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Miranda Lux

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Geliebtes Salamis, der Wogen Dröhnen

umtost dich nun,

da Seemänner auf deine Küsten blicken,

die fest im Meere ruhen.

Dein Sohn ist fern der Heimat,

wo Ida ihre Herden weidet.

Fern deinen geliebten Felsen.

Gezeichnet von der Zeit,

ohne Trost und ohne Namen,

sicher nur in Aussicht auf das dunkle, kalte Grab.

Weh, der Mutter am Ende ihrer Tage.

Weh, ihrem öden Herzen, ihren grauen Tempeln,

hört sie vom Schicksal ihres Kindes,

geflüstert in ihr Ohr.

Weh, weh, gellt ihr Schrei.

Kein leises Murmeln,

wie das Jammern der Nachtigall.

Sophokles

»Ajax«

Über das Buch

Die Welt steckt voller Geheimnisse
Ist eine antike Tragödie für Ereignisse in der Gegenwart verantwortlich? Leben Außerirdische unter uns? Und warum sind Matratzenläden immer in Eckhäusern? Die Welt steckt voller Geheimnisse und nichts ist so, wie es scheint. Niemand weiß das besser als die 15--jährige Miranda Lux, Expertin für Rätsel und Verschwörungen jeder Art. Miranda bezweifelt alles. Kein Wunder, denn ihre Eltern waren prominente Verschwörungstheoretiker, bis sie bei einem mysteriösen Hubschrauberabsturz ums Leben kamen -- was Miranda selbstverständlich infrage stellt. Auf der Suche nach der Wahrheit wird Miranda vom Zweifelwerk unterstützt, einer chaotischen Organisation von Querdenkern, für die sie ihren Lehrer Viktor Carelius als neuestes Mitglied gewinnen konnte. Als sich ein mysteriöser Todesfall ereignet, der unbestreitbare Parallelen zu Mirandas Eltern aufweist, gibt es endlich eine frische Spur. Sie führt zu einer Gruppe mit einem brisanten Geheimnis und zu einem unerbittlichen Gegner ...

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Epilog

Noch Ein Paar Zweifelhafte Anmerkungen

Danksagung

1

Der dünne Ledereinband liegt auf einem Stehpult in der Bibliothek meiner Eltern. Eine antike Tragödie. »Ajax« von Sophokles. Aufgeschlagen auf den Seiten achtundzwanzig und neunundzwanzig. Siebzehn Zeilen hat meine Mutter farbig markiert. Das Buch liegt noch immer so da wie an dem Tag, an dem ich es zum ersten Mal gesehen habe.

Es war ein Mittwoch. Ein kühler, regnerischer Sommertag. So wie heute. Fast auf den Tag genau vor acht Jahren. Ich war sieben, hatte Zöpfe und Sommersprossen und wusste nichts von der Arbeit meiner Eltern. Ich war noch so klein, dass ich mich auf die Zehenspitzen stellen und den Kopf recken musste, um einen Blick in das Buch zu werfen. Damals ahnte ich nicht, dass wir die Dinge nie so sehen, wie sie sind, sondern so, wie wir sind. Und ich hatte keinen blassen Schimmer von der Existenz des Zweifelwerks.

Ich erinnere mich, wie ich mit klopfendem Herzen die Tür zur Bibliothek öffnete, die ich vorher nie hatte betreten dürfen. Daran, wie ich staunend auf die bis zur Decke reichenden Regale voller Bücher blickte, auf die Tische mit den grünen Leselampen, auf die Sofas und ausladenden Sessel, auf die Galerie über mir und den roten Teppich zu meinen Füßen, der so dick ist, dass er das Geräusch der Schritte verschluckt. Ich weiß noch, wie mein Blick zu dem großen Kamin am anderen Ende des Raumes wanderte und an dem seltsamen schwarz-rot lackierten Spiegeltisch hängen blieb, der so überhaupt nicht zu den anderen Möbeln zu passen scheint. Ich hatte ein merkwürdiges, ehrfurchtsvolles Gefühl, so als würde ich das Heiligtum einer fremden Religion betreten. Für einen Moment glaubte ich das Parfüm meiner Mutter zu riechen; ich erinnere mich daran, wie der Regen gegen die Fenster schlug, und daran, dass Tante Trudi irgendwann neben mir stand und leise sagte: »Es wird Zeit, Miranda.«

Ich erinnere mich wie ich, meine Hand in ihre gelegt, durch den Regen zum Hammersteiner Friedhof spaziert bin. Ich erinnere mich deshalb so genau an diesen Tag, weil es der Tag war, an dem meine Eltern beerdigt wurden.

Seither habe ich die siebzehn Zeilen unzählige Male gelesen. Ich habe gewartet. Darauf, dass etwas geschieht, das mir helfen wird zu verstehen.

Gestern ist etwas geschehen!

Ich nehme in einem abgewetzten Ohrensessel Platz und ziehe eine Fotografie aus dem schwarzen Umschlag, den Elektra mir am Vorabend übergeben hat. Ein Polizeifoto. Es gibt kaum ein Dokument oder Foto, an das Elektra nicht gelangt.

Beim Anblick des Toten richten sich meine Nackenhaare auf, aber ich widerstehe dem Impuls die Augen abzuwenden und zwinge mich, die Fotografie genau zu betrachten: die Blutspritzer, die sich wie eine krakelige rote Fieberkurve über die Raufasertapete verteilen, das Gewehr zu Füßen des Mannes, sein Kopf, der in einer dunklen Lache auf einem Schreibtisch inmitten von Büchern und Papieren liegt.

Ich präge mir jedes Detail ein.

Nüchtern gesehen ist auch der Tod eines Menschen nur ein Ereignis unter vielen. Auf dieser Welt finden unaufhörlich Ereignisse statt. Stehen sie in offensichtlichem Zusammenhang, spricht man von Ereignisketten.

Wenn an einem Sommernachmittag auf der Terrasse des »Hammersteiner Hof« eine Wespe um den Kopf eines Weißbiertrinkers schwirrt, ist das ein Ereignis. Lässt sie sich eine Sekunde später unbemerkt auf dem Rand des Bierglases nieder, rutscht auf dem glatten Untergrund ab und stürzt kopfüber in einen klebrigen See aus Hefeweizen, ist das wiederum ein Ereignis. Genau wie der tiefe Schluck, den der durstige Gast nimmt, sein ungläubiger Blick, das blitzschnelle Anschwellen seiner Zunge, der Griff an den Hals. Ein Stuhl kippt um, Menschen schreien, die Sirene eines Krankenwagens ertönt …

Ereignis auf Ereignis: Wespe – Weißbier – großer Durst – tiefer Schluck – starker Schmerz. Eine für jeden durchschnittlich Begabten nachvollziehbare Kette.

Andere Ereignisse haben nichts miteinander zu tun. Manche von ihnen sind freudig, manche traurig, manche sind außergewöhnlich, andere alltäglich und banal. Ein zusammenhangloses, kunterbuntes, nie enden wollendes Durcheinander von Geschehnissen. An verschiedenen Orten, zu verschiedener Zeit: die Geburt eines Kindes in Kairo im April 1986. Der Absturz eines mit drei Personen besetzten Hubschraubers über der Nordsee im Sommer 2008. Der heimliche Verzehr eines Schokoriegels durch Tante Trudi – die offiziell eine strenge Sauerkraut-Diät hält –, heute Morgen in unserer Küche. Oder … der tragische Unfall eines ehemaligen Luftwaffenoffiziers, der sich beim Reinigen seiner Jagdwaffe versehentlich erschießt. Gestern Nachmittag.

Ereignisse ohne jede Verbindung.

Auf den ersten Blick.

Bis man über den scheinbar unbedeutenden Umstand stolpert, dass zwei Opfer des Hubschrauberabsturzes und der tote Ex-Offizier offenbar eine Vorliebe für schwere literarische Kost geteilt haben. Für die meisten Menschen wäre es wahrscheinlich nichts als ein merkwürdiger Zufall, dass die antike Tragödie des Ajax das letzte Werk war, das sowohl meine Eltern wie auch der gestern ums Leben gekommene Stabsoffizier gelesen haben …

Ich wandere, das Foto in der Hand, hinüber zu dem Stehpult und lasse meine Augen über die markierten Zeilen des Textes gleiten.

Geliebtes Salamis, der Wogen Dröhnen

umtost dich nun,

da Seeleute auf deine Küsten blicken,

die fest im Meere ruhen …

Meine Finger zittern, als ich die Fotografie des toten Offiziers neben den Ledereinband lege. An der linken Schläfe des Mannes – sein Name war Joachim Hersfeld – ist ein sternförmiges Einschussloch zu erkennen. Die grauen Haare um die Wunde herum sind blutverkrustet, sein Gesicht liegt mit der rechten Wange auf einem Ledereinband.

»Ajax« von Sophokles.

Die gleiche Ausgabe wie die vor mir.

Aufgeschlagen auf den Seiten achtundzwanzig und neunundzwanzig.

Geliebtes Salamis, der Wogen Dröhnen

umtost dich nun …

Vor drei Jahren, an meinem zwölften Geburtstag, haben mich die Zweifelwerker aufgenommen, und das Erste, was ich lernte, war: Der Moment, in dem man auf scheinbar unbedeutende Verbindungen merkwürdiger Art trifft, ist der Moment, in dem man sich fragen sollte, ob die Ereignisse wirklich unabhängig voneinander geschehen sind – oder ob sie vielleicht Glieder einer Kette sein könnten.

Endgültig bemerkenswert wird es, wenn man auf ein drittes Ereignis mit derselben Verbindung stößt. Spätestens dann sollten aus Fragen Zweifel werden: Zweifel daran, ob die Ereignisse unabhängig voneinander geschehen sind. Zweifel daran, ob sie so geschehen sind, wie es offiziell behauptet wird. Zweifel daran, ob sie überhaupt geschehen sind.

Ich bezweifle, dass der Hubschrauberabsturz meiner Eltern vor acht Jahren ein Unglück war. Ich bezweifle sogar, dass sie tot sind, obwohl das für jeden anderen eine unerschütterliche Tatsache zu sein scheint. Ich bezweifle, dass der Schusswaffen-»Unfall« von Joachim Hersfeld am gestrigen Nachmittag ein Unfall war. Und ich bezweifle, dass Gerald von Aschersberg seinem Leben selbst ein Ende gesetzt hat.

Sein Tod liegt mehr als fünfundzwanzig Jahre zurück. Das erste von drei Ereignissen, das erste Glied in dieser Kette.

Ich gehe zu dem Regal mit den Biografien, steige auf eine Leiter und ziehe einen abgegriffenen Band, den ich schon mindestens ein Dutzend Mal gelesen habe, aus dem obersten Fach: »Der Fall Gerald von Aschersberg«.

Die Büsche vor dem Fenster scheinen in der Abenddämmerung näher aneinanderzurücken. Ich nehme an einem der Tische Platz, knipse die Leselampe an, streiche mir die Haare aus der Stirn und beginne, durch die Seiten zu blättern.

Gerald von Aschersberg wurde im Jahr 1989 Staatssekretär im Verteidigungsministerium, aber bereits am achtundzwanzigsten März 1991 wurde er in den einstweiligen Ruhestand versetzt. Fünf Tage später erlitt er einen Nervenzusammenbruch und wurde in ein Krankenhaus gebracht. Um ein Uhr fünfundvierzig am Morgen des zweiundzwanzigsten Mai 1991 stürzte Aschersberg aus einem Fenster des sechzehnten Stocks, in dem sich sein Krankenzimmer befand, in den Tod.

Hinterlassen hat er siebzehn handschriftliche Zeilen, die er kurz zuvor aus einem Buch über Weltliteratur kopiert hatte.

Geliebtes Salamis, der Wogen Dröhnen

umtost dich nun …

Die Zweifelwerker, allen voran Fidelio Hümmerich, haben, schon bald nachdem sie mich eingeweiht hatten, meinen Blick darauf gelenkt, dass Ajax ein Bindeglied zwischen dem Schicksal von Gerald von Aschersberg und dem meiner Eltern sein könnte. Aber wie dieser Zusammenhang aussieht – diese Frage hat mir bis heute niemand beantworten können. Ich habe alles über Aschersberg gelesen, was ich in die Finger bekommen konnte: jedes Buch, jeden Internetartikel, jeden noch so kleinen Zeitungsschnipsel. Ich bin auf verstörende Informationen gestoßen. Ich habe eine Vermutung darüber, welche Verbindung sein Tod mit dem Hubschrauberabsturz meiner Eltern haben könnte – aber nicht den geringsten Beweis. Was vor allem daran liegt, dass es zu dem Absturz so gut wie keine Informationen gibt. Offiziell wird von einem technischen Defekt ausgegangen. Die Einzigen, die die Wahrheit kennen, sind die Menschen, die an Bord waren. Sie können nicht mehr befragt werden. Meine Eltern haben – so jedenfalls die gängige Meinung – ihre letzte Ruhe auf dem Hammersteiner Friedhof gefunden; ihr Assistent Birger Vend, der mit ihnen an Bord des Hubschraubers war, liegt in Skandinavien begraben.

An dem Punkt sind meine Nachforschungen über das Unglück zum Stillstand gekommen. Aber nun, mit dem Tod von Joachim Hersfeld vor nicht einmal dreißig Stunden, gerät etwas in Bewegung. Als hätte eine Uhr, die stehen geblieben war, plötzlich wieder ganz leise zu ticken begonnen.

Ein toter Staatssekretär, ein abgestürzter Hubschrauber, ein Ex-Offizier, der sich versehentlich erschießt. 1991, 2008, 2016. Siebzehn Zeilen aus »Ajax«. Jedes Mal. Ich frage mich, ob …

»Mirandaaaa!«, schallt Tante Trudis durchdringende Stimme durchs Haus. »Allerhöchste Eisenbahn! Du hast morgen Schule.«

»Morgen ist der letzte Schultag, da werden nur die Zeugnisse ausgegeben. Wir machen nichts mehr.«

»Mir egal«, dröhnt es von oben. »Schule ist Schule! In den Ferien kannst du machen, was du willst, aber solange Unterricht ist, bist du um elf im Bett!«

»Nur noch fünf Minuten.« Ich blicke gedankenverloren auf das Stargate-Filmposter neben dem Kamin. »Kein Zufall«, sage ich leise zu mir selbst. Ich habe schon lange aufgehört, an Zufälle zu glauben. Wieder ein Toter. Wieder Ajax …

Warum gerade jetzt, wo der Großteil der Zweifelwerker in alle Himmelsrichtungen verstreut ist? Von vielen weiß ich nicht einmal, wo sie sich aufhalten; über andere habe ich nur vage Informationen: Sibel ist seit zwei Monaten in Peru, um neue Luftbilder der Nazca-Linien anzufertigen. Von Fletcher habe ich das letzte Mal vor einem halben Jahr gehört. Er war auf der Spur eines Gegenstandes, der bei Grabungen in der Nähe des Jerusalemer Tempelberges gefunden und unter größter Geheimhaltung zum CERN in die Schweiz gebracht worden ist. Und Rasputin Keller? Na ja … An einem Abend vor drei Wochen ist er hier aufgetaucht, mit irre funkelnden Augen und Käseresten im Bart. Er stolperte durch die Bibliothek wie eine Fledermaus mit defektem Ultraschall, fuhr mit seinen knochigen Fingern über die Bücherrücken, spähte alle dreißig Sekunden ängstlich aus dem Fenster und faselte unaufhörlich wirres Zeug. Bevor er aufgebrochen und in der Dunkelheit verschwunden ist, hat er mir mit heiserer Stimme ins Ohr gekrächzt: »Schon mal darüber nachgedacht, warum Matratzenläden fast immer in Eckhäusern sind? Es ist was sehr Merkwürdiges im Gange, Miranda … Und noch was: Trau keinem, der an einem dreißigsten Februar geboren ist!«

So viel zu Rasputin Keller.

Trotzdem wünschte ich, er wäre hier. Das Zweifelwerk ist dramatisch unterbesetzt. In Hammerstein halten momentan nur vier Leute die Stellung: neben mir noch Fidelio Hümmerich, seine Tochter Elektra und …

»Miranda, wird es bald?« Tante Trudi hat ein Organ, gegen das jeder Wagner-Bariton abstinkt.

»Gleich«, rufe ich – was mir erfahrungsgemäß weitere fünf Minuten verschafft.

Das Zweifelwerk braucht dringend neue Zweifler. Vor allem neue Zweifler mit Führerschein. Es gibt einen Kandidaten, den ich schon seit einiger Zeit beobachte und den ich morgen …

»Miranda! Wenn du nicht sofort hochkommst, komme ich runter!«

»Nur noch einen Moment, Trudi.«

»Herrgott! Jeden Abend dasselbe. Mach hinne, Kind! Sprich noch dein komisches Nachtgebet, das du immer sprichst, und dann ist Feierabend!«

Tante Trudi ist – trotz ihres rauen Tons – ein echter Schatz. Leider neigt sie dazu, in konventionellen Erklärungsmustern zu verharren. Das, was für sie ein Nachtgebet ist, bezeichne ich als Versuch einer interdimensionalen Kommunikation.

Ich nehme den Transkommunikator, den Fidelio konstruiert hat, von dem schwarz-roten Spiegeltisch und setze ihn mir vorsichtig auf den Kopf. Er hat die Form einer Pyramide; aus ihren Seiten ragen neongrüne, wippende Drähte. Als ich die Pyramide aktiviere, leuchtet sie rot auf und beginnt sanft zu vibrieren. Ich stelle den Kippschalter an der Vorderseite auf IDK (Interdimensionale Kommunikation) und versuche, Kontakt zu meinen Eltern aufzunehmen. Wie jeden Abend erfolglos. Ich atme erleichtert auf. Dass sie nicht antworten, ist der eindeutige Beweis dafür, dass sie sich nicht in einer anderen Dimension befinden. Sie leben!

Ich werfe einen Blick über die Schulter, um zu sehen, ob Tante Trudi im Anmarsch ist. Von dem, was ich jetzt tun werde, muss sie nichts wissen.

Schnell öffne ich eine Schublade, nehme die Zeitschrift mit dem Cover-Porträt von Edward Snowden heraus und lege sie vor mich auf den Spiegeltisch. Hastig stelle ich den Transkommunikator auf ST (Simple Telepathie), schließe die Augen, berühre das Magazin mit den Fingerspitzen und schicke meine Gedanken auf die Reise:

Geliebter! Nichts verbindet zwei Menschen so sehr wie die Liebe zur Wahrheit. Eines Tages werde ich erwachsen sein und es wird der Tag kommen, da uns das Schicksal, das uns zweifellos füreinander bestimmt hat, zusammenführt. Der Tag, an dem uns keine Entfernung und keine noch so widrigen Umstände mehr trennen werden. Kein anderer Mann wird je in meinem Herzen sein. Du bist klug und mutig und wahrheitsliebend und großherzig und – ich blinzele und spähe auf das Zeitschriften-Cover – und irgendwie sexy. Gute Nacht, Edward.

* * *

Vor mir auf dem Schreibtisch liegen vierundzwanzig Zeugnisse und warten auf meine Unterschrift. Eine Premiere.

Ich nehme den teuren Füllfederhalter, den ich extra für diese Gelegenheit gekauft habe, schraube die Kappe feierlich ab und setze ein schwungvolles Viktor Carelius unter das Dokument, das zuoberst auf dem kleinen Stapel liegt. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass ausgerechnet ich mit meiner Unterschrift die Echtheit der Dokumente bestätige …

Mein drittes Jahr am Giordano-Bruno-Gymnasium, mein erstes Jahr als Klassenlehrer der 9b. Während ich die Zeugnisse unterschreibe, rufe ich mir die Gesichter meiner Schüler vor Augen: Alexa Bevers – nur mit Ach und Krach die Versetzung geschafft. Kein Wunder, wenn man mit seinem Smartphone so gut wie verwachsen ist. Kerstin Hammes – das beste Zeugnis der Klasse. Was für ihre überehrgeizige Mutter aber wahrscheinlich immer noch nicht gut genug ist. Oliver Kassel – der Klassenclown. Wirklich witzig. Joris Reichenau – ein bisschen schüchtern, aber ziemlich pfiffig. Miranda Lux …

Ein leichtes Frösteln überläuft mich, als ich ihr Zeugnis von dem Stapel nehme. Miranda ist ein intelligentes Mädchen. Eine hervorragende Schülerin – auch wenn einem ihre Neigung, alles und jedes anzuzweifeln, schon mal auf die Nerven gehen kann. Aber es gibt etwas an ihr, das mich nicht nur nervt, sondern in höchstem Maße beunruhigt: Miranda Lux starrt mich an. Ständig! Im Unterricht, wenn ich auf dem Weg ins Lehrerzimmer bin, wenn ich Pausenaufsicht habe. Ich bin mir hundertprozentig sicher: Miranda ist in mich verliebt.

Ich habe Kollegen, die schon mal in einer ähnlich unangenehmen Situation waren, um Rat gebeten. Mathe-Köhler hat mir berichtet, wie sich eine Schülerin in ihn verliebt und ihn gestalkt hat. Er hat zusammen mit der Schulsozialarbeiterin versucht, ein klärendes Gespräch mit dem Mädchen zu führen. Sie ist völlig ausgeflippt, hat sich auf den Boden geworfen und einen Schreikrampf bekommen.

Nachdem er mir das geschildert hatte, habe ich meine Pläne, ein Gespräch mit Miranda Lux zu führen, erst mal auf Eis gelegt. Wer kann schon sagen, ob sie nicht auch zu hysterischen Reaktionen neigt?

Vielleicht hat sich das alles nach dem Sommer von selbst erledigt. Nur noch ein Schultag und dann sechs Wochen lang Ferien. Fünfzehnjährige sind heute in den einen und morgen in den anderen verliebt. Vielleicht fährt sie in Urlaub und lernt einen netten Jungen kennen – und schon hat es sich von jetzt auf gleich mit der Schwärmerei für ihren Klassenlehrer.

Aber was, wenn nicht …?

Ich kann nicht verhindern, dass meine Finger ein ganz klein wenig zittern, als ich meinen Namen unter ihr Zeugnis setze.

* * *

Als ich die Augen aufschlage, fällt mein Blick wie an jedem Morgen als Erstes auf das gerahmte Foto neben meinem Bett, auf dem die versammelte Lux-Familie zu bewundern ist. »Morgen, Papa. Morgen, Mama«, sage ich, gähne verschlafen, recke mich und wackle mit den Zehen. Das Bild ist zwei Wochen vor dem Hubschrauberabsturz aufgenommen worden. Ich stehe ganz links und strecke dem Fotografen die Zunge raus: eine aufgedrehte Siebenjährige mit Erdbeerflecken auf dem T-Shirt. Rote Locken sprießen mir aus dem Kopf, wie Drähte aus einem Transkommunikator. Neben mir meine Eltern. Gideon und Aurelia Lux. Vater hat den Arm um Mutters Schultern gelegt. Rechts von ihm grinst Tante Trudi in die Kamera. Sie war schon damals mit dreifachem Doppelkinn und verbrannter Dauerwelle gesegnet. Die Dauerwelle ist bis heute geblieben, die Anzahl ihrer Kinne liegt aktuell im zweistelligen Bereich. Und da, am rechten Bildrand steht sie: die Unaussprechliche. Ich habe ihren Kopf aus dem Foto geschnitten und auf die Stelle, an der ihr Gesicht war, einen Anti-Atomkraft-Sticker gepappt. Ich möchte ihr Gesicht nicht sehen, ich möchte nicht über sie reden, ich möchte nicht einmal mehr an sie denken.

Eilig springe ich aus dem Bett und hüpfe unter die Dusche. Anschließend steige ich in meine schwarze Jeans, greife mir ein T-Shirt aus dem Schrank und schnüre meine ausgetretenen, heiß geliebten Leinenturnschuhe. Ich habe den heiligen Eid geschworen, mich erst dann von ihnen zu trennen, wenn sie mir während des Gehens von den Füßen fallen – was, so wie sie aussehen, nicht mehr lange dauern kann.

Auf leisen Sohlen betrete ich die Küche. Tante Trudi steht, mit dem Rücken zu mir, vor dem geöffneten Kühlschrank.

»Morgen, Trudi.«

Sie fährt erschrocken herum und schlägt die Kühlschranktür zu. Ihr Kopf ist knallrot, an ihrem Kinn sind Schokoladenspuren.

»Was macht die Sauerkraut-Diät? Schon Erfolge?«, frage ich und schenke mir einen Kaffee ein.

»Bestens«, nuschelt sie, wischt die verräterische Schokospur vom Kinn und nimmt ein Brötchen aus dem Brotkorb. »Was möchtest du drauf haben, Kind? Käse, Gelee oder Honig?«

»Ich bin fünfzehn, Trudi. Ich kann mir selbst ein Brötchen schmieren.«

»Was für ein Unfug, Kind«, sagt sie kopfschüttelnd und belegt die Brötchenhälften mit mittelaltem Gouda, während sie auf den kleinen Fernseher neben der Mikrowelle stiert. Tante Trudi schaut ausschließlich den Romantikkanal. Daily-Soaps und Telenovelas in Endlosschleife. Ihre große Leidenschaft. Gerade läuft »Marionetten der Liebe«.

»Fabian von Scherbel hat Jessica mit ihrer Schwester Clarissa betrogen«, klärt mich Trudi auf. »Dabei hat Jessica für ihn einen Meineid geleistet, ihm eine Niere gespendet und ihm Gut Birnenschorf überschrieben. Wie kann er nur so gemein sein?« In Trudis Augenwinkel glitzert eine Träne.

Das ist einer der Momente, in denen man den Impuls verspürt, ihr über den Kopf zu streichen und sie in die Arme zu nehmen. Was nicht ganz einfach ist, denn Trudi ist eins fünfundneunzig und eine ausgesprochen walkürenhafte Erscheinung. Sie ist die Schwester meines Vaters – zehn Jahre älter als er. Aber es sind nicht nur die zehn Jahre, die sie trennen. Vater hat Ausgrabungen und Expeditionen organisiert, Forschungsreisen unternommen, Bücher geschrieben, Vorträge in aller Welt gehalten und, gemeinsam mit Mutter, die Lux-Stiftung und das Zweifelwerk gegründet. Tante Trudi hat die Arbeit meiner Eltern nicht im Geringsten interessiert. Ihr Leben findet in einem anderen Kosmos statt, in einer Welt aus Backrezepten, Butterfahrten und fragwürdigen Schlagern. Als ich sechs war, habe ich Fetzen eines Gesprächs zwischen meinen Eltern aufgeschnappt, die sich im Flüsterton über Trudi unterhielten: »… unglücklicher Zwischenfall … als Kind mal beim Röntgen vergessen worden …«

Tante Trudi geraten Obama und Osama gelegentlich durcheinander, sie hält Wikipedia für ein schwedisches Möbelhaus, den Dalai Lama für ein Höckertier – und ist die reinste Seele, die auf Erden wandelt. Sie hat meine Großeltern bis zu deren Tod gepflegt. Danach ist Trudi zu uns nach Hammerstein gezogen, hat den chaotischen Lux-Haushalt auf Vordermann gebracht – und jetzt umsorgt sie mich. So als wäre ich noch immer sieben. Selbst der rüde Kasernenhofton, in den sie gelegentlich verfällt, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass Tante Trudi von Kopf bis Fuß aus Gold gebacken ist!

»Arme Jessica. Was wird jetzt nur aus Gut Birnenschorf?«, seufzt sie und packt das Käsebrötchen in eine Frühstückstüte. Ich nehme die Tüte in Empfang und verstaue sie in meiner Schultasche.

»Was denn? Keine Umarmung zum Abschied?«, grummelt Trudi, beugt sich zu mir herab und legt die Arme um mich.

Unter keinen Umständen würde ich mir eine Umarmung mit Trudi entgehen lassen! Sie riecht nach Zimt und besteht aus unzähligen weichen Röllchen. Aus einer Warze an ihrem Kinn sprießen drei dicke goldfarbene Haare.

»Warte nicht mit dem Essen auf mich«, sage ich und greife nach meiner Tasche.

»Bist du nach der Schule verabredet?«

»Noch nicht. Bis später, Trudi.«

Zu Fuß sind es vom Kastanienviertel knappe zwanzig Minuten zur Schule. Ich folge dem Kastanienpfad, einem schmalen, baumbestandenen Fußweg, der sich in zahlreichen Windungen talwärts schlängelt. Als die Klosterruine in Sicht kommt, verlasse ich den Weg, ignoriere das »Betreten verboten«-Schild, klettere durch ein Loch im Zaun und nehme die Abkürzung über das unkrautbewachsene Gelände. Das Kloster ist bei einem Brand im siebzehnten Jahrhundert zerstört worden; die schwarzen Mauerreste sind mit Efeu und Geißblatt bewachsen. Ich laufe durch kniehohes feuchtes Gras, Tropfen glitzern in der Morgensonne, eine rote Nacktschnecke rutscht behäbig über einen Stein. Noch ist es angenehm frisch, aber am Himmel steht keine einzige Wolke. Es wird ein heißer Tag werden.

Am Rand des Klostergeländes befindet sich, versteckt hinter einem Fliederbusch, der Eingang zu einem gemauerten Tunnel. In gebückter Haltung laufe ich durch den dunklen Gang und versuche dabei, so wenig wie möglich durch die Nase zu atmen. In einem altägyptischen Grabgewölbe kann es auch nicht viel muffiger riechen. Drei sauerstoffarme Minuten später erreiche ich den Tunnelausgang, der hinter dichtem Gestrüpp verborgen ist und direkt in den Hammersteiner Stadtpark führt. Von hier aus kann ich bereits den schmalen Glockenturm auf dem Dach der Schule sehen.

Heute ist es so weit: Ich werde den Kandidaten für das Zweifelwerk testen. Viktor Carelius. Neunundzwanzig Jahre. Mein Klassenlehrer. Geschichte und Philosophie. Es ist das erste Mal, dass ich dem Zweifelwerk einen Kandidaten vorschlage. Als ich Fidelio Hümmerich von meiner Idee erzählt habe, hat er das Gesicht verzogen.

»Viktor Carelius? Im Ernst? Ist doch ’n Weichei. Lässt sich viel zu schnell veräppeln.«

»Ich finde, er sagt gelegentlich ganz kluge Sachen. Außerdem hat er einen Führerschein. Wir könnten ihn gut gebrauchen, Fidelio. Und es spricht ja nichts dagegen, ihn nebenher ein bisschen hochzunehmen.«

»Jaaa …« Fidelio hat sich auf der Glatze gekratzt und versonnen gelächelt. »Wäre schon witzig, mal wieder ’nen Frischling zu verarschen. Na schön. Wenn du meinst, dann gehen wir die Sache an. Aber erst mal nimmst du ihn eingehend unter die Lupe.«

Genau das habe ich getan. Das ganze Schuljahr über habe ich Viktor Carelius beobachtet – was ihm natürlich nicht verborgen geblieben ist. Sollte es auch gar nicht. Ab einem bestimmten Punkt begann mein Dauerstarren ihn sichtlich nervös zu machen. Wahrscheinlich befürchtet er, ich wäre in ihn verliebt. Wenn sich eine Fünfzehnjährige in ihren Klassenlehrer verliebt, hat er ein Problem. Viktor Carelius ist ein guter und professioneller Pädagoge, und ich bin sicher, dass er genau das getan hat, was ein professioneller Pädagoge in einem solchen Fall tut: Er hat seinen Kollegen seine Befürchtung mitgeteilt und sich Ratschläge eingeholt, wie er mit der Situation umgehen soll. Sie haben ihm geraten, mich wie jede andere Schülerin zu behandeln, Situationen zu vermeiden, in denen er mit mir alleine zusammentreffen könnte, und für den Fall, dass ich um ein vertrauliches Gespräch bitte, eine Kollegin zu diesem Gespräch hinzuzuziehen. Ich bin sicher, dass Viktor Carelius all ihre Ratschläge verinnerlicht hat, denn er ist ein wirklich guter Lehrer. Abgesehen davon, dass er kein Lehrer ist.

Ich bin gespannt, ob er ein paar Tiefschläge einstecken kann.

Oder ob er eine Mimi ist.

Das Giordano-Bruno-Gymnasium in Hammerstein besteht aus einem schönen, aber reichlich renovierungsbedürftigen Altbau, in dem man sich im Sommer zu Tode schwitzt, und einem kackhässlichen Neubau, der vor dreißig Jahren an das ursprüngliche Gebäude angebaut wurde. Glücklicherweise liegt der Klassenraum der 9b im dritten Stock des Altbaus. Lieber schwitzen, als in einem architektonischen Verbrechen unterrichtet zu werden. Die Fenster sind weit geöffnet. Von meinem Platz habe ich einen Panoramablick auf die schiefergedeckten Dächer von Hammerstein, den Turm der Lambertuskirche, den Marktplatz und die bewaldeten Hügel, die die Stadt umschließen. Eine verirrte Hummel brummt in das Klassenzimmer, während meine Mitschüler zur Tür hinausdrängen. Vor einer Minute haben die Sommerferien begonnen.

Ich verstaue mein Zeugnis so umständlich wie möglich und gebe vor, in meiner Tasche nach etwas zu suchen. Joris Reichenau lächelt verlegen, als er sich an meinem Platz vorbeidrängt. Er hat braune Locken, braune Augen – und guckt wie ein schüchterner Hundewelpe. Joris ist in mich verschossen, seit ich ihm im letzten Oktober beim Volleyball einen Ball an den Kopf geschmettert habe und er kurz k. o. ging. Dabei hat auch sein Brillengestell Schaden genommen; er hat es bis heute nicht richten lassen. Die Brille ist mitleiderregend verbogen und hängt auf seiner Nase wie der gruselige Albtraum eines Optikers.

»Schöne Ferien, Miranda«, sagt er.

»Ebenfalls«, antworte ich knapp – und fühle mich eine Sekunde später entsetzlich. Warum mache ich so was? Joris ist ein netter Kerl.

»Joris?«

»Ja?« Er fährt herum und blinzelt mich kurzsichtig an.

»Ich wünsche dir auch schöne Ferien«, sage ich. »Fährst du weg?«

Er läuft rot an. »Nein, ich, äh … nein. Ist in diesem Jahr schlecht. Du weißt ja, die Drogerie am Galgenplätzchen hat dichtgemacht und … Mutter hat noch immer keine neue Arbeit. Ich habe einen Ferienjob. Vier Wochen. Bei Scardanelli. Wird bestimmt super.« Joris blickt zu Boden, wispert ein leises »Wiedersehen, Miranda« und stolpert aus dem Raum.

Ich bin mit Viktor Carelius alleine.

Er steht mit dem Rücken zu mir und wischt die Tafel. Zur Feier der Zeugnisvergabe hat er sich in einen Anzug geworfen. Mein Vater sah in einem Anzug immer aus, als hätte er sich verkleidet – für Viktor Carelius gilt das Gleiche: Er hat strubblige blonde Haare, rasiert sich höchstens zweimal die Woche und hat eine Vorliebe für ausgewaschene Ringelpullis. In dem Anzug wirkt er wie der schlunzige Bassist einer Indie-Band, der vergeblich versucht, sich für ein Einstellungsgespräch einen seriösen Anstrich zu verpassen.

Als hätte er es geahnt.

Viktor Carelius nimmt seit wenigen Sekunden an einem ausgefeilten psychologischen Einstellungstest teil – nur weiß er nichts davon.

Einen Kandidaten für das Zweifelwerk zu testen, ist eine ernste Angelegenheit und braucht entsprechende Vorbereitung. Ich habe, zusammen mit Fidelio, eine erstklassige Strategie ausgearbeitet. Zuerst werde ich einen Scheinangriff starten, der bei Viktor Carelius einen heftigen Adrenalinschub auslösen wird. Dann gemeinerweise eine Beruhigungsphase einleiten und ihn für einen kurzen Moment in falscher Sicherheit wiegen – bevor ich den entscheidenden Leberhaken setze.

Als er sich umdreht und ihm klar wird, dass er mit mir alleine ist, leuchtet ein panisches Flackern in seinen Augen auf. »Oh … Miranda, äh, musst du nicht …«

Ich mache drei schnelle Schritte, schließe die Tür und schenke ihm ein zuckersüßes Lächeln. »Ich muss mit Ihnen sprechen, Herr Carelius. Vertraulich!«

* * *

Nicht gut!, ist der erste Gedanke, der mir durch den Kopf schießt. Das ist überhaupt nicht gut. Das ist ausgesprochen schlecht! Genau die Situation, die ich vermeiden wollte: alleine in einem Raum mit einer verliebten fünfzehnjährigen Schülerin. Bei geschlossener Tür.

Miranda Lux bedenkt mich mit einem Lächeln, das viel Raum zur Interpretation lässt, und ich habe plötzlich das Gefühl, als würde sich das Salamibrötchen, das ich mir in der großen Pause im Lehrerzimmer einverleibt habe, wieder in Richtung Speiseröhre bewegen.

Ruhig bleiben, befehle ich mir. Denk daran, was dir deine Kollegen geraten haben!

»Würdest du die Tür bitte wieder öffnen?«, sage ich.

Miranda rührt sich nicht. »Wie gesagt, es ist vertraulich, Herr Carelius – oder darf ich Viktor sagen?«

»Wir werden bei Herr Carelius bleiben.« Mir bricht der Schweiß aus. Wie ein Ertrinkender nach dem Rettungsring, greife ich nach meinem Smartphone. »Wenn du ein Anliegen hast, können wir uns natürlich gerne unterhalten, aber ich werde meine Kollegin Frau Kern zu diesem Gespräch hinzubitten.«

»Ja. Sicher. Das würde sich gut treffen.« Miranda kichert. »Schließlich sind Sie anschließend noch mit ihr verabredet. Zum Bruuuuunch.«

Ich starre sie mit offenem Mund an. »Woher weißt du …?«

»Frau Kern ist seit ihrer Scheidung sehr einsam, und Sie sind nicht der Erste aus dem Kollegium, der bei ihr brunchen darf. Mathe-Köhler war auch schon da und hat Ihnen gesteckt, dass Frau Kern nach dem zweiten Gläschen Prosecco ziemlich anhänglich wird. Darauf haben Sie überhaupt keine Lust und daher spielen Sie mit dem Gedanken, eine plötzliche Übelkeit vorzutäuschen und sich schnell zu verabschieden.«

»Das ist doch …« Verzweifelt versuche ich zu verstehen, was hier gerade geschieht.

»Sie fürchten, ich könnte mich in Sie verguckt haben?« Miranda Lux kommt lächelnd auf mich zu und nimmt mir das Smartphone aus der Hand. »Sie können Ihr Handy wegstecken und sich entspannen, Herr Carelius. Ich bin nicht in Sie verliebt. Nicht die Bohne. – Es geht um etwas völlig anderes.«

»Nicht? Du bist nicht …« Das Gefühl der plötzlichen Erleichterung ist überwältigend. Als würde ich in ein warmes, herrlich duftendes Wannenbad gleiten. »Aber warum …?«

»Warum ich Sie beobachte? Ich studiere Sie. Ich sammle Informationen. Ich sammle Eindrücke. Um festzustellen, ob Sie geeignet sind.«

»Geeignet? Geeignet wofür?«

»Später … Interessiert es Sie denn gar nicht, zu erfahren, was ich noch über Sie herausgefunden habe?«

Miranda legt ein ganz besonders unschuldiges Lächeln auf, bei dem mich ein merkwürdiges Gefühl beschleicht. Das Wasser in meinem Erleichterungs-Bad ist plötzlich nur noch lauwarm, aber ich versuche Haltung zu bewahren, verschränke die Arme vor der Brust und sage in amüsiertem Tonfall: »Ich kann es kaum erwarten, die Ergebnisse deiner Ermittlungen zu erfahren, Sherlock.«

»Sehen Sie? Das habe ich zum Beispiel rausgefunden.«

»Was?«

»Wenn Sie sich unsicher fühlen, neigen Sie dazu, sich in Sarkasmus zu flüchten. Tun Sie das nicht! Der Unterhaltungswert sarkastischer Bemerkungen wird in der Regel überschätzt und der Grat zwischen amüsantem Sarkasmus und besserwisserischer Nörgelei ist ausgesprochen schmal.«

Mir klappt die Kinnlade runter. Ich sitze stumm auf dem Pult, versuche mir klarzumachen, dass diese Worte aus dem Mund einer Fünfzehnjährigen kommen, und sehe wahrscheinlich aus wie ein extrem verwirrter Neandertaler, bis es mir gelingt, mich wieder halbwegs zu sammeln. Ich räuspere mich ausgiebig und sage trotzig: »Also schön. Drei Dinge. Nenn mir drei Dinge, die du über mich zu wissen glaubst. Außer dem Sarkasmus … und der Geschichte mit Carola Kern.«

Miranda blickt mich herausfordernd an. »Erstens: Ihr Friseur trinkt während der Arbeit.«

Volltreffer! Nur dass es kein Friseur ist, sondern Frizzi Zabruda, mein Nachbar, der mir alle sechs Wochen in meiner Küche die Haare schneidet. Nie ohne einen umfangreichen Vorrat an Dosenbier dabeizuhaben.

»War einfach«, sagt Miranda. »Na ja, Ihre Frisur ist irgendwie …«

»Was stimmt denn nicht damit?«, frage ich verunsichert und fahre mir durch die Haare.

»Zweitens«, fährt sie ungerührt fort, »Sie haben keine Freundin. Bei jeder noch so öden Schulveranstaltung, für die Freiwillige gesucht werden, sind Sie dabei. Hätten Sie eine Freundin, wüssten Sie was Besseres mit Ihrer Zeit anzufangen.«

»Ich übe meinen Beruf eben gerne aus.«

»Das tun Sie. Aber eine Freundin haben Sie trotzdem nicht. Drittens: Gelegentlich rauchen Sie Gras. Keine Angst, dieses kleine Geheimnis wird unter uns bleiben.«

»Ist doch … Blödsinn …«, entgegne ich matt. Einen Moment lang blicken wir uns schweigend in die Augen, wie zwei Pistolenschützen beim Duell. Es wird allerhöchste Zeit, dass ich die Oberhand über dieses Gespräch gewinne. »Ich bin dir wirklich unendlich dankbar, Miranda. Dafür, dass du mich nicht auch noch gestalkt und gehackt und meinen Müll durchwühlt hast.«

»Wir waren uns doch einig, dass die Flucht in den Sarkasmus eine Sackgasse ist. Und natürlich habe ich Sie nicht gehackt. – Das erledigen Fachleute für mich.« Ihre Augen blitzen fröhlich, sie zwinkert mir zu, dann prustet sie unvermittelt los, hält sich den Bauch und schüttet sich aus vor Lachen – und ich lache mit. Weil ich für einen kurzen, idiotischen, hoffnungsvollen Moment tatsächlich glaube, dass Miranda Lux einen Witz gemacht hat – bis sie sich eine Lachträne wegwischt und sagt: »Ich habe da noch ein paar Verständnisfragen, was Ihren akademischen Abschluss und Ihre Masterurkunde angeht.«

Das Lachen bleibt mir augenblicklich im Hals stecken, das anverdaute Brötchen steigt diesmal nicht zur Speiseröhre, sondern sackt ohne Vorwarnung zwei Etagen tiefer. Meine Hände umklammern die Pultkante, vor meinen Augen schwirren schwarze Punkte und ich habe das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen.

Schritte auf dem Flur. Die Stimme von Carola Kern.

»Viktor, bist du hier? Wir können los.«

»Wir werden dieses Gespräch später fortsetzen«, flüstert Miranda. »Halb vier, bei Scardanelli. Seien Sie bitte pünktlich, Herr Carelius.« An der Tür dreht sie sich noch einmal um und pustet sich eine Locke aus der Stirn. »Ich glaube, ich sage doch lieber Viktor. Das macht die Dinge einfacher.«

Ich werde jeden Moment ohnmächtig.

»Schöne Ferien, Frau Kern«, höre ich Miranda auf dem Flur tirilieren.

Alles um mich herum dreht sich, mein Magen zieht sich krampfartig zusammen. Ich schaffe es gerade noch zum Waschbecken neben der Tür.

* * *

Ein bisschen gemein komme ich mir schon vor. Hätte ich geahnt, dass mein Klassenlehrer einen so schwachen Magen hat … Aber wenn Viktor Carelius der Mensch ist, für den ich ihn halte, wird er sich nach dem ersten Schock schon wieder einkriegen. Ich trete durch das Schultor auf die Straße und mache mich auf den Weg zu Fidelio und Elektra.

In der Drogerie am Galgenplätzchen, in der Joris’ Mutter gearbeitet hat, ist jetzt die Filiale einer pseudo-alternativen Kaffeehauskette. Die Tische davor sind bis auf den letzten Platz besetzt. Überglücklich lächelnde Bedienungen nehmen Bestellungen von überglücklich lächelnden Kunden entgegen, die es anscheinend für ein gottähnliches Privileg halten, aus einhundertundfünfzig affigen Kaffeesorten eine auszuwählen. Ich hoffe, so was ist nicht ansteckend. Vorsichtshalber lege ich einen Zahn zu, biege um die Ecke, laufe schnellen Schrittes an den bunten Fenstern von Sankt Lambertus vorbei und überquere den baumbestandenen Platz hinter der Kirche. Anschließend folge ich einer engen, gepflasterten Gasse, die steil aufwärtsführt, bis ein Geschäft mit einer grünen Leuchtschrift über der Ladentür in Sicht kommt. »Elektro Hümmerich.«

Genau genommen liest man: »Elektr ümmerich«. Die Leuchtmittel in dem o und H haben sich schon lange verabschiedet. Viel zu viel Aufwand, sie zu ersetzen, findet Fidelio. »Der Rest funktioniert doch noch tadellos. Die zwei Buchstaben kann man sich ja wohl denken!«

Fidelio Hümmerich hinkt hinter der Schaufensterscheibe durch den Laden. Er hat einen leicht schwankenden Gang, bei dem ich immer an einen gestrandeten Piraten denken muss. Nur dass Fidelio kein Piraten-Holzbein hat, sondern an seinem rechten Fuß einen orthopädischen Schuh trägt. Mit mürrischem Gesichtsausdruck zieht er eine Schachtel filterlose Zigaretten aus der Tasche seines Arbeitskittels. Fidelio gehört zu den Menschen, von denen man nicht glauben kann, dass sie jemals jung gewesen sind. Jedes Mal, wenn ich versuche, ihn mir als Kind vorzustellen, sehe ich einen notorisch schlecht gelaunten kleinen Jungen mit Glatze, Hornbrille, blauem Arbeitskittel und nikotinverfärbten Fingern.

Er zündet sich eine seiner stinkigen Zigaretten an, bläst Rauch aus der Nase und wirft einen gelangweilten Blick auf die Straße. Nur alle Jubeljahre verirrt sich ein Kunde in den Laden. Die Dorfältesten wissen zu berichten, dass »Elektro Hümmerich« in grauer Vorzeit der Elektronikfachhandel in Hammerstein war, bis sich in den Neunzigerjahren des letzten Jahrhunderts am Ortsrand ein Elektro-Schnäppchen-Shop angesiedelt hat. Fidelios Kundschaft ist geschlossen übergelaufen. Aber es ist nicht nur die Billigkonkurrenz, die seinen wirtschaftlichen Niedergang betreibt, sondern auch seine etwas eigenwillige Geschäftsphilosophie: Im Schaufenster steht ein betagt wirkender Kühlschrank, ein Sonderangebot für sagenhafte DM 499-, daneben eine Stereoanlage mit Kassettendeck, ein Föhn, der aussieht, als könnte man mit ihm den dritten Weltkrieg auslösen, und ein schwerer Röhrenfernseher. Ein selbst gemaltes Schild weist den potenziellen Kunden darauf hin, dass es sich um ein »Sensationelles Farbgerät!!!« handelt.

»Alles Wertarbeit und Top-Qualität«, wird Fidelio nicht müde zu betonen. »Bevor die Ware nicht vollständig verkauft ist, kommt mir kein neumodischer Schnickschnack in den Laden.«

Als ich eintrete, scheppert die kleine Glocke über der Ladentür. Fidelio schaut auf, hinkt auf mich zu wie John Silver persönlich und blickt mich neugierig an. »Und? Wie hat er sich gehalten?«

»Als ich auf dem Flur war, habe ich gehört, wie er ins Waschbecken gekotzt hat.«

»Nicht schön. Hat ihn kalt erwischt, was?«

»Kann man so sagen.« Ich lege meine Schultasche auf dem Verkaufstresen ab. »Er tat mir richtig leid, Fidelio. Mussten wir wirklich so ein schweres Geschütz auffahren?«

»Das gehört dazu. Du musst einen auf die Bretter schicken, wenn du wissen willst, ob er jemand ist, der wieder aufsteht. Ich hoffe nur, er gewöhnt sich die Kotzerei mittelfristig ab. – Wie geht’s jetzt weiter?«

»Ich bin um halb vier bei Scardanelli mit ihm verabredet. Kann ich hier warten?«

»Klar«, brummt Fidelio. »Aber lass mal dein Zeugnis sehen.«

Ich habe das zweitbeste Zeugnis meiner Klasse, doch Fidelio runzelt sorgenvoll die Stirn, während er, die Zigarette im Mundwinkel, einen kritischen Blick auf meine Noten wirft. »Na ja«, sagt er nach einer Weile, »sieht ja ganz manierlich aus, aber … ’ne Vier in Religion?«

»Falls du es nicht wissen solltest, Fidelio: In dem Fach geht es um Glauben. Da ist man als Zweiflerin von Natur aus benachteiligt.«

»Wenn du meinst«, murmelt er und wischt die Asche weg, die auf dem Zeugnis gelandet ist. »Willst du mitessen? Es gibt – «

»Würstchen und Kartoffelpüree«, ergänze ich. Bei Fidelio gibt es immer Würstchen und Kartoffelpüree, außer zu den seltenen Gelegenheiten, bei denen Elektra, seine Tochter, in der Küche zaubert. In dem Fall gibt es Wurzeln, Beeren und rohes Gemüse.

»Was denn jetzt?«, knurrt Fidelio. »Essen oder nicht essen?« Er ist ausgesprochen stolz auf seine Kochkünste. Einer Einladung nicht zu folgen ist Majestätsbeleidigung und wird mit grottenschlechter Laune, nicht unter zwei Tagen, bestraft.

»Vielleicht einen Klecks Püree«, sage ich und folge ihm, an Videorekordern und Zimmerantennen vorbei, durch den Laden in die dahinter liegende Werkstatt. Auf einem Arbeitstisch verteilen sich die Innereien eines ausgeschlachteten Radios, an der Wand vor mir hängen Verlängerungs- und Verbindungskabel, Mehrfachstecker und eine alte Baustellenlampe.

Fidelio beugt sich vor, steckt zwei Finger in eine Steckdose, ein kurzes Zittern durchfährt ihn – und die Wand vor uns schwingt zur Seite.

Es geht eine steile Treppe hinab, die in eine hohe unterirdische Grotte führt. Sie wird von bunten, beweglichen Scheinwerfern erhellt, deren Lichter über die Felswände gleiten und sie in ständig wechselnden Farben glitzern lassen. Zahlreiche Gänge zweigen von der Grotte ab. Sie sind genauso wenig natürlichen Ursprungs wie die Grotte selbst, sondern Teil eines künstlichen Tunnelsystems. Es waren nicht die Zweifelwerker, die dieses System angelegt haben. Es existiert bereits seit langer Zeit. Wer die Tunnel, Stufen und künstlichen Höhlen vor mehreren Tausend Jahren in den Fels geschlagen hat, und zu welchem Zweck, darüber gibt es beinah so viele Theorien, wie es Zweifelwerker gibt: die Hinterlassenschaft einer unbekannten Hochkultur aus prähistorischer Zeit, eine ehemalige Basis von Außerirdischen, eine unterirdische Stadt, die von reptilienähnlichen Wesen bewohnt wurde … Rasputin Keller ist sich sicher, dass irgendwo hier unten das Tor zur Unterwelt zu finden ist. Was nicht viel bedeuten muss. Er hat den Eingang zur Hölle auch schon mal im hiesigen Straßenverkehrsamt verortet.

Das Tunnelsystem erstreckt sich unter ganz Hammerstein. Manche Gänge enden einfach irgendwo im Nichts, andere teilen sich immer wieder, manche bleiben knapp unter der Oberfläche, einige führen tief in die Erde. Niemand hat die Gänge und Höhlen so eingehend erforscht wie Elektra, aber selbst sie kennt nicht mehr als einen kleinen Teil.

Fidelio Hümmerich humpelt vor mir die Stufen hinunter und ächzt bei jedem Schritt. Wäre er tatsächlich auf sein Talent als Einzelhändler angewiesen, würden er und Elektra schon längst im Schuldturm sitzen. Glücklicherweise ist er es nicht: Fidelio und Elektra sind zwei von drei hauptamtlichen Mitarbeitern der Lux-Stiftung. Was vor allem bedeutet, dass sie hauptamtliche Mitarbeiter des Zweifelwerks sind. Die Stiftung kennt jeder, vom Werk wissen nur Eingeweihte. Die Lux-Stiftung ist die Kulisse, hinter der das Zweifelwerk im Geheimen agiert.

Die meisten Sachen im Leben sind Kulisse. Vor allem die, deren Echtheit unentwegt behauptet wird. Auch Fidelios angestaubter Laden ist nur eine Kulisse. Seine Kenntnisse als Radio- und Fernsehtechniker sind überschaubar, seine wahren Fähigkeiten liegen auf einem ganz anderen Gebiet: Fidelio Hümmerich ist eine Kapazität – manche behaupten sogar ein Genie – auf den weitgehend unerforschten Feldern der spirituellen Technologie, interdimensionalen Kommunikation und techno-organischen Entwicklung.

Durch die Grotte schwebt ein hundertsprachiges Gewirr flüsternder Stimmen, das zahlreichen altertümlichen Radios entsteigt. Vor den Radios stehen Mikrofone, dahinter drehen sich Tonbänder, die jedes Wort aufzeichnen. Tonbandstimmenforschung ist eines von Fidelios Spezialgebieten. Eine Möglichkeit, Nachrichten aus anderen Dimensionen zu empfangen – theoretisch jedenfalls. Spielt man die Tonbänder nach der Aufnahme ab, kann man manchmal unbekannte, fremdartig klingende Stimmen hören, die sich unter die der Radiosprecher mischen oder deren Worte verformen. Laut Fidelio hat die ganze Sache mit psychoelektronischen Feldern und dem interdimensionalen Schwingungsecho zu tun. Ich bin nicht wirklich überzeugt. Jedes Mal wenn ich die Stimmen höre, verkünden sie in einem leiernden Grabeston merkwürdiges Zeug wie: »Orthending muss wandern!« oder »Kraut und Wurst auf Zimmer 9!«

»Immer mit der Ruhe, junge Frau!«, hat Fidelio mich ermahnt. »Dauert Jahre, bis man das richtige Ohr für die Botschaften entwickelt hat und den transdimensionalen Code interpretieren kann.« Anschließend hat er mich darüber aufgeklärt, dass das, was für mich nach Kraut und Wurst klang, eine ausgesprochen konkrete Warnung vor einem bevorstehenden Putsch in Südostasien war. Gefolgt von dem Ratschlag, Kaffeemaschinen regelmäßig zu entkalken.

»Autsch! Verdammt!«, höre ich Fidelio schimpfen. Im selben Moment knallt eine gusseiserne Pfanne auf den Boden, Fett spritzt durch die Gegend und ein halbes Dutzend Würstchen landen im Staub. Fluchend bückt er sich, setzt die Pfanne wieder auf den Herd und sammelt die Würstchen ein. Fidelio gehört zu den glücklichen Menschen, für die es keine Trennung von Beruf und Privatleben gibt. Weswegen sich seine Küche auch inmitten seines Labors befindet. Man kann sich nicht immer sicher sein, was wozu gehört, und Fidelios Püree hat mitunter einen stark metallischen Beigeschmack. Während er etwas von Pfannenstiel-Verschwörung murmelt und die Würstchen starker Hitze aussetzt, erregt ein Aquarium meine Aufmerksamkeit, das bei meinem letzten Besuch noch nicht hier war. Ich schiebe mich an dem Regal mit den Transkommunikatoren und Psychophonen vorbei. Auf dem Grund des Aquariums liegt eine rote, gallertartige Masse. An der Wasseroberfläche schwimmt grüner Glibber. Beides ist durch ein Dutzend feiner Drähte verbunden. Ab und zu springen blaue Funken aus dem Wasser und die grüne Masse macht lang gezogene Furzgeräusche. Ich hoffe inständig, dass die Geschichte zum Labor und nicht zur Küche gehört.

»Ist Elektra in der Ajax-Sache weitergekommen?«, frage ich und wende mich von dem unappetitlichen Anblick ab.

Fidelio nimmt einen Topf mit Kartoffeln vom Herd und gießt das Wasser ab. »Bisher nichts Neues. Leider. Ist im Moment aber auch schwierig. Die Elfenprinzessin hat mal wieder ihre Launen.« Er blickt zu einem der Gänge, die von der Grotte abgehen, und brüllt: »Elektra? Kleine Fee? Essen ist gleich fertig!«

Keine Reaktion.

»Geht schon seit gestern so«, sagt Fidelio. »Sie hat sich einen von den Transkommunikatoren geschnappt und hockt in ihrer Höhle. Ich wüsste zu gerne, mit wem sie da kommuniziert.«

»Was befürchtest du denn? Dass sie mit einer spukhaften Nebelerscheinung aus der fünften Dimension flirtet?«

»Ja, kann doch sein!«, poltert Fidelio und eine Ader auf seiner Stirn beginnt zu pochen. »Was weiß ich denn schon davon, wie eine Sechzehnjährige tickt? Wo ist der verdammte Pürierstab?«