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Robert Musil

Die Verwirrungen des Zöglings Törless

Robert Musil

Die Verwirrungen des Zöglings Törless

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
1. Auflage, ISBN 978-3-962816-50-6

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Die Verwirrungen des Zöglings Törless

Eine klei­ne Sta­ti­on an der Stre­cke, wel­che nach Russ­land führt.

End­los ge­ra­de lie­fen vier par­al­le­le Ei­sen­strän­ge nach bei­den Sei­ten zwi­schen dem gel­ben Kies des brei­ten Fahr­dam­mes; ne­ben je­dem wie ein schmut­zi­ger Schat­ten der dunkle, von dem Ab­damp­fe in den Bo­den ge­brann­te Strich.

Hin­ter dem nie­de­ren, öl­ge­stri­che­nen Sta­ti­ons­ge­bäu­de führ­te eine brei­te, aus­ge­fah­re­ne Stra­ße zur Bahn­hofs­ram­pe her­auf. Ihre Rän­der ver­lo­ren sich in dem rings­um zer­tre­te­nen Bo­den und wa­ren nur an zwei Rei­hen Aka­zi­en­bäu­men kennt­lich, die trau­rig mit ver­durs­te­ten, von Staub und Ruß er­dros­sel­ten Blät­tern zu bei­den Sei­ten stan­den.

Mach­ten es die­se trau­ri­gen Far­ben, mach­te es das blei­che, kraft­lo­se, durch den Dunst er­mü­de­te Licht der Nach­mit­tags­son­ne: Ge­gen­stän­de und Men­schen hat­ten et­was Gleich­gül­ti­ges, Leb­lo­ses, Mecha­ni­sches an sich, als sei­en sie aus der Sze­ne ei­nes Pup­pen­thea­ters ge­nom­men. Von Zeit zu Zeit, in glei­chen In­ter­val­len, trat der Bahn­hofs­vor­stand aus sei­nem Amts­zim­mer her­aus, sah mit der glei­chen Wen­dung des Kop­fes die wei­te Stre­cke hin­auf nach den Si­gna­len der Wächt­er­häus­chen, die im­mer noch nicht das Na­hen des Eil­zu­ges an­zei­gen woll­ten, der an der Gren­ze große Ver­spä­tung er­lit­ten hat­te; mit ein und der­sel­ben Be­we­gung des Ar­mes zog er so­dann sei­ne Ta­schen­uhr her­vor, schüt­tel­te den Kopf und ver­schwand wie­der; so wie die Fi­gu­ren kom­men und ge­hen, die aus al­ten Turm­uh­ren tre­ten, wenn die Stun­de voll ist.

Auf dem brei­ten, fest­ge­stampf­ten Strei­fen zwi­schen Schie­nen­strang und Ge­bäu­de pro­me­nier­te eine hei­te­re Ge­sell­schaft jun­ger Leu­te, links und rechts ei­nes äl­te­ren Ehe­paa­res schrei­tend, das den Mit­tel­punkt der et­was lau­ten Un­ter­hal­tung bil­de­te. Aber auch die Fröh­lich­keit die­ser Grup­pe war kei­ne rech­te; der Lärm des lus­ti­gen La­chens schi­en schon auf we­ni­ge Schrit­te zu ver­stum­men, gleich­sam an ei­nem zä­hen, un­sicht­ba­ren Wi­der­stan­de zu Bo­den zu sin­ken.

Frau Ho­frat Tör­less, dies war die Dame von viel­leicht vier­zig Jah­ren, ver­barg hin­ter ih­rem dich­ten Schlei­er trau­ri­ge, vom Wei­nen ein we­nig ge­röte­te Au­gen. Es galt Ab­schied zu neh­men. Und es fiel ihr schwer, ihr ein­zi­ges Kind nun wie­der auf so lan­ge Zeit un­ter frem­den Leu­ten las­sen zu müs­sen, ohne Mög­lich­keit, selbst schüt­zend über ih­ren Lieb­ling zu wa­chen.

Denn die klei­ne Stadt lag weit­ab von der Re­si­denz, im Os­ten des Rei­ches, in spär­lich be­sie­del­tem, tro­ckenem Acker­land.

Der Grund, des­sent­we­gen Frau Tör­less es dul­den muss­te, ih­ren Jun­gen in so fer­ner, un­wirt­li­cher Frem­de zu wis­sen, war, dass sich in die­ser Stadt ein be­rühm­tes Kon­vikt be­fand, wel­ches man schon seit dem vo­ri­gen Jahr­hun­der­te, wo es auf dem Bo­den ei­ner from­men Stif­tung er­rich­tet wor­den war, da drau­ßen beließ, wohl um die auf­wach­sen­de Ju­gend vor den ver­derb­li­chen Ein­flüs­sen ei­ner Groß­stadt zu be­wah­ren.

Denn hier er­hiel­ten die Söh­ne der bes­ten Fa­mi­li­en des Lan­des ihre Aus­bil­dung, um nach Ver­las­sen des In­sti­tu­tes die Hoch­schu­le zu be­zie­hen oder in den Mi­li­tär- oder Staats­dienst ein­zu­tre­ten, und in al­len die­sen Fäl­len so­wie für den Ver­kehr in den Krei­sen der gu­ten Ge­sell­schaft galt es als be­son­de­re Emp­feh­lung, im Kon­vik­te zu W. auf­ge­wach­sen zu sein.

Vor vier Jah­ren hat­te dies das El­tern­paar Tör­less be­wo­gen, dem ehr­gei­zi­gen Drän­gen sei­nes Kna­ben nach­zu­ge­ben und sei­ne Auf­nah­me in das In­sti­tut zu er­wir­ken.

Die­ser Ent­schluss hat­te spä­ter vie­le Trä­nen ge­kos­tet. Denn fast seit dem Au­gen­bli­cke, da sich das Tor des In­sti­tu­tes un­wi­der­ruf­lich hin­ter ihm ge­schlos­sen hat­te, litt der klei­ne Tör­less an fürch­ter­li­chem, lei­den­schaft­li­chem Heim­weh. We­der die Un­ter­richts­stun­den, noch die Spie­le auf den großen üp­pi­gen Wie­sen des Par­kes, noch die an­de­ren Zer­streu­un­gen, die das Kon­vikt sei­nen Zög­lin­gen bot, ver­moch­ten ihn zu fes­seln; er be­tei­lig­te sich kaum an ih­nen. Er sah al­les nur wie durch einen Schlei­er und hat­te selbst un­ter­tags häu­fig Mühe, ein hart­nä­cki­ges Schluch­zen hin­ab­zu­wür­gen; des Abends schlief er aber stets un­ter Trä­nen ein.

Er schrieb Brie­fe nach Hau­se, bei­na­he täg­lich, und er leb­te nur in die­sen Brie­fen; al­les an­de­re, was er tat, schi­en ihm nur ein schat­ten­haf­tes, be­deu­tungs­lo­ses Ge­sche­hen zu sein, gleich­gül­ti­ge Sta­tio­nen wie die Stun­den­zif­fern ei­nes Uhr­blat­tes. Wenn er aber schrieb, fühl­te er et­was Aus­zeich­nen­des, Ex­klu­si­ves in sich; wie eine In­sel voll wun­der­ba­rer Son­nen und Far­ben hob sich et­was in ihm aus dem Mee­re grau­er Emp­fin­dun­gen her­aus, das ihn Tag um Tag kalt und gleich­gül­tig um­dräng­te. Und wenn er un­ter­tags, bei den Spie­len oder im Un­ter­rich­te, dar­an dach­te, dass er abends sei­nen Brief schrei­ben wer­de, so war ihm, als trü­ge er an un­sicht­ba­rer Ket­te einen gol­de­nen Schlüs­sel ver­bor­gen, mit dem er, wenn es nie­mand sieht, das Tor von wun­der­ba­ren Gär­ten öff­nen wer­de.

Das Merk­wür­di­ge dar­an war, dass die­se jähe, ver­zeh­ren­de Hin­nei­gung zu sei­nen El­tern für ihn selbst et­was Neu­es und Be­frem­den­des hat­te. Er hat­te sie vor­her nicht ge­ahnt, er war gern und frei­wil­lig ins In­sti­tut ge­gan­gen, ja er hat­te ge­lacht, als sich sei­ne Mut­ter beim ers­ten Ab­schied vor Trä­nen nicht fas­sen konn­te, und dann erst, nach­dem er schon ei­ni­ge Tage al­lein ge­we­sen war und sich ver­hält­nis­mä­ßig wohl be­fun­den hat­te, brach es plötz­lich und ele­men­tar in ihm em­por.

Er hielt es für Heim­weh, für Ver­lan­gen nach sei­nen El­tern. In Wirk­lich­keit war es aber et­was viel Un­be­stimm­te­res und Zu­sam­men­ge­setz­te­res. Denn der »Ge­gen­stand die­ser Sehn­sucht«, das Bild sei­ner El­tern, war dar­in ei­gent­lich gar nicht mehr ent­hal­ten. Ich mei­ne die­se ge­wis­se plas­ti­sche, nicht bloß ge­dächt­nis­mä­ßi­ge, son­dern kör­per­li­che Erin­ne­rung an eine ge­lieb­te Per­son, die zu al­len Sin­nen spricht und in al­len Sin­nen be­wahrt wird, so­dass man nichts tun kann, ohne schwei­gend und un­sicht­bar den an­de­ren zur Sei­te zu füh­len. Die­se ver­klang bald wie eine Re­so­nanz, die nur noch eine Wei­le fort­ge­zit­tert hat­te. Tör­less konn­te sich da­mals bei­spiels­wei­se nicht mehr das Bild sei­ner »lie­ben, lie­ben El­tern« – der­ma­ßen sprach er es meist vor sich hin – vor Au­gen zau­bern. Ver­such­te er es, so kam an des­sen Stel­le der gren­zen­lo­se Schmerz in ihm em­por, des­sen Sehn­sucht ihn züch­tig­te und ihn doch ei­gen­wil­lig fest­hielt, weil ihre hei­ßen Flam­men ihn zu­gleich schmerz­ten und ent­zück­ten. Der Ge­dan­ke an sei­ne El­tern wur­de ihm hie­bei mehr und mehr zu ei­ner blo­ßen Ge­le­gen­heits­ur­sa­che, die­ses egois­ti­sche Lei­den in sich zu er­zeu­gen, das ihn in sei­nen wol­lüs­ti­gen Stolz ein­schloss wie in die Ab­ge­schie­den­heit ei­ner Ka­pel­le, in der von hun­dert flam­men­den Ker­zen und von hun­dert Au­gen hei­li­ger Bil­der Weih­rauch zwi­schen die Schmer­zen der sich selbst Gei­ßeln­den ge­streut wird. – – –

Als dann sein »Heim­weh« we­ni­ger hef­tig wur­de und sich all­ge­mach ver­lor, zeig­te sich die­se sei­ne Art auch ziem­lich deut­lich. Sein Ver­schwin­den führ­te nicht eine end­lich er­war­te­te Zufrie­den­heit nach sich, son­dern ließ in der See­le des jun­gen Tör­less eine Lee­re zu­rück. Und an die­sem Nichts, an die­sem Un­aus­ge­füll­ten in sich er­kann­te er, dass es nicht eine blo­ße Sehn­sucht ge­we­sen war, die ihm ab­han­den kam, son­dern et­was Po­si­ti­ves, eine see­li­sche Kraft, et­was, das sich in ihm un­ter dem Vor­wand des Schmer­zes aus­ge­blüht hat­te.

Nun aber war es vor­bei, und die­se Quel­le ei­ner ers­ten hö­he­ren Se­lig­keit hat­te sich ihm erst durch ihr Ver­sie­gen fühl­bar ge­macht.

Zu die­ser Zeit ver­lo­ren sich die lei­den­schaft­li­chen Spu­ren der im Er­wa­chen ge­we­se­nen See­le wie­der aus sei­nen Brie­fen, und an ihre Stel­le tra­ten aus­führ­li­che Be­schrei­bun­gen des Le­bens im In­sti­tu­te und der neu­ge­won­ne­nen Freun­de.

Er selbst fühl­te sich da­bei ver­armt und kahl, wie ein Bäum­chen, das nach der noch frucht­lo­sen Blü­te den ers­ten Win­ter er­lebt.

Sei­ne El­tern aber wa­ren es zu­frie­den. Sie lieb­ten ihn mit ei­ner star­ken, ge­dan­ken­lo­sen, tie­ri­schen Zärt­lich­keit. Je­des Mal, wenn er vom Kon­vik­te Fe­ri­en be­kom­men hat­te, er­schi­en der Ho­frä­tin nach­her ihr Haus von Neu­em leer und aus­ge­stor­ben, und noch ei­ni­ge Tage nach je­dem sol­chen Be­su­che ging sie mit Trä­nen in den Au­gen durch die Zim­mer, da und dort einen Ge­gen­stand lieb­ko­send be­rüh­rend, auf dem das Auge des Kna­ben ge­ruht oder den sei­ne Fin­ger ge­hal­ten hat­ten. Und bei­de hät­ten sie sich für ihn in Stücke rei­ßen las­sen.

Die un­be­hol­fe­ne Rüh­rung und lei­den­schaft­li­che, trot­zi­ge Trau­er sei­ner Brie­fe be­schäf­tig­te sie schmerz­lich und ver­setz­te sie in einen Zu­stand hoch­ge­spann­ter Emp­find­sam­keit; der hei­te­re, zu­frie­de­ne Leicht­sinn, der dar­auf folg­te, mach­te auch sie wie­der froh, und in dem Ge­füh­le, dass da­durch eine Kri­se über­wun­den wor­den sei, un­ter­stütz­ten sie ihn nach Kräf­ten.

We­der in dem einen noch in dem an­de­ren er­kann­ten sie das Sym­ptom ei­ner be­stimm­ten see­li­schen Ent­wick­lung, viel­mehr hat­ten sie Schmerz und Be­ru­hi­gung glei­cher­ma­ßen als eine na­tür­li­che Fol­ge der ge­ge­be­nen Ver­hält­nis­se hin­ge­nom­men. Dass es der ers­te, miss­glück­te Ver­such des jun­gen, auf sich selbst ge­stell­ten Men­schen ge­we­sen war, die Kräf­te des In­ne­ren zu ent­fal­ten, ent­ging ih­nen.

*

Tör­less fühl­te sich nun sehr un­zu­frie­den und tas­te­te da und dort ver­geb­lich nach et­was Neu­em, das ihm als Stüt­ze hät­te die­nen kön­nen.

*

Eine Epi­so­de die­ser Zeit war für das cha­rak­te­ris­tisch, was sich da­mals in Tör­less zu spä­te­rer Ent­wick­lung vor­be­rei­te­te.

Ei­nes Ta­ges war näm­lich der jun­ge Fürst H. ins In­sti­tut ein­ge­tre­ten, der aus ei­nem der ein­fluss­reichs­ten, äl­tes­ten und kon­ser­va­tivs­ten Adels­ge­schlech­ter des Rei­ches stamm­te.

Alle an­de­ren fan­den sei­ne sanf­ten Au­gen fad und af­fek­tiert; die Art und Wei­se, wie er im Ste­hen die eine Hüf­te her­aus­drück­te und beim Spre­chen lang­sam mit den Fin­gern spiel­te, ver­lach­ten sie als wei­bisch. Be­son­ders aber spot­te­ten sie dar­über, dass er nicht von sei­nen El­tern ins Kon­vikt ge­bracht wor­den war, son­dern von sei­nem bis­he­ri­gen Er­zie­her, ei­nem doc­tor theo­lo­giae und Or­dens­geist­li­chen.

Tör­less aber hat­te vom ers­ten Au­gen­bli­cke an einen star­ken Ein­druck emp­fan­gen. Vi­el­leicht wirk­te da­bei der Um­stand mit, dass es ein hof­fä­hi­ger Prinz war, je­den­falls war es aber auch eine an­de­re Art Mensch, die er da ken­nen lern­te.

Das Schwei­gen ei­nes al­ten Lan­de­del­schlos­ses und from­mer Übun­gen schi­en ir­gend­wie noch an ihm zu haf­ten. Wenn er ging, so ge­sch­ah es mit wei­chen, ge­schmei­di­gen Be­we­gun­gen, mit die­sem et­was schüch­ter­nen Sich­zu­sam­men­zie­hen und Schmal­ma­chen, das der Ge­wohn­heit ei­gen ist, auf­recht durch die Flucht lee­rer Säle zu schrei­ten, wo ein an­de­rer an hun­dert un­sicht­ba­ren Ecken des lee­ren Rau­mes schwer an­zu­ren­nen scheint.

Der Um­gang mit dem Prin­zen wur­de so zur Quel­le ei­nes fei­nen psy­cho­lo­gi­schen Ge­nus­ses für Tör­less. Er bahn­te in ihm jene Art Men­schen­kennt­nis an, die es lehrt, einen an­de­ren nach dem Fall der Stim­me, nach der Art, wie er et­was in die Hand nimmt, ja selbst nach dem Tim­bre sei­nes Schwei­gens und dem Aus­druck der kör­per­li­chen Hal­tung, mit der er sich in einen Raum fügt, kurz nach die­ser be­weg­li­chen, kaum greif­ba­ren und doch erst ei­gent­li­chen, vol­len Art, et­was See­lisch-Men­sch­li­ches zu sein, die um den Kern, das Greif- und Be­sprech­ba­re, wie um ein blo­ßes Ske­lett her­um­ge­la­gert ist, so zu er­ken­nen und zu ge­nie­ßen, dass man die geis­ti­ge Per­sön­lich­keit da­bei vor­weg­nimmt.

Tör­less leb­te wäh­rend die­ser kur­z­en Zeit wie in ei­ner Idyl­le. Er stieß sich nicht an der Re­li­gio­si­tät sei­nes neu­en Freun­des, die ihm, der aus ei­nem bür­ger­lich-frei­den­ken­den Hau­se stamm­te, ei­gent­lich et­was ganz Frem­des war. Er nahm sie viel­mehr ohne al­les Be­den­ken hin, ja sie bil­de­te in sei­nen Au­gen so­gar einen be­son­de­ren Vor­zug des Prin­zen, denn sie stei­ger­te das We­sen die­ses Men­schen, das er dem sei­nen völ­lig un­ähn­lich, aber auch ganz un­ver­gleich­lich fühl­te.

In der Ge­sell­schaft die­ses Prin­zen fühl­te er sich etwa wie in ei­ner ab­seits des We­ges lie­gen­den Ka­pel­le, so­dass der Ge­dan­ke, dass er ei­gent­lich nicht dort­hin ge­hö­re, ganz ge­gen den Ge­nuss ver­schwand, das Ta­ges­licht ein­mal durch Kir­chen­fens­ter an­zu­se­hen und das Auge so lan­ge über den nutz­lo­sen, ver­gol­de­ten Zie­rat glei­ten zu las­sen, der in der See­le die­ses Men­schen auf­ge­häuft war, bis er von die­ser selbst ein un­deut­li­ches Bild emp­fing, so, als ob er, ohne sich Ge­dan­ken dar­über ma­chen zu kön­nen, mit dem Fin­ger eine schö­ne, aber nach selt­sa­men Ge­set­zen ver­schlun­ge­ne Ara­bes­ke nach­zö­ge.

Dann kam es plötz­lich zum Bru­che zwi­schen bei­den.

We­gen ei­ner Dumm­heit, wie sich Tör­less selbst hin­ter­her sa­gen muss­te.

Sie wa­ren näm­lich doch ein­mal ins Strei­ten über re­li­gi­öse Din­ge ge­kom­men. Und in die­sem Au­gen­bli­cke war es ei­gent­lich schon um al­les ge­sche­hen. Denn wie von Tör­less un­ab­hän­gig, schlug nun der Ver­stand in ihm un­auf­halt­sam auf den zar­ten Prin­zen los. Er über­schüt­te­te ihn mit dem Spot­te des Ver­nünf­ti­gen, zer­stör­te bar­ba­risch das fi­li­gra­ne Ge­bäu­de, in dem des­sen See­le hei­misch war, und sie gin­gen im Zor­ne aus­ein­an­der.

Seit der Zeit hat­ten sie auch kein Wort wie­der zu­ein­an­der ge­spro­chen. Tör­less war sich wohl dun­kel be­wusst, dass er et­was Sinn­lo­ses ge­tan hat­te, und eine un­kla­re, ge­fühls­mä­ßi­ge Ein­sicht sag­te ihm, dass da die­ser höl­zer­ne Zoll­stab des Ver­stan­des zu ganz un­rech­ter Zeit et­was Fei­nes und Ge­nuss­rei­ches zer­schla­gen habe. Aber dies war et­was, das ganz au­ßer sei­ner Macht lag. Eine Art Sehn­sucht nach dem Frü­he­ren war wohl für im­mer in ihn zu­rück­ge­blie­ben, aber er schi­en in einen an­de­ren Strom ge­ra­ten zu sein, der ihn im­mer wei­ter da­von ent­fern­te.

Nach ei­ni­ger Zeit trat dann auch der Prinz, der sich im Kon­vik­te nicht wohl be­fun­den hat­te, wie­der aus.

*

Nun wur­de es ganz leer und lang­wei­lig um Tör­less. Aber er war einst­wei­len äl­ter ge­wor­den, und die be­gin­nen­de Ge­schlechts­rei­fe fing an, sich dun­kel und all­mäh­lich in ihm em­por­zu­he­ben. In die­sem Ab­schnitt sei­ner Ent­wick­lung schloss er ei­ni­ge neue, dement­spre­chen­de Freund­schaf­ten, die für ihn spä­ter von größ­ter Wich­tig­keit wur­den. So mit Bei­ne­berg und Rei­ting, mit Moté und Hof­mei­er, eben je­nen jun­gen Leu­ten, in de­ren Ge­sell­schaft er heu­te sei­ne El­tern zur Bahn be­glei­te­te.

Merk­wür­di­ger­wei­se wa­ren dies ge­ra­de die übels­ten sei­nes Jahr­gan­ges, zwar ta­len­tiert und selbst­ver­ständ­lich auch von gu­ter Her­kunft, aber bis­wei­len bis zur Ro­heit wild und un­ge­bär­dig. Und dass ge­ra­de ihre Ge­sell­schaft Tör­less nun fes­sel­te, lag wohl an sei­ner ei­ge­nen Un­selbst­stän­dig­keit, die, seit­dem es ihn von dem Prin­zen wie­der fort­ge­trie­ben hat­te, sehr arg war. Es lag so­gar in der ge­rad­li­ni­gen Ver­län­ge­rung die­ses Ab­schwen­kens, denn es be­deu­te­te wie die­ses eine Angst vor all­zu sub­ti­len Emp­fin­de­lei­en, ge­gen die das We­sen der an­de­ren Ka­me­ra­den ge­sund, ker­nig und le­bens­ge­recht ab­stach.

Tör­less über­ließ sich gänz­lich ih­rem Ein­flus­se, denn sei­ne geis­ti­ge Si­tua­ti­on war nun un­ge­fähr die­se: In sei­nem Al­ter hat man am Gym­na­si­um Goe­the, Schil­ler, Sha­ke­s­pea­re, viel­leicht so­gar schon die Mo­der­nen ge­le­sen. Das schreibt sich dann halb­ver­daut aus den Fin­ger­spit­zen wie­der her­aus. Rö­mer­tra­gö­di­en ent­ste­hen oder sen­si­tivs­te Ly­rik, die im Ge­wan­de sei­ten­lan­ger In­ter­punk­tio­nen wie in der Zart­heit durch­bro­che­ner Spit­zen­ar­beit ein­her­schrei­tet: Din­ge, die an und für sich lä­cher­lich sind, für die Si­cher­heit der Ent­wick­lung aber einen un­schätz­ba­ren Wert be­deu­ten. Denn die­se von au­ßen kom­men­den As­so­zia­tio­nen und er­borg­ten Ge­füh­le tra­gen die jun­gen Leu­te über den ge­fähr­lich wei­chen see­li­schen Bo­den die­ser Jah­re hin­weg, wo man sich selbst et­was be­deu­ten muss und doch noch zu un­fer­tig ist, um wirk­lich et­was zu be­deu­ten. Ob für spä­ter bei dem einen et­was da­von zu­rück­bleibt oder bei dem an­de­ren nichts, ist gleich­gül­tig; dann fin­det sich schon je­der mit sich ab, und die Ge­fahr be­steht nur in dem Al­ter des Über­gan­ges. Wenn man da solch ei­nem jun­gen Men­schen das Lä­cher­li­che sei­ner Per­son zur Ein­sicht brin­gen könn­te, so wür­de der Bo­den un­ter ihm ein­bre­chen, oder er wür­de wie ein er­wach­ter Nacht­wand­ler her­ab­stür­zen, der plötz­lich nichts als Lee­re sieht.

Die­se Il­lu­si­on, die­ser Trick zu­guns­ten der Ent­wick­lung fehl­te im In­sti­tu­te. Denn dort wa­ren in der Biblio­thek wohl die Klas­si­ker ent­hal­ten, aber die­se gal­ten als lang­wei­lig, und sonst fan­den sich nur sen­ti­men­ta­le No­vel­len­bän­de und witz­lo­se Mi­li­tär­hu­mo­res­ken.

Der klei­ne Tör­less hat­te sie wohl alle förm­lich in ei­ner Gier nach Bü­chern durch­ge­le­sen, ir­gend­ei­ne ba­nal zärt­li­che Vor­stel­lung aus ein oder der an­de­ren No­vel­le wirk­te manch­mal auch noch eine Wei­le nach, al­lein einen Ein­fluss, einen wirk­li­chen Ein­fluss, nahm dies auf sei­nen Cha­rak­ter nicht.

Es schi­en da­mals, dass er über­haupt kei­nen Cha­rak­ter habe.

Er schrieb zum Bei­spiel un­ter dem Ein­flus­se die­ser Lek­tü­re selbst hie und da eine klei­ne Er­zäh­lung oder be­gann ein ro­man­ti­sches Epos zu dich­ten. In der Er­re­gung über die Lie­bes­lei­den sei­ner Hel­den rö­te­ten sich dann sei­ne Wan­gen, sei­ne Pul­se be­schleu­nig­ten sich und sei­ne Au­gen glänz­ten.

Wie er aber die Fe­der aus der Hand leg­te, war al­les vor­bei; ge­wis­ser­ma­ßen nur in der Be­we­gung leb­te sein Geist. Da­her war es ihm auch mög­lich, ein Ge­dicht oder eine Er­zäh­lung wann im­mer, auf jede Auf­for­de­rung hin, nie­der­zu­schrei­ben. Er reg­te sich da­bei auf, aber trotz­dem nahm er es nie ganz ernst, und die Tä­tig­keit er­schi­en ihm nicht wich­tig. Es ging von ihr nichts auf sei­ne Per­son über, und sie ging nicht von sei­ner Per­son aus. Er hat­te nur un­ter ir­gend­ei­nem äu­ße­ren Zwang Emp­fin­dun­gen, die über das Gleich­gül­ti­ge hin­aus­gin­gen, wie ein Schau­spie­ler dazu des Zwan­ges ei­ner Rol­le be­darf.

Es wa­ren Re­ak­tio­nen des Ge­hirns. Das aber, was man als Cha­rak­ter oder See­le, Li­nie oder Klang­far­be ei­nes Men­schen fühlt, je­den­falls das­je­ni­ge, wo­ge­gen die Ge­dan­ken, Ent­schlüs­se und Hand­lun­gen we­nig be­zeich­nend, zu­fäl­lig und aus­wech­sel­bar er­schei­nen, das­je­ni­ge, was bei­spiels­wei­se Tör­less an den Prin­zen jen­seits al­les ver­stand­li­chen Be­ur­tei­lens ge­knüpft hat­te, die­ser letz­te, un­be­weg­li­che Hin­ter­grund, war zu je­ner Zeit in Tör­less gänz­lich ver­lo­ren ge­gan­gen.

In sei­nen Ka­me­ra­den war es die Freu­de am Sport, das Ani­ma­li­sche, wel­ches sie ei­nes sol­chen gar nicht be­dür­fen ließ, so wie am Gym­na­si­um das Spiel mit der Li­te­ra­tur da­für sorgt.

Tör­less war aber für das eine zu geis­tig an­ge­legt und dem an­de­ren brach­te er jene schar­fe Fein­füh­lig­keit für das Lä­cher­li­che sol­cher er­borg­ter Sen­ti­ments ent­ge­gen, die das Le­ben im In­sti­tu­te durch sei­ne Nö­ti­gung ste­ter Be­reit­schaft zu Strei­tig­kei­ten und Faust­kämp­fen er­zeugt. So er­hielt sein We­sen et­was Un­be­stimm­tes, eine in­ne­re Hilf­lo­sig­keit, die ihn nicht zu sich selbst fin­den ließ.

Er schloss sich sei­nen neu­en Freun­den an, weil ihm ihre Wild­heit im­po­nier­te. Da er ehr­gei­zig war, ver­such­te er hie und da, es ih­nen dar­in so­gar zu­vor­zu­tun. Aber je­des Mal blieb er wie­der auf hal­b­em Wege ste­hen und hat­te nicht we­nig Spott des­we­gen zu er­lei­den. Dies ver­schüch­ter­te ihn dann wie­der. Sein gan­zes Le­ben be­stand in die­ser kri­ti­schen Pe­ri­ode ei­gent­lich nur in die­sem im­mer er­neu­ten Be­mü­hen, sei­nen rau­en, männ­li­che­ren Freun­den nach­zu­ei­fern, und in ei­ner tief in­ner­li­chen Gleich­gül­tig­keit ge­gen die­ses Be­stre­ben.

Be­such­ten ihn jetzt sei­ne El­tern, so war er, so­lan­ge sie al­lein wa­ren, still und scheu. Den zärt­li­chen Berüh­run­gen sei­ner Mut­ter ent­zog er sich je­des Mal un­ter ei­nem an­de­ren Vor­wan­de. In Wahr­heit hät­te er ih­nen gern nach­ge­ge­ben, aber er schäm­te sich, als sei­en die Au­gen sei­ner Ka­me­ra­den auf ihn ge­rich­tet.

Sei­ne El­tern nah­men es als die Un­ge­len­kig­keit der Ent­wick­lungs­jah­re hin.

Nach­mit­tags kam dann die gan­ze lau­te Schar. Man spiel­te Kar­ten, aß, trank, er­zähl­te An­ek­do­ten über die Leh­rer und rauch­te die Zi­ga­ret­ten, die der Ho­frat aus der Re­si­denz mit­ge­bracht hat­te.

Die­se Hei­ter­keit er­freu­te und be­ru­hig­te das Ehe­paar.

Dass für Tör­less mit­un­ter auch an­de­re Stun­den ka­men, wuss­ten sie nicht. Und in der letz­ten Zeit im­mer zahl­rei­che­re. Er hat­te Au­gen­bli­cke, wo ihm das Le­ben im In­sti­tu­te völ­lig gleich­gül­tig wur­de. Der Kitt sei­ner täg­li­chen Sor­gen lös­te sich da, und die Stun­den sei­nes Le­bens fie­len ohne in­ner­li­chen Zu­sam­men­hang aus­ein­an­der.

Er saß oft lan­ge – in fins­te­rem Nach­den­ken – gleich­sam über sich selbst ge­beugt.

Zwei Be­suchs­ta­ge wa­ren es auch dies­mal ge­we­sen. Man hat­te ge­speist, ge­raucht, eine Spa­zier­fahrt un­ter­nom­men, und nun soll­te der Eil­zug das Ehe­paar wie­der in die Re­si­denz zu­rück­füh­ren.

Ein lei­ses Rol­len in den Schie­nen kün­dig­te sein Na­hen an, und die Si­gna­le der Glo­cke am Da­che des Sta­ti­ons­ge­bäu­des klan­gen der Ho­frä­tin un­er­bitt­lich ins Ohr.

»Also nicht wahr, lie­ber Bei­ne­berg, Sie ge­ben mir auf mei­nen Bu­ben acht?« wand­te sich Ho­frat Tör­less an den jun­gen Baron Bei­ne­berg, einen lan­gen, kno­chi­gen Bur­schen mit mäch­tig ab­ste­hen­den Ohren, aber aus­drucks­vol­len, ge­schei­ten Au­gen.

Der klei­ne Tör­less schnitt ob die­ser Be­vor­mun­dung ein miss­mu­ti­ges Ge­sicht, und Bei­ne­berg grins­te ge­schmei­chelt und ein we­nig scha­den­froh.

»Über­haupt« – wand­te sich der Ho­frat an die üb­ri­gen – »möch­te ich Sie alle ge­be­ten ha­ben, falls mei­nem Soh­ne ir­gen­det­was sein soll­te, mich gleich da­von zu ver­stän­di­gen.«

Dies ent­lock­te nun doch dem jun­gen Tör­less ein un­end­lich ge­lang­weil­tes: »Aber Papa, was soll mir denn pas­sie­ren?!« ob­wohl er schon dar­an ge­wöhnt war, bei je­dem Ab­schie­de die­se all­zu große Sorg­sam­keit über sich er­ge­hen las­sen zu müs­sen.

Die an­de­ren schlu­gen in­des­sen die Ha­cken zu­sam­men, wo­bei sie die zier­li­chen De­gen straff an die Sei­te zo­gen, und der Ho­frat füg­te noch hin­zu: »Man kann nie wis­sen, was vor­kommt, und der Ge­dan­ke, so­fort von al­lem ver­stän­digt zu wer­den, be­rei­tet mir eine große Be­ru­hi­gung; schließ­lich könn­test du doch auch am Schrei­ben be­hin­dert sein.«

Dann fuhr der Zug ein. Ho­frat Tör­less um­arm­te sei­nen Sohn, Frau von Tör­less drück­te den Schlei­er fes­ter ans Ge­sicht, um ihre Trä­nen zu ver­ber­gen, die Freun­de be­dank­ten sich der Rei­he nach, dann schloss der Schaff­ner die Wagen­tür.

Noch ein­mal sah das Ehe­paar die hohe, kah­le Rück­front des In­sti­tuts­ge­bäu­des, – die mäch­ti­ge, lang­ge­streck­te Mau­er, wel­che den Park um­schloss, dann ka­men rechts und links nur mehr grau­brau­ne Fel­der und ver­ein­zel­te Obst­bäu­me.

Die jun­gen Leu­te hat­ten un­ter­des­sen den Bahn­hof ver­las­sen und gin­gen in zwei Rei­hen hin­ter­ein­an­der auf den bei­den Rän­dern der Stra­ße – so we­nigs­tens dem dicks­ten und zä­he­s­ten Stau­be aus­wei­chend – der Stadt zu, ohne viel mit­ein­an­der zu re­den.

Es war fünf Uhr vor­bei, und über die Fel­der kam es ernst und kalt, wie ein Vor­bo­te des Abends.

Tör­less wur­de sehr trau­rig.

Vi­el­leicht war dar­an die Abrei­se sei­ner El­tern schuld, viel­leicht war es je­doch nur die ab­wei­sen­de, stump­fe Me­lan­cho­lie, die jetzt auf der gan­zen Na­tur rings­um­her las­te­te und schon auf we­ni­ge Schrit­te die For­men der Ge­gen­stän­de mit schwe­ren glanz­lo­sen Far­ben ver­wisch­te.

Die­sel­be furcht­ba­re Gleich­gül­tig­keit, die schon den gan­zen Nach­mit­tag über al­ler­orts ge­le­gen war, kroch nun über die Ebe­ne her­an, und hin­ter ihr her wie eine schlei­mi­ge Fähr­te der Ne­bel, der über den Sturzä­ckern und blei­grau­en Rü­ben­fel­dern kleb­te.

Tör­less sah nicht rechts noch links, aber er fühl­te es. Schritt für Schritt trat er in die Spu­ren, die so­eben erst vom Fuße des Vor­der­manns in dem Stau­be auf­klaff­ten, – und so fühl­te er es: als ob es so sein müss­te: als einen stei­ner­nen Zwang, der sein gan­zes Le­ben in die­se Be­we­gung – Schritt für Schritt – auf die­ser einen Li­nie, auf die­sem einen schma­len Strei­fen, der sich durch den Staub zog, ein­fing und zu­sam­men­press­te.

Als sie an ei­ner Kreu­zung ste­hen blie­ben, wo ein zwei­ter Weg mit dem ih­ren in einen run­den, aus­ge­tre­te­nen Fleck zu­sam­men­floss, und als dort ein morsch­ge­wor­de­ner Weg­wei­ser schief in die Luft hin­ein­rag­te, wirk­te die­se, zu ih­rer Um­ge­bung in Wi­der­spruch ste­hen­de, Li­nie wie ein ver­zwei­fel­ter Schrei auf Tör­less.

Wie­der gin­gen sie wei­ter. Tör­less dach­te an sei­ne El­tern, an Be­kann­te, an das Le­ben. Um die­se Stun­de klei­det man sich für eine Ge­sell­schaft an oder be­schließt ins Thea­ter zu fah­ren. Und nach­her geht man ins Re­stau­rant, hört eine Ka­pel­le, be­sucht das Kaf­fee­haus. Man macht eine in­ter­essan­te Be­kannt­schaft. Ein ga­lan­tes Aben­teu­er hält bis zum Mor­gen in Er­war­tung. Das Le­ben rollt wie ein wun­der­ba­res Rad im­mer Neu­es, Uner­war­te­tes aus sich her­aus …

Tör­less seufz­te un­ter die­sen Ge­dan­ken, und bei je­dem Schrit­te, der ihn der Enge des In­sti­tu­tes nä­her­trug, schnür­te sich et­was im­mer fes­ter in ihm zu­sam­men.

Jetzt schon klang ihm das Glo­cken­zei­chen in den Ohren. Nichts fürch­te­te er näm­lich so sehr wie die­ses Glo­cken­zei­chen, das un­wi­der­ruf­lich das Ende des Ta­ges be­stimm­te – wie ein bru­ta­ler Mes­ser­schnitt.

Er er­leb­te ja nichts, und sein Le­ben däm­mer­te in ste­ter Gleich­gül­tig­keit da­hin, aber die­ses Glo­cken­zei­chen füg­te dem auch noch den Hohn hin­zu und ließ ihn in ohn­mäch­ti­ger Wut über sich selbst, über sein Schick­sal, über den be­gra­be­nen Tag er­zit­tern.

Nun kannst du gar nichts mehr er­le­ben, wäh­rend zwölf Stun­den kannst du nichts mehr er­le­ben, für zwölf Stun­den bist du tot …: das war der Sinn die­ses Glo­cken­zei­chens.

Als die Ge­sell­schaft jun­ger Leu­te zwi­schen die ers­ten nied­ri­gen, hüt­ten­ar­ti­gen Häu­ser kam, wich die­ses dump­fe Brü­ten von Tör­less. Wie von ei­nem plötz­li­chen In­ter­es­se er­fasst, hob er den Kopf und blick­te an­ge­strengt in das duns­ti­ge In­ne­re der klei­nen, schmut­zi­gen Ge­bäu­de, an de­nen sie vor­über­gin­gen.

Vor den Tü­ren der meis­ten stan­den die Wei­ber, in Kit­teln und gro­ben Hem­den, mit brei­ten, be­schmutz­ten Fü­ßen und nack­ten, brau­nen Ar­men.

Wa­ren sie jung und drall, so flog ih­nen man­ches der­be sla­wi­sche Scherz­wort zu. Sie stie­ßen sich an und ki­cher­ten über die »jun­gen Her­ren«; manch­mal schrie eine auch auf, wenn im Vor­über­ge­hen all­zu hart ihre Brüs­te ge­streift wur­den, oder er­wi­der­te mit ei­nem la­chen­den Schimpf­wort einen Schlag auf die Schen­kel. Man­che sah auch bloß mit zor­ni­gem Erns­te hin­ter den Ei­len­den drein; und der Bau­er lä­chel­te ver­le­gen, – halb un­si­cher, halb gut­mü­tig, – wenn er zu­fäl­lig hin­zu­ge­kom­men war.

Tör­less be­tei­lig­te sich nicht an die­ser über­mü­ti­gen, früh­rei­fen Männ­lich­keit sei­ner Freun­de.

Der Grund hie­zu lag wohl teil­wei­se in ei­ner ge­wis­sen Schüch­tern­heit in ge­schlecht­li­chen Sa­chen, wie sie fast al­len ein­zi­gen Kin­dern ei­gen­tüm­lich ist, zum grö­ße­ren Tei­le je­doch in der ihm be­son­de­ren Art der sinn­li­chen Ver­an­la­gung, wel­che ver­bor­ge­ner, mäch­ti­ger und dunk­ler ge­färbt war als die sei­ner Freun­de und sich schwe­rer äu­ßer­te.

Wäh­rend die an­de­ren mit den Wei­bern scham­los – ta­ten, bei­na­he mehr um »fesch« zu sein, als aus Be­gier­de, war die See­le des schweig­sa­men, klei­nen Tör­less auf­ge­wühlt und von wirk­li­cher Scham­lo­sig­keit ge­peitscht.

Er blick­te mit so bren­nen­den Au­gen durch die klei­nen Fens­ter und wink­li­gen, schma­len Tor­we­ge in das In­ne­re der Häu­ser, dass es ihm be­stän­dig wie ein fei­nes Netz vor den Au­gen tanz­te.

Fast nack­te Kin­der wälz­ten sich in dem Kot der Höfe, da und dort gab der Rock ei­nes ar­bei­ten­den Wei­bes die Knie­keh­len frei oder drück­te sich eine schwe­re Brust straff in die Fal­ten der Lein­wand. Und als ob all dies so­gar un­ter ei­ner ganz an­de­ren, tie­ri­schen, drücken­den At­mo­sphä­re sich ab­spiel­te, floss aus dem Flur der Häu­ser eine trä­ge, schwe­re Luft, die Tör­less be­gie­rig ein­at­me­te.

Er dach­te an alte Ma­le­rei­en, die er in Mu­seen ge­se­hen hat­te, ohne sie recht zu ver­ste­hen. Er war­te­te auf ir­gen­det­was, so wie er vor die­sen Bil­dern im­mer auf et­was ge­war­tet hat­te, das sich nie er­eig­ne­te. Worauf …? … Auf et­was Über­ra­schen­des, noch nie Ge­se­he­nes; auf einen un­ge­heu­er­li­chen An­blick, von dem er sich nicht die ge­rings­te Vor­stel­lung ma­chen konn­te; auf ir­gen­det­was von fürch­ter­li­cher, tie­ri­scher Sinn­lich­keit; das ihn wie mit Kral­len pa­cke und von den Au­gen aus zer­rei­ße; auf ein Er­leb­nis, das in ir­gend­ei­ner noch ganz un­kla­ren Wei­se mit den schmut­zi­gen Kit­teln der Wei­ber, mit ih­ren rau­en Hän­den, mit der Nied­rig­keit ih­rer Stu­ben, mit … mit ei­ner Be­schmut­zung an dem Kot der Höfe … zu­sam­men­hän­gen müs­se … Nein, nein; … er fühl­te jetzt nur mehr das feu­ri­ge Netz vor den Au­gen; die Wor­te sag­ten es nicht; so arg, wie es die Wor­te ma­chen, ist es gar nicht; es ist et­was ganz Stum­mes, – ein Wür­gen in der Keh­le, ein kaum merk­ba­rer Ge­dan­ke, und nur dann, wenn man es durch­aus mit Wor­ten sa­gen woll­te, käme es so her­aus; aber dann ist es auch nur mehr ent­fernt ähn­lich, wie in ei­ner rie­si­gen Ver­grö­ße­rung, wo man nicht nur al­les deut­li­cher sieht, son­dern auch Din­ge, die gar nicht da sind … Den­noch war es zum Schä­men.

»Hat das Bubi Heim­weh?« frag­te ihn plötz­lich spöt­tisch der lan­ge und um zwei Jah­re äl­te­re v. Rei­ting, wel­chem Tör­less’ Schweig­sam­keit und die ver­dun­kel­ten Au­gen auf­ge­fal­len wa­ren. Tör­less lä­chel­te ge­macht und ver­le­gen, und ihm war, als hät­te der bos­haf­te Rei­ting die Vor­gän­ge in sei­nem In­nern be­lauscht.

Er gab kei­ne Ant­wort. Aber sie wa­ren mitt­ler­wei­le auf den Kirch­platz des Städt­chens ge­langt, der die Form ei­nes Qua­dra­tes hat­te und mit Kat­zen­köp­fen ge­pflas­tert war, und trenn­ten sich nun von­ein­an­der.

Tör­less und Bei­ne­berg woll­ten noch nicht ins In­sti­tut zu­rück, wäh­rend die an­de­ren kei­ne Er­laub­nis zu län­ge­rem Aus­blei­ben hat­ten und nach Hau­se gin­gen.

*

Die bei­den wa­ren in der Kon­di­to­rei ein­ge­kehrt.

Dort sa­ßen sie an ei­nem klei­nen Ti­sche mit runder Plat­te, ne­ben ei­nem Fens­ter, das auf den Gar­ten hin­aus­ging, un­ter ei­ner Gas­kro­ne, de­ren Lich­ter hin­ter den mil­chi­gen Glas­ku­geln lei­se summ­ten.

Sie hat­ten es sich be­quem ge­macht, lie­ßen sich die Gläs­chen mit wech­seln­den Schnäp­sen fül­len, rauch­ten Zi­ga­ret­ten, aßen da­zwi­schen et­was Bä­cke­rei und ge­nos­sen das Be­ha­gen, die ein­zi­gen Gäs­te zu sein. Denn höchs­tens in den hin­te­ren Räu­men saß noch ein ver­ein­zel­ter Be­su­cher vor sei­nem Gla­se Wein; vor­ne war es still, und selbst die feis­te, an­ge­jähr­te Kon­di­to­rin schi­en hin­ter ih­rem La­den­ti­sche zu schla­fen.

Tör­less sah – nur so ganz un­be­stimmt – durch das Fens­ter – in den lee­ren Gar­ten hin­aus, der all­ge­mach ver­dun­kel­te.

Bei­ne­berg er­zähl­te. Von In­di­en. Wie ge­wöhn­lich. Denn sein Va­ter, der Ge­ne­ral war, war dort als jun­ger Of­fi­zier in eng­li­schen Diens­ten ge­stan­den. Und nicht nur hat­te er wie sons­ti­ge Eu­ro­pä­er Schnit­ze­rei­en, Ge­we­be und klei­ne In­dus­trie­göt­zen mit her­über­ge­bracht, son­dern auch et­was von dem ge­heim­nis­vol­len, bi­zar­ren Däm­mern des eso­te­ri­schen Bud­dhis­mus ge­fühlt und sich be­wahrt. Auf sei­nen Sohn hat­te er das, was er von da her wuss­te und spä­ter noch hin­zu­las, schon von des­sen Kind­heit an über­tra­gen.

Mit dem Le­sen war es üb­ri­gens bei ihm ganz ei­gen. Er war Rei­ter­of­fi­zier und lieb­te durch­aus nicht die Bü­cher im All­ge­mei­nen. Ro­ma­ne und Phi­lo­so­phie ver­ach­te­te er glei­cher­ma­ßen. Wenn er las, woll­te er nicht über Mei­nun­gen und Streit­fra­gen nach­den­ken, son­dern schon beim Auf­schla­gen der Bü­cher wie durch eine heim­li­che Pfor­te in die Mit­te aus­er­le­se­ner Er­kennt­nis­se tre­ten. Es muss­ten Bü­cher sein, de­ren Be­sitz al­lein schon wie ein ge­hei­mes Or­dens­zei­chen war und wie eine Ge­währ­leis­tung über­ir­di­scher Of­fen­ba­run­gen. Und sol­ches fand er nur in den Bü­chern der in­di­schen Phi­lo­so­phie, die für ihn eben nicht bloß Bü­cher zu sein schie­nen, son­dern Of­fen­ba­run­gen, Wirk­li­ches, – Schlüs­sel­wer­ke wie die al­chi­mis­ti­schen und Zau­ber­bü­cher des Mit­tel­al­ters.

Mit ih­nen schloss sich die­ser ge­sun­de, tat­kräf­ti­ge Mann, der stren­ge sei­nen Dienst ver­sah und über­dies sei­ne drei Pfer­de fast täg­lich sel­ber ritt, meist ge­gen Abend ein.

Dann griff er aufs Ge­ra­te­wohl eine Stel­le her­aus und sann, ob sich ihr ge­heims­ter Sinn ihm nicht heu­te er­schlös­se. Und nie war er ent­täuscht, so oft er auch ein­se­hen muss­te, dass er noch nicht wei­ter als bis zum Vor­hof des ge­hei­lig­ten Tem­pels ge­langt sei.

So schweb­te um die­sen ner­vi­gen, ge­bräun­ten Frei­luft­men­schen et­was wie ein wei­he­vol­les Ge­heim­nis. Sei­ne Über­zeu­gung, täg­lich am Vora­bend ei­ner nie­der­schmet­ternd großen Ent­hül­lung zu ste­hen, gab ihm eine ver­schlos­se­ne Über­le­gen­heit. Sei­ne Au­gen wa­ren nicht träu­me­risch, son­dern ru­hig und hart. Die Ge­wohn­heit, in Bü­chern zu le­sen, in de­nen kein Wort von sei­nem Plat­ze ge­rückt wer­den durf­te, ohne den ge­hei­men Sinn zu stö­ren, das vor­sich­ti­ge, ach­tungs­vol­le Ab­wä­gen ei­nes je­den Sat­zes nach Sinn und Dop­pel­sinn, hat­te ih­ren Aus­druck ge­formt.

Nur mit­un­ter ver­lo­ren sich sei­ne Ge­dan­ken in ein Däm­mern von woh­li­ger Me­lan­cho­lie. Das ge­sch­ah, wenn er an den ge­hei­men Kult dach­te, der sich an die Ori­gi­na­le der vor ihm lie­gen­den Schrif­ten knüpf­te, an die Wun­der, die von ih­nen aus­ge­gan­gen wa­ren und Tau­sen­de er­grif­fen hat­ten, Tau­sen­de von Men­schen, die ihm we­gen der großen Ent­fer­nung, die ihn von ih­nen trenn­te, nun wie Brü­der er­schie­nen, wäh­rend er doch die Men­schen sei­ner Um­ge­bung, die er mit al­len ih­ren De­tails sah, ver­ach­te­te. In die­sen Stun­den wur­de er miss­mu­tig. Der Ge­dan­ke, dass sein Le­ben ver­ur­teilt sei, fer­ne von den Quel­len der hei­li­gen Kräf­te zu ver­lau­fen, sei­ne An­stren­gun­gen ver­ur­teilt, an der Un­gunst der Ver­hält­nis­se viel­leicht doch zu er­lah­men, drück­te ihn nie­der. Wenn er aber dann eine Wei­le be­trübt vor sei­nen Bü­chern ge­ses­sen war, wur­de ihm ei­gen­tüm­lich zu­mu­te. Sei­ne Me­lan­cho­lie ver­lor zwar nichts von ih­rer Schwe­re, im Ge­gen­teil, ihre Trau­rig­keit stei­ger­te sich noch, aber sie drück­te ihn nicht mehr. Er fühl­te sich mehr denn je ver­las­sen und auf ver­lo­re­nem Pos­ten, aber in die­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­