Titel
Impressum
Widmung
„Was ich getan in meinem Leben
1 - Abspann
2 - der Tag
3 - Nikolstadt
4 – die Vertreibung
5 - Liegnitz
6 - den Wind in den Haaren
7 - Güterwaggons
8 - der Werwolf
10 - der Tag
11 - auf der Suche
12 - 1993
13 – die Suche
14 – das Archiv
15 - Gertrud
16 - Hofleben
17 - der Bastard
18 - Permoser`s Alm
19 - der Tag
20 - von Zucht und Ordnung
21 - Ferienlager
22 - unter jedem Dach ist immer …
23 - Familie Mackenroth
24 - der Tag
25 - wenn das Leben beginnt
26 – neue Wege
27 – das Leben ändert sich
28 – im Betrieb
29 - von Hoffnungen und Wünschen
30 – Hinrichs
31 – Kinder
32 - Geheimnisse
33 - Gerdas Rückkehr
34 - der Tag
35 - Thomas
36 - Vom Vergessen
37 - Totenstille
38 - der Tag
39 - Lebensfreunde
40 – der Sturz
41 – wenn es still wird
42 - der Tag
43 - Loslassen
44 - Abspann
Epilog
Legende
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John Wyttmark
Die Russen kamen mit dem Krieg
Die Vertreibung
der kleinen Waise Irma Töpfer aus Schlesien
ROMAN
nach wahren Begebenheiten
DeBehr
© 2020 Autor: John Wyttmark
Umschlaggestaltung, Illustration: Copyright by Adobestock by artbox_of_live
Lektorat, Korrektorat: Friedhelm Zühr
Verlag: DeBehr, Radeberg
Printed in Germany
ISBN: 9783957537485
Erstauflage: 2020
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische odersonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Gewidmet
unseren Müttern
„Was ich getan in meinem Leben,
ich tat es nur für Euch,
was ich gekonnt hab ich gegeben,
als Dank bleibt einig unter Euch…
das Leben
wiederholt sich immer wieder.“
Eleonore Frieß
1 - Abspann
Der Fernseher lief, die Nachrichten, von welchem Sender auch immer. Irma saß in ihrem Fernsehsessel. Ein Ohrensessel, hohe Lehne, das war gut, weil der Rücken immer so weh tat, und man die Füße hochlegen konnte. Da ging der Druck aus den Venen und Irma konnte entspannen. Das Muster des Sessels war rot mit gelben Blumen. Irma hatte Schoner auf die Lehnen drapiert und sich noch ein bequemes Kissen bereitgelegt.
Sie bereitete sich wie jeden Abend auf das Fernsehen vor, fast wie ein Ritual, heute Abend sollte „Wetten, dass“ mit dem Gottschalk kommen. Neben dem Sessel stand ein kleines Tischchen, auf das sie die abendliche Flasche Ur-Krostitzer Bier stellte. Ihre Welt wurde enger und kleiner. Die Beine hatten zu tun, sie zu tragen. Irgendwann schlief Irma ein und starb, allein und ruhig. Das Herz setzte aus und der Tod kam ins Haus, sie machte unter sich, aber das war egal. Der Fernseher lief, die Nachrichten, von welchem Sender auch immer. Das Bier wurde langsam schal.
2 - der Tag
Die Sonne neigte sich dem Ende des Tages zu. Das Abendrot überstrahlte alles. Irma saß mit ihren 72 Jahren auf einer kleinen Bank. Die Arbeit des Tages war getan, befriedigt genoss sie die noch warmen letzten Strahlen dieses Spätsommertages. Spinnwebenartig zogen Fäden durch die Luft, ähnlich ihrem Haar. Sie besah sich ihre Hände, noch schmutzig von der Gartenarbeit. Ihre Hände waren knochig. Manchmal taten ihr auch die Gelenke weh. Die Wehwehchen kamen und gingen, das war manchmal wetterabhängig. Ihr Karl hatte das immer nur abgewehrt, aber Irma wusste, was sie wusste und spürte. Eine Krücke brauchte sie noch nicht, auch wenn das Laufen manchmal schwerfiel. Anderen ging es viel schlimmer, sprach sie zu sich und machte sich Mut. Maria, ihre langjährige Freundin, lag lange im Pflegeheim. Sie besuchte sie früher jeden Dienstag und trank mit ihr Kaffee, um sie über alle Neuigkeiten zu informieren, auch wenn der Weg beschwerlich war. Aber der Bus war pünktlich und hielt fast vor dem Heim. Das Schicksal, durch Pflege von anderen abhängig zu sein, ging glücklicherweise an ihr selbst vorbei. Sollte dies sie einmal treffen, würde sie sich umbringen, das stand für sie fest. Sie steckte ihre rechte Hand in die Tasche ihrer Kittelschürze und beförderte ein Fruchtbonbon zu Tage, das sie sich genüsslich in den Mund schob. Konnte es etwas Besseres geben? Sie saß im Schatten des großen Apfelbaumes und genoss die Restwärme des Tages. Saftige Äpfel hingen noch im Baum und warteten auf die Ernte. Irma würde wieder Einkochen wie auch die vergangenen Jahre, auch wenn jetzt keiner mehr da war, dies alles zu essen, aber es würde schon nicht schlecht werden. Sie beobachtete eine dicke Hummel, die um faulige Äpfel herumflog und sich an den Süßstoffen labte, um dann wieder aufzufliegen und zu ihrer Behausung zurückzukehren. Das Brummen verlor sich im Garten. Der Himmel war strahlend blau. Nur manchmal verirrte sich eine Wolke am azurblauen Firmament. Früher lag sie mit Karl im Gras, auf einer Decke und besah sich den Himmel mit seinen Wolken, um sich dann mit Fantasie vorzustellen, was diese Wolken wohl darstellten. Karl hatte immer mehr Fantasie als sie selbst, aber das war etwas, was sie an Karl faszinierte. Der Garten war ihr liebster Ort. Mit dreihundert Quadratmetern Größe war er so groß, dass Irma ihn auch noch beherrschte, als Karl starb. Früher hatte Karl sich um die Kaninchen und die Hühner gekümmert, aber das ging nicht mehr. Der Garten war strukturiert, wenig Rasen, wie das die jungen Leute heute zum „chillen“ brauchen, sondern alles Nutzfläche. Dort waren Mohrrüben, dort die Petersilie, hier Kartoffeln und dann noch Gurken und Tomaten. Neben den Johannes- und Brombeersträuchern leistete sie sich nur ein Hobby und das war ihr Blumenbeet mit Astern, Rosen, Gladiolen und Narzissen. Sie genoss den schönen fast perfekten Wuchs ihrer Blumen, sie achtete auf die Pflege und spürte den starken Geruch der unterschiedlichen Blüten. Ein Wirrwarr von Farben, gelb, grün, rot, blau, alles wild durcheinander. Das Haus stand mit der Vorderfront in einer Reihe mit anderen Gebäuden. Die Häuser sahen hier fast alle gleich aus. Karl und seine Freunde hatten sich hier zusammengetan und mit vielen Kniffen und Tricks und viel eigener Arbeit das Haus gebaut.
Das war damals, die DDR gab es noch, da kämpften sie um jeden Stein, um Zement und Glasfliesen. Ein schönes Haus, meinte Irma zu sich und war immer noch in Gedanken an Karl, stolz darauf, dass damals geschafft zu haben. Die Geranien auf dem Balkon hingen aus den Kästen und wiegten sich im Wind. Irma würde die abgestorbenen Blüten wieder aussortieren müssen.
Bei den anderen Häusern sah es ähnlich aus, obwohl manche schon verkauft waren und neue jetzt jüngere Eigentümer hatten. Es war schon beschwerlich, so ein ganzes Haus mit Keller, Erd- und Obergeschoß immer sauber zu halten. Schon das Schlafzimmer im Obergeschoß zu erreichen, war manchmal für Irma nicht leicht, aber so ein lächerlicher Lift kam ihr nicht ins Haus. Mit etwas Anstrengung ging dies schon. Es war ruhig hier draußen, am Rande von Bitterfeld. Hier hatte man immer gearbeitet, das galt auch für die Frauen. Man hatte Eigenheime und einen Garten. Irma war kein Widerständler und lebte mit Karl angepasst in dem jetzt verschwundenen Land. Karl war Mitglied der Partei. Am Anfang noch überzeugt, später dann auch nicht mehr so „straff“. Auf einmal kam sich Irma sehr einsam und allein vor. Die Stille war laut, schreiend und drückend, eine große Last legte sich auf ihre Brust. Sie sah auf ihre Schuhe und bemerkte, dass diese voll mit Schmutz von der Gartenarbeit waren. Sie würde die Schuhe nachher noch saubermachen, einfetten und wieder ordentlich in den Schrank stellen, lenkte sie sich von Unvermeidlichem ab. Thomas hatte sich schon lange nicht mehr gemeldet, aber der hatte auch viel zu tun und lebte mit seiner Frau Sarah in Köln. Mit Karl war Irma schon drei Mal dort, eine sehr schöne Wohnung und eine schöne Frau, alles sehr steril.
Am meisten belastete Irma, dass sie keine Enkel hatte. Thomas und Sarah wollten keine Kinder. Er und seine Frau hätten zu viel Stress, und Kinder kosten Geld und Kinder machen nur Ärger und sie wollen sich erst mal etwas aufbauen…und, und, und. Wie war das eigentlich mit Thomas, als sie ihn bekamen, sie brauchten keine Gründe, um ihn nicht bekommen zu müssen? Oft passierte ihr es, wenn sie nicht arbeitete, dass ihre eigenen Gedanken in ihre Kinder- und Jugendzeit zurückwanderten. Es war schon komisch, manchmal war die Kinderzeit und Jugend so real, sie konnte sich klar an alles erinnern, sah die Gesichter vor sich, war Teil früherer Emotionen, da waren Zufall und Glück, Stress, Angst und Trauer aber auch Zuversicht und Hoffnung. Irmas Schwiegermutter Doro hatte einen Spruch: „Irma“, sagte sie, „das Leben geht immer weiter und es wiederholt sich immer wieder.“ Das stimmte zwar, aber um das verstehen zu können, musste Irma auch erst das Leben erfahren lernen. Lebenserfahrung war auch der Schlüssel dazu, lockerer mit manchen Anforderungen umzugehen, die das Leben bereithielt. Aber eine Anforderung, die schwerste, darauf konnte sie sich nicht vorbereiten - alt zu werden, Karl zu verlieren und allein zu sein. Besonders die Einsamkeit machte ihr zu schaffen. Sie hoffte, nicht verrückt zu werden und entmündigt im Heim zu landen. Wenn die Stille zu groß wurde, schaltete Sie das Radio oder den Fernseher an oder sprach laut mit sich, mit Gegenständen und den Blumen. Da sie wusste, wie es Maria im Heim ergangen war, war für sie klar: Da geht sie nie hin. Schön sah man als alter Mensch wirklich nicht aus, die Natur trieb da ein grausames Spiel, der alte Mensch hatte seine Schuldigkeit getan.
3 - Nikolstadt
Damals war es ein Dorf weitab vom Schuss, direkt am Fluss gelegen, leichte kleine Hügel, Bäume, wundervolles Grün, der Duft nach Heu besonders im Sommer. Und auf einmal erschien ihr wieder ihr Zuhause, ihr erstes Zuhause. Sie erinnerte sich nur wenig an ihre Mutter, und ihr Vater erschien ihr nur schemenhaft. Aber es hatte viel von Sicherheit, die irgendwann verschwand. Nikolstadt, war eine kleine Stadt in der Gemeinde Liegnitz in Niederschlesien, heute Polen. Nikolstadt liegt 12 km südöstlich von Liegnitz und gehört heute zum Powiat Legnicki in der Wojewodschaft Niederschlesien. Irma erinnerte sich noch deshalb daran, weil vieles in Bitterfeld an Nikolstadt erinnerte. Nikolstadt war mit seinen 2 500 Bewohnern nur dem Namen nach eine Stadt. Auch hier gab es leichte flache Hügel und die Liegnitz ein kleines Flüsschen, das der Kreisstadt den Namen gab. Was Bitterfeld hatte und Nikolstadt nicht, war die chemische Industrie. Es war 1940, es war Krieg, ein großer unheilvoller Krieg mit vielen Entbehrungen für alle. Ringsherum nur Wahnsinn, für Irma nicht wahrnehmbar, Irma war noch klein.
Die Geburt verlief normal. Die Hebamme aus dem Nachbardorf war schon zeitig da und half. Der Vater betrank sich mit Freunden in der Dorfkneipe. Auf den Schultern der Mutter lastete alles. Die Mutter kümmerte sich um ihren invaliden Mann, eine Kriegsverletzung noch aus dem I. Weltkrieg, und die drei Kinder.
Irma war die Jüngste, Gerda war die mittlere und Gertrud die Große. Gerda war stumm. Oft gab es nichts oder nur wenig zu essen. Die Mutter machte sich auf, um in den Nachbardörfern Waren zu tauschen oder Essen zu besorgen. Irma spielte mit ihren Schwestern im Hof des kleinen Häuschens, eher eine Kate. Reich war die Familie nie und doch dachte Irma voll Wehmut genau an diese Zeit zurück. Etwas größer spielte Irma oft mit ihren Schwestern, auch mit Gerda. Es spielte keine Rolle, dass Gerda stumm war, Kinder fanden Spiele, bei denen ihre Behinderung keine oder nur eine untergeordnete Rolle spielte. Irma erinnerte sich daran, dass diese Spiele oft mit Fantasie und weniger mit hochwertigem Spielzeug zu tun hatten. Da wurde ein Loch voll Matsch zu einer Küche, in der gekocht werden musste und gebacken wurde. Äste und Blätter im Wald wurden Kleider und verwandelten sie in Prinzessinnen. Vollkommen sicher und unbeschwert, weit weg vom Krieg. Er fand bei Irma als Kleinkind schlechthin nicht statt. Besonders abends, wenn es ins Bett ging, kam die Mutter, legte sich zu ihnen ins Bett und erzählte Märchen, Sagen oder einfach nur ausgedachte Geschichten. Irma erinnerte sich noch an den Geruch der Mutter, die Wärme des Bettes. Die Geschichten waren so plastisch voller Fantasie erzählt, dass Irma auf Reisen ging. Sie schlief ein, hatte Angst um „Rotkäppchen“ genauso wie um „Die sieben Geißlein“, freute sich über den Stock aus dem Sack aus „Tischlein deck dich“ und schließlich auch über „Schneeweißchen und Rosenrot“. Ihre Augen wurden schwer und die Reise begann. Als Irma sechs Jahre alt war, verschwand die Mutter. Sie war einfach nicht mehr da!
Nachts rief Irma oft nach ihr, aber sie war verschwunden. Erst später wurde ihr klar, dass ihre Mutter gestorben war. Sie hat mich im Stich gelassen wie später der Vater und dann auch Karl, dachte sie bitter. Die Mutter konnte nichts dafür, der Krieg, TBC, keine Hilfe, ständige Überlastung, der invalide Mann und dann der Tod. An eine Beerdigung kann sich Irma nicht erinnern. Jetzt war der Vater mit den Kindern allein und versuchte mit seinen geringen Kräften die Familie aufrecht zu erhalten, aber es half nichts. Auch ihn raffte die Tuberkulose hin. Sein Tod fiel genau in den Zeitraum der anfänglichen beginnenden Nachkriegszeit. Es war eine Zeit großer Umbrüche. Irma kann sich an den 8. Mai, den Tag der Befreiung, überhaupt nicht erinnern, es war ein Tag wie jeder andere, sie wusste auch nicht, ob ihr Vater es ihr gesagt hatte. Oder hatte sie es vergessen? Und doch spürte sie, dass sich etwas veränderte. Auf einmal waren die drei Kinder allein, auf sich gestellt. Gertrud versuchte mit ihren 16 Jahren etwas „zu regeln“ oder etwas zu essen aufzutreiben. Morgens stellte Gertrud Dinge zusammen, die sie aus dem kleinen Haus noch verkaufen konnten, um an Essen heranzukommen. Gertrud musste sich dann auf den Weg über die Dörfer machen und Töpfe, Pfannen oder „Anziehsachen“ bei den Bauern der Umgebung verkaufen. Gertrud nutzte das alte Fahrrad der Mutter, etwas zu groß, aber es ging. So richtig sitzen konnte sie auf dem Sattel nicht, der war zu hoch. Aber besser war es schlecht zu fahren als gut zu laufen. Irma erinnerte sich noch daran, wie Gertrud einmal vollkommen aufgelöst nach Hause kam. Wieder war Gertrud unterwegs, eine lange Straße, die Sonne drückte von oben, heißes trockenes Wetter. Gertrud war schon lange Zeit unterwegs, seit dem frühen Morgen. Es war schon gegen vier Uhr am Nachmittag und Gertrud auf dem Nachhauseweg. Der Tag war gut verlaufen, Gertrud brachte Brot, Pflaumenmus und Butter mit zurück. Das Fahrrad war voll bepackt, das Fahren war schwierig und klappte nicht so. Da sah Gertrud in der Ferne einen Mann auf der Straße liegen. Dieser beobachtete sie scheinbar. Sie musste an ihm vorbei, das war ihr klar. Der Mann tat nichts und lag nur so da, kein anderer Mensch weit und breit, nur der Mann, noch weit weg, ja, aber er lag nur da. Von so weit weg, konnte Gertrud nicht erkennen, was den Mann so bedrohlich machte. Das Wetter schlug auf einmal um, es bildeten sich Wolken, immer mehr dunkle, bedrohliche Wolken. Sie trat in die Pedale um vorwärts zu kommen und das Bedrohliche hinter sich zu lassen. Je näher sie kam, desto deutlicher wurde der Mann, der Mann war tot. Er lag in verrenkter Pose auf der Erde, der Mann war umgefahren oder von einem LKW geworfen worden, das wusste Gertrud nicht. Aber sie hatte Angst. Ihre erste Leiche, obwohl es davon im Krieg genug gab. Der Tod war normaler Begleiter des Lebens, aber noch nicht für die Kinder. Gertrud hielt an und stieg vom Rad, Sie sicherte das Fahrrad so, dass es nicht umfallen konnte, in dem Sie den kleinen Ständer aus fuhr und das Rad darauf abstützte. Langsam ging sie auf den Mann zu, fand einen Stock, den sie mit zu dem Mann nahm. Vorsichtig stupste sie ihn an, da kippte der Leichnam um. Gertrud schrie laut auf, das Gesicht des Toten blutig, der Kiefer abgerissen, zwei aufgerissene vorwurfsvolle Augen blickten Gertrud an. Gertrud hörte nicht auf zu schreien, rannte zum Fahrrad und fuhr so schnell sie konnte nach Hause.
Zu Hause angekommen, versteckte sie sich hinter dem Ofen, winselnd, jaulend, immer erschreckt zur Tür sehend. Gertrud tat Irma leid, sie erinnerte sich, wie sie zu Gertrud kroch und versuchte sie zu beschützen vor einer für sie fiktiven unbekannten Gefahr.
Irgendwer hatte den Vater beerdigt. Um die Kinder kümmerte sich keiner. Keiner war verantwortlich, die Nazis waren weg und die Polen waren damit beschäftigt, unliebsame Deutsche ausfindig zu machen und diese aus ihren Häusern zu vertreiben. Von den Russen spürten die Kinder nichts, obwohl die Eltern viel von ihnen erzählt hatten. Sie waren nur etwas Kleines, etwas was keiner wahrnahm, etwas, was unwichtig war. Eine Masse an Mensch, die man hin und her schieben konnte, wie man wollte. Sie erinnerte sich an große Ängste aller und den unsäglichen Hunger. Irgendwann war auch das letzte Essen alle. Wie weiter, wusste keiner. Abends schliefen die Mädchen alleingelassen in der Kate zusammengekauert in einem Bett ein.
4 – die Vertreibung
Genau in dieser Zeit stand ein großer, starker, behaarter Pole mit einem riesigen Messer in der Tür ihres kleinen Hauses und sprach in gebrochenem Deutsch: „Alles mitnehmen!“ Die Angst bei Irma und ihren Geschwistern war riesengroß, dachten sie doch, dass der Tod kommen würde. Doch dem war nicht so. Der Mann war zwar roh, doch nur an Haus und Grundstück interessiert. Er wollte die „deutsche Brut“ nur loswerden und brachte sie nach Liegnitz. Drei kleine hilflose Mädchen. Jedes hatte einen Beutel mitgenommen.
Irma nahm noch ein kleines Madonnenbild und das Hochzeitsfoto ihrer Eltern mit. Der Pole trieb sie vor sich her, an ein Fuhrwerk war nicht zu denken und der Weg war für Kinderfüße zu weit und zu beschwerlich. An der Kreuzung zu Liegnitz hielt glücklicherweise ein Heuwagen mit zwei Pferden, der sie nach langer Diskussion mit dem Polen mitnahm. Irgendwie, erinnerte sich Irma, hörte sie immer noch Worte wie „germansky, deutsch, müssen weg“. Noch später spürte Irma die Angst vor den Polen und Russen. Der Vater hatte vor den Russen immer gewarnt und in schlimmsten Bildern gemalt, was die Russen taten. Alles begriff Irma damals nicht, aber es musste etwas Schlimmes gewesen sein. Ein paar Kilometer vor Liegnitz ließ der Pole sie an einer Wegkreuzung absitzen und allein weiterlaufen. Es war schon sehr spät und dunkel. Sie waren sich einig, dass sie in dem kleinen Wäldchen, vorn an der Straße, sicherlich ein Plätzchen zum Schlafen finden würden. Das Wäldchen war nicht sehr groß, vielleicht 250 m im Quadrat. Ein kleiner Weg führte von der Straße direkt in das Wäldchen hinein. Als sie in der Mitte des Wäldchens ankamen, fanden sie eine kleine Lichtung, und genau hier schlugen sie ihr Lager auf. Der Mond stand schon hoch am Himmel. Es war Vollmond. Ihre Taschen dienten als Kopfkissen, die Mäntel waren ihre Decken. Und in Begleitung von Hunger und Durst schliefen sie ein. Der nächste Tag weckte sie mit lautem Geschrei und Gebrüll. Noch jetzt zuckte Irma zusammen, wenn sie nur daran dachte. Alles war so plastisch. Tränen traten ihr in die Augen. Die traurige Erkenntnis, nichts getan zu haben oder nichts tun zu können. Nur noch Hilflosigkeit, denn das Schlimmste, was sie sich vorstellen konnte, war passiert.
Um sie herum standen Russen, auf der Straße nach Liegnitz marschierten Kolonnen russischer Soldaten mit Panjewagen, Haubitzen, LKW und Panzern. Der Lärm war jetzt ohrenbetäubend. Warum war es ihnen nicht aufgefallen? Sie schliefen wahrscheinlich wie betäubt, vollkommen überlastet. Irma erinnerte sich, dass ihr die Haare zu Berge standen, die blanke Angst und das blanke Entsetzen steuerten jetzt auf einmal ihr noch kurzes Leben. Irma war klar, dass sie gleich sterben würde. Fünf Männer in verschlissener Kleidung, nach Machorka riechend, standen vor Ihnen. Irma weckte die anderen, die genauso entsetzt waren, wie sie selber. Die Mädchen rückten eng zusammen, um sich zu schützen. Die Männer hatten Fußlappen an, sahen ungewaschen aus, manche trugen Verbände von Verwundungen. Woher die Männer kamen, das wussten sie nicht. Aber es waren die gefürchteten Russen. Irma sah vor sich wilde Männer mit geilen Blicken, doch diese Blicke galten nicht ihr, auch nicht Gerda, sondern nur Gertrud.
Gertrud mit ihren sechzehn Jahren begann sich zu entwickeln, im Leben die beste Zeit schrittweise erwachsen zu werden, sich selbst auf das andere Geschlecht aufmerksam zu machen, mit Jungen zu flirten und erste Erfahrungen in der Liebe zu sammeln. Langsam und Schritt für Schritt.
Doch so verlief das Leben an diesem Tag im Nachkriegsjahr nicht. Gierig betrachteten die Männer Gertrud mit Ihren sich abzeichnenden Brüsten unter der Bluse, den Rock, vom Schlafen etwas hochgerutscht, und ihre vermeintlichen sinnlichen Lippen. Zwei der Männer zogen Gertrud hoch und fingen an, sie anzufassen, wir anderen zwei schrien so gut es ging. Die Männer lachten nur und machten anzügliche Gesten, die Irma damals nicht verstand. Gertrud stand da wie gelähmt und konnte nichts sagen. Gertrud dachte, sie stürbe, die Scham im Gesicht. Schnell zogen die zwei Männer Gertrud von ihnen weg. Die Schwestern wollten hinterher, aber die anderen Männer hielten sie fest. Irma bekam noch heute Brechreiz, wenn sie an den Geruch nach Machorka, ungewaschenen Männerkörpern und billigem Wodka dachte. Auch wenn Karl betrunken zu ihr kam, ging nichts mehr. Sofort war die Situation wieder da.
Gertrud fing an, um Gnade zu flehen und ging auf die Knie. Das interessierte die Männer jedoch nicht im Mindesten, sie zogen ihre „Beute“ ins benachbarte Unterholz. Irma wollte nur, dass alles aufhörte, das Knacken des Holzes, das Schreien von Gertrud, die brünstigen Schreie der Männer, die vor Geilheit triefende Blicke der anderen Bewacher. Irma hielt sich die Ohren zu, die Augen fest geschlossen, um alles draußen zu lassen. Die Mädchen weinten, Gertrud ließ die Stöße über sich ergehen ohne Gegenwehr. Irgendwann, irgendwie musste es aufhören. Aber es hörte nicht auf, drei Männer ergossen sich in ihr mit ihrem schmutzigen Samen, schlugen sie, wenn sie sich doch wehrte. Ihr Gesicht war tränenverschmiert. Es hört nie auf, davon war Irma überzeugt, diese Tortur vernichtete ihr Kindsein. Das Grundvertrauen war verschwunden, nicht mehr existent. Auch später sollte ihr diese Erfahrung noch das Leben schwermachen. Dann Schüsse in die Luft, vor Ihnen stand ein russischer Unteroffizier mit einem dieser typischen Maschinengewehre vom Typ PPSh 41 mit dem Trommelmagazin in der Hand. Der Unteroffizier rief russische Worte, die Irma nicht verstand.
Die Männer maulten, doch der Unteroffizier schoss wiederholt in die Luft. Dann zogen sich die Männer, die Gertrud vergewaltigt hatten, an und standen auf. Sie ließen Gertrud liegen.
Wer war schuld an allem, waren Irma, Gerda oder Gertrud Schuld an dem, was ihnen passierte? Waren sie Schuld am Krieg? Vielleicht auch am Elend der russischen Soldaten, weit weg von ihrem zu Hause, von ihren Familien? Oder gab es keine Familie mehr? Waren Kinder, Frauen, Verliebte und Großeltern tot? Rache? Sie ließen Gertrud liegen wie ein Stück Dreck, benutzt, abgearbeitet, die Triebe der Männer befriedigt. Gertrud schwer innerlich verletzt, innerlich war körperlich und auch psychisch. Der Unteroffizier und seine Männer zogen ab, sich gegenseitig noch für die Vergewaltigung lobend und auf die Schulter schlagend. Als wäre nichts passiert, marschierten sie mit dem nächsten Tross und verschwanden binnen Minuten in der Ferne. Keine Bestrafung, kein zur Verantwortung ziehen, es war eben passiert in diesem großen Krieg und sie waren eben ein Stück Beute, bereit genommen zu werden. Das Recht der Sieger. Wann und wo war egal. Hier war Irma noch unbegreiflich, was später passieren könnte, schwanger werden zu können. Irma wusste zu diesem Zeitpunkt nicht, was das bedeutete. Ein Kind, russischer Bastard, nicht gewollt. Die Russen waren verschwunden, einfach weg. Stille, überall Stille, Vögel zwitscherten, ein Eichhörnchen sprang von Baum zu Baum, ahnungslos dessen, was gerade passiert war, vollkommen uninteressiert. Eine uninteressierte Welt, nur Opfer.
Täter war später keiner mehr, über russische Täter durfte nicht gesprochen werden. Genau so wenig wie über alles, was mit Vertreibung zu tun hatte. Klar, jetzt bekam sie vom Staat einmalig viertausend Euro, Karl nicht, der war ja von hier, aber das wiegt doch nichts auf. Es war komisch, aber sie konnte sich später nicht daran erinnern, dass Vertreibung in der DDR ein offizielles Thema war. Und wenn es um Vertreibung ging, dann hieß es immer nur, das sind die Revanchisten aus dem Westen, die Landsmannschaften aus Schlesien, Pommern oder Sudetendeutsche. Doch wo blieb ihre Heimat, wo blieb ihre eigene Geschichte, die sie doch selbst erlebt hatte? Die konnte man ihr doch nicht mehr wegnehmen, die war doch in ihrem Kopf lebendig gespeichert. Einmal gab es früher solch einen Film, der hieß „Wege übers Land“ mit Ursula Karrusseit. Kein schlechter Film, aber auch hier kamen die Russen zu gut weg, dachte sie. Irma lachte in sich hinein, wenn sie noch an das Lied von dem Polizisten im Film dachte, irgendetwas so wie „Zieht euch warm an, die Grippe greift den Darm an“ oder so. Es ist schon erstaunlich, dass man sich an vieles Nebensächliches erinnert, aber an große Dinge nur noch schemenhaft oder gar nicht.
Gerda versuchte, mit gutturalen Rufen Gertrud anzusprechen und lief zu ihr hin. Doch was sie sahen, ließ ihre Tränen fließen, Auf der kleinen Lichtung lag Gertrud, den Mantel aufgeschlagen, den Rock über Ihre Oberschenkel geschoben, der Schlüpfer zerrissen am Gelenk des rechten Fußes, verschmutzt und blutig. Ihre Beine gespreizt in der Mitte alles blutig. Sie riefen: Gertrud! Gertrud! Doch Gertrud rührte sich nicht, sie lag auf der Lichtung.
Verliebte liegen auch im Gras und beobachten die Wolken und das Blätterdach des Waldes, Gertrud war weit weg, nicht mehr da, nicht tot und nicht lebendig. Dinge erleben, erdulden, hinnehmen, sich damit arrangieren, um weiterleben zu können, zu müssen. Gertrud war die Größte, die Älteste, sie musste sie doch führen und retten, da war Verantwortung und die trieb Gertrud zurück ins Leben. Irma erinnerte sich, wie sie alle drei auf der Lichtung standen, sich umklammerten und weinten, sie hörten nicht auf und doch ging das Leben weiter, Vögel zwitscherten und Eichhörnchen hüpften durch die Bäume, das grüne Gras auf der Lichtung wiegte sich im Wind. Die Wolken zogen ihren Weg wie jeden Tag, jede Stunde, jede Minute und Sekunde, eben nur ein kleiner unwichtiger Flügelschlag des Lebens. Und doch musste es irgendwie weitergehen, alle waren sich einig! Zum Selbstschutz ging man dazu über, einfach die Sachen zu packen und von diesem Ort zu verschwinden, den Ort hinter sich zu lassen. Alles genau an diesem Ort zu lassen, zu begraben und zu vergessen. Sie machten sich auf in ihr neues Leben. Sie brauchten Stunden, Gertrud fiel das Laufen sehr schwer, die anderen Mädchen nahmen ihr so viel wie möglich ab.
5 - Liegnitz
Erst spät kamen sie in Liegnitz an und gingen zu einer ausgeschilderten Schule. Hier waren Menschen über Menschen, alles Deutsche und die Mädchen mittendrin. Sie hielten sich fest um sich nicht zu verlieren. Die Menge drängte hin und her. Erst jetzt bemerkten sie, wie hungrig sie waren, Gerda und Irma weinten. Dann ging alles sehr schnell. Sie wurden auf einen LKW verladen, dieser fuhr schnell und immer schneller, er war voller Menschen, überall Geschrei und Egoismus, keiner interessierte sich für die Mädchen. Es ging zum Bahnhof. Auf dem Bahnhof waren überall polnische Polizei und polnische Hilfspolizisten mit Armbinden. Alle hatten ein grimmiges Gesicht, man wollte vor Ihnen fliehen, es ging aber nicht, überall Absperrungen, die sie wie eine Viehherde in eine bestimmte Richtung trieben. Die Polizei hatte Gewehre und Stöcke. Den Mädchen war klar, dass sie die auch einsetzen würden. Immer dieses Geschrei „Szybko, Szybko, Pospieszsię!“ (Schnell, Schnell, Na los, vorwärts). Noch schlimmer wurde es, als sie am Eingang auch noch einen Panzer mit Russen sahen. Gertrud fing an zu zittern. Wahrscheinlich kam alles wieder hoch, die Erniedrigung, die Gewalt. Nach fünf Stunden Wartezeit standen sie an einem Schalter. Eine uniformierte Frau sah die drei an und schickte sie an das Ende der Halle. Hier warteten Helfer, die sie in Empfang nahmen und ihnen erst einmal warme Kohlsuppe, Brot und etwas zu trinken gaben. In einer Ecke lagen Strohsäcke und genau hierhin brachte Zuzana, eine polnische Helferin, die gut deutsch konnte, die Mädchen. Irma erinnerte sich, dass diese junge Zuzana das im Blick hatte, was sie schon lange vermisst hatte: Liebe, Wärme und Mitleid. Zuzana stellte fest, dass sich zuerst gewaschen werden müsste. Alle taten wie von Zuzana festgelegt. Es hatte wieder etwas von Ordnung und richtig sein. Die Waschstelle war außerhalb des Bahnhofs in einem niedrigen Nebengebäude. Aus dem Schornstein stieg Rauch auf. Als sie am Haus ankamen, erlebten die Mädchen eine sonderbare Situation. Vor dem Haus stand eine Traube von Menschen, alles Frauen. Die Tür stand etwas offen, aber vor der Eingangstür versuchten zwei polnische Polizistinnen eine Frau in das Gebäude zu zerren.
Die Frau wehrte sich aus Leibeskräften und schrie immer wieder: „…die wollen uns umbringen, Gaskammern…“. Irma wusste damals nicht, was die Frau meinte oder war nur zu müde. Erst viel später erfuhr sie von solchen Orten wie Auschwitz, Sobibor und Treblinka. Noch heute war es für sie völlig unverständlich, was Menschen anderen Menschen antun konnten. Als Thomas zwölf war und er nach der FDJ-Gruppe nach Hause kam, fragte er Irma einmal, was sie von den KZ wusste. Irma erinnerte sich noch an ihre Antwort: Sie war damals zu klein, sie bekam nichts mit und wusste von gar nichts. Und doch stellte sie sich vor, wie es ihr denn als Jüdin ergangen wäre. Als Irma schon bewusst ihre Umwelt zum Ende des Krieges wahrnahm, gab es keine Juden mehr in ihrem Ort. Sie waren verschwunden. Was wäre, wenn auf einmal die Polizei zu ihr nach Hause käme? Alle hätten zum Bahnhof gemusst, Thomas noch klein, Winter. Irgendwo in einem Güterwaggon, fehlende Information über Dauer der Fahrt, zu möglichen Zwischenhalten und dem Ziel. Was wäre, wenn man angekommen wäre, ausgehungert, fast verdurstet? Was, wenn man sie und Karl getrennt hätte? Was wenn Sie und Thomas vergast worden wären? Sie schob die Vorstellungen beiseite, sie hatte überlebt.
Auf einmal löste sich die Traube auf, die Frau wurde nicht gezwungen sich zu waschen. Für die Mädchen war das Waschen das Beste, was sie seit Tagen hatten. Es roch nach Seife, der große Waschraum war eine große offene Halle. In der Mitte standen zwei Reihen von Waschtrögen, das Gleiche an den Wänden. Aus den Rohren floss warmes Wasser. Der Wasserdampf durchzog den gesamten Saal. Überall Lärm, Menschen, die sich um Sachen rauften. Zuzana schob uns in die rechte hintere Ecke, da hatte sie noch einen verwaisten Waschplatz ausfindig gemacht. Sie stellte Irma auf einen Schemel und besorgte für die Geschwister auch jeweils einen Stuhl. Die Mädchen sollten sich selbst waschen. Irma erinnerte sich noch an den Lappen, an die Seife und vor allem an das warme Wasser. Irma genoss die Sauberkeit und das wohlige Gefühl. Sie wollte, dass es nicht aufhört. Als Irma fertig gewaschen war, rubbelte Zuzana sie richtig ab und zog ihr frische Sachen an. Es waren nicht ihre Sachen, aber Zuzana sagte ihr, dass das in Ordnung sei und so schlecht sahen die Sachen auch nicht aus. Zuzana hatte für alle frisch gewaschene Sachen besorgt und sah den anderen beim Waschen zu. Einzig Gertrud war nicht bereit sich auszuziehen. Zuzana versuchte Gertrud zu überreden, sich doch überall zu waschen. Wer weiß, wann sie das nächste Mal die Chance dazu hätte. Doch Gertrud ließ es nicht zu. Zuzana verstand dies nicht und sah sie an. Ob es die Wärme war oder dass das alte Handtuch in ihrem Schritt es nicht mehr aufhalten konnte: auf einmal lief an den Innenseiten von Gertruds Schenkeln Blut herunter. Zuzana dachte erst, dass es sich um eine Regelblutung handelte und lächelte nachsichtig, aber als Gertrud losheulte, wusste Sie, dass etwas nicht stimmte. Zuzana war wie den Mädchen klar, dass man nichts tun konnte, nur erdulden und hinnehmen. Die Zeit heilt nicht immer alle Wunden, Zeit verändert vielleicht manchmal die Sicht auf Dinge. Wie lange Zuzana und Gertrud umarmt standen, wusste Irma nicht mehr, aber es musste weitergehen. Als alle fertig waren, ging es zurück zum Bahnhof, an die gleiche Stelle wie vorher. Zuzana kümmerte sich um unsere Strohsäcke, mit Gertrud und Gerda baute Sie unser Nachtlager. Als Kleinste konnte sich Irma zwischen den Großen hinlegen. Geschichten brauchte Irma heute nicht. Kaum, dass die Mädchen lagen, schliefen Sie auch sofort ein, in einen tiefen ruhelosen Schlaf, zwischendurch schrie Gertrud und kämpfte mit ihren Alpträumen. Sie umfingen Geräusche des Bahnhofs, Pfeifen, das Schnauben von Loks, lautes Rufen, Koffer schleiften über den Boden, das Schnarchen von Menschen, das Klicken von Schalttafeln und das Verschieben von Weichen.
6 - den Wind in den Haaren