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AUSSERDEM VON PANINI ERHÄLTLICH:

DIABLO: Der Sündenkrieg I – Geburtsrecht

Richard A. Knaak, ISBN 978-3-8332-4022-5

DIABLO: Der Sündenkrieg III – Der verhüllte Prophet

Richard A. Knaak, ISBN 978-3-8332-4086-7

DIABLO: Das Vermächtnis des Blutes

Richard A. Knaak, ISBN 978-3-8332-3896-3

DIABLO: Der Dunkle Pfad

Mel Odom, ISBN 978-3-8332-3897-0

DIABLO: Das Königreich der Schatten

Richard A. Knaak, ISBN 978-3-8332-3946-5

DIABLO: Der Mond der Spinne

Richard A. Knaak, ISBN 978-3-8332-3947-2

THE ART OF DIABLO

Großformat im Hardcover, ISBN 978-3-8332-3835-2

Weitere Titel und Infos unter www.paninishop.de

Der Sündenkrieg

Buch 2
Die Schuppen der Schlange

Richard A. Knaak

Ins Deutsche übertragen
von Ralph Sander

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Amerikanische Originalausgabe: „DIABLO: The Sin War II – Scales of the Serpent“ von Richard A. Knaak, erschienen bei Simon and Schuster, Inc., 2007.

Copyright © 2007, 2021 Blizzard Entertainment, Inc. Alle Rechte vorbehalten.

Deutsche Ausgabe: Panini Verlags GmbH, Schlossstraße 76, 70176 Stuttgart.

Geschäftsführer: Hermann Paul

Head of Editorial: Jo Löffler

Head of Marketing: Holger Wiest (E-Mail: marketing@panini.de)

Presse & PR: Steffen Volkmer

Übersetzung: Ralph Sander

Lektorat: Manfred Weinland

Umschlaggestaltung: tab indivisuell, Stuttgart

Satz und E-Book: Greiner & Reichel, Köln

YDDITP006E

ISBN 978-3-7367-9863-2

Gedruckte Ausgabe:

ISBN 978-3-8332-4085-0

1. Auflage, August 2021

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PaniniComicsDE

Für alle treuen und geduldigen Fans
der Welt des Sanktuariums

PROLOG

Die Welt war nach der Wiederkehr der Nephalem kaum mehr wiederzuerkennen, doch die größte Veränderung von allen erfuhr der Erste ihrer Art, Uldyssian ul-Diomed. Er hatte nichts weiter gewollt, als das einfache Leben eines Bauern zu führen, und nun war er gezwungen, eine Rebellion anzuzetteln. Durch ihn sollte ein Teil der Wahrheit bekannt werden, die das Sanktuarium betraf – wie die Welt von jenen genannt wurde, die am eifrigsten darum bemüht waren, sie unter ihre Kontrolle zu bringen. Durch ihn erfuhren andere vom ewigen Krieg zwischen den Engeln und Dämonen, die sich hinter der Kathedrale des Lichts und dem Tempel der Triune verbargen.

Da beide wussten, dass Uldyssian eine Gefahr für ihre hochfliegenden Pläne darstellte, versuchten die Kathedrale und der Tempel, jeder auf seine Weise, ihn als Gefahrenherd auszuschalten. Sie wollten ihn entweder zu ihrer Marionette machen – oder ihn vernichten.

Tragischer war jedoch, dass Uldyssian – der durch etwas verraten wurde, was er für Liebe hielt – zu einer Gefahr für sich selbst geworden war. Denn er riskierte, blind für das zu werden, was rings um ihn geschah, auch als er versuchte, die Menschen von dem Joch jener zu befreien, die sich für die rechtmäßigen Herrscher über diese Rasse hielten.

Doch obwohl Uldyssian das Gefühl hatte, das Schicksal des ganzen Sanktuariums laste auf seinen müden Schultern, konnte er nicht wissen, dass es schon andere gegeben hatte, die jahrhundertelang gegen die gleichen Feinde gekämpft hatten wie er, auch wenn es Jahrhunderte gewesen zu sein schienen, die keinerlei Fortschritt und Anlass zur Hoffnung erbracht hatten.

Davon ahnte er nichts, was für ihn vermutlich das Beste war. Denn jene anderen wussten ihrerseits nicht mit Gewissheit, ob sie ihn willkommen heißen … oder vernichten sollten.

Aus den Büchern von Kalan

Fünfter Band, Erstes Blatt

EINS

Die Stadt Toraja brannte.

Auch wenn sie es in Sachen Größe oder Ruhm nie geschafft hatte, an das prachtvolle Kehjan im Osten heranzureichen, war Toraja doch weithin bekannt für ihre einzigartigen Sehenswürdigkeiten, die sie Pilgern wie Einwohnern gleichermaßen bot. Es gab einen weitläufigen, offenen Markt nahe des nordwestlichen Tores, wo man alles aus bekannten Ländern erwerben oder verkaufen konnte. Jenseits des Stadtzentrums befanden sich die jahrhundertealten, kunstvoll gestalteten Gärten. Dort konnte man die Spiralbäume ebenso bewundern wie die Falo-Blumen, sagenumwobene Gewächse, deren Blütenblätter in den unterschiedlichsten Farben variierten und die einen Duft verströmten, den kein Parfümeur nachzuahmen imstande war.

In der Nähe dieser Gärten ragte die Arena von Klytos auf. Sie war Austragungsort der Nirolischen Spiele, zu denen das Publikum auch aus der Hauptstadt herbeiströmte.

Doch alle diese legendären Stätten, sonst oft bis an ihr Fassungsvermögen besucht, lagen an diesem schrecklichen Abend wie verlassen da. In einem bestimmten Teil der Stadt gab es überhaupt nur ein einziges Geschehen – aber das konnte noch aus großer Entfernung, etwa vom dichten Dschungel aus, der Toraja wie eine gewaltige grüne Mauer umgab, beobachtet werden.

Toraja brannte – und der Tempel der Triune bildete den Mittelpunkt des Flammenmeers. Die Flammen erhellten den Himmel über dem dreieckigen Bauwerk mit seinen drei Türmen. Es war der größte Tempel der Konfession, wenn man vom Haupttempel in Kehjan absah. Dicker schwarzer Rauch quoll aus dem vordersten Turm, der Mefis gewidmet war, einem der drei lenkenden Geister. Der riesige rote Kreis, der für den Orden und gleichzeitig für die Liebe stand – die Sphäre, die von Mefis mutmaßlich beeinflusst wurde –, war in Schräglage geraten. Der aus Eisen gegossene, gigantisch große Kreis stellte für alle, die sich unter ihm aufhielten, eine tödliche Gefahr dar, da das Feuer unerbittlich an den noch verbliebenen Stützen und Halterungen fraß. Die ursprünglichen Erbauer des Tempels hätten sich in ihren schlimmsten Träumen nicht ausmalen können, dass ihr Werk einmal ein solches Schicksal ereilen könnte – folglich hatten sie auch keine Maßnahmen ergriffen, um den Ring zusätzlich zu sichern.

Während dem Turm von Mefis erst noch eine Katastrophe drohte, war der von Dialon zur Rechten bereits davon erfasst worden. Der stolze Widderkopf – Symbol der Entschlossenheit – hing noch oben auf seinem Platz, doch die Konstruktion darüber war in sich zusammengestürzt. Ungewöhnlich war, dass von dort oben nur wenige Trümmer auf die Straßen der Umgebung herabgefallen waren. Vielmehr stapelten sich Steine und geborstenes Holz auf dem restlichen Turm, so als wäre das Bauwerk auf unerklärliche Weise implodiert.

Hunderte von Leuten liefen auf dem Gelände vor den Stufen aufgeregt hin und her, diejenigen, die sich dem Eingang am nächsten befanden, trugen Gewänder in Azur, Gold oder Schwarz, je nachdem, zu welchem der drei Orden sie gehörten. Bei ihnen standen Scharen von Gestalten in Gewändern mit Kapuze und Brustschild – die Friedenswahrer des Tempels –, die mit Schwertern und Lanzen bewaffnet waren. Die Getreuen der Triune trotzten einer regelrechten Woge aus Leibern, die gegen sie anstürmte. Die Angreifer in den vordersten Reihen trugen die schlichte Kleidung der Bauern aus den oberen Ländern weit im Nordwesten des Dschungels. Die blasse Hautfarbe und die eng anliegende Kleidung dieser Gruppe bildeten nicht nur einen krassen Gegensatz zu den vorwiegend dunkelhäutigen Dienern des Tempels, sondern auch zu jenen, die den Großteil der nachfolgenden Angriffswellen stellten. Es waren vor allem gebürtige Torajaner selbst, die gegen die Triune vorgingen, was leicht zu erkennen war, da sie weite, wallende Stoffe in Rot und Purpur trugen und das lange, schwarze Haar im Nacken zusammengebunden hatten.

Zwar waren es die Angreifer, die über die meisten Fackeln verfügten, doch die Flammen, die weite Teile der umliegenden Stadt verwüsteten, gingen nur zu einem geringen Anteil auf ihr Konto. Eigentlich konnte niemand mit Gewissheit etwas über die Entstehung der ersten Brände sagen. Sicher war nur, dass sie zu Beginn zugunsten der Priesterschaft zu wüten schienen, was die Sympathie für die Triune mit einem Mal in Wut umschlagen ließ.

Diese Wut war Uldyssians Ansporn gewesen, um den Tempel umgehend dem Erdboden gleichzumachen. Nach seiner Ankunft in Toraja – und nachdem er Herr über sein Erstaunen geworden war, so viele Menschen an einem Ort zusammengedrängt zu sehen –, hatte er vorgehabt, allmählich auf die Bürger so einzuwirken, dass sie irgendwann schließlich die Priester und ihre Untergebenen aus der Stadt jagen würden. Doch nach einem so abscheulichen Akt, dem Dutzende Einwohner von Toraja und sogar einige seiner eigenen Anhänger zum Opfer gefallen waren, war im Herzen des einstigen Bauern kein Platz mehr für Bedauern oder Sympathie.

Ich kam in diese Stadt in der Hoffnung, zu lehren und Menschen zu bekehren, dachte Uldyssian verbittert, als er die Stufen hinaufging. Aber sie haben uns stattdessen all dies hier aufgezwungen.

Ohne ihn kommen zu sehen, teilte sich vor ihm die Menge. Diejenigen, die von der Macht berührt worden waren, die in Uldyssian pochte – die Macht der Nephalem –, konnten seine Nähe spüren. Die Vorwärtsbewegung der Menge kam unvermittelt zum Erliegen. Sie fühlten, dass Uldyssian etwas beabsichtigte. Er war nicht der Grund für die Verheerungen, die den Tempel bis dato überrollt hatten. Sie waren die Folge der wesentlich roheren Anstrengungen einiger übereifriger Anhänger gewesen, zu denen auch der Parthaner Romus zählte. Romus gehörte zu der Handvoll am weitesten Fortgeschrittenen von Uldyssians Akolyten. Partha war die zweite Stadt, die Zeuge von Uldyssians wunderbarer Gabe geworden war, nachdem man den Sohn des Diomedes in seiner Heimatstadt Seram für die gleichen Wunder als Mörder und Monster verstoßen hatte. In Partha waren seine Fähigkeiten ebenso willkommen gewesen wie seine schlichten, aber ehrlichen Überzeugungen.

Uldyssian entsprach keineswegs dem Bild eines Propheten, der auf einen Kreuzzug ging – wie man es aus manchen Fabeln kannte. Er war auch kein engelsgleicher, niemals alternder Jüngling wie jener, der die Kathedrale des Lichts führte – die mit dem Tempel rivalisierende Konfession –, und ebenso wenig ein silberhaariger, gütiger Ältester wie der Primus, dessen Dienern nun Uldyssians Rache drohte. Uldyssian ul-Diomed war als ein Mann zur Welt gekommen, dessen Bestimmung es war, das Feld zu bestellen. Er hatte ein kantiges, grobschlächtiges Gesicht, das zur Hälfte von einem kurz geschnittenen Bart verdeckt war, und er war wegen der Mühsal seines kargen Lebens von kräftiger Statur, ansonsten aber völlig unscheinbar. Sein sandfarbenes Haar hing ihm wirr und zerzaust bis in den Nacken, doch im Chaos dieser Nacht wäre ohnehin jeder Versuch, ordentlich daherzukommen, zum Scheitern verurteilt gewesen. Er trug ein schlichtes braunes Hemd und eine Hose in gleicher Farbe, dazu abgewetzte Stiefel. Von einem Messer abgesehen, das er sich in den Gürtel geschoben hatte, führte er keine Waffe bei sich. Er benötigte auch keine, denn er selbst war tödlicher als die schärfste Klinge oder der schnellste Pfeil.

Er war sogar tödlicher als der Trupp Friedenswahrer, der in diesem Moment auf ihn losstürmte. Dahinter brüllte ein Priester von Dialon gebieterisch seine Befehle. Uldyssian empfand keinen besonderen Hass auf diesen Narren, da er wusste, dass der Kleriker lediglich die Worte aussprach, die sein Vorgesetzter irgendwo tief im Tempelkomplex ihm vorgegeben hatte. Und doch würden die Krieger und auch der Priester für ihre unerschütterliche Treue zu dieser üblen Konfession büßen müssen.

Uldyssian ließ die Wachen herankommen, bis er sich in Reichweite ihrer Waffen befand. Dann sorgte er mit nichts weiter als einem Wimpernzucken dafür, dass der gesamte Trupp in alle Himmelsrichtungen davongewirbelt wurde. Einige prallten gegen die Säulen am Kopfende der Treppe, wobei ihre Knochen beim Aufprall deutlich hörbar brachen. Andere flogen bis zu den bronzenen Türen des Tempels, schlugen dagegen und gingen mit verrenkten Gliedmaßen zu Boden. Wieder andere landeten links oder rechts vor den Füßen seiner Anhänger, die angesichts der Machtdemonstration ihres Führers in lauten Jubel ausbrachen.

Ein neben dem Priester befindlicher Bogenschütze schoss einen Pfeil auf Uldyssian ab – doch er hätte keine fatalere Entscheidung treffen können. Der Sohn des Diomedes zog die Augenbrauen als einziges äußeres Anzeichen der schrecklichen Erinnerung zusammen, die ihm durch den Sinn ging. Vor seinem geistigen Auge erlebte er wieder, wie sein Freund Achilios dem Dämon Lucion gegenübergetreten war. Lucion hatte in der Gestalt des Primus die Triune geschaffen, um die Menschheit zu korrumpieren und zu knechten. So eindringlich wie in dem Moment, da es sich abgespielt hatte, sah er wieder, wie der Pfeil des Jägers auf Geheiß des Dämons mitten im Flug kehrtmachte und Achilios’ Kehle durchbohrte.

Uldyssian tat nun das Gleiche mit dem auf ihn abgefeuerten Geschoss. Ohne Verzögerung beschrieb die Flugbahn einen Bogen, und der Pfeil raste zurück. Der Bogenschütze konnte kaum glauben, was er da sah. Doch er war wirklich nicht das Ziel. Stattdessen durchbohrte der Pfeil die Brust des Priesters, als zerteile er lediglich die Luft, und näherte sich Mefis’ kreisrundem Symbol an der Tür. Von Uldyssians Willen getrieben, schlug das Geschoss genau in der Kreismitte ein und grub sich tief in das Metall.

Alles lief so schnell ab, dass der getroffene Priester erst jetzt zu schwanken begann. Er stieß ein Röcheln aus, und das Blut strömte nicht nur aus der verletzten Brust, sondern auch aus dem Mund. Sein Gesichtsausdruck erschlaffte, und dann fiel die Gestalt vornüber und rollte die Stufen mit makaber umherwirbelnden Gliedmaßen hinunter.

Der Bogenschütze ließ seine Waffe fallen und sank vor Entsetzen auf die Knie. Seinen Blick hatte er auf Uldyssian gerichtet, und er erwartete ganz offensichtlich, dass nun sein Ende gekommen sei.

Totenstille legte sich über die unmittelbare Umgebung, während Uldyssian sich dem Mann näherte. Hinter jenem Krieger versuchten die übrigen Verteidiger des Tempels, sich neu zu formieren. Das Blut mehrerer leidenschaftlicher Bekehrter aus Uldyssians Reihen, das den Boden bedeckte, zeugte von der Entschlossenheit der Friedenswahrer, niemanden passieren zu lassen.

Das Kinn vorgeschoben, legte er eine Hand auf die Schulter des knienden Wachmanns, dann sprach er mit einer Stimme, dröhnend wie Donnerhall: „Dieser soll verschont bleiben … als Exempel für die anderen.“ Sein finsterer Blick wanderte zu den übrigen Friedenswahrern. „Der Rest kann dem Primus in die Hölle folgen.“

Seine Worte sorgten bei den bewaffneten Wachen für einige Verwirrung, weil sie nicht wissen konnten, dass er Lucion getötet hatte. Es war nicht das erste Mal, dass Uldyssian dieser Reaktion begegnete, und er konnte es sich nur damit erklären, dass die entfernter gelegenen Tempel noch nichts vom unerklärlichen Verschwinden des Primus erfahren hatten. Der älteren Priesterschaft war es allem Anschein nach gelungen, jeden Hinweis auf diese Katastrophe zu verheimlichen. Uldyssian würde jedoch dafür sorgen, dass die ganze Welt davon erfuhr.

Denen in Toraja würde es gleich sein, denn nach dieser Nacht war es sicher, dass die Triune für viele Einwohner ebenso zum Inbegriff der Verdammnis werden würde wie sein eigener Name.

Er blickte zu den Wachen und Priestern. „Ihr habt genug vom Blut anderer Menschen vergossen. Jetzt bezahlt ihr mit eurem eigenen dafür!“

Plötzlich begann einer der Friedenswahrer zu keuchen. An seiner Kehle bildete sich scheinbar von selbst ein langer Schnitt, aus dem Blut quoll. Der Mann versuchte, die Öffnung mit der Hand zuzudrücken, doch auch die Hand blutete stark. Weitere Stellen in seinem Fleisch öffneten sich, als würden ihn von allen Seiten unsichtbare Schwerter attackieren. Aus all diesen Wunden schoss das Blut.

Die ihn umgebenden Männer zogen sich zurück, doch einer nach dem anderen wurde vom gleichen Schicksal ereilt. Innerhalb weniger Augenblicke waren sie von klaffenden Wunden übersät, und sogar hinter den Brustschilden und unter den Helmen trat Blut hervor.

Der erste Mann sackte schließlich zu Boden und sank in eine Lache seines eigenen Blutes, das den kurz zuvor noch so makellos sauberen Marmorboden verfärbte. Schnell waren auch die übrigen Krieger zu schwach, um sich noch länger auf den Beinen zu halten, und nur einen Moment später brachen immer mehr Tempelwächter und Priester zusammen, übersät von einem Hundertfachen der Verletzungen, die sie nicht nur Uldyssians Leuten, sondern über die Jahre hinweg auch unzähligen namenlosen Opfern zugefügt hatten. Niemandem, der von Uldyssians hasserfülltem Blick getroffen wurde, blieb dieses Los erspart.

Überall in den Reihen der übrigen Verteidiger verloren finstere Friedenswahrer die Nerven und ließen ihre Gefährten im Stich. Die Priester standen daneben und unternahmen nichts, um sie aufzuhalten. Denn sie selbst waren viel zu entsetzt darüber, welche Macht diese einsame und unscheinbar aussehende Gestalt demonstrierte.

Die Menge brüllte erneut auf, da Uldyssians Wirken für sie der Beweis für einen völlig ungefährdeten Sieg sein musste, und stürmte weiter voran. Die verbliebenen Friedenswahrer wurden überrannt, und wie Uldyssian kundgetan hatte, wurde ihnen keine Gnade zuteil. Er ließ den Kampf um sich herum seinen Lauf nehmen, da ihn mehr interessierte, was sich hinter den Mauern des Tempels befand. Friedenswahrer und niederrangige Priester waren bedeutungslos, denn die wahre Bedrohung wartete auf ihn tief im Heiligtum des obersten Klerikers, der unmittelbar dem Primus unterstand und dem somit die furchtbare Wahrheit bekannt war, was die Herkunft und die Ziele der Triune betraf.

Vor Uldyssian befanden sich die drei Tore mit dem Widder von Dialon, dem Kreis von Mefis und dem Blatt von Bala nun auf Augenhöhe. Der Pfeil, der den Priester durchbohrt hatte, ragte aus der mittleren Tür und zitterte noch ein wenig. Uldyssian wählte eben dieses Portal, um in den Tempel vorzudringen. Zwar nahm er zur Kenntnis, dass es von innen verbarrikadiert worden war, doch das hielt ihn nicht von seinem Vorhaben ab.

Von der Tür ging plötzlich ein qualvolles Stöhnen aus, und sie erbebte, als wollte sie jeden Augenblick zerbersten. Kurz darauf flog sie mit solcher Wucht auf, dass zwei Scharniere aus dem Mauerwerk gerissen wurden und sie schief in den Angeln hing.

Uldyssian merkte, dass sich etliche seiner Anhänger dicht hinter ihm befanden, als er den Tempel betrat. Der Punkt war erreicht, an dem er sie so wenig zurückhalten konnte, wie es den Friedenswahrern möglich gewesen war. Diese Leute brannten auf Vergeltung und waren nicht mehr aufzuhalten.

Er verstand die Gründe für ihren Zorn. Als er, sein Bruder Mendeln, ihre Freundin Serenthia und die Parthaner vor nicht ganz zwei Wochen in Toraja eingetroffen waren, waren sie nichts weiter als erschöpfte Reisende gewesen, die mit Ehrfurcht auf diese spektakuläre Stadt reagierten. Uldyssian war mit der Absicht hergekommen, seine Gabe auf friedfertige Weise allen zu offenbaren, die an ihr teilhaben wollten. Doch vom ersten Augenblick an reagierte die Triune so, als habe man ihr ein Vipernnest vor die Tür gelegt.

Bereits zwei Tage nachdem die Massen auf dem Marktplatz zusammengekommen waren, um sich seine Geschichte anzuhören, trat die torajanische Stadtwache auf den Plan und jagte Uldyssians Anhänger aus der Stadt, während man den einstigen Bauern selbst an einen unbekannten Ort verschleppte, um ihn dort festzuhalten. Eine Erklärung für dieses Vorkommnis hatte er nicht bekommen, doch es wurde sehr schnell klar, dass die Befehle aus dem Tempel gekommen waren.

Bis zu diesem Augenblick hatte Uldyssian geglaubt, Toraja könne ein zweites Partha werden. Je länger er aber darüber nachdachte, desto klarer wurde ihm, dass sich beide Städte in Wahrheit doch sehr unterschieden. Immerhin waren unter dem Kommando von Mefis’ sadistischem Hohepriester Malic einige von Uldyssians Freunden brutal niedergemetzelt worden!

Ein Aufschrei irgendwo hinter ihm riss ihn aus seinen Gedanken. Uldyssian wirbelte herum.

Zwei Tote lagen auf dem gefliesten Boden, drei weitere Kämpfer waren schwer verwundet. Kleine metallene Sterne steckten in Kehle, Brust und anderen Körperpartien. Die Toten waren Parthaner, was ihn umso tiefer traf, als sie sich aus eigenem Ansporn auf den Weg gemacht hatten, um einem unwilligen Uldyssian bis tief in den Dschungel zu folgen und sich ihm anzuschließen.

Mit einer wütenden Geste zerteilte er die Luft in der Kammer, eine Handlung, die gerade noch rechtzeitig erfolgte, um einen weiteren Schwarm metallener Sterne mitten im Flug erstarren zu lassen, die wohl von einer Art Mechanismus in den Wänden abgefeuert wurden. Die meisten dieser tödlichen Geschosse ließ Uldyssian klimpernd auf dem Boden aufschlagen, doch ein paar von ihnen schickte er zurück in die Öffnungen, aus denen sie gekommen waren, um so zu verhindern, dass weitere Angriffswellen auf sie gerichtet werden konnten.

Die Sterbenden waren allesamt Torajaner, und einer von ihnen war Uldyssian vertrauter als die übrigen. Jezran Rhasheen war der Erste gewesen, der sich dem blassen Fremden genähert hatte, als der auf dem Marktplatz zu den Einwohnern der Stadt sprach. Der dunkelhäutige Jüngling war der einzige Sohn eines bekannten Kaufmanns von Toraja. Es hatte keinen wirklichen Grund für ihn gegeben, Uldyssian zuzuhören – geschweige denn dessen Worte zu akzeptieren –, denn Jezran mangelte es im Leben an nichts. Und doch hörte er zu, und vor allem hörte er hin. Als Uldyssian anbot, seine Gabe mit jedem Torajaner zu teilen, der daran interessiert war, hatte Jezran nicht gezögert und war auf ihn zugekommen.

Der sterbende Knabe sah den vor ihm aufragenden Uldyssian an, als er sich neben ihn hinkniete und eine Hand unter seinen Kopf schob. Wie bei allen Leuten aus Toraja wirkte auch bei ihm das Weiß in den Augen viel heller und lebendiger. Uldyssian wusste, es war eine Täuschung, verursacht durch die dunklere Hautfarbe, dennoch fesselte ihn der Anblick.

Jezran brachte ein mühsames Lächeln zustande, machte den Mund auf … dann starb er. Uldyssian fluchte, da er wusste, dass es nicht einmal ihm noch möglich gewesen wäre, den Jungen zu retten.

Aber vielleicht galt das nicht für die anderen! Behutsam legte er den Kopf des Jugendlichen auf den Boden und wandte sich dem nächsten Opfer der Angriffswelle zu. Er legte eine Hand auf die Stirn des Mannes, der daraufhin erschrocken zu keuchen begann. Von einem hässlichen Geräusch begleitet wurden die todbringenden Sterne aus dem Körper gedrückt, die Wunden schlossen sich.

Dankbar lächelte der Torajaner ihn an.

Uldyssian wiederholte sein Bemühen beim dritten Opfer, einer Frau, dann sah er verbittert zu Jezran. Zwei Überlebende, aber ein Toter. So viel zu meiner spektakulären Gabe …

„Er hegt keinen Groll gegen dich“, sagte Mendeln, der hinter Uldyssian getreten war. Die Stimme seines Bruders klang ruhig und gelassen, obwohl um sie das Chaos tobte. „Er versteht jetzt auch besser die allumfassende Wahrheit als jeder von uns.“

Mendeln war von etwas schlankerer Statur als sein älterer Bruder, und schon immer der Lernbegierigere von ihnen gewesen. Zwar hatte er ebenso wie die anderen Bekehrten von Uldyssian die Gabe erhalten, doch bei ihm schien sie eine andere Wirkung zu entfalten. Uldyssian konnte bei seinem einzigen Bruder nichts von jener Kraft spüren, die ihn selbst durchströmte. Stattdessen wuchs in Mendeln ein Schatten heran, bei dem Uldyssian keine Gewissheit hatte, ob er aus etwas Bösem oder aus etwas Gutem heraus entstanden war.

Beim Blick in die durchdringenden schwarzen Augen seines Bruders knurrte Uldyssian: „Ich verstehe nur, dass er und so viele andere tot sind … aber ich bezweifle, ob ich jemals herausfinden werde, ob es meine Schuld ist oder die der Triune.“

„Das habe ich damit nicht gemeint …“ Weiter sprach Mendeln nicht. Uldyssian ging an der in Schwarz gekleideten Gestalt vorbei, um tiefer in den Tempel vorzudringen. Die anderen folgten ihm auf dem Fuße, hielten aber zu Uldyssians Bruder den gleichen Abstand ein wie zu ihrem Führer. In Mendelns Fall hing das jedoch inzwischen weniger mit Respekt ihm gegenüber zusammen, als vielmehr mit dem Unwillen, sich in der Nähe des fahlen Mannes aufzuhalten. Selbst diejenigen, die von der Macht nicht berührt worden waren, nahmen wahr, wie absonderlich der jüngere Sohn des Diomedes geworden war.

„Ich habe euch die Macht gezeigt“, sprach Uldyssian zu jenen, die ihm folgten. Gleichzeitig erforschte er mit seinem Geist, welche Gefahren vor ihnen auf sie lauerten. „Denkt daran, sie einzusetzen. Es ist euer Leben.“

In diesem Moment bemerkte er, dass sie kamen. Ein eisiger Schauer rann ihm über den Rücken, und er betete, dass seine Leute auf ihn gehört haben mochten … sonst würden noch mehr von ihnen eines schrecklichen Todes sterben.

Er wandte sich wieder dem vor ihnen liegenden Pfad zu. Die riesige Kammer, in der sie standen, war der zentrale Platz, auf dem die Gläubigen zusammenkamen, bevor die Predigten der drei Orden begannen. Gewaltige Statuen der lenkenden Geister der Triune wachten über die gesonderten Eingänge zu den Versammlungsstätten der einzelnen Orden. Bei den Statuen handelte es sich um geschlechtslose, ins Gewand des jeweiligen Ordens gehüllte Figuren. Bala ganz links trug einen Hammer und einen Sack mit der Saat des Lebens. Dialon zur Rechten hielt die Gesetzestafeln an seine Brust gepresst. Mefis in der Mitte – immer nur Mefis! – hielt seine leeren Hände so, als wolle er behutsam ein unschuldiges Kind entgegennehmen.

Ein Kind, das abgeschlachtet werden sollte, wie Uldyssian es sich immer vorstellte.

Mit diesem Gedanken streckte er warnend die Hand aus, und im selben Augenblick öffneten sich alle drei Türen gleichzeitig und ließen eine Horde grotesker, bestialischer Gestalten in schwarzen Rüstungen auf sie los. Sie schrien ihre Blutgier lautstark hinaus und hielten ihre Waffen hoch erhoben. Zwar waren sie weit weniger als die Eindringlinge, doch das änderte nichts an ihrem beängstigenden Erscheinungsbild, zumal Uldyssian genau wusste, was sich ihnen da entgegenstellte. Sie hatten etwas an sich, das nichts mehr mit dem Fleisch der Sterblichen gemein hatte, sondern schon längst dem Grab hätte übergeben werden müssen. Uldyssian spürte die Bestürzung, die seine Anhänger bei diesem Anblick erfasste. Er wusste, dass er ihnen zeigen musste, dass die Morlu zwar üble Kreaturen, aber nicht unbezwingbar waren.

Bevor er jedoch den ersten Schlag führen konnte, flammte vor seinen Augen ein blendendes Licht auf. Er stieß einen Schrei aus und taumelte gegen einen der Männer, die sich hinter ihm befanden.

In seiner Sorge um die anderen hatte er sich offenbar abermals überschätzt. Dabei hätte er damit rechnen müssen, dass die Priester mit diesem neuen Angriff irgendeine List verknüpfen würden.

Ein Händepaar packte Uldyssian und zog ihn zurück. Doch in diesem Moment rammte ihn etwas Wuchtiges von rechts. Er wirbelte herum und ging zu Boden.

Während er sich bemühte, wieder etwas zu sehen, gellten ringsum Schreie auf. Das Geräusch berstender Knochen ließ ihn abermals erschaudern. Er hörte ein tiefes, kehliges Lachen und erkannte die dämonische Stimme eines Morlu, der sich an dem von ihm verursachten Blutbad ergötzte.

Uldyssian hatte nicht erwartet, in Toraja auf die Ghule der Triune zu treffen. Vielmehr war er davon ausgegangen, dass ihre Art vorwiegend im riesigen Tempel nahe der Hauptstadt anzutreffen war. Diejenigen, die Malic begleitet hatten, stellten aus Uldyssians Sicht lediglich eine Ausnahme dar, weil der Primus ein besonderes Interesse am Sohn des Diomedes hatte. Nun jedoch überlegte Uldyssian, ob womöglich jedem Tempel einige Morlu zugeteilt waren – was nichts Gutes verheißen hätte, würde es doch bedeuten, dass weit mehr dieser Kreaturen existierten, als er sich in seinen schlimmsten Träumen auszumalen vermochte …

Allmählich konnte er wieder etwas sehen, doch es machte ihn rasend, dass er nicht in der Lage war, den Prozess zu beschleunigen. Viel zu langsam zeichneten sich Formen und Konturen vor seinen Augen ab.

Eine dieser Silhouetten war ein Morlu, der sich ihm näherte.

Es war erstaunlich, dass die massige Gestalt in ihrer schweren Rüstung sich so behände bewegen konnte. Der Morlu packte Uldyssian am Kragen und zog seine Beute bis auf Augenhöhe zu sich hoch.

Schwarze, endlos scheinende Löcher waren alles, was von den Augen des Morlu existierte, doch Uldyssian wusste, dass sein Gegenüber viel besser sehen konnte als jeder Sterbliche. Das hatte er beim Kampf im Heim von Meister Ethon zur Genüge erlebt, als er ein Gefühl dafür entwickelte, wie erzböse und mächtig jene Kraft war, die die Kämpfer mit ihren schwarzen Helmen antrieb.

„Du … bist der Eine …“, grunzte sein Angreifer mit einer Stimme, die keiner lebenden Kreatur zu entstammen schien. „Der Eine …“

Uldyssian konzentrierte sich auf seinen Gegner, doch ein weiteres Mal flammte das Licht vor seinen Augen auf und gab ihm das Gefühl, erblindet zu sein.

Der Morlu lachte noch lauter, dann stieß er ein eigentümliches Grunzen aus und ließ den geblendeten Uldyssian los, dem es instinktiv gelang, seinen Sturz abzufedern und sich nicht den Kopf am Boden aufzuschlagen.

Er schüttelte wiederholt das Haupt und konzentrierte sich ausschließlich darauf, wieder etwas zu erkennen. Tatsächlich nahm seine Umgebung langsam wieder Gestalt an – und dann entdeckte er Serenthia, die einen Speer in den Händen hielt und damit den Morlu durchbohrt hatte, als würde er keinerlei Panzerung tragen. Der Speer flammte silbern auf, und Serenthias schwarzes Haar wirbelte, als sei es lebendig. Ihre ohnehin leuchtend blauen Augen brannten nun vor Entschlossenheit. Ihre normalerweise elfenbeinweiße Gesichtshaut war errötet, und ihre vollen Lippen hatten einen Ausdruck von finsterer Befriedigung angenommen. Uldyssian zweifelte nicht daran, dass sie an Achilios’ Tod dachte, als sie den Speer tiefer in das zuckende Wesen trieb.

Sie hatte gerade erst begonnen, den Jäger zu lieben, da war er ihr auf brutalste Weise entrissen worden – nachdem sie jahrelang vergeblich auf Uldyssians Gunst gehofft hatte. Etwas, das ihn noch heute mit Scham erfüllte.

Serenthia war nicht nur eine der Allerersten, die Uldyssians Gabe akzeptierten, sie gehörte nun auch zu jenen, die sich ihrer am machtvollsten bedienten. Ihm war klar, dass diese Fähigkeit zu einem großen Teil mit dem Verlust zusammenhing, den sie erlittenen hatte, dennoch war selbst er über ihr Auftreten zutiefst erstaunt.

Der Morlu holte immer wieder verzweifelt nach ihr aus. Das hungrige Grinsen war längst einem Ausdruck gewichen, der fast ängstlich wirkte. Der Speer erlaubte es Serenthia, sich die Kreatur vom Leib zu halten.

Sie sah nun überhaupt nicht mehr aus wie die Tochter eines Kaufmanns vom Lande. Bluse und Rock aus schlichtem Stoff hatte sie eingetauscht gegen ein farbenprächtiges Wickelkleid, wie es die meisten Frauen in Toraja trugen. Durch ihr langes schwarzes Haar wirkte sie sogar ein wenig so, als habe sie etwas von diesen Frauen in ihrem Blut. Das Kleid war um die Beine herum weit und wallend geschnitten, und anstelle von Stiefeln trug Serenthia jene Schnürsandalen, die für die torajanische Mode typisch waren.

Der Morlu zuckte und zitterte heftig, seine massige Gestalt begann zu verschrumpeln. Innerhalb eines Atemzugs lag die faltige weiße Haut eng um seine Knochen, was ihn wie seit Langem tot aussehen ließ. Dennoch zog Serenthia ihren Speer nicht zurück. Ihr Gesicht war von einem beängstigenden Eifer geprägt.

„Serry!“, rief Uldyssian.

Seine Stimme durchdrang den Kampflärm … und auch ihren Zorn. Serenthia blickte zu ihm und dann – mit einem Schaudern – auf den Morlu. Eine Träne rann ihr über die Wange, eine Träne, die sie für Achilios vergoss.

Sie zog an dem Speer, der sich mühelos aus dem Leib ihres Gegners löste, der nun wie eine Marionette, deren Fäden man abrupt durchtrennte, zu Boden fiel. Knochen und Rüstung verteilten sich scheppernd auf dem Marmorboden.

Serenthia warf Uldyssian einen sowohl erleichterten als auch dankbaren Blick zu. Er sagte weiter nichts zu ihr, sondern nickte nur, um ihr zu zeigen, dass er sie verstand. Dann richtete er sich auf und sah nach den anderen.

Wie befürchtet, hatte die ihnen gestellte Falle weitere Leben gekostet. Überall lagen Tote, und auch wenn sich darunter viele Morlu befanden, war die Zahl der gefallenen Torajaner und Parthaner nicht unerheblich. Uldyssian entdeckte das reglose Gesicht einer Parthanerin, die an jenem Tag – nahe dem Stadtplatz, auf dem er zum ersten Mal gepredigt hatte – dabei gewesen war, als er den deformierten Arm eines kleinen Jungen heilte. Ihr Anblick weckte bittere Erinnerungen an jenen Knaben und seine Mutter Bartha, die beide ihr Leben im Kampf gegen Lucion verloren hatten. Der Junge war einer von vielen, die dem wahllosen Angriff des Dämons zum Opfer gefallen waren, und Bartha – die tapfere Bartha – starb bald darauf an gebrochenem Herzen.

So viel Blut …, dachte er. So viel davon meinetwegen vergossen – und weil sie an das glaubten, was ich ihnen bringen kann …

Plötzlich senkte sich Stille über die Kammer, und Uldyssian erkannte, dass der Kampf für den Augenblick zu Ende war. Die Morlu hatten die Eindringlinge nicht vollständig aufreiben können. Vielmehr waren es Lucions Bestien, die den Kürzeren gezogen hatten. Es war ihnen zwar gelungen, viele – zu viele! – Angreifer zu töten, doch letztlich waren ihre Reihen stärker dezimiert worden.

Das an sich kam bereits einem Wunder gleich, doch viel wichtiger war, dass die anderen seinem und Serenthias Beispiel folgten. Es lag nicht nur an den Waffen, dass man die Morlu geschlagen hatte, sondern auch an jener Gabe, von der auch Uldyssian erfüllt war – selbst wenn sie bei den anderen nicht so stark ausgeprägt sein mochte. Einer der Morlu war mit einem so präzisen Schnitt durch die Taille in zwei Hälften geteilt worden, dass es so aussah, als müsse man diese nur wieder zusammenfügen, damit er zu neuem Leben erwachte. Ein anderer war in die Höhe geschleudert worden und hing schlaff zwischen Mefis’ ausgestreckten Händen. Scharen weiterer besiegter Morlu präsentierten sich in den makabersten Zuständen – ein Anblick, von dem Uldyssian hoffte, dass er trotz der hohen Verluste in den eigenen Reihen seinen überlebenden Gefährten Mut machen würde, um weiterzukämpfen.

Noch während er seinen Blick über die Gefallenen schweifen ließ, war Uldyssians Kehle mit einem Mal wie zugeschnürt. Jene schwarze Flüssigkeit, die als Blut durch die Adern der Morlu floss, überzog die dreieckigen Bodenplatten, doch darunter mischten sich auch die kostbaren Lebenssäfte jener, die nicht schnell genug auf die Angreifer reagiert hatten – oder zögerten, als es darum ging, auf die Gabe zu vertrauen.

Uldyssian trauerte um jeden von ihnen, und er verfluchte die Tatsache, dass er sie all seiner Macht zum Trotz nicht wieder zum Leben würde erwecken können.

Aus Gründen, die er nicht verstand, kehrte sein Blick zu Mendeln zurück.

Er entdeckte seinen Bruder, der jedoch nicht bei den toten Kameraden stand, sondern bei zwei Morlu, die auf merkwürdige Weise ineinander verschlungen waren. Uldyssian zog überrascht eine Braue nach oben und fragte sich, welchem seiner Anhänger das wohl gelungen sein mochte.

Mendeln hielt in dem inne, womit immer er da beschäftigt war. Seine sonst so unbeeindruckte Miene bekam einen düsteren Zug, als er zu seinem Bruder blickte.

„Es ist noch nicht vorbei“, verkündete er völlig überflüssig. Doch, was den älteren Sohn des Diomedes erst richtig beunruhigte, waren die nächsten Worte. „Uldyssian … es werden Dämonen kommen.“

Kaum hatte Mendeln ausgesprochen, fühlte auch Uldyssian deren Nähe. Der Schrecken der Morlu – die zwar von Dämonenhand, aber aus sterblichem Fleisch erschaffen waren – hatte diese erschreckende Tatsache vorübergehend für ihn verdrängt. Doch nun spürte er sogar, wo sie waren … und dass sie auf ihn warteten.

Neben Lucion hatte er auch anderen Dämonen die Stirn geboten, doch keiner von ihnen hatte sich als annähernd so bedrohlich wie der Primus erwiesen. Dass diese neuen Dämonen nun aber so geduldig auf ihn warteten – eine Fähigkeit, die nur die listigsten unter ihnen besaßen –, machte seinen Argwohn umso größer.

Sie wussten von ihm, und sie wussten auch, was aus ihm geworden war …

Ihm blieb nur ein Weg. „Mendeln, Serenthia, passt auf die anderen auf! Niemand darf mir folgen!“

Sein Bruder nickte, doch die Frau stutzte. „Wir werden dich nicht allein –“

Ein Blick von Uldyssian genügte, um sie zum Verstummen zu bringen. „Ich will nicht, dass sich etwas von der Art wie bei Achilios wiederholt. Niemand folgt mir, erst recht keiner von euch beiden!“

„Aber, Uldyssian …“

Mendeln fasste ihren Arm. „Streite nicht mit ihm, Serenthia. Es muss so sein.“

Er sagte es auf eine Weise, die seinen Bruder dazu brachte, einen Moment lang innezuhalten und ihn anzusehen. Mendeln sagte jedoch weiter nichts, was in der letzten Zeit zu einem für ihn typischen Verhalten geworden war.

So rätselhaft der Ausspruch auch war, Uldyssian hatte längst gelernt, derartige Kommentare hinzunehmen. „Niemand folgt mir“, wiederholte er und sah alle Anwesenden der Reihe nach an. „Sonst wird es nicht der Zorn der Dämonen sein, der euch heimsucht!“

In der Hoffnung, dass sie auf ihn hörten, aber auch weiterhin von der Sorge begleitet, dass einige von ihnen – vor allem Serenthia – sich über seine Anweisung hinwegsetzen könnten, übertrat Uldyssian die Türschwelle, über die Dialons Anhänger gegangen wären.

Sobald er eingetreten war, schlug die Tür hinter ihm zu. Er wusste, dass das Gleiche auch mit den beiden anderen Zugängen geschehen war.

Er hatte sie persönlich zumindest vorübergehend versiegelt. Selbst Mendeln und Serenthia würden ihre Mühe haben, seine Maßnahme rückgängig zu machen. Solange es ging, würde Uldyssian dem Weg in die unterirdischen Gemächer allein folgen, zu jenen Orten, wo den wahren Meistern der Triune gehuldigt wurde.

Es hatten schon zu viele seiner Weggefährten ihr Leben lassen müssen.

Er spürte, dass er sich den Dämonen näherte, auch wenn ihm ihr genauer Aufenthaltsort unbekannt war. Genau genommen waren sie auch nur einer der Gründe, weshalb Uldyssian ausschließlich sich selbst in Gefahr bringen wollte.

Vielleicht hatte Mendeln ja genau darauf angespielt. Vielleicht war seinem Bruder ebenfalls die unterschwellige, aber ausgeprägte dritte Präsenz bewusst gewesen, die weitaus mächtiger war als ein simpler Priester. Eine Präsenz, die ihnen beiden sehr vertraut war.

Und die nur Lilith heißen konnte.