Kommentar zur Logienquelle
Verlag W. Kohlhammer
1. Auflage 2019
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© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
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ISBN 978-3-17-033343-7
E-Book-Formate:
pdf: ISBN 978-3-17-033344-4
epub: ISBN 978-3-17-033345-1
mobi: ISBN 978-3-17-033346-8
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Die Apostelgeschichte ist der zweite Teil des Lukanischen Werkes und will darum mit den gleichen Erwartungen gelesen werden, die schon der Prolog Lk 1,1-4 weckt: Hier schreibt ein gebildetes Mitglied einer zeitgenössischen Bewegung für ein ebenfalls gebildetes interessiertes Publikum. Es geht um die Geschichte Gottes mit Israel, die mit Jesus von Nazareth in eine kritische Phase geraten ist, und um die damit entstandene Jesusbewegung und deren Ausbreitung.
Der Stoff soll die Lesenden ebenso existenziell ansprechen wie die ersten Hörer und Hörerinnen der berichteten Missionsreden. Eine zeitlich und räumlich flächendeckende Geschichtsschreibung liegt nicht vor, aber der Autor will über ein bloßes Hörensagen hinausführen und verlässliche Auskunft geben.
Dr. Klaus Haacker, Prof. i. R. für Neues Testament und seine Umwelt an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bethel.
Vorwort
Teil I: Einführung zu diesem Kommentar
1. Anfragen an dieses Kommentarprojekt
1.1 Die Existenz der Logienquelle
1.2 Die Frage der Textbasis
1.2.1 Critical Edition of Q
1.2.2 Narratologischer Zugang zur Logienquelle
1.2.3 Konsequenzen für diesen Kommentar
1.2.4 Fluidität des Textes als genuines Merkmal der Logienquelle
1.2.5 Textbasis dieses Kommentars
2. Positionierung innerhalb der Q-Kommentare
2.1 Status Quaestionis
2.2 Aliquid Novi?
Teil II: Einleitungsfragen zur Logienquelle
1. Zeit und Ort der Abfassung
1.1 Die Zeit der Abfassung
1.2 Der Ort der Abfassung
2. Die Gemeinde hinter der Logienquelle
2.1 Q und das Frühjudentum
2.2 Die Verfasser der Logienquelle
2.3 Das in Q bewahrte Erbe
2.3.1 Die Logienquelle als Zeugnis alter Jesustraditionen
2.3.2 Das Erbe der Logienquelle
3. Umfang und Gliederung der Logienquelle
3.1 Abweichungen von der lk Akoluthie
3.1.1 Die Gliederung der CEQ
3.1.2 Abweichungen von der CEQ-Akoluthie
3.2 Textumfang
3.3 Gliederung des Textes
3.4 Der narrative Plot anhand der Gliederung
3.4.1 Erzählkranz 1: Die beiden Hauptdarsteller: Johannes der Täufer und Jesus von Nazaret (Q 3,2b–7,35; 16,16)
3.4.2 Erzählkranz 2: Die Verkündiger: Die Boten des Menschensohnes (Q 9,57–11,13)
3.4.3 Erzählkranz 3: Die Gegner: Dämonen und irdische Gegner (Q 11,14–52; 16,17f)
3.4.4 Erzählkranz 4: Konsequenzen für die Gemeinde: Zuversicht trotz Bedrängnis (Q 12,2–13,21)
3.4.5 Erzählkranz 5: Konsequenzen für die Gegner: Gerichtsworte (Q 13,24–14,23)
3.4.6 Erzählkranz 6: Anweisungen für den Endspurt: Durchhalten bis zur Parusie (Q 14,26–17,6)
3.4.7 Erzählkranz 7: Finale – furioso ma fantastico: Das bevorstehende Ende (Q 17,23–22,30)
3.5 Der narrative Plot anhand Etappen der Heilszeit
3.6 Mündlicher Vortrag und Verschriftlichung
Teil III: Kommentar zur Logienquelle
Titel und Anfang von Q?
Erzählkranz 1: Die beiden Hauptdarsteller: Johannes und Jesus (Q 3,2b–7,35; 16,16)
Erzähleinheit 1: Die Botschaft des Johannes (Q 3,2b-17)
Erzähleinheit 2: Taufe und Bewährung Jesu (Q 3,21f; 4,1–13.16)
Erzähleinheit 3: Jesu programmatische Rede (Q 6,20–49)
Erzähleinheit 4: Der Glaube des heidnischen Hauptmanns (Q 7,1–9)
Erzähleinheit 5: Johannes und Jesus (Q 7,18–35 und 16,16)
Erzählkranz 2: Die Verkündiger: Die Boten des Menschensohnes (Q 9,57–11,13)
Erzähleinheit 1: Radikale Nachfolge (Q 9,57–60)
Erzähleinheit 2: Missionsinstruktion (Q 10,2–16)
Erzähleinheit 3: Besondere Offenbarung des Sohnes (Q 10,21–24)
Erzähleinheit 4: Das vertrauensvolle Gebet der Jünger (Q 11,2b-4.9–13)
Erzählkranz 3: Die Gegner: Dämonen und „diese Generation“ (Q 11,14–52; 16,17f)
Erzähleinheit 1: Der Sieg Jesu über die Dämonen (Q 11,14–26)
Erzähleinheit 2: Das Gericht über „diese Generation“ (Q 11,16.29–32)
Erzähleinheit 3: Das Licht soll leuchten! (Q 11,33–35)
Erzähleinheit 4: Gegen Pharisäer und Schriftgelehrte (Q 16,17f; 11,39–52)
Erzählkranz 4: Konsequenzen für die Gemeinde: Zuversicht trotz Bedrängnis (Q 12,2–13,21)
Erzähleinheit 1: Bekenntnis zu Jesus ohne Furcht (Q 12,2–12)
Erzähleinheit 2: Sucht die Königsherrschaft Gottes! (Q 12,22b-34)
Erzähleinheit 3: Das Kommen des Menschensohnes (Q 12,39–59)
Erzähleinheit 4: Gleichnisse zur Königsherrschaft Gottes (Q 13,18–21)
Erzählkranz 5: Konsequenzen für die Gegner: Gerichtsworte (Q 13,24–14,23)
Erzählkranz 6: Anweisungen für den Endspurt: Die Jünger in Erwartung der Parusie (Q 14,26–17,21)
Erzähleinheit 1: Kompromisslose Nachfolge (Q 14,26–17,2)
Erzähleinheit 2: Vergebung Gottes und untereinander (Q 15,4–10; 17,4)
Erzähleinheit 3: Bäumeversetzender Glaube (Q 17,6)
Erzählkranz 7: Finale – furioso ma fantastico: Das bevorstehende Ende (Q 17,23–22,30)
Erzähleinheit 1: Der Tag des Menschensohnes (Q 17,23–37; 19,12–26)
Erzähleinheit 2: Schlussakkord: Die Stämme Israels richten (Q 22,28.30)
Teil IV: Exkurse
Exkurs 1: Königsherrschaft Gottes, Entmachtung des Satans, Kommen des Menschensohns
1.1 Die Königsherrschaft Gottes
1.1.1 Zum Begriff „Königsherrschaft Gottes“
1.1.2 Biblisch-frühjüdische Verortung
1.2 Die Entmachtung des Satans
1.3 Der Menschensohn
1.4 Die Logienquelle im Kontext dieser Aussagen
1.4.1 Die Erwartung des Täufers
1.4.2 Der Paradigmenwechsel Jesu
1.4.3 Das „Schlüsselerlebnis“ Jesu
1.4.4 Weiterführung und Transformation des Werkes des Täufers
1.4.5 Restitution der prälapsarischen Unversehrtheit der Menschen
1.4.6 Der Menschensohn bei Jesus und in der Logienquelle
Exkurs 2: Der Schriftgebrauch der Logienquelle
2.1 Die heiligen Schriften der Q-Autoren
2.1.1 Fragen zum „Kanon“ der jüdischen „Bibel“
2.1.2 Fragen zu den aramäischen Quellen von Q
2.1.3 Fragen zur sogenannten „Septuaginta“
2.2 Schriftzitate in Q
2.2.1 Direkte und indirekte Zitate
2.2.2 Direkte Zitate in Q
2.2.3 Indirekte Zitate in Q
2.2.4 Auflistung der direkten und indirekten Zitate in Q
2.3 Ergebnisse zum Schriftgebrauch in Q
Exkurs 3: Gottes Option für die Armen und das „gewaltsame Prophetengeschick“
3.1 Gottes Option für die Armen
3.1.1 Die „Armenfrömmigkeit“ im Frühjudentum
3.1.2 Jesu Option für die Armen
3.1.3 Die Option für die Armen in der Logienquelle
3.2 Das „gewaltsame Prophetengeschick“
3.3 Die Textpragmatik der „Armenfrömmigkeit“ und des „gewaltsamen Prophetengeschicks“
Exkurs 4: Apokalyptische Muster in Q
4.1 Das eschatologische Chaos
4.1.1 Die eschatologische Bewährung
4.1.2 „Diese Generation“
4.1.3 Krieg und das Zerbrechen der irdischen Familienbande
4.1.4 Gewalttäter für die Königsherrschaft Gottes
4.2 Der eschatologische Gottesfriede
4.3 Optimismus Jesu vs. Gericht in Q?
Exkurs 5: Gleichnisse und Bildworte in Q
5.1 Grundsätzliches zu den Gleichnissen Jesu
5.1.1 Gleichnisse und der historische Jesus
5.1.2 Gleichnisse in der Logienquelle
5.1.3 Die Botschaft der Q-Gleichnisse
5.2 Doppelbildworte in der Logienquelle
Anhang
Allgemeine Abkürzungen
Weitere Abkürzungen und Zitationsmodus
Literatur
Register
Kommentare zur Logienquelle sind im deutschen Sprachraum Mangelware, in den stehenden Kommentarreihen ist es einzig der Stuttgarter kleine Kommentar (SKK), in dessen Œuvre D. Zeller 1984 einen gerade hundertseitigen Band veröffentlichen konnte. Die Zurückhaltung ist doppelt verständlich: Erstens ist Q ja kein Buch des Neuen Testaments und passt daher auch nicht in die Reihe der Bibelkommentare. Zweitens ist die Logienquelle ja nur ein Rekonstrukt und es stellt sich die berechtigte Frage, wie man einen versweisen Kommentar anhand einer unsicheren Textbasis gestalten will.
Gemäß dem ersten Monitum wurde dieser Kommentar zwar in Anlehnung an Kohlhammers Theologischen Kommentar zum Neuen Testamten erstellt – aber doch extra ordinem publiziert, da ja nicht zum „Neuen Testament“ gehörig.
Dem zweiten Monitum trägt das Faktum Rechnung, dass Kommentare verstärkt dazu übergehen, eher die theologischen Grundlinien zu erfassen als in steinbruchartiger Einzelexegese hängen zu bleiben. Die Grundausrichtung der Reihe ThKNT will nach Eigendefinition auf „die im christlich-jüdischen Gespräch behandelten Themen, den feministisch-theologischen Diskurs sowie sozialgeschichtliche Fragestellungen“1 fokussieren. In allen drei Punkten hat die Logienquelle Bahnbrechendes zu vermitteln: Der Bruch mit dem Judentum war – zumindest nach der hier vertretenen Lesart – noch nicht erfolgt, das soziale „Ur-Habitat“ der galiläischen Jesusbewegung ist noch mit Händen zu greifen und ein gewisser Nachklang des emanzipatorischen Grundimpulses Jesu ist ebenfalls noch zu vernehmen.
Danken möchte ich in erster Linie Herrn Dr. Sebastian Weigert und Herrn Florian Specker vom Verlag Kohlhammer, die mir nicht nur die schöne Idee zu solch einem Kommentar nahegebracht haben, sondern durch ihre unkomplizierte und kompetente Hilfestellung die Arbeit zur Freude gemacht haben! Mein Dank geht auch an Kollegen Christoph Heil, der mir die Datensätze der Q-Studienausgabe zur Verfügung gestellt hat. Danken möchte ich auch meinem Lehrstuhlteam: allen voran Frau Michaela Richter für das gewissenhafte Korrekturlesen und ihre computertechnische Kompetenz; sodann Kathrin Wenzel, Markus Mähler und Lothar Junker für die intensive Literaturrecherche.
Essen, im September 2018 Markus Tiwald
Vorliegender Band ist der nachgeborene Zwilling des 2016 von mir bei Kohlhammer publizierten Bandes Die Logienquelle. Ein Lehrbuch zu Text, Kontext und Theologie der Quelle Q. Wurde dort bereits eine umfassende Einführung in die Logienquelle geboten, so soll dieser Band nun eine Einzelauslegung zum Text selbst bieten.
Da aber beide Bände unabhängig voneinander lesbar sein sollen, bietet auch dieser Band im anschließenden Teil II die obligate Abhandlung der Einleitungsfragen: Wann, wo, von wem und warum wurde die Logienquelle verfasst und wie sind die Grundlinien ihrer Theologie. Dabei sollen diese Punkte resultatorientiert und weniger diskursiv abgehandelt werden: Für die intensivere Diskussion – die das Format dieses Kommentars sprengen würde – kann dann gerne auf den anderen Band rekurriert werden. Ähnliches gilt auch für die (gleich im Anschluss zur Sprache gebrachte) Frage der Textrekonstruktion: Auch hier werden prägnant die anstehenden Fragen geklärt, doch für die Detaildiskussion auf den Parallelband verwiesen.
Die Zweiquellentheorie besagt, dass Mt und Lk bei der Abfassung ihrer Evangelien neben dem MkEv auf eine zweite Quelle, die Logienquelle, zurückgegriffen haben. Der Text dieser Quelle – der uns nicht als Manuskript erhalten geblieben ist –, lässt sich aus dem über den Mk-Stoff hinausgehenden identen Textbestand zwischen MtEv und LkEv rekonstruieren.1 Auch wenn die Existenz der Logienquelle damit nur eine wissenschaftliche Theorie ist, so arbeitet doch ein Großteil der Wissenschaftler mit der Zweiquellentheorie – und damit auch mit der Annahme der Logienquelle. Neuere Untersuchungen, etwa die akribische Habilitationsschrift von H. Scherer (2016), haben ergeben, „dass das Material der Traditio duplex [sc. die postulierte Logienquelle] einen eigenständigen, über mk Jesusrede und mt Sondergut hinausgehenden, in sich sinnvoll vernetzten Entwurf sozialer Identifikationsgrößen bietet – ein Votum zugunsten der These, dass dieses Material aus einem eigenständigen, Mt und Lk gemeinsamen Dokument erwachsen ist.“2 Das deckt sich mit etlichen anderen rezenten Studien, die zur „Synoptischen Frage“ oder zur Thematik der Logienquelle durchgeführt wurden. A. Lindemann kommt nach Auswertung dieser Publikationen zum Schluss, „dass sich mit der Q-Hypothese nicht nur sinnvoll arbeiten lässt, sondern dass die Q-Hypothese auch ohne komplizierte Zusatzannahmen zu einem nachvollziehbaren Bild der urchristlichen Theologie und Literaturgeschichte beiträgt.“3 – Da (bei allen berechtigten noch verbleibenden Fragen4) an der grundsätzlichen Annahme einer „Logienquelle“ m.E. kein Weg vorbeiführt, scheint es auch legitim, einen Kommentar zu selbiger zu verfassen.
Gravierender als prinzipielle Einwände gegen die Logienquelle ist die Frage, wie man einen versweisen Kommentar verfassen kann, wenn die materia prima, also der Text der Logienquelle lediglich als Rekonstrukt vorhanden ist. So berechtigt dieser Einwand auch per se sein mag, so verunmöglicht er das Projekt eines Q-Kommentars dennoch nicht, wie folgende Ausführungen erklären mögen.
Im Jahr 2000 erschien die Critical Edition of Q (CEQ), herausgegeben von J. M. Robinson, P. Hoffmann, J. S. Kloppenborg und M. Moreland als Ertrag des 1989 gegründeten Internationalen Q-Projekts (IQP).5 Dabei wurde „ein insgesamt eher ‚konservativer‘ Q-Text hergestellt, der frei ist von extravaganten Spekulationen.“6 In den in Verbindung mit diesem Projekt zu erstellenden Documenta Q-Bänden wird zu jeder fraglichen Rekonstruktion in insgesamt 32 Bänden (wovon zwölf bereits erschienen sind) die gesamte Forschungsliteratur aus drei Jahrhunderten (19. bis 21. Jh.) aufgelistet und ausgewertet.
Auch wenn die CEQ zwar eine solide Textbasis liefert, so stellt auch sie nicht das letzte Wort der Textrekonstruktion dar. „Damit ist jedoch ähnlich wie beim ‚Nestle-Aland‘ nur eine Momentaufnahme gegeben, und es ist damit zu rechnen, daß es wie beim ‚Standardtext‘ des griechischen Neuen Testaments auch beim neuen Standardtext von Q zu weiteren revidierten Auflagen kommt.“7 Ganz in diesem Sinne urteilt auch J. Robinson im Vorwort der CEQ (lxxi): „It is not to be assumed that the present critical text is a last word. … The … present volume … is intended to facilitate the study of Q, and thus to stimulate this ongoing process. … It is thus to be hoped that the refinement of the text of Q will continue unabated …“
Groß angelegte narratologische Studien haben gerade in letzter Zeit eindeutig widerlegt, dass die Logienquelle nur eine „Materialsammlung“ und „nicht ein literarisches Dokument“ gewesen sei; „ein größeres Notizbuch“, das „jederzeit einen Einschub von neuen Blättern“ zuließ, aber keine innere Ordnung besaß.8 Es ist das große Verdienst der Habilitationsschrift von M. Labahn Der Gekommene als Wiederkommender. Die Logienquelle als erzählte Geschichte (2010), klar gemacht zu haben, dass „das Dokument Q … mehr als eine zufällige Aneinanderreihung von Sprüchen“9 darstellt, wie dies etwa beim Thomasevangelium der Fall ist, und, „dass Q eine innere Struktur – einen plot – hat.“10 Auch wenn Q hauptsächlich aus Redematerial besteht, so eröffnet sich gerade in dieser „Erzählung des Redens“ ein Stück „narrativer Sinnbildung“.11 Man darf also von einer „argumentativen Geschlossenheit des Werkes“12 ausgehen! Gestützt auf solche Überlegungen zieht der Mainzer Ansatz zur Metaphorik und Narratologie in der Logienquelle (2014) im Team um R. Zimmermann nun Konsequenzen für die weitere Arbeit mit Q:13
… how exactly can one consider or work with a text, which does not exist, or to put it more precisely, which does not exist as a manuscript? … Is there a way to analyse a text without having the exact wording? … Here, the analysis of metaphors and narrative criticism has proven itself useful in many fields. … Even if the Q text cannot be reconstructed with absolute certainty from the readings in Matthew and Luke, it is possible to make plausible statements about its composition.
Dieser Ansatz wird von A. Bork Die Raumsemantik und Figurensemantik der Logienquelle (2015) weitergeführt als:14
… ein intertextueller Zugang zum Q-Text …, der nicht mehr danach strebt, eine Wortlautrekonstruktion des Q-Textes … zu erarbeiten, sondern durch intertextuelle Rückschlüsse auf die von Matthäus und Lukas verwendete Quelle zulässt. Q wird also als Intertext zwischen Matthäus- und Lukasevangelium aufgefasst, ohne dass die Notwendigkeit einer wortgetreuen (Re-)Konstruktion besteht.
So hatte schon J. Kloppenborg (2000) solch einem Zugang den Weg geebnet:15
… it must be kept in mind that there is already in the double tradition approximately 50 percent verbal agreement even if it is still sometimes necessary to decide the syntax of the sentence. For example, in Q 15:4 … This text is typical. It illustrates the fact that disagreement in vocabulary notwithstanding, the general sense of the Q text is clear.
Zu ähnlichen Resultaten kommt auch H. Scherer Königsvolk und Gotteskinder (2016), nämlich, „dass das Material der Traditio duplex einen eigenständigen … in sich sinnvoll vernetzten Entwurf sozialer Identifikationsgrößen bietet …“16
Für vorliegenden Kommentar bedeutet der narratologische Zugang zur Logienquelle, dass die Sinnstruktur von Q erfasst werden kann, auch ohne einen in allen Details fixierten Text zu besitzen. Einen verlässlichen „Basistext“ hat die CEQ dankenswerter Weise erstellt. Auch wenn dieser Text – nach eigenem Bekunden der Herausgeber der CEQ (s.o.) – nicht den „Originaltext“ von Q darstellen kann, so bietet diese Grundlage doch ein ausreichendes instrumentum laboris für einen narratologischen Zugang zur Logienquelle.
Wichtig scheint dem Autor dieses Kommentars dabei eine ausgewogene Mischung von text- und kontextorientierter Exegese einerseits in Verbindung mit den narratologischen Erträgen andererseits: 1) Die Frage der Textrekonstruktion wird nicht völlig aufgegeben, steht aber nicht mehr dominant im Vordergrund. 2) Auch dem soziologischen Hintergrund der Logienquelle wird in diesem Kommentar ausreichend Respekt gezollt. Damit wird den beiden Kritikpunkten von H. Scherer am Mainzer Ansatz Rechnung getragen: 1) Dass ein völliges Abgehen vom rekonstruierten Text „die tatsächlich vorhandenen Daten mit unbewussten narrativen Eintragungen“ verfremden könnte, und 2) dass sich dieser Ansatz „distanziert … von einer den kulturellen Kontext berücksichtigenden Herangehensweise an die Texte zugunsten einer narrativen, die in der Textwelt verbleibt.“17 Beiden Monita soll hier Rechnung getragen werden: 1) Die CEQ bietet eine probate Textbasis, die es erlaubt, auf langwierige Einzelrekonstruktionen und linguistische Beckmesserei zu verzichten und trotzdem den narrativen Plot erkennen zu können. 2) Gerade die soziokulturelle Verortung der Logienquelle im damaligen Frühjudentum darf als besonderes Anliegen des Autors gelten und wird in diesem Kommentar gewiss nicht zu kurz kommen.18
Nicht zu vergessen ist, dass die Logienquelle in den dreißig Jahren ihres Wachstums unterschiedliche Entwicklungsstadien durchlaufen hat.19 Vielleicht darf man mit G. Theißen sogar annehmen, dass erste mündliche Spruchsammlungen Jesu schon zu Lebzeiten des Meisters existierten: „Jesus schickte seine Jünger auf Wandermission. Seine Jünger mussten seine Botschaft an mehreren Orten wiederholen! Ein paar mündlich vorgegebene Texte müssen sie dazu mitgebracht haben, die sich ihnen durch Wiederholung einprägten!“20 Bald nach dem Tod Jesu führten seine Jünger dessen Predigtpraxis fort – und modifizierten ihre Vorträge je nach Publikum.
Als die Logienquelle um 60 n. Chr. schriftlich abgefasst wurde, endete damit die Phase der oralen Fluidität keineswegs – moderne Ansätze rechnen mit dem Phänomen der secondary orality, also einer zur schriftlichen Überlieferung parallel weiterlaufenden mündlichen Tradition.21 Wir dürfen nicht vergessen, dass die meisten Menschen damals Analphabeten waren und auch des Lesens Kundige zumeist auswendig rezitierten, da Schriften sehr teuer waren und aufgrund ihrer sperrigen Form auch schwer zu transportieren. Zu Recht verweist Ch. Heil darauf, dass auch nach der Verschriftlichung von Texten „nicht … die wortwörtliche Wiederholung eines kanonischen Textes …, sondern … die inspirierte, emphatische Aufführung“22 im Mittelpunkt stand. Damit wird klar: „Manche Varianten in der Textüberlieferung gehen dann nicht auf unabsichtliche Abschreibfehler oder absichtliche Redaktionen zurück, sondern auf Varianten in der mündlichen Überlieferung.“23 – Der zuvor erwähnte narratologische Zugang zur Logienquelle ist damit nicht nur eine Verlegenheitslösung (sozusagen faute de mieux), sondern (bedacht mit den oben genannten Monita) vielmehr als der einzig „artgerechte“ Zugang zur Logienquelle zu betrachten.
Die griechische Textgrundlage der CEQ gilt diesem Kommentar als Richtschnur. In einigen Ausnahmen (die im Kommentar eine ausdrückliche Begründung finden) wurde eine andere griechische Textbasis zugrunde gelegt (die CEQ stellt ja keinen fertigen Text, sondern bestimmte Wahrscheinlichkeiten pro et contra einer Lesart zur Verfügung).
Anhand dieses griechischen Textes wurde vom Verfasser eine eigene deutsche Übersetzung erstellt.24 Diese wurde von textkritischen Zeichen freigehalten: Erstens würden diese den Lesefluss erschweren. Zweitens stehen – nach dem oben skizzierten narrativen Ansatz – nicht detailgenaue Rekonstruktionsversuche, sondern die Sinnlinien des Textes im Fokus der Untersuchung. Drittens können allzu große Subtilitäten des griechischen Textes ohnehin in der deutschen Übersetzung nicht adäquat wiedergegeben werden.
Der Verfasser dieses Kommentares möchte ausdrücklich darauf hinweisen, dass eine Textbasis ohne textkritische Zeichen nicht die Illusion wecken darf, wir wären im wortwörtlichen Besitz der Logienquelle. Allerdings sollte die Möglichkeit geboten werden, den Text (abseits von textkritischen Einzelanalysen) als ein in sich stimmiges Sinnkontinuum zu erfassen: einen Text, dessen Aussage wir – trotz aller Unsicherheiten der Rekonstruktionen – einigermaßen gut verstehen und nachvollziehen können.
Ein solches Kommentarprojekt muss sich natürlich auch die Frage nach dem aliquid novi – dem Neuheitswert – gefallen lassen. Wie schon im Vorwort angemerkt, ist die Zahl der Kommentare zur Logienquelle im deutschen Sprachraum leicht überschaubar: Einzig D. Zeller (1984 im Stuttgarter kleinen Kommentar, SKK) hat einen solchen Kommentar verfasst – die Notwendigkeit eines updates leuchtet ein.25
Im englischsprachigen Raum gibt es diesen Mangel allerdings nicht: H. Fleddermann, hat erst 2005 Q: A Reconstruction and Commentary publiziert, im gleichen Jahr R. Valantasis, The New Q: A Fresh Translation with Commentary. Der akribische und umfangreiche Kommentar von Fleddermann stellt mit seinen fast tausend Seiten tatsächlich einen Meilenstein der Q-Forschung dar. Zwei massive Schwächen dieses monumentalen Werkes beeinträchtigen den Wert dieses opus magnum: Erstens vertritt Fleddermann die eigenwillige These, „that Mark knew and used Q“;26 zweitens die ebenfalls singuläre Annahme, „that the background of Q lies in gentile Christianity“,27 denn: „From start to finish Q reads like a gentile Christian gospel.“28 Während die These der Abhängigkeit des Mk von Q für den Kommentar Fleddermanns geringere Konsequenzen zeitigt, so führt ihn die Annahme, „that the author of Q was a gentile Christian writing for other gentile Christians“,29 zu einer gewissen Schieflage in der Interpretation – zumal gerade die neuere Forschung immer stärker auf die jüdische Matrix der Logienquelle verweist (s.u. II.2.1: Q und das Frühjudentum). Verbunden damit etwa bestreitet Fleddermann kategorisch, dass in Q noch altes Lokalkolorit der Jesusbewegung durchschimmern könnte. Für ihn sind „the characters of Q, including Jesus, … literary figures“ und damit „literary constructs“,30 die keinen Konnex mehr zum historischen Jesus oder zu dessen galiläischen Nachfolgern aufweisen. Damit aber gießt Fleddermann das Kind mit dem Bade aus: Auch wenn Q tatsächlich nicht unkritisch zum „O-Ton“ Jesu verzeichnet werden darf, so geht die überwiegende Mehrheit der Forscher doch davon aus, dass Q und das MkEv „als wichtigste Zeugnisse für die Rekonstruktion des historischen Jesus“31 zu gelten haben (s.u. II. 2.3: Tradition und Redaktion: Das in Q bewahrte Erbe). Darüber hinaus wendet Fleddermann den Großteil seiner Energie für Fragen der Q-Rekonstruktion auf – die eigentliche Arbeit eines „Kommentars“ – nämlich die am Text entlanggehende Exegese – gerät dabei trotz der Monumentalität des Werkes ein wenig zu kurz.
Anders verhält es sich mit dem Kommentar von Valantasis. Leider verzichtet dieser Band nicht nur völlig auf Referenzen jeglicher Art (kein Verweis auf Sekundärliteratur, Fehlen jeglicher Form von Anmerkungen), sondern bietet auch keine zeitliche, örtliche und theologische Kontextuierung der Logienquelle (also keine Abklärung der „Einleitungsfragen“). Beides lässt die Auslegung dann ein wenig in der Luft hängen und etliche Interpretationen phantasievoll erscheinen.32
Neben den hier genannten Kommentaren gibt es allerdings auch eine Reihe von exzellenten Publikationen, die zwar dem Genus „Kommentar“ nicht in sensu stricto zuzuordnen sind, aber dennoch viele Perikopen aus Q analysieren: Im englischsprachigen Raum sei hier auf die grundlegenden Arbeiten von J. Kloppenborg und Ch. Tuckett verwiesen. Beide haben über einen Zeitraum von fast vierzig Jahren intensiv zur Logienquelle geforscht und nicht nur ein immenses literarisches Œuvre geschaffen, sondern durch ihre Studien die Einschätzung der Logienquelle als ein noch immer im Frühjudentum verankertes Dokument möglich gemacht. Ihnen dankt der Autor dieses Kommentars viel und möchte sein Werk bewusst als Weiterführung ihrer Ansätze verstanden wissen. Gleiches gilt für die zahlreichen Publikationen zu Q und zur Synoptischen Frage von J. Verheyden und P. Foster, die für die Entstehung dieses Kommentars ebenfalls ausgesprochen hilfreich waren.
Im deutschsprachigen Raum ist an dieser Stelle zu verweisen auf die narratologische Studie von M. Labahn Der Gekommene als Wiederkommender. Die Logienquelle als erzählte Geschichte (2010), oder die von R. Zimmermann und seinem Team herausgebrachten Publikationen: Kompendium der Gleichnisse Jesu (2007; vgl. dort die Q-Gleichnisse), Metaphor, Narrative, and Parables in Q (2014), Puzzling the Parables of Jesus. Methods and Interpretation (2015); A. Bork Die Raumsemantik und Figurensemantik der Logienquelle (2015) und D. Roth The Parables in Q (2018). Besondere Erwähnung verdient hier auch die soziologisch-überlieferungsgeschichtliche Studie von H. Scherer Königsvolk und Gotteskinder. Der Entwurf der sozialen Welt im Material der Traditio duplex (2016) oder M. Ebner Jesus – ein Weisheitslehrer? (1998). Der Frage, was Mt und Lk ihrer Q-Vorlage entnommen haben und wie sie dabei vorgegangen sind, wird detailliert in den beiden Monographien von Ch. Heil Lukas und Q (2003) und M. Hölscher Matthäus liest Q (2017) nachgegangen. Eine wichtige Grundlage für diesen Kommentar stellen natürlich auch die Arbeiten von P. Hoffmann, dem „Altmeister“ der Q-Forschung im deutschen Sprachraum dar. Stellvertretend für sein reiches Œuvre zu Q sei nur auf seine Mitarbeit an der Critical Edition of Q, seine mit Ch. Heil herausgegebene Studienausgabe zur Logienquelle und seine Studien zur Theologie der Logienquelle (31983, Erstauflage 1972) verwiesen. Sehr wichtig war aber auch, die von Ch. Heil edierte Reihe der Documenta Q Bände in Fragen der Q-Rekonstruktion konsultieren zu können, sowie alle anderen zahlreichen Beiträge von Ch. Heil zur Erforschung der Logienquelle.
An älterer Literatur, die hier auch eingearbeitet wurde, sei genannt: E. Sevenich-Bax Israels Konfrontation mit dem letzten Boten der Weisheit. Form, Funktion und Interdependenz der Weisheitselemente in der Logienquelle (1993) und D. Kosch Die eschatologische Tora des Menschensohnes. Untersuchungen zur Rezeption der Stellung Jesu zur Tora in Q (1989). In beiden Werken wird ein Durchgang des Q-Materials angestellt, wobei allerdings die Frage der Textrekonstruktion zumeist eine größere Rolle spielt, als die Auslegung der Passagen.
Der vorliegende Kommentar entstand also nicht im luftleeren Raum – allen hier zitierten „Fellow Q-bies“ sei herzlich gedankt! Der Verfasser dieses Buches sieht den Neuheitswert dieses Kommentars nicht zuletzt gemäß seinem Forschungsschwerpunkt in der Frage nach dem Parting of the Ways, der Frage, wann sich die Wege von Judentum und Christentum geschieden haben.33 Dieser Forschungsdiskurs hat ja in den letzten Jahren beachtlich an Dynamik gewonnen. Jüngere Publikationen erkennen vermehrt, dass das Parting of the Ways nicht die Angelegenheit eines bestimmten Moments der Geschichte, sondern ein sehr lange dauernder Prozess war, der nicht in allen Gemeinden zu derselben Zeit und in derselben Weise ablief.34 Wenn man mit M. Konradt das MtEv „ohne weiteres noch im Rahmen eines innerjüdischen Differenzierungsprozesses auffassen“ möchte, sodass „das Judentum den primären Lebenskontext der mt Gemeinde bildet“35 – so gilt das a fortiori natürlich auch für die Logienquelle.36 Gerade für sie ist anzunehmen – um die Worte von M. Ebner zu gebrauchen –, dass sie noch „von einer intakten jüdischen Matrix aus zu lesen und zu verstehen ist.“37 Daher wird die Logienquelle zu einem wichtigen Dokument des sich entwickelnden Christentums, das als missing link zwischen Jesus, dem Juden, und der späteren christlichen Kirche zu verstehen ist.