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Über dieses Buch:

Wie fühlt es sich an, nach langen Jahren an den Ort seiner schönsten Kindheitserinnerungen zurückzukehren? Die amerikanische Schriftstellerin Carol Baxter nimmt sich eine Auszeit und beschließt, ihrer Tante Tess in Irland einen Besuch abzustatten. Kaum ist sie in dem kleinen Cottage an der malerischen Küste angekommen, muss sie jedoch feststellen, dass ihre Tante einen zweifelhaften Fremden beherbergt. Wer ist der zurückgezogen lebende Künstler und warum fühlt sie sich wie magisch zu Patrick hingezogen? So beginnt Carol, seinem Geheimnis auf den Grund zu gehen – und entdeckt in seinem Atelier die Zeichnung eines kleinen Mädchens mit langen Zöpfen. Es besteht kein Zweifel: Das Mädchen ist niemand anderes als sie selbst …

Wenn ihre Liebe stark genug ist, führt das Schicksal zwei Menschen immer wieder zusammen!

Über die Autorin:

Susan Hastings ist gelernte Geologin und war lange als Sachverständige für Geologie und Ökologie tätig. Ein Mentor im Studium entdeckte ihr schriftstellerisches Talent und motivierte sie dazu, dieses Talent zu verfolgen. Zunächst schrieb sie dann Kurzgeschichten, später zahlreiche Liebes- und Historienromane, die sie unter verschiedenen Pseudonymen erfolgreich veröffentlichte.

Bei dotbooks sind von Susan Hastings auch die folgenden eBooks erschienen: Die Leidenschaft des Wikingers, Die Sklavin und der Wikinger, Die Geliebte des Wüstenkriegers, Das Verlangen des Gladiators, In den Armen des Raubritters, Dark Heat – Gefährliche Leidenschaft und die historischen Romane Die Sehnsucht der Nonne, Der schwarze Magier, Die Liebe des Milchmädchens, Die Liebe der Wollhändlerin und Die Himmelsträumerin.

Die Website der Autorin: www.susan-hastings.de

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eBook-Neuausgabe April 2019

Dieses Buch erschien bereits 2003 unter dem Titel Der Klang deiner Worte bei area verlag gmbh, Erftstadt.

Copyright © der Originalausgabe 2003 area verlag gmbh, Erftstadt

Copyright © der Neuausgabe 2019 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Benjamin B, Susla

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (aks)

ISBN 978-3-96148-308-2

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Susan Hastings

Irische Träume

Roman

dotbooks.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Lesetipps

Kapitel 1

Wie ein gigantischer eiserner Lindwurm spie der Zug die Massen an Fahrgästen aus, die, sich ihrer plötzlichen Freiheit bewusst werdend, sich über den Bahnsteig ergossen wie flüssige Lava. Der eleganten jungen Frau, die sich mit zwei schweren Koffern abmühte, blieb nichts anderes übrig, als sich vom Strom mitreißen zu lassen. Ab und zu reckte sie sich auf Zehenspitzen, so weit es ihre hohen Absätze zuließen, um nach jemandem Ausschau zu halten. Endlich, fast am Ausgang zur Bahnhofshalle, hatte sie diesen Jemand entdeckt, eine ältere Frau in einem unmodernen hellen Sommermantel.

»Hallo, Tante Tess!« Die junge Frau ließ ihre Koffer fallen und winkte heftig mit beiden Armen.

»Carol!« Die Ältere kämpfte sich durch den Menschenstrom durch, bis sich die beiden ungleichen Frauen in die Arme fielen. Eine Weile sagten beide nichts, hielten sich nur fest und standen wie eine einsame Insel im Sturm, während um sie herum die Flut der Passagiere langsam verebbte.

»Carol, lass dich anschauen!« Tess O’Sullivan betrachtete ihre Nichte Carol mit neugierigen Augen. »Gut siehst du aus, viel besser als auf den Fotos. Und so elegant.«

»Na ja.« Carol Baxter stand etwas verlegen lächelnd da. »Und du hast dich gar nicht verändert, Tante Tess.«

»Erzähl nicht so etwas«, winkte Tess unwirsch ab. »Alt und grau bin ich geworden. Ist es wirklich schon achtzehn Jahre her, als das kleine Mädchen mit den kastanienbraunen Zöpfen die große Reise über den Ozean angetreten hat?«

»Ich kann es selbst kaum glauben«, erwiderte Carol gerührt. »Aber jetzt bin ich da.«

»Ja, jetzt bist du da«, sagte Tess und packte einen der Koffer.

»Um Gottes willen, nein, Tante«, versuchte Carol sie davon abzuhalten. »Die sind viel zu schwer für dich.«

»Oh, ich mag alt und grau, aber noch nicht schwach sein«, wehrte Tess lachend ab. Doch dann schnaufte sie. »Was hast du denn da drin? Betonbrocken von der Freiheitsstatue?«

»Das wäre keine schlechte Idee. Aber für deinen Geburtstag habe ich ein anderes Geschenk. Das sind alles Klamotten.«

»Klamotten?«

»Kleider, Röcke, Kostüme, Blusen, alles, was man zum Anziehen braucht.«

Tess schüttelte lachend den Kopf. »Braucht man das wirklich alles?«

»Keine Ahnung. Ich habe mich zumindest für jede Gelegenheit vorbereitet.«

»Du bist hier in Irland und nicht in New York. In Delanney ist die Zeit stehen geblieben.«

»Wirklich? Ach, ich bin ja schon neugierig auf alles. Ich glaube, ich finde mich hier gar nicht mehr zurecht.«

Sie schleppten die Koffer zu einem grünen Pick-up, der auf dem Parkplatz neben dem Bahnhof stand, und wuchteten sie auf die Ladefläche.

»So«, sagte Tess und klatschte in die Handflächen. »Steig ein, mein Kind.« Gleichzeitig gab sie zu bedenken: »Mein Gott, du bist ja jetzt eine berühmte Frau geworden und so mondän. Ob du dich in unserem Kaff überhaupt noch wohl fühlst? Du weißt, ich kann dir keinen großen Luxus bieten …«

»Ich bitte dich, Tante Tess«, rief Carol und hob die Hände. »Ich freue mich seit Wochen, hierher zu kommen. Glaub mir, es ist alles gut so, wie es ist.«

Zunächst konzentrierte sich Tess auf den Verkehr.

Erst als sie Killarney hinter sich gelassen hatten, atmete sie sichtlich auf. »Ich fahre nur selten in die Stadt, weißt du«, erklärte sie. »Ich bin den Verkehr nicht gewöhnt und er macht mich nervös. In Delanney geht es beschaulicher zu.«

»Das ist genau das, worauf ich mich freue«, erwiderte Carol.

»Wie war der Flug?«, wollte Tess wissen.

»Lang und unbequem. Da war die Eisenbahnfahrt direkt eine Erholung.«

»Es ist nicht mehr weit«, versuchte Tess sie zu besänftigen.

»Ich weiß. Dein Pick-up ist auch bequem.« Sie streckte die Beine aus.

»Was soll bequem an dieser Kiste sein«, entgegnete Tess. »Es ist ein Überbleibsel der Gärtnerei. Aber einen anderen Wagen kann ich mir nicht leisten. Er tut noch seinen Dienst. Manchmal verkaufe ich noch Blumen, die kann ich damit ausfahren.«

Carol schwieg. Da war sie also wieder am Ort ihrer Kindheit. Nach langen achtzehn Jahren war sie hierher zurückgekehrt, wo einst ihr Leben begann. Es war keine Rückkehr für immer, nur für einen Urlaub, einen etwas längeren Urlaub, den sie sich genommen hatte. Sie blickte aus dem Seitenfenster. Ihr Weg führte durch den Killarney National Park mit seinen wunderschönen Seen Richtung Süden, über die Brücke, die den Kenmare River quert und von der sie einen Blick auf Cromwell’s Fort werfen konnte, weiter in Richtung Südwesten, vorbei an den Cloonee Loughs, dahinter die imposanten Caha Mountains. Diese Landschaft mit den Bergen und Seen, Flüssen und grünen Hügeln, den vereinzelten Wäldchen und Buschgruppen, den weidenden Schafen und dem blühenden Ginster war ihr so vertraut und gleichzeitig überraschend neu. Eine seltsame Unruhe hatte Carol gepackt, die sie nur schwer unterdrücken konnte.

Die Straße führte entlang der Küste. »Bitte, Tante Tess, halt mal kurz an«, bat Carol.

Ein wenig verwundert stoppte Tess den Wagen. Carol stieg aus, lief einige Schritte über die frisch-grünen Wiesen bis zur Kuppe des Hügels. Unter ihr erstreckte sich der Westhang der Hügelkette, der sanft zum Meer hin abfiel.

Inmitten des üppigen Grüns, in eine flache Senke eingebettet, lag Delanney.

Carol atmete tief die frische Seebrise ein, die zu ihr herüberwehte, und schloss die Augen. Das war es, das Land ihrer Kindheit, Erinnerung an Weite, an Freiheit, an Farbe und Wind.

Sie hätte nicht gedacht, wie sie das alles vermisst hatte.

Die Brise war lau, das milde Klima im Südwesten der grünen Insel überraschte sie. Und sie genoss es. Die bunte Blütenpracht ließ die kleinen Gärten um die gepflegten Häuschen von Delanney schier überquellen. Erst als Tante Tess hupte, schreckte Carol aus ihren Träumen auf. Sie zog die Jacke enger um die Schultern, wandte sich um und lief den Weg zurück zum Wagen.

»Ich wollte es sehen«, sagte sie, nachdem sie wieder neben Tess Platz genommen hatte.

Tess warf ihr einen prüfenden Blick zu.

»Du bist ein wenig blass«, stellte sie fest. »Zu viel künstliches Licht?«

»Zu viel Stress«, erwiderte Carol. »Die letzten Wochen gingen ein bisschen über meine Kräfte. Lesungen, Autogrammstunden, Pressetermine, Talkshows im Fernsehen …«

»Nun, der Ruhm hat seinen Preis«, stellte Tess trocken fest.

Carol warf den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. »Ich beklage mich ja gar nicht. Erfolg ist prickelnd. Bis jetzt ist jedes meiner Bücher ein Bestseller geworden und jeder neue Roman hat seinen Vorgänger übertroffen. Vor fünf Jahren kannte mich noch kein Mensch. Jetzt reißen sich die Fernsehsender um ein Interview oder eine Talkshow mit mir. Ich kann kaum noch auf die Straße gehen, ohne von irgendwelchen Leuten angesprochen zu werden. Meine Verlegerin hat mir allen Ernstes empfohlen, mir einen Bodyguard zuzulegen.«

»Was?«, rief Tess entgeistert. »Müssen es die Amerikaner immer übertreiben?«

Carol lachte. »Du weißt gar nicht, wie aufdringlich Fans sein können. Manchmal nervt es ganz schön.«

»Gib zu, du genießt es, im Erfolg zu baden«, warf Tess ein.

»Warum sollte ich es nicht zugeben«, erwiderte Carol. »Es ist Adrenalin pur. Und der Erfolg stachelt mich an, noch besser zu werden.«

»Fünf Bücher in fünf Jahren, das ist immerhin eine Leistung.«

»Man muss gut sein, um Erfolg zu haben. Nein, man muss besser als die anderen sein. Es gibt keine Rücksicht.«

»Ich kann mir vorstellen, dass du ebenso viele Neider hast wie Bewunderer.«

»Da magst du Recht haben, aber daran will ich nicht denken.« Sie öffnete wieder die Augen und plötzlich wurde sie ernst. »Um ganz ehrlich zu sein, Tante Tess, ich fühle mich völlig ausgebrannt.«

»So siehst du auch aus«, erwiderte Tess.

Carol blickte erschrocken. »Ist es wirklich so schlimm?«, wollte sie wissen.

Tess lächelte. »Nicht so schlimm, dass es nicht mit viel Ruhe und frischer Luft zu kurieren wäre.«

»Oh ja«, bestätigte Carol. »Lange schlafen, lange Spaziergänge, darauf freue ich mich schon.«

Sie durchfuhren Delanney. Neugierig schaute Carol aus dem Wagenfenster, um zu entdecken, was es in dem kleinen Fischerörtchen Neues gab. Es gab viel zu entdecken, schließlich war sie fast achtzehn Jahre nicht mehr hier gewesen, achtzehn Jahre, die sie zwischen New Yorks Wolkenkratzern und Redaktionsschreibtischen verbracht hatte. Ihr Erfolg als freie Schriftstellerin hatte ihr zwar einen hohen Bekanntheitsgrad eingebracht, ihre Freiheit aber weiter eingegrenzt. Der sechzigste Geburtstag von Tante Tess war die Gelegenheit für Carol, sich eine Auszeit zu gönnen. Und vielleicht konnte sie sogar Eindrücke für einen neuen Roman sammeln. Irland eignete sich ausgezeichnet für die Art von Fantasy-Romanen, die Carol Baxter schrieb.

»So, wir sind da.« Tess fuhr den schmalen Weg zu ihrem Häuschen hinauf, das oberhalb der Steilküste und etwas außerhalb von Delanney lag. Von hier hatte man einen atemberaubenden Blick über die Küste und das Meer.

Aber Tess wusste auch zu berichten, dass es schnell ungemütlich werden konnte, wenn Sturm aufkam. Im Augenblick jedoch schien die Sonne zwischen weißen Wolken und ein warmer Wind strich über das Gras. Die Blumen im Garten verströmten einen betörenden Duft.

»Ich wusste gar nicht mehr, wie schön es hier ist«, seufzte Carol. Dann ging sie um den Wagen und hievte ihr Gepäck von der Ladefläche. Wahrscheinlich würde sie den größten Teil ihrer mitgebrachten Garderobe überhaupt nicht benötigen. Die feinen Kostüme und Kleider, die sie sich nach und nach in den verschiedenen Boutiquen und Edelkaufhäusern von New York zugelegt hatte, würden hier sicher deplatziert wirken. Doch im Augenblick machte sie sich darüber keine Gedanken. Sie stellte die Koffer neben der Haustür ab.

Das Haus war kleiner, als sie es in Erinnerung hatte, und der Türrahmen niedriger. Aber diesen Geruch von Blumen und Gras, von Wind und Meer, all das hatte sie nicht vergessen. Sie betrat das Haus und befand sich gleich in der rustikalen Küche. Dunkle Balken zogen sich an der Decke entlang, von denen Bündel getrockneter Kräuter hingen. In der Küche hatte sich seit Carols Kindertagen nichts verändert. Da stand der massive Geschirrschrank aus geöltem Holz mit den Spitzenborten aus Papier und gehäkelten Gardinen, der große Holztisch, an dem gut zehn Personen Platz fanden, die Polsterbank in der Ecke unter dem kleinen Fenster und der verrußte Herd mit den vielen Töpfen und Pfannen an der Wand. Es duftete nach frisch gebackenen Waffeln.

Carol fühlte sich wieder in die Zeit ihrer Kindheit zurückversetzt. Oh, wie sie das alles liebte! Damals, als ihre Familie Irland verließ, um ihr Glück auf der anderen Seite des großen Teichs zu suchen, hatte sie die Ferne und das Abenteuer gelockt. Sie war zwölf Jahre alt, als sie nach New York auswanderten. Sie konnte sich noch sehr gut daran erinnern, wie sie an der Reling des Schiffes stand und zu dieser gewaltigen, fremden Stadt mit den riesigen Häusern hinüberstarrte. Der Abschied von Tante Tess, ihren Schulfreunden, von Delanney war kurz und schmerzhaft. Die unendlich vielen neuen Eindrücke, die in New York auf das halbwüchsige Mädchen einstürmten, verdrängten die Erinnerungen sehr schnell und bald hatte sie alles vergessen. So glaubte sie zumindest. Jetzt musste sie feststellen, dass ihr nichts entfallen war, sie sich an jedes kleine Detail erinnern konnte. Sie hatte die Erinnerungen nur in eine tiefe Schublade ihres Gehirns vergraben. Jetzt waren sie wieder da, frisch und lebendig, als wäre sie nie weg gewesen.

Tess nahm Carol die Jacke ab, während Carol auf der Eckbank Platz nahm. Sie blickte zum Fenster hinaus. Tess deckte den Tisch mit dem gleichen blau gemusterten Geschirr, das sie schon vor achtzehn Jahren benutzt hatte. Es bestand aus Steingut, war schwer und rustikal, doch Carol liebte es. Zärtlich strich sie über den Henkel der Tasse.

»Selbst gemacht?«, fragte sie, als Tess ein Glas dicke Schlehenkonfitüre auf den Tisch stellte.

»Warum fragst du?« Tess blickte sie tadelnd an. »Ich würde nie welche kaufen.«

»Ich weiß.« Carol nahm eine der warmen Waffeln und bestrich sie dick mit Konfitüre. »Deswegen ist sie einmalig. Alles ist einmalig bei dir.« Mit einem zufriedenen Grunzen biss sie in die Waffel und schloss die Augen. »Köstlich«, murmelte sie kauend.

Tess schenkte Kaffee ein. Der Kaffee war sehr stark und Carol befürchtete, dass er ihren Blutdruck über Gebühr ankurbeln würde. Doch sie trank ihn wie eine seltene Kostbarkeit. Und das war er auch. Es war kein Vergleich zu dem Pulverkaffee mit Maggigeschmack, den sie sonst zu Hause trank. Sie hatte nie Wert auf eine traditionelle Esskultur gelegt. Fastfood war sie seit ihren Kindertagen gewohnt, später hungerte sie sich die überflüssigen Pfunde wieder herunter und in den letzten Jahren empfand sie Essen nur als notwendiges Übel, um ihre körperlichen Kräfte zu erhalten. Seit sie bekannt und berühmt geworden war, achtete sie viel mehr auf ihr Äußeres, gab ihr Geld beim Frisör, bei der Kosmetikerin, im Fitnesscenter und in den Boutiquen aus. Sie war ihrem Ruf als Top-Autorin etwas schuldig.

Und dass kein Mann jemals für längere Zeit an ihrer Seite ging, machte sie umso begehrenswerter. Bislang waren es immer Männer gewesen, die ihr auf der Karriereleiter eine Sprosse nach oben geholfen hatten. Dabei hatte Carol jedoch stets darauf geachtet, dass die Bindung nicht zu eng wurde und sie sich gegebenenfalls ohne größere Probleme daraus zurückziehen konnte. Sie genoss die Bewunderung der Männer. Eine schöne und gleichzeitig intelligente Frau war auch im großen Amerika nicht unbedingt selbstverständlich.

Sie musste lächeln und streckte wohlig die Beine. Ja, sie konnte mit sich und ihrem Leben durchaus zufrieden sein.

Obwohl sie eigentlich nie so ganz zufrieden war: Kaum war ein Roman auf dem Markt, da plante sie schon den nächsten, der noch besser, noch umsatzstärker, noch berühmter werden sollte als der vorherige. Ehrgeiz, Selbstbestätigung, der Rausch des Erfolgs, sie konnte es selbst nicht erklären. Eine innere Unruhe trieb sie vorwärts.

Sie hatte hart gearbeitet, stundenweise in der Redaktion des Wochenblattes, in dem sie nach dem Studium ihre ersten Erfahrungen als Journalistin gesammelt hatte. Nach drei Jahren, als ihr erster Roman ein Erfolg wurde, stellte sie sich auf eigene Beine. Sie wollte frei sein für ihre Karriere als Romanautorin. Das hinderte sie jedoch nicht daran, zusätzlich wieder in der Redaktion zu arbeiten, dort Recherchen durchzuführen und vielfältige menschliche Kontakte zu pflegen. Sie brauchte die nervöse Hektik des Redaktionsalltags, das ständige Klingeln des Telefons, das Rattern des Faxgerätes oder des Tickers, die geschäftig hin und her eilenden Mitarbeiter. Umso entspannter ging sie danach an ihre Arbeit daheim in ihrer fast avantgardistisch eingerichteten Penthousewohnung im obersten Stock eines Wolkenkratzers. Bei dem Blick über die Skyline von New York konnte sie ihre Gedanken fliegen lassen in das Land ihrer Fantasie, in eine Welt voller Helden und schöner Mädchen, von Fabelwesen und bösen Mächten, von Schlachten des Guten gegen das Böse, vom Sieg des tapferen Helden und vom Happyend in den Armen einer schönen Prinzessin.

Vielleicht war es dieses glückliche Ende nach all den überstandenen Gefahren, die Carols Romane so erfolgreich machten. Sehnte sich nicht jeder Mensch nach diesem Glück, nach dem Licht am Ende des Tunnels, nach der Erfüllung der Träume und der Liebe? Jawohl, die Liebe spielte in all diesen Romanen eine große Rolle. Eine Liebe, die Carol selbst nie erfahren hatte. Sie glaubte, diesen oder jenen Mann zu lieben, gleichzeitig wehrte sie sich instinktiv gegen eine zu große Vertrautheit. Fast ängstlich scheute sie davor zurück, sich zu sehr an einen Mann, an einen anderen Menschen zu binden. Sie befürchtete, ihre Freiheit, ihre Selbstständigkeit einzubüßen und damit auch die Fähigkeit, schöpferisch und kreativ zu sein. Sie brauchte ihre persönliche Freiheit, um auch ihre gedankliche Freiheit zu erhalten.

Aber was war der Blick über die Dächer New Yorks gegen diesen Ausblick aus Tante Tess’ Küchenfenster? Sie riss sich von diesem Bild los und richtete ihre Augen auf Tante Tess. Sie hatten sich achtzehn Jahre nicht mehr gesehen, aber sie hatten sich in all dieser Zeit geschrieben, miteinander telefoniert. Der Kontakt war nie abgerissen. Ihr Haar war grau geworden und ihre Falten tiefer, doch noch immer lag diese Mischung aus Güte und Resolutheit auf ihrem Gesicht. Tante Tess hatte es in ihrem Leben nie leicht gehabt, ihr Mann war früh gestorben und Kindersegen war ihnen verwehrt geblieben. Sie hatte sich mit einer kleinen Gärtnerei, die sie von ihrem Mann geerbt hatte, mehr schlecht als recht durchgeschlagen. Carol kannte sie nur in Gummistiefeln und einer langen grünen Gärtnerschürze durch das Gewächshaus oder die Gartenbeete stapfen oder mit ihrem klapprigen alten Lieferwagen Stiegen voller Blumen, Obst und Gemüse ausfahren. Sie belieferte die umliegenden Ortschaften, einige Geschäfte im Ort und später, als der Touristenstrom langsam einsetzte, auch einige Hotels und Restaurants.

Dieses Leben hatte Tante Tess gezeichnet. Und doch schien es Carol, dass ihre Augen die gleichen waren wie damals. Sie blickten aufmerksam und wach, klug und wissend, und manchmal ein kleines bisschen spöttisch. Ihr dunkles Haar wurde von silbernen Strähnen durchzogen, was ihr eine sympathische Art von Würde verlieh. Für einen Augenblick überkam Carol das Verlangen, sich in Tess’ Arme zu schmiegen, ihre Wärme und Geborgenheit zu fühlen – wie damals, wenn irgendein Kummer ihr Kinderherz gequält und gewaltigen Weltenschmerz ausgelöst hatte. Tante Tess wusste zu trösten, zu besänftigen, zu helfen und zu raten. Ein Rat von Tante Tess war für Carol stets eine Offenbarung gewesen. Jetzt schienen die Weisheit des Alters und die Erfahrungen des Lebens noch intensiver geworden zu sein.

Carol griff unwillkürlich nach ihrer Hand.

»Ich bin so froh, wieder hier zu sein«, sagte sie leise.

Tess nickte. »Ich auch.«

Carol gewahrte eine Bewegung im Garten. Einen Moment später öffnete sich die Glastür, die hinaus zum Garten führte. Ein Mann trat ein, den Kopf einziehend, weil er groß gewachsen war. Über seine breiten Schultern spannte sich ein kariertes Hemd. Zunächst sah Carol nur seinen dunklen Schopf, das Hemd, dessen oberste Knöpfe offen standen und einen Blick auf seine Brust freigaben, und eine mit hellem Staub überpuderte, ausgebleichte Jeans.

Er hob den Kopf und blieb abrupt stehen, als er Carol bemerkte. Auch Carol starrte ihn an. Er füllte den gesamten Türrahmen aus, ohne massig zu wirken. Sein Gesicht lag im Halbschatten, weil er mit seinem Eintreten fast die ganze Küche verdunkelte. Trotzdem konnte sie seine dunkelgrünen Augen erkennen, die in einem seltsamen Gegensatz zu seinem schwarzen Haar standen. Er besaß ein markantes, männlich wirkendes Gesicht, was nicht zuletzt der dunkle Dreitagebart bewirkte. Die Stille war fast greifbar, während sich beide anstarrten.

»Verzeihung«, brachte er schließlich mit einem Blick auf Tess hervor. »Ich wusste nicht, dass Sie Besuch haben.«

Er wollte sich augenblicklich wieder zurückziehen.

»Das ist meine Nichte Carol«, sagte Tess.

Er musterte sie wieder, nickte kurz. »Miss.«

»Dein Brot liegt dort auf dem Büfett«, ließ sich Tess wieder vernehmen.

Mit zwei Schritten war der Mann am Schrank, nahm einen in ein Leinentuch eingeschlagenen Brotlaib an sich und verließ mit einem gemurmelten Gruß und ohne sich noch einmal umzuschauen die Küche. Carol schaute ihm nach, wie er den Garten durchquerte und schließlich aus ihrem Blickfeld verschwand.

»Wer war das?«, fragte sie, nachdem sie sich von ihrer Überraschung erholt hatte.

»Patrick«, erwiderte Tess beiläufig und schenkte Kaffee nach. »Ich habe ihm das Gartenhäuschen vermietet.«

»Ach!« Irgendwie war Carol enttäuscht. Sie hatte angenommen, dass sie das kleine, romantische Häuschen mit dem wild wuchernden Efeu im hinteren Teil des Grundstückes bewohnen könnte. »Ich wusste ja gar nicht, dass du vermietest.«

»Das hat sich so ergeben«, erwiderte Tess ausweichend. »Ich habe dir das große Zimmer oben zurechtgemacht. Ich hoffe, es gefällt dir.«

»Mir ist alles recht«, lenkte Carol schnell ein. Sie wusste nicht, warum sie plötzlich beunruhigt war.

Kapitel 2

Carol streckte sich und gähnte herzhaft. Die Morgensonne schien durch das Fenster und kitzelte ihre Nase. Sie hatte erstaunlich tief, fest und lange geschlafen. Jetzt räkelte sie sich unter der bunten Steppdecke und ließ ihre Augen durch das Zimmer wandern. Seltsam, dass sie das Haus viel größer in Erinnerung hatte, auch dieses Zimmer, dessen Einrichtung sich nicht wesentlich verändert hatte. Während das Erdgeschoss von Tante Tess’ Haus nur aus zwei großen Räumen bestand, der großen Küche und einer offenen Wohndiele mit dem großen Kamin, unterteilte sich das Obergeschoss in vier kleinere Räume, teilweise mit schrägen Wänden. Es gab ein winziges Bad, das erst viel später eingebaut worden war, eine ebenso winzige Wäschekammer und zwei Schlafzimmer.

Eines der Zimmer benutzte Tante Tess zum Schlafen. Darin standen noch die wuchtigen Ehebetten und ein großer dunkler Kleiderschrank. Der andere Raum diente seit jeher als Gästezimmer. Bereits als Kind hatte Carol in dem dunklen Holzbett mit den Schnitzereien am Giebel geschlafen. Ein Sessel, ein zierlicher Tisch, eine Kommode und ein schmaler Kleiderschrank vervollständigten die Einrichtung. Sogar die gehäkelten Deckchen auf der Kommode waren die gleichen, nur die kuschelige Steppdecke war neu.

Carol erhob sich und lief barfuß zum Fenster. Sie öffnete es und sog tief die Morgenluft ein. War es die Strapaze der langen Reise, war es die klare Seeluft oder das Gefühl, irgendwie wieder zu Hause zu sein? Sie hatte fast zehn Stunden geschlafen und fühlte sich nun wunderbar ausgeruht.

Carols Zimmer lag vom Meer abgewandt und gab den Blick auf das Hinterland frei.

Der Hang zog sich noch ein wenig höher, an seiner Flanke hatte Tante Tess Beete mit Blumen und Gemüse angelegt. Flache Sträucher schützten sie gegen den oft rauen Meereswind. Dahinter ging der Garten in Wiese über, unterbrochen von verkrüppelten Bäumen und Büschen. Und ganz hinten befand sich das Gartenhaus, ein kleines Gebäude aus Stein mit einem Reetdach, mit raumhohen Fenstern und einer überdachten Holzterrasse. Wilder Efeu klomm an Holzspalieren empor und schenkte dem verwunschenen Häuschen einen Hauch Romantik. Als Kind hatte Carol sich vorgestellt, dass hier eine Prinzessin wohnte, die auf ihre Erlösung durch einen Prinzen wartete. Vielleicht hatten diese Kinderträume sogar ihr nachfolgendes Leben beeinflusst, als sie begann, Fantasy-Romane zu schreiben? Fast fühlte sie sich in ihre eigene Romanwelt versetzt und plötzlich wurde ihr klar, wie sehr sie eigentlich von ihrer Kindheit hier in Delanney geprägt worden war. Das hatte sie in all den Jahren verdrängt, war ihr gar nicht mehr zu Bewusstsein gekommen.

Da entdeckte sie am Gartenhaus den Mann, der am Vortag in Tante Tess’ Küche gekommen war. Er hantierte auf der Veranda, hängte ein Handtuch über das Holzgeländer und blickte für einen Moment in den Himmel hinauf. Dann verschwand er wieder im Inneren. Erneut überkam Carol ein eigenartiges Gefühl. Sie konnte es nicht definieren, es ballte sich in ihrem Bauch zu einer Mischung aus unbestimmter Furcht, Neugier, Ablehnung und Anziehung zusammen.

Sie schüttelte unwillig den Kopf. Gefühlsduselei war ihr fremd und trotz aller Fantasie für ihre Romane zeichnete sie ein klarer Verstand und kühler Kopf für alle Dinge des Lebens aus. Nachdenklich starrte sie zum Gartenhaus hinüber, obwohl von dem Mann nichts mehr zu sehen war. Gestern hatte sie für einen Moment das Gefühl gehabt, dass sie diesen Mann kannte. Aber ihr logischer Verstand sagte ihr, dass das nicht möglich war. Er mochte vielleicht in ihrem Alter sein, vielleicht etwas älter, auch das war nicht einfach zu bestimmen.

Sie riss sich selbst aus ihren Gedanken und tappte ins Bad hinüber. Tante Tess hatte ihr Handtücher zurechtgelegt, der Wasserboiler an der Wand war aufgeheizt und Carol beschloss, eine Dusche zu nehmen. So erfrischt und in ein luftiges Baumwollkleid gehüllt, begab sie sich in die Küche. Das Frühstück stand auf dem Tisch, von Tante Tess war nichts zu sehen. Die Tür zum Garten stand offen.

Carol blieb in der Tür stehen und blickte hinaus. Wie aus dem Füllhorn einer Göttin ergoss sich ein Blumenmeer über alle Beete. Es wogte in allen Farben. Die Blüten mischten ihren Duft zu einer einzigartigen Symphonie.

Tess kam den Gartenweg entlang. »Hallo, ausgeschlafen?«, begrüßte sie Carol.

»Guten Morgen, Tante Tess. Ich habe geschlafen wie ein Bär.«

»Dann hast du sicher Hunger. Der Tisch ist gedeckt.«

»Und du? Hast du schon gefrühstückt?«

Tess nickte. »Ich stehe mit den Vögeln auf. Und ich frühstücke auch zeitig.«

»Hast du schon im Garten gearbeitet?«, wollte Carol wissen, während sie sich an den Tisch setzte.

»Nein, ich war bei Patrick und habe ihm das Frühstück ins Gartenhaus gebracht«, antwortete Tess.

»Du bedienst ihn?«, wunderte sich Carol.

Tess schüttelte sacht den Kopf. »Er kommt sonst zum Essen immer in meine Küche.«

»Und warum kommt er jetzt nicht mehr?«

Tess widmete ihr einen langen und nachdenklichen Blick. »Er denkt, dass er stört.«

»So ein Unsinn!« Carol zog die Augenbrauen zusammen. »Hast du es ihm nicht gesagt?«

»Doch. Aber er will nicht.«

Sie hob die Schultern. »Dann soll er es bleiben lassen.«

Doch dann stutzte sie. »Oder störe ich ihn?«

»Das glaube ich kaum.« Tess beschäftigte sich am Herd und Carol konnte ihr Gesicht nicht sehen.

»Er ist etwas seltsam, nicht wahr? Woher kennst du ihn überhaupt?«

»Er stammt aus dem Ort.«

»Und warum wohnt er bei dir?«

»Er ist Künstler und braucht Licht und Platz.«

»Das Gartenhaus ist wohl kaum geeignet dafür«, warf Carol ein.

»Das Gartenhaus ist gut geeignet. Er ist Maler und Bildhauer.«

»Sieh an. Irgendwoher musste der Dreck doch kommen, mit dem er überpudert war.« Sie konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. »Und du findest das gut?«

Tess wandte erstaunt den Kopf. »Warum sollte ich das nicht gut finden? Ich brauche das Gartenhaus nicht mehr.«

Carol schwieg und konzentrierte sich auf das Frühstück.

Es ging sie wirklich nichts an, wem die Tante ihr Gartenhaus vermietete.

»Patrick ist ein guter Junge«, nahm Tess plötzlich den Gesprächsfaden wieder auf.

Irgendwie wurde es Carol unangenehm, dass die Tante wieder von dem Mann sprach. Jetzt war sie doch da und wollte Tess Gesellschaft leisten. Und sie setzte auch voraus, dass sie für ein paar Wochen der Mittelpunkt in Tess’ nicht gerade abwechslungsreichem Leben sein würde.

»Du kennst ihn. Ihr seid früher zusammen in die Schule gegangen.«

Nachdenklich zog Carol die Stirn in Falten. »Ihn? Nein, da musst du dich irren.«

»Ich irre mich nicht. Es ist Patrick O’Brian und er ist ein oder zwei Jahre älter als du.«

»Patrick O’Brian? Ich kann mich nicht an ihn erinnern.«

»Vielleicht ist er dir nur nicht aufgefallen. Er war ein stiller Junge, unauffällig.«

Carol starrte an die Wand. Patrick O’Brian – dieser Name war nicht ungewöhnlich in Irland und nicht selten in Delanney. Diese Augen! Er musste schon damals diese eigenartigen dunkelgrünen Augen gehabt haben. Schwach erinnerte sie sich an einen dünnen, dunkelhaarigen Jungen, der schüchtern war und von seinen Mitschülern immer gehänselt wurde. Sollte das dieser Patrick O’Brian gewesen sein?

Mit einem leisen Seufzer erhob sie sich. Sie fand es müßig, darüber weiter nachzudenken. »Ich möchte gern ins Dorf gehen und schauen, was sich alles verändert hat«, sagte sie zu Tess.

»Brauchst du meinen Wagen?«

Carol schüttelte den Kopf. »Nein, ich laufe gern ein Stück. Es ist so wunderbares Wetter.«

Tess lächelte. »Geh nur. Schließlich musst du dich mit allem erst wieder vertraut machen.«

Strahlender Sonnenschein tauchte das Land in leuchtende Farben. Das Gras erschien grüner, der Himmel blauer und die Wolken weißer als anderswo auf der Welt. Das Gekreisch der Seevögel drang von der Steilküste zu Carol herüber und unterbrach die Stille, die über allem lag. Das Meer lag in relativer Ruhe, sie hörte keine Brandung gegen die Felsen schlagen. Beschwingt lief sie die schmale Straße entlang, die zum Dorf führte. Doch schon bald verließ sie den Asphaltsteg und lief querfeldein, sprang über niedrige Steinmauern, die die Weiden unterteilten, und durchquerte eine friedlich grasende Schafherde. Dann stand sie am Rand der steilen Klippen, die zur Bucht abfielen. Möwen segelten geschickt auf den unsichtbaren Winden und spähten nach Fischen im klaren Wasser aus.

Zu ihrer Linken sah sie Delanney in der kleinen Bucht liegen, es gab einen winzigen Hafen mit einigen Fischerbooten an der Mole, mit den bunten Häuserzeilen entlang der schmalen Hafenstraße und dem nicht fehlen dürfenden Pub. Dieser Anblick war ihr so vertraut, als wäre sie nie fort gewesen. Mit leichten Schritten lief sie den Hang hinunter, erreichte die ersten Häuser und verlangsamte dann ihr Tempo. Gierig wie ein ausgetrockneter Schwamm sog sie das Bild in sich auf, dazu die Geräusche vom Hafen, das Schwappen der Wellen an den Bug der Schiffe, das Kreischen der Möwen, das Hupen der wenigen Autos in den engen Straßen, die Gerüche von Fisch, Teer, Salzwasser und verbranntem Torf.

Sie schlenderte an der Mole entlang, schaute den Fischern zu, wie sie ihre Netze flickten oder ihre Kähne säuberten, wandte sich dann der Häuserfront in der Waterstreet zu. Von weiß und gelb über orange, blau bis dunkelgrün leuchteten die Fassaden der Häuser. Der Anblick erinnerte sie an ein Bilderbuch ihrer Kinderzeit. Hinter den Häusern, auf dem Gipfel des Hügels erhob sich die Kirche von Delanney. Sie war sehr alt und stammte wahrscheinlich aus der Wikingerzeit. Dahinter erstreckte sich der kleine Friedhof mit einem alten und einem neuen Teil. Sie erinnerte sich, dass es unter den Kindern des Ortes als Mutprobe galt, nachts einmal quer über den alten Friedhof mit seinen moos- und flechtenbewachsenen steinernen Kreuzen zu gehen. Sie hatte die Mutprobe bestanden, auch wenn sie danach nächtelang nicht schlafen konnte.

In einem grell orange gestrichenen Häuschen mit gelben Fenstern entdeckte sie ein Café. Früher musste es einmal ein Kolonialwarenladen gewesen sein. Sie konnte sich jedenfalls nicht mehr daran erinnern, dass es hier ein Café gab. Zwei Tische standen auf dem Pflaster davor. Große Sonnenschirme dienten gleichzeitig als Schutz gegen die Schauer. Sie waren angebunden, denn die ständige Meeresbrise rüttelte daran.

Sofort eilte eine Frau mittleren Alters herbei. »Ist es nicht ein schöner Tag heute?«, fragte sie und Carol nickte zustimmend. Das Wetter war ein allgegenwärtiges Thema, ob die Sonne schien oder ein kräftiger Regen niederging. Und die Iren schienen ohnehin jedes Wetter schön zu finden. Im Augenblick war wirklich nichts daran auszusetzen.

»Bitte einen Irishcoffee.«

»Kommt sofort!« Die Bedienung verschwand wieder, um das Gewünschte zu bringen. Carol schloss die Augen, hielt ihr Gesicht der Sonne entgegen und genoss die sanfte Brise auf ihrer Haut.

Der Kaffee wärmte sie, nicht nur, weil er heiß war, sondern weil das Gemisch aus starkem Kaffee, braunem Zucker, heißem Whiskey und dem Sahnehäubchen ihren Kreislauf ankurbelte.

»Verbringen Sie hier Ihren Urlaub?«, fragte die Frau. Es war die sympathische Art von Neugier, die den Iren eigen war.

Carol nickte lächelnd. »Ja und nein. Denn ich stamme von hier. Ich bin die Nichte von Tess O’Sullivan.«

»Ist das die Möglichkeit?« Sie schlug vor Überraschung die Hände zusammen. »Tim, komm mal raus, die Nichte von Tess ist da! Sie verbringt hier ihren Urlaub!« Timothy O’Shea kam herausgeschlurft und begrüßte und bestaunte Carol. Im Nachbarhaus öffnete sich ein Fenster und Carol war sich sicher, dass in der nächsten Stunde ganz Delanney von ihrer Ankunft unterrichtet sein würde.

Doch Carol wollte nicht im Café sitzen bleiben. Als sie den Kaffee ausgetrunken hatte, bezahlte sie und erhob sich.

Von der Waterstreet zweigte eine Straße ab, die hinauf ins Hinterland führte. Auf jeden Fall führte sie an der Kirche vorbei. Ein Wegweiser mit vielen Schildern, die in Englisch und Gälisch beschriftet waren, weckte falsche Hoffnungen.

Delanney war nur ein kleiner Ort, es gab ein paar Pubs, einige Läden und kleine Werkstätten, aber nur ein einziges Hotel mit acht Zimmern. Hierher verirrten sich immer noch wenige Touristen. Carol fand es gut so. Delanney hatte sich seine beschauliche Stille und den langsamen Gang der Uhren erhalten. Ein Eselskarren kam ihr entgegen, der alte Mann mit der Schiebermütze und dem struppigen, gefleckten Hund grüßte sie. Sie grüßte zurück und blickte ihnen hinterher. Es gab sie immer noch, die Eselskarren, mit denen man alles Mögliche transportieren oder auch mitfahren konnte. Die Touristen waren ganz verrückt darauf, und auch Carol war als Kind gerne mitgefahren, obwohl sie keinen weiten Heimweg von der Schule hatte.

Ihr Elternhaus lag an der Straße zur Kirche hinauf. Nach wenigen Minuten hatte sie es erreicht. Es war ein schlichtes, graues Steinhaus, unverputzt, mit leuchtend weiß gestrichenen Fensterrahmen. Sie blieb davor stehen. Jetzt wohnten hier fremde Menschen. Ihre Eltern hatten es damals verkaufen müssen, um davon für sich und ihre fünf Kinder die Überfahrt zu bezahlen. Seitdem waren achtzehn Jahre vergangen.

Sie riss sich aus ihren Gedanken und Erinnerungen, ging die Straße weiter hinauf bis zur Kirche. Die Tür stand immer offen. Sie beschloss einzutreten, bekreuzigte sich und kniete auf dem kleinen Betstuhl vor dem Altar nieder. Es war das erste Mal seit damals, dass sie es wieder tat. Auch hier war die Zeit stehen geblieben.

Mit sich selbst im Reinen, trat sie hinaus. Am Tag sah der alte Friedhof mit seinen verwitterten Grabkreuzen gar nicht so schrecklich aus und sie musste unwillkürlich lächeln.

Drohende Wolkenberge türmten sich am Horizont.

Plötzlich verdunkelte sich die Sonne und ein heftiger Wind kam auf. Dann fielen schon die ersten Tropfen. Im gleichen Augenblick bereute Carol, keine Jacke mitgenommen und keinen Schirm eingepackt zu haben. Dass das Wetter so abrupt umschlug, auch das hatte sie irgendwie vergessen. Jetzt wurde sie ziemlich unsanft daran erinnert. Ein Schirm hätte ihr wahrscheinlich wenig genützt, denn der heftige Wind steigerte sich zu einem unangenehmen Sturm. Innerhalb weniger Sekunden war Carol bis auf die Haut durchnässt. Sie blickte sich um, aber Bäume waren auf der grünen Insel seit jeher selten. Ergeben senkte sie den Kopf gegen den Sturm, kniff die Augen zusammen und lief mit schnellen Schritten weiter. Sie wählte eine Abkürzung über die Weiden und gelangte über den Hügel oberhalb von Tante Tess’ Grundstück. Als sie den Gipfel erklomm und vor sich das kleine Haus inmitten der Büsche und Blumenbeete sah, blieb sie stehen. Im gleichen Moment hörte der Regen auf: Die Sonne zwängte ihre gebündelten Strahlen zwischen den Wolken hindurch, schien sie mit ihrer Kraft auseinander zu drücken und sorgte für ein fast unwirkliches Licht wie am ersten Tag der Schöpfung. Auch wenn Carol das Wasser den Rücken herabrann, atmete sie tief durch. Die Luft schmeckte würzig und rein. Das Meer schimmerte in allen Blautönen. Auf dem Gras glitzerten die dicken Regentropfen wie Perlen.

Sie gewahrte eine Bewegung auf der Terrasse des Gartenhäuschens. Patrick trat vor die Tür, dann in den Garten heraus und schien ebenfalls die klare Luft zu genießen.

Da er Carol den Rücken zudrehte, komme sie ihn in Ruhe betrachten. Er sah gut aus, auch wenn er wieder dieses karierte Hemd und von der Arbeit schmutzige Jeans trug.

Seine Figur war wohl proportioniert, mit langen Beinen, schmalen Hüften und breiten Schultern. Die Schultern und seine Arme waren muskulös, ohne massig zu wirken. Sein dunkles Haar stand strubbelig vom Kopf ab und der Wind verfing sich darin. Carol wurde unwillkürlich an die Federn von Raben erinnert. Mit dem Patrick O’Brian, der damals mit ihr in die Schule gegangen sein sollte, hatte dieser Mann keine Ähnlichkeit. Patrick, kenne ich dich?

Als spürte er, dass sie ihn beobachtete, drehte er sich plötzlich um und starrte zu ihr herauf. Carol war wie versteinert. Sie hatte keine Chance, sich vor seinem Blick zu verbergen, und fühlte sich peinlich berührt, als hätte er sie bei etwas Verbotenem erwischt. Er hielt ihrem Blick stand, und Carol fühlte sich zusehends unbehaglicher.

Dabei klopfte ihr das Herz bis zum Hals. Sie überlegte, ob sie den direkten Weg zum Haus nehmen und dabei unmittelbar an ihm vorbeilaufen sollte oder lieber den Umweg seitlich über den Hang bis zur Straße. Sie konnte sich nicht entscheiden. So blieb sie, wo sie war. Auch er rührte sich nicht. Beide verbanden ihre intensiven Blicke.

Carol wurde von einem Gefühlschaos heimgesucht. Dieser Mann zog sie an und stieß sie gleichzeitig ab. Warum kam er nicht auf sie zu, sagte ihr etwas Nettes, vielleicht ein Kompliment, lächelte, reichte ihr die Hand? Er starrte sie an wie ein seltenes Tier im Zoo. Warum schwieg er? Die Iren galten doch überall in der Welt als redselig und neugierig. Patrick schien eine Ausnahme zu sein.

Warum soll ich nicht zu ihm gehen?, dachte Carol und gab sich einen Ruck, um geradewegs zum Gartenhäuschen hinunterzulaufen. Im gleichen Augenblick wandte Patrick sich ab, um ins Haus zurückzukehren.

Enttäuscht und trotzig umrundete Carol mit großen Schritten den Hügel bis zur Straße, betrat das Grundstück durch das Tor und den Vorgarten mit den üppigen Blumen und atmete erleichtert auf, als sie Tante Tess in der Küche hantieren sah.

Kapitel 3

Die Abende waren kühl. Tess hatte den Kamin in der Wohndiele angeheizt. Es roch nach Ruß und Rauch, aber die Wärme, die aus der Feueröffnung herüberwogte, war sehr angenehm. Carol hockte auf dem Sofa, in eine karierte Decke gekuschelt, vor sich eine Tasse mit dampfendem Tee.

»Hast du vergessen, wie hier das Wetter ist?«, fragte Tess belustigt. »Ich wette, du hast keine Regenjacke in deinem umfangreichen Gepäck.«

Carol schüttelte den Kopf und beobachtete Tess, wie sie an einem dicken Schafwollpullover strickte. Sie saß in einem urtümlichen Sessel und hatte die Füße auf einen Hocker hochgelegt. Carol bemerkte ihre geschwollenen Gelenke.

»Soll ich dir auch so einen Pullover stricken?«, fragte sie.

Carol rümpfte die Nase. »Danke, aber ich habe genügend Garderobe.« Bei dem Gedanken an die kratzige Schafswolle juckte es sie bereits jetzt. »Für wen strickst du ihn?«, wollte sie wissen. Ihr fiel auf, dass der Pullover ziemlich groß wurde.

»Für Patrick.«

Carol hätte es wissen müssen. Tante Tess bemutterte ihn ja wie einen eigenen Sohn!

»Wieso kümmerst du dich so um ihn?«, wollte sie wissen. »Er ist ein erwachsener Mann.«

»Auch ein erwachsener Mann braucht jemanden, der sich um ihn kümmert.«

Carol lachte auf. »Übertreibst du es damit nicht ein bisschen?«

Tess hob die Schultern. »Es macht mir nichts aus. Ich habe doch sonst niemanden.«

Carol schwieg. Ein bisschen konnte sie Tess ja verstehen. Sie lebte einsam in ihrem ziemlich abgelegenen Haus. Vielleicht erledigte er ja kleinere Reparaturen oder vertrieb ihr die Langeweile. Allerdings machte Patrick nicht den Eindruck, dass er sehr unterhaltsam war. Was störte sie dann daran?

»Was für ein Künstler ist er denn?«, wollte Carol wissen. »Ein berühmter?« Sie lauschte auf das Klappern der Stricknadeln, das die Stille unterbrach. Ab und zu knackte ein Holzscheit ins Kamin und stieß eine Funkengarbe in den Schornstein hinauf.

»Kein berühmter«, erwiderte Tess. »Aber ein begabter.«

»Hat er keine Familie mehr hier? Keine Verwandtschaft?«

Tess ließ ihre Strickarbeit in den Schoß sinken. »Seine Mutter starb vor einem Jahr. Seine Geschwister sind in alle Winde verstreut. Zum Begräbnis waren sie noch einmal alle da.« Sie schwieg und starrte ins Feuer. »Er ist der Jüngste, sie hatte ihm das Haus vererbt.«

»Und warum lebt er jetzt bei dir?«

»Das Haus war völlig überschuldet. Sein Vater war Fischer und kam eines Tages nicht wieder zurück. Um die Kinder zu ernähren, hatte die Witwe Hypotheken auf das Haus aufgenommen. Patrick musste es verkaufen, um einen Teil der Schulden zu tilgen.«

»Wenn er einige seiner Kunstwerke verkauft, dürfte es doch kein Problem sein, die Schulden abzubezahlen«, warf Carol ein.

Tess schüttelte sacht den Kopf. »Er verkauft nichts.«

»Sind seine Werke so schlecht?«

»Im Gegenteil. Er ist unglaublich begabt. Aber er will sie nicht verkaufen.«

»Was sind das für Werke?« Carol wurde langsam neugierig.

»Plastiken, Skulpturen, er malt auch Öl- und Aquarellbilder. Er ist ein sehr vielseitiges Talent.«

Carol schlürfte lautstark den heißen Tee. »Das verstehe ich aber nicht. Er lebt lieber mit Schulden, als sich von einigen seiner Bilder zu trennen?«

»So ist es. Er hat eben seine ganz eigene Meinung dazu.«

»Und du gibst ihm Asyl? Zahlt er wenigstens Miete für das Gartenhaus?«

Tess atmete tief durch, dann schaute sie Carol an. »Ist das wichtig? Es steht ohnehin leer.«

Verständnislos wiegte Carol den Kopf. »Na hör mal! Ich meine, es ist deine Sache, wen du in dein Haus nimmst, aber so ganz uneigennützig solltest du nicht sein.«

»Bin ich auch nicht. Allein seine Anwesenheit verschafft mir ein Gefühl des Glücks.«

Carol lachte laut auf. »Stehst du neuerdings auf junge Männer?«

Tess’ Gesicht blieb ernst. »Keineswegs. Das ist nicht der Grund. Es macht mich glücklich, ihm bei seiner Arbeit zuzuschauen. Es macht mich glücklich, dass ich ihm diese Möglichkeit bieten kann.«

»Warum versuchst du dann nicht, ein paar Käufer für seine Kunstwerke zu finden? Wenn er gut ist, dürfte das doch nicht so schwer sein. Oder soll ich mal versuchen, etwas loszubekommen? Ich habe einige Beziehungen zur amerikanischen Kunstszene.«

»Ich glaube nicht, dass er etwas losbekommen will«, erwiderte Tess. »Er macht diese Kunstwerke nur für sich.«

»Ist das nicht ein bisschen verrückt?« Carol lehnte sich auf dem Sofa zurück. »Und wovon lebt er dann?«

»Von Gelegenheitsarbeiten. Er braucht nicht viel zum Leben.«

»So sieht er auch aus. Ein wenig – hm – heruntergekommen.«

»Du kennst ihn nicht, sonst würdest du nicht so über ihn reden«, tadelte Tess.

»Wenn ich angeblich mit ihm zur Schule gegangen bin, dann müsste ich ihn ja kennen«, konterte Carol. »Aber ich kann mich beim besten Willen nicht an ihn erinnern.«

»Mit dem stillen Jungen von damals hat er auch nicht mehr viel gemein. Ich freue mich, wie er sich entwickelt hat, obwohl er nie auf der Sonnenseite des Lebens stand. Das kannst du natürlich nicht verstehen.«

Carol schwieg verstimmt. Tess hatte ins Schwarze getroffen, aber es schmerzte sie. Sie hatte sich nie viel Gedanken darüber gemacht, dass ihr Lebensweg ziemlich gerade und ohne größere Stolpersteine verlaufen war. Die Auswanderung ihrer Familie hatte zwar ihr Leben verändert, aber sie hatte nie darüber nachgedacht, wie es wohl verlaufen wäre, wäre sie in Irland geblieben. Sie hatte in New York die Schule besucht, war dann aufs College gewechselt, wurde zunächst Journalistin und begann schließlich mit dem Schreiben von Romanen. Sie kannte die richtigen Leute, die die Romane herausbrachten, sie kannte die richtigen Leute, die sie vermarkteten, und schließlich war es ihrem eigenen Talent und ihrem Fleiß zuzuschreiben, dass sie mit diesen Romanen erfolgreich wurde. Im Land der unbegrenzten Möglichkeiten konnte jeder etwas werden, wenn er nur bereit war, dafür alles zu geben. Sie dachte an die Nächte, in denen sie mit entzündeten Augen vor dem Computer saß, schrieb und schrieb und von einem Erfolg zum nächsten jagte. Ihre Eltern hatten Arbeit gefunden, um ihr die Ausbildung zu ermöglichen, und auch ihre Geschwister gingen alle ordentlichen Berufen nach. Ja, sie stand wohl immer auf der Sonnenseite des Lebens. Warum aber tat Patrick nichts, um aus dem Schatten herauszutreten? Sie empfand nicht unbedingt Sympathie für diesen eigenwilligen Mann, aber ihr Interesse war geweckt.

Am nächsten Morgen stand sie zeitig auf. Tess war bereits in der Küche und bereitete das Frühstück zu. »Was machst du denn schon zu so früher Stunde auf den Beinen?«, wunderte sie sich. »Du hast Urlaub und kannst ausschlafen.«