verbessern.
Unbewusst summt Bruno eine Melodie aus alten Zeiten vor sich hin, eine der erfolgreichsten, die er mit Maxe geschrieben hat, einer der vielen, vielen Evergreens. Ach, als ob die Nachtigallen sängen!
Versonnen hebt Bruno seinen Blick und betrachtet die Goldene Schallplatte. Würde er nachträglich für jeden gutverkauften Song so ein Ding ausgehändigt bekommen, müsste er damit im ganzen Treppenhaus die Wände tapezieren.
Vor seinem inneren Auge scheint sie im Gleißen der Nachmittagssonne auf dem Schallplattenspieler der Erinnerungen zu rotieren beginnen.
Wieder klingelt es.
Brunos innere Schallplatte beendet ihre Träumereien mit einem unschönen Kratzen – viele Erinnerungen haben Kratzer, denkt er noch, und: Kann ich das irgendwo verwenden? Ich darf es nicht vergessen, muss es mir gleich notieren, hoffentlich wartet er so lange draußen vor der Tür!
Bruno sucht Zettel und Stift, schmeißt dann aber alles unachtsam zur Seite und hastet zur Tür. Kurz vollführt er vor dem Spiegel eine Vollbremsung und kontrolliert sein Aussehen, nimmt Haltung an, zieht den Bauch ein, setzt sein bestes Gesicht auf, atmet tief ein – den Trick hat Zarah ihm verraten – und öffnet gespannt die Tür.
»Bolle!«, ertönt es aus zwei Kehlen, etwas gedämpft zwar durch zahllose, riesige Einkaufstüten, nichtsdestotrotz mit schneidender Durchsetzungskraft.
Mit einem Puff entweicht alle Luft Brunos angespanntem Leib.
»Grethe! Heinz! Was macht ihr denn … wie schön, euch zu se… wir waren doch nicht … waren wir heute verabredet?«
Grethe und Heinz entern die Wohnung und lassen ihre Einkaufstüten auf den Boden fallen.
»Nein, aber wir waren zufällig in der Gegend«, lacht Heinz und haut Bruno auf die Schulter.
Bruno wirft einen Blick ins Treppenhaus und schließt die Tür.
»Ich bin leider …«
»Diese Geschäfte am Ku’damm, piekfein«, übertönt ihn Grethe, »es ist schlimm! All der Schmuck, oh, ick brauchte neue Brummer, und hier, Brunolein, dieses Hermelincape, dit musste ick mir koofen, todschick, ick dachte, dann kieken die Leute nicht mehr so auf meene Falten, dit Cape lenkt se ab!«
Toi toi toi, denkt Bruno.
»Wir hoffen auf einen Tee«, kräht Heinz, »und Kuchen! Und Sherry!«
Grethe betrachtet sich derweil im Spiegel: »Nüscht wie Falten! Hier, hier … und hier! Wie unjerecht! Aber am Hintern hab ick keene, dit könnt ihr mir glooben. Sieht aber keener. Guckt nicht so entsetzt, ihr müsst ihn nicht begutachten! Unjerecht, unjerecht, unjerecht, ick sag’s ja immer wieder …«
»Ich bin eigentlich schon anderweitig …«
»Ach, Bolle!« Grethe dreht sich um und blickt Bruno mit neckischem Schalk an, diesem Schalk, dem niemand widerstehen kann, Bruno schon gar nicht.
»Meen Kleener, was ist denn los mit dir? Ick bin von dir noch nie ohne Sherry weggejangen! Die Zarah will ooch noch vorbeischauen!«
Und schon stürmen die beiden ins Wohnzimmer, Bruno hinterher.
»Nein, was hast du es dir hier jemütlich jemacht. Nicht wahr, Heinz, als hätte er auf uns jewartet! Nur für sich selbst hat er keen Jedeck uffjelegt! Kiek mal, der herrliche Flieder!«
Grethe klatscht in ihre beringten Hände.
Beide nehmen auf dem Sofa Platz und blicken Bruno erwartungsvoll an.
»Ich habe gerade mit Zarah telefoniert«, erklärt Bruno, der im Türrahmen stehengeblieben ist, »sie ist schon im Studio und probt. Wir haben ihr einen neuen Song auf den Leib geschrieben.«
»Ja, dit hat se erzählt«, fällt Grethe ihm ins Wort. »Wie ging der noch mal? Sie hat ihn mir vorjesungen.« Und sie gibt ein paar Töne von sich, die mit der neuen Melodie von Maxe nicht das Geringste zu tun haben.
»So ähnlich«, meint Bruno trocken, und Heinz grinst von einem Ohr bis zum anderen.
»Wie schade, dit ick nicht so singen kann!«, erklärt Grethe leicht zerknirscht. »Dann könnte ick mir noch mehr Schmuck koofen und wäre ’ne richtige Spree-Diseuse!«
»Eher Havel-Diseuse«, meint Heinz.
Sie gibt ihm einen Klaps.
»Sehr, sehr komisch. Sehr komisch«, murmelt sie.
»Mach dir nichts draus, Grethe, ich kann auch nicht singen. Und trotzdem hat der Bolle mir einen Hit nach dem anderen serviert.«
»Na, dir schon, dir geht’s jut!«
»Eben! Ich bin froh«, grinst Heinz.
Beide lachen.
»Moment, wie war das? Ick kann nicht singen? Also höre einmal, mein lieber Heinz! Chanson singen hab ick noch bei Nelson jelernt!«
»Genau wie das Berlinern, wa?«
»Du bist ja’n Blubberkopp! Mein Berlinern ist so echt, wie es dit von ’ner jebürtigen Hannoveranerin nur sein kann …«
»Mit hochdeutschem Akzent, willst du wohl sagen!«, feixt Heinz.
»Dit nimmste zurück!«, schnauft Grethe.
»Tu ich nicht!«, antwortet Heinz.
»Tust du doch!«, ruft Grethe.
»Nein!«
»Doch!«
»Nein!«
»Doch!«
»Nein!«
»Do…«
»Schon gut, schon gut«, unterbricht Bruno die beiden, »also, kommt doch rein, nehmt doch Platz, ach, seid ihr schon, habt ihr bereits, haha, ich sag der Selma Bescheid, sie soll ein paar Gedecke mehr auflegen.«
»Och, er kann eben nicht nein sagen, der jute Bolle! Also, wenn du uns natürlich so lieb bittest, zu Tee und Kuchen zu bleiben … «
Grethe erhebt sich und küsst Bruno auf beide Wangen.
Bruno seufzt innerlich und hängt die Mäntel der beiden an die Garderobe im Gang. Er hört noch, wie Heinz Grethe zuflüstert: »Hab ich einen Hunger! Hier gibt es immer das beste Essen! Und völlig umsonst …«
»Dit flutscht ja heute wieda«, flüstert Grethe zurück.
Bruno schließt die Tür.
Verdammt! Was, wenn er kommt und die beiden angeschickerten Altstars hier vorfindet? Und obendrein seine, Brunos, Ehefrau, die jetzt aus ihren hinteren Zimmern hervorkommen wird? Ohne die Möglichkeit, dass er, Bruno, ihm die Besonderheit dieser Situation ausreichend erklären könnte?
Dann ist alles aus, denkt Bruno.
Ja, verdammt! Er kann nicht nein sagen!
Eine große Traurigkeit breitet sich in ihm aus.
Er wird eh nicht kommen, denkt er. Und wenn er kommt, wird’s auch nichts!
Umsonst die Hoffnung, all seine Seligkeit zerschmolzen. Die Vorfreude ist eh am schönsten, wie immer.
Leider auch ausschließlich, wie so oft.
Egal. Es ist nicht das erste Mal und wird nicht das letzte Mal sein. Die Welt geht davon nicht unter. Die beiden werde ich eh nicht wieder los. Wenn Zarah auch noch dazu stößt und die Bar plündert, dann sitzen die morgen früh noch hier.
Bruno geht durch den langen Flur. Die Goldene Schallplatte blinkt nur noch matt und die Dielen knarzen unter seinen Schritten, als er zur Küche im hinteren Teil der großen Wohnung geht. Er liebt seine Wohnung mit ihren majestätisch hohen Decken und ihrem Stuck. Im Krieg hat sie viel mitgemacht, so wie auch er, aber beide haben sie die schweren Zeiten überstanden.
»Selma!«, ruft Bruno. Wo steckt die wieder?, denkt er sich und betritt die Küche. Alles ist blitzsauber und technisch auf dem neusten Stand, darauf hat Selma Wert gelegt.
Die Tür der großen Speisekammer wird aufgerissen. Bruno fährt erschrocken zusammen.
»Was ist? Warum hast du mich gerufen?«
Selma steht vor ihm, groß und gnatzig, ihre ehemals blonden Locken vorwiegend ergraut, ihr Gesicht ein unregelmäßiges Hoch und Tief wie in den Alpen. Nur nicht so erhebend, denkt Bruno. »Es sind überraschend noch ein paar Gäste aufgetaucht«, erklärt er.
»Zu deinem Schäferstündchen?« Sie überlegt. »Heißt das, ich darf raus aus meiner Gestapo-Zelle?«
»Sei still!«, fährt Bruno sie an.
Selma funkelt ihn an und scheint sich eine Strategie zu überlegen. Das dauert, ist aber für Bruno als Außenstehenden nicht unvorhersehbar.
»Wer ist denn da?«
»Heinz und Grethe.«
»Oh, ja, dann werde ich noch ein paar Gedecke auflegen. Und mit euch speisen. Ich koche was Feines zum Abendbrot. Der Herr Heinz! Zum Glück habe ich genügend eingekauft. Als hätte ich es geahnt.«
Und geschäftig verschwindet sie im dunklen Flur.
»Wenn sie sich doch endlich scheiden lassen wollte!«, ruft Bruno und lehnt sich an den großen Spültisch. Es ist kühl in der Küche und Selma hat das Licht ausgeschaltet.
Auf einmal fährt Bruno zusammen. Selmas Schatten blickt ihn durch einen Türspalt missbilligend an.
»Das habe ich gehört!« Und im Weggehen: »Ich werde mich nicht scheiden lassen, vergiss es!«
Im Geiste führt Bruno den Dialog weiter, den sie schon so oft geführt haben.
»Aber wieso denn nicht? Wir haben uns doch nie geliebt.«
Selma: »Glaubst du im Ernst, dass ich zurück auf den Bauernhof nach Pommern gehe? Auf diesen Status verzichten werde – Gattin des berühmten Textdichters zu sein?«
Woraufhin er sagt: »Ich bin nicht berühmt, mich kennt keiner.«
Und sie, triumphierend: »Aber deine Lieder, die kennt jeder! Und die Tantiemen dafür streichst du immer noch ein. Auch wenn die Nazis deinen Namen aus dem Vorspann jedes Films entfernt haben. Menschenskind, so viel Kohle!«
»Wenn ich gestorben bin, werden auch meine Lieder vergessen sein …«
Eine Diskussion, die zu nichts führt. Selma wird sich nicht scheiden lassen, obwohl sie sein Leben durch ihre bloße Existenz zu einer kleinen Hölle macht – und umgekehrt kann es doch für sie auch nicht schön sein, mit einem Mann zusammenzuleben, der sie nicht begehrt, sie nicht einmal mag.
Und was heißt schon »zusammenleben?«, Bruno und Selma existieren einfach nebeneinander her. Aber sie schützt ihn.
Ich muss ihr unbedingt eine eigene Wohnung beschaffen! Warum kann ich sie nicht einfach mit Heinz verkuppeln?
Bruno hört Selma im Flur mit Geschirr und Besteck klappern. Zum Backen hat sie die Kuchenform benutzt, in der schon seine Mutter ihren speziellen Gugelhupf zubereitet hat. Jetzt steht die Form abgewaschen da und trocknet vor sich hin. Bruno schaut sie an.
»Ich will Textdichter werden«, hatte er seiner Mutter bereits als kleiner Junge verkündet.
Er war fasziniert von Büchern und las, was er zwischen die Finger bekommen konnte. Er vertiefte sich auch in Werke, die er noch nicht verstehen konnte, und ist heute der Überzeugung, auch dadurch habe sich etwas in ihn eingepflanzt. Mit der Zeit stellte Bruno fest, dass in ihm eigene Gedanken aufstiegen, die zu Papier gebracht werden wollten. Sie kamen nicht, wenn sie es sollten, sondern in »Zwischendurch-Momenten«, wie er sie nannte, also auf der Treppe, unten im Hof oder wenn er gerade im Park spielte. Er beobachtete etwas oder entdeckte etwas, das ihn bewegte, oft tief. Und plötzlich formulierten sich die Gedanken neu, gruppierten sich die Worte so, wie man sie noch nie gehört hatte, dennoch der Überzeugung war, einer alten Weisheit zu lauschen, weil es so griffig und knackig klang.
Papier und Stift wurden seine ständigen Begleiter. Der Stift schien die natürlichste Fortsetzung seiner Hand zu sein, nicht nur zu seinem Körper, sondern zu seinem gesamten Sein zu gehören.
Jahrelang schrieb er nur für sich. Einfach das, was er selbst gern las. Viele Anfänge wurden gemacht, Entwürfe ausgearbeitet, Spontanes zu Papier gebracht. Schreiben lernt man, indem man schreibt, das war Bruno bald klar. Er schrieb und schrieb. Das Schreiben war keine Sucht, nein, es gehört einfach zu ihm wie das Atmen und das Essen.
Warum schrieb ich damals?, fragt sich Bruno. Um Anerkennung zu bekommen, gar Liebe? Um aus der realen Welt zu fliehen, mir eine Welt nach meinem Gusto zu schaffen? Genoss ich die Macht, die mir das Schreiben gab? Wollte ich meine Sicht auf die Welt anderen mitteilen? Wie eine Parallelwelt existierte das Schreiben neben seiner realen Welt im Prenzlauer Berg. Mit den Buchstaben auf dem Papier entwarf er neue Gefühlsuniversen. Und das Papier war der Grund, auf dem er existierte. Vielleicht hat er schon als Kind gespürt, dass er anders war als die anderen, und das Schreiben half ihm, an dieser Erkenntnis nicht zugrunde zu gehen? Auf diese Weise vermochte er, in sich hineinzuhören und sich nicht mit Äußerlichkeiten zu betäuben. Geschriebenes kann klarer wirken als nur Gedachtes, das der Wind alsbald verwehen würde. Zuweilen hatte er das Gefühl, das Schreiben gäbe ihm eine Existenzberechtigung, so sehr gehörte es zu seinem Wesen.
Textdichter – ich weiß gar nicht mehr, was ich alles damit gemeint habe … gar nicht primär Liedtexte, nein, auch Libretti und Gedichte und Erzählungen. Schreiben, einfach schreiben. Niemand nahm ihn wirklich ernst, aber so sah sich auch niemand veranlasst, ihm seinen Mut zu rauben. So lernte der kleine Bruno den Glauben an sich selbst, er, der in der Schule immer der Kleinste war und »Floh« genannt wurde.
Mit dem Schreiben würde er die Welt erobern!
Nun mussten nur noch andere überzeugt werden, seine Einschätzung zu teilen. Das war ein großer Schritt: Auf der einen Seite war er überzeugt, fürs Schreiben geboren zu sein. Andererseits spürte er eine gewisse Fragilität in sich und war sich nicht sicher, ob er stark genug war, um groben Worten standzuhalten. Doch jeder, der schreibt, will gelesen werden – ob er es zugibt oder nicht.
Und so war es auch bei Bruno.
Er wählte einige seiner Texte aus und überarbeitete sie so lange, bis er meinte, an ihnen nichts mehr verbessern zu können. Er schickte sie an die Redaktionen der Zeitungen und erhielt keine Antwort. Also ging er persönlich vorbei und ließ sich nicht abschütteln. Er war hartnäckig und wusste, er war auf dem richtigen Weg.
Auf seinem Weg.
Was für ein Gefühl, als zum ersten Mal ein Gedicht von ihm gedruckt wurde!
Er trug die Zeitschrift den ganzen Tag mit sich herum und musste sich die Seite immer wieder anschauen. Irgendwann war er beruhigt, nein, es war nicht nur ein Traum, seinen Namen sah er gedruckt, schwarz auf weiß, und er hatte sogar ein wenig Geld dafür bekommen. Nicht viel, aber immerhin.
Von da an riss seine Publikationstätigkeit nicht mehr ab. Immer wieder wurden Gedichte von ihm gedruckt, auch Novellen veröffentlichte er. Er begann als Redakteur bei verschiedenen Zeitungen, unter anderem bei Die Freundin. Später konzentrierte er sich mehr auf die Poesie, auf das Verfassen von Liedtexten und Libretti. Die Musik der Komponisten beflügelte ihn. Die Freude an der Arbeit ist bis heute nicht gewichen.
Aber noch ganz genau kann er sich an den Moment erinnern, als er seinen Namen zum ersten Mal gedruckt sah.
Bruno lächelt. Noch immer kann er diese berauschenden Gefühle von Stolz und Freude in sich spüren! Zweiundzwanzig muss er damals gewesen sein. Oder jünger?
Er macht sich auf den Weg ins Wohnzimmer. Die Tür zu seinem Arbeitszimmer ist nur angelehnt. Auf dem Schreibtisch steht ein Zweig mit Blüten, von denen schon die ersten ihre Seele ausgehaucht haben und kreisrund um die Vase herabgerieselt sind.
Bruno setzt sich an seinen Schreibtisch und betrachtet eine Fotografie seines Vaters. »Dass du mich in diese Kaufmannslehre geschickt hast! Ja, was Gescheites sollte der Junge lernen! Allerdings ausgerechnet in einer Weinhandlung? Für dich nicht unpraktisch, nicht wahr, Papa?«
Er lächelt traurig, erinnert sich daran, wie er seinem Vater, einem Sattler aus dem Prenzlauer Berg, zum ersten Mal die Zeitungen mit seinen Texten vorlegte. Er hatte es zunächst geheim halten wollen, die Schreiberei, seine Träume und den ganzen Rest, doch mit der Zeit hatte sich das Geschäft wie ein Gefängnis angefühlt und schon beim bloßen Geruch von Wein, rot oder weiß, war ihm übel geworden.
Die Lustigen Blätter, so hieß die eine Zeitung, dann auch noch das Acht-Uhr-Blatt. Ein Anfang! Das Schreiben wehte durch sein Leben wie Frühlingsluft.
Infolgedessen war seine erfolgreiche Detektivgeschichte auch ein kleines bisschen frühlingshaft schwul, was Herrn Balz senior in nicht geringem Maße beunruhigte. Er liebte seinen Sohn, aber »das« gehörte nicht in seine Welt, und es war gefährlich.
»Mein Name gedruckt, ist das nicht wunderbar?«, hatte Bruno gesagt und den Vater abzulenken und aufzuheitern versucht, was ihm zu gelingen schien – bis eine Fotografie aus den Seiten hervorglitt, sein Vater sie aufhob und betrachtete.
»Oha, Papa, da solltest du vielleicht nicht so genau hinschauen. Ähm ja, also, das war so … also, die haben sich da alle nackt fotografieren lassen, das ist Kunst!«
Das Argument verfehlte seine Wirkung. Okay, scherzhaft: »Och, Papa, so hässlich bin ich ja nun nicht, so schlimm ist das doch nicht!«
Auch kein Erfolg.
Also philosophisch, theologisch, weltanschaulich: »Der liebe Gott hat mich so geschaffen!«
Neckisch: »Und du bist ja auch nicht ganz unschuldig daran … »
»Hat das was mit diesem Hirschfeld zu tun?«, entgegnete der Vater.
»Nein, der Hirschfeld hat mich überhaupt nicht verdorben! Er hat mir geholfen, mich zu finden! Ich liebe ihn! Das habe ich ihm auch geschrieben! Das Schreiben ist mein Leben.«
Das war zu viel, er hatte es gespürt, noch während er es ausgesprochen hatte.
»Ach, Papa, sei doch nicht so, sei mir gut …«
Sein Vater ist schon lange tot. Manchmal stellt sich Bruno vor, wie es wäre, wenn er die riesigen Erfolge seines Sohnes miterlebt hätte; vieles hatte er noch mitbekommen, nicht nur das Glänzende, sondern auch das Elend, und vielleicht ist er trotz der Angst um seinen Sohn stolz gewesen? Doch er hätte es vermutlich doch vorgezogen, seinen Sohn in einer eigenen Weinhandlung zu sehen. Das ist die Wahrheit.
Traurig betrachtet Bruno die Fotografie, die neben der des Vaters steht, absichtlich dort platziert. Sie hat die Nazizeit überlebt, unabsichtlich. Sein jüngeres Ich, nackt, verträumt als Hirte posierend. Damals der Stein des Anstoßes. Die vom Fotografen bereitgestellte Ziege hatte sich nicht ablichten lassen wollen und war aus dem Arrangement gehoppelt; nur ihr Hinterteil ist noch zu sehen.
Ich habe mich eigentlich nie als schön empfunden, aber so übel sah ich doch gar nicht aus. Nachfrage war ja auch genügend vorhanden, denkt Bruno und ärgert sich kurz über nicht wahrgenommene Gelegenheiten und verpasste Chancen.
Aber so etwas lohnt sich nie. Ich bin ja noch lange kein Greis!
Aber er weiß auch: Die Jugendzeit wird allenfalls in Träumen, Erinnerungen, Wünschen wiederkehren – und in seinen Liedern.
Nach dem Gespräch mit seinem Vater war er durch die Bars der Motz- und der Bülowstraße gezogen und hatte die ganze Nacht gefeiert und geküsst und sich für keinen entscheiden können.
Während er aufsteht und sein Arbeitszimmer verlässt, ist die Wut wieder da. Über die Anmaßungen all der Menschen. Über ihre Verurteilungen. Für gewöhnlich bezeichnet er sie als »Spießer«, aber in Wirklichkeit ist es ein viel zu harmloses Wort angesichts ihrer Grausamkeiten. Warum waren die Menschen so? Gönnten sie ihm sein Glück nicht?
So vielen wäre es lieber gewesen, wenn er nie etwas darüber gesagt hätte. Denn Ausgesprochenes ist nicht so leicht unter dem Esstisch zu verbergen. Es ist im Raum. Und verschwindet nicht mehr.
Früh hat er zumindest eines gelernt: Dass es ihm egal sein muss, was die Leute über ihn reden. Bruno hat sie reden lassen und geschwiegen, obwohl es ihn manchmal zerrissen hatte. Es kam eine Zeit, da konnte es ihm nicht mehr nur egal sein, aber daran mag er jetzt nicht denken.
»Bolle!«, hört er den Heinz rufen. Er kann einem schon gehörig auf den Wecker gehen. »Wie lange soll man denn noch warten, bis man was zu trinken bekommt?«