Copyright © 2020 Picus Verlag Ges.m.b.H., Wien
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ISBN 978-3-7117-2093-1
eISBN 978-3-7117-5418-9
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Ivan Ivanji, 1929 im Banat geboren, war unter anderem Journalist, Diplomat und Dolmetscher Titos. Romane, Essays, Erzählungen und Hörspiele. Er lebt als freier Schriftsteller und Übersetzer in Wien und Belgrad. Im Picus Verlag erschienen zahlreiche Romane, darunter »Barbarossas Jude«, »Das Kinderfräulein«, »Der Aschenmensch von Buchenwald«, »Die Tänzerin und der Krieg«, »Geister aus einer kleinen Stadt«, »Buchstaben von Feuer«, die Neuauflage seines Erfolgs »Schattenspringen«, »Mein schönes Leben in der Hölle« und seine Familiensaga »Schlussstrich«. 2019 erschien »Tod in Monte Carlo«. Im Frühjahr 2020 erscheint »Hineni«.
Roman
Picus Verlag Wien
HAGAR
AVRAM
ÄGYPTEN
PALAST UND HAREM
SODOM
DER PHARAO SPRICHT
DER BAU DER PYRAMIDE
DAS GELOBTE LAND
DAS AUSERWÄHLTE VOLK
SARAI LACHT
ISAAK
DIE WÜSTE UND DIE OPFER
ABRAHAMS TOD
JAKOB – ISRAEL
SPURENSUCHE
Sie war als Kind nie hungrig schlafen gegangen, nie. Tagsüber war sie natürlich mitunter hungrig gewesen, aber am Abend gab es immer genügend zu essen. Allerdings erzählte man ihr immer wieder, wie es ist, großen Hunger zu haben, von Menschen, die lange ohne Nahrung leben müssten, sogar ohne Wasser blieben und starben. Als kleines Mädchen konnte sie sich das nicht einmal vorstellen. Noch hatte sie keine Ahnung, was das war – Tod, Sterben –, nur dass es etwas Furchtbares sein musste. Die Herrschaft sorgte für alle, Männer, Frauen und Kinder, alle, alle, die sie kannte. Es hieß, sie seien Sklaven. Nun, dachte sie von klein auf, es ist, wie es ist. Konnte es anders sein? Wie denn? Kann man anders sein, als man ist? Sie glaubte nicht, dass ihr etwas fehlte.
Wie aber war es mit den sogenannten freien Menschen? Sie waren zum Beispiel Fischer am Nil, mussten ihren Fang Herrn Hisisi zeigen, der ihnen überließ, was sie und ihre Familien zum Überleben brauchten. Mehr nicht. Oder sie waren Arbeiter an den Dämmen des großen Stromes. Sie alle mussten sich große Mühe geben, um nicht hungrig schlafen gehen zu müssen. Hagar und die Sklaven mussten natürlich ebenfalls arbeiten, aber Sorgen, was sie am Morgen und am Abend essen würden, hatten sie nicht.
Bald konnte Hagar viele Fischsorten unterscheiden, die silbrigen Meeräschen, Buntbarsche, Hechte und seltsame Kugelfische, am häufigsten waren Welse, manche davon größer als sie selbst. Sie wuchs mit gekochtem, gebratenem, manchmal auch roh zubereitetem Fisch auf, mit Grützen am Morgen und am Abend. Erwachsene erhielten dazu täglich einen Krug Bier.
Herr Hisisi streichelte Hagar manchmal über den Kopf und gab ihr von seinem Fladenbrot mit Honig. Als kleines Mädchen dachte sie, es sei viel besser, Sklave zu sein als ein freier Mensch wie die Fischer und die Arbeiter am Damm. Man bekam, was man brauchte, ohne sich sorgen zu müssen. Darum kümmerte sich Herr Hisisi. Ziemlich lange fragte sich das Mädchen nicht, warum das so war.
Sie wusste, Herr Hisisi war ein Schreiber. Außer freien Arbeitern, Fischern, nicht zu vergessen Matrosen, gab es auch solche Leute. Lange glaubte sie, er sei der einzige Schreiber auf der Welt. Und der einzige Mensch, den man mit Herr anredete. Abends hörte Hagar, wie der Wind ihr Lieder zutrug:
Der Ruderer ist müde,
in seinen Händen das Ruder,
auf seinem Rücken der Peitschenhieb,
sein Magen leer,
der Schreiber sitzt in der Kabine,
es rudern die Kinder der anderen.
Azenat sagte einmal zu ihr: »Du weißt nicht, wie glücklich du bist, Kind.«
Das war sie also, nicht nur Sklavin, sondern auch glücklich. Natürlich glaubte sie Azenat. Ziemlich lange. Später nicht mehr, nicht mehr ganz.
Azenat erzählte vor dem Einschlafen Geschichten. Sie hatte eine blasse, fast weiße Haut. Sie sagte dem Mädchen jedoch, dunklere Haut sei für die meisten Männer begehrenswert.
»Viele werden von dir Kinder haben wollen, Hagar, die sollen schön sein wie du.«
Sie wusste noch nicht genau, was das sein sollte, Schönheit, aber wenn Azenat meinte … Das war doch gut für sie, oder?
Es hieß, sie alle seien Eigentum des Pharaos. Natürlich war auch Hagar als kleines Mädchen überzeugt davon, er sei einer der Götter, sie selbst also ein Mädchen Gottes, was will man mehr? Jemand Wichtigeren, Großartigeren als Herrn Hisisi als Mensch konnte sie sich ohnehin nicht vorstellen. Azenat erklärte ihr, der Name Hisisi bedeute Geheimnis, geheimnisvoll.
»Und was bedeutet dein Name, Azenat?«
»Ganz einfach, es bedeutet Tochter.«
»Sind wir nicht alle jemandes Töchter?«
»Das schon, Kind, aber manchmal weiß man nicht, wer der Vater ist. Viele unter uns wollte keiner anerkennen.«
»Ist es nicht so, dass Seine Majestät der Pharao uns wollte? Wir sind die Seinen, ist das nicht viel mehr als irgendein gewöhnlicher Vater? Unser Vater ist ein Gott. Was macht es, wenn man dann nicht weiß, wer sein menschlicher Vater ist? Und was bedeutet mein Name?«
»Das weiß ich nicht«, seufzte die ältere schon etwas genervt.
»Gibt es wirklich etwas, was du nicht weißt?«
Jetzt lächelte Azenat, deshalb wagte Hagar weiterzubohren. »Wieso weißt du überhaupt so viel?«
»Ich wurde nicht als Sklavin geboren …«
Sie schloss die Augen und drehte sich weg, schlief ein oder tat, als wäre sie eingeschlafen, und so schlief auch Hagar ein. Es gibt Gespräche, nicht viele, aber doch einige, die man sich ein ganzes Leben lang merkt. Nachträglich wundert man sich, was man einmal geglaubt hat.
Herr Hisisi hatte zwar Azenat nicht zur Aufseherin der jungen Sklavinnen ernannt, aber sie war es, es war wohl einfach so gekommen. Sie arbeitete nicht, sondern teilte die Arbeit ein, und ihm war das recht. Am frühen Morgen gingen die Sklavinnen ans Ufer des Nils und wuschen die Fischernetze. Das fiel Hagar nicht schwer, fast war es Spielerei. Wenn die Netze zerrissen waren, machten die Mädchen Azenat darauf aufmerksam und sie gab sie weiter an geschicktere Frauen, die sie flickten. Wenn die Sonne immer höher stieg und auf Sklavinnen, Arbeiter und andere freie Menschen herunterbrannte, die Wellen leise plätscherten, bläulich, freundlich, dann setzte sich Azenat auf einen Stein am Ufer und ihr Blick verlor sich irgendwo in der Ferne. Eines Tages teilte sie Hagar für eine neue Aufgabe ein, sie brachte nun den Arbeitern, die an Dämmen arbeiteten, um die Tempelanlagen von den Fluten des Nils zu schützen, ihr Trinkwasser.
Man erzählte, der große Strom sei manchmal verärgert und böse, dann trete er über die Ufer und zerstöre viel, reiße alles mit sich, Gemäuer, Vieh, auch Menschen, ein andermal wurde er träge, mochte die Felder nicht überschwemmen, dann verödeten die Äcker, die Ernten fielen aus und es herrschte Hunger. Hagar hatte Hunger nie direkt erlebt, nie, sie bekam wie alle anderen jeden Abend Fisch und Grütze und das war gut, der vorabendliche Hunger war nur die Einleitung zum Genuss des Abendmahls.
Azenat erklärte ihr, dass man vor Durst rascher sterbe als vor Hunger. Wieder dieses Sterben! Wenn Hagar manchmal durstig war, nahm sie einfach den Schöpflöffel und trank aus dem Nil. Bald hatte sie begriffen, dass der Strom Herr des Schicksals war, man musste ihn lieben und verehren. Die Beziehungen der Götter zum Nil verstand sie noch nicht, dachte nicht über sie nach. Sie würde es nie begreifen. Es ist, wie es ist. Im Nil lebten nicht nur Fische, sondern auch Krokodile. Seit sie lebte, wusste Hagar von ihnen und wie hässlich, wie gefährlich sie waren.
Man führte die jungen Sklavinnen zum Dienst am Gott Hapi, der sich darum kümmerte, dass der Nil das Land rechtzeitig überschwemmte und sich auch wieder zurückzog, um die Felder für die Saat freizugeben. Meist wurde er in der Gestalt eines fetten Mannes mit hängenden Brüsten abgebildet. Es hieß, die Felder am Nil seien ihrer aller Kornkammer, aber was das sein sollte, begriff Hagar lange nicht. Grütze und Fladenbrot brachte sie jedenfalls nicht mit diesem Begriff in Verbindung. Viele Worte lernt man, ohne zunächst zu wissen, was genau mit ihnen gemeint ist, wenn man sie ausspricht. Aber Hagar sah, wie man beim Bäcker mit Dreschflegeln auf das Korn einschlug, wie es zwischen zwei flachen Steinen zerrieben, mit Wasser vermischt und und zu Brot gebacken wurde. Das begriff sie wohl und mochte Brot lieber als die langweilige Grütze.
Für Brot und Leben gab es nur ein Wort. Das schien selbstverständlich. Den Geschmack des Brotes kannte Hagar lange bevor sie sich Gedanken über den Sinn des Lebens machte.
Gott Hapi hatte blaue Haut, aus seinem Kopf wuchs die Papyruspflanze. Man brachte ihm Opfer, die man nicht verbrannte, sondern in den Nil warf. Hymnen für ihn wurden gesungen, man lobpries ihn und betete, er solle dafür sorgen, dass stets genug zu essen vorhanden sei, man brachte jedoch den Mädchen auch bei, dass der Nil auch anderen Göttern unterstellt war, vor allem Osiris. Der Fluss, der das Leben gab und nahm. Menschen ertranken oder wurden von Krokodilen gefressen, deshalb war der größere Herr der Gott des Todes Osiris.
Später hörte Hagar auch, dass über jedem Herrn ein noch höherer Herr stand und der allergrößte sich allen unseren Gedanken entzog, jedem Verständnis, und so genügte es ihr, auch weiterhin zu wissen, dass Herr Hisisi ihr Herr war. Was kümmerten sie alle Zwischenstufen zwischen ihm und Seiner Majestät dem Pharao und dessen Sohnsein des Osiris? Viel, viel später, als man Hagar zum ersten Mal vor den Thron des Pharao brachte, des Königs mit den zwei Kronen auf dem erhabenen Haupt, als sie sich vor der Erhöhung, auf der er saß, auf den Boden werfen sollte, dachte sie, etwas Wichtigeres, Erhabeneres werde in ihrem Leben nicht mehr geschehen. Als er dann jedoch mit gewöhnlicher, menschlicher Stimme sagte, sie solle näher kommen und sie Abraham schenkte, begriff sie, dass er nur der Höchste unter den Menschen war, ein Mensch, aber vielleicht gleichzeitig der Niedrigste unter den Göttern, obgleich Sohn des höchsten Gottes, der doch unermesslich mächtiger war als er. Keine Ahnung konnte sie damals davon haben, was ihr noch viel später eines Tages Abraham erklären würde, sein Gott sei der größte und man solle keine andere Götter haben als ihn.
Nach Gottesdiensten wurde sowohl an die Sklaven als auch an die freien Arbeiter von den Dämmen und Steinbrüchen Bratfisch und sogar Fleisch verteilt, Erwachsene bekamen einen zweiten Krug Bier, es schlossen sich Matrosen an, die behaupteten, zu Hapi eine besondere Beziehung zu pflegen. Die Matrosen sagten, Hagars Hautfarbe deute darauf hin, dass sie aus einem fernen Land stamme, das Kusch heiße und ebenfalls am Nil liege. Denn auf der Insel Scha-At lebten Menschen, die aussahen wie sie.
Die Seeleute erzählten, wie groß und mächtig der Nil sei, aus welcher riesigen Entfernung er zu ihnen strömte, aus Urwäldern, wo Menschen mit noch viel dunklerer, echt schwarzer Hautfarbe lebten. Ihn unterbrachen starke Wasserfälle, dann stürze er von großer Höhe in die Tiefe, er fließe auch durch Wüsten, aber wo er die Erde überschwemme und seinen Schlamm hinterlasse, blühe alles auf, wachse das Korn. Gott Osiris habe selbst aus Nilwasser und wilder Gerste Bier gebraut und die Menschen gelehrt, wie man das tue.
Die jungen Sklavinnen, die noch im Kindesalter waren, begriffen nicht, wieso sich manche Männer komisch verhielten, nicht richtig sprachen, sondern lallten, schwankten, statt aufrecht zu gehen. Azenat erklärte ihnen, dass sie besoffen seien und was das bedeutete, jetzt aber sollten alle Mädchen schleunigst in den Schlafraum gehen und sich schlafen legen. Sie sollten die Matrosen meiden, denn ihre Unschuld sei ihr einziger, großer Besitz, den müsse man so teuer wie möglich verkaufen, die Gelegenheit dafür würde sich nur einmal im Leben bieten. Das war noch bevor Hagar zum ersten Mal ihre Tage bekam und sie hatte keine Ahnung, was damit gemeint war. Am nächsten Abend fragte sie jedoch, was das sei, Unschuld, und was sie mit betrunkenen Matrosen zu tun habe. Azenat erklärte es. Hagar fand das seltsam und ekelhaft. Aber auch in dieser Hinsicht war es wohl, wie es war.
Jahrelang schien Gott Hapi zufrieden mit den dargebotenen Opfern und Gesängen zu sein, denn der Nil überschwemmte das Land regelmäßig und zog sich auch brav wieder zurück, die Ernten waren gut, man war zufrieden. Hagar also ebenfalls, weil sie jeden Abend satt wurde. Noch wusste sie nicht, dass das Glück mehr sein konnte und dass es größeres Leid gab als Hunger.
Eines Tages setzte sie vor einer Lagerhalle den Wasserkrug für die Arbeiter auf dem Damm ab, er war ihr schwer geworden. Zufällig blickte sie auf die weiße Wand und sah, wie eine riesengroße, blaugrünlich im Sonnenlicht schimmernde Eidechse hinaufkletterte. Sie war entsetzt, dachte im ersten Augenblick, es sei ein kleines Krokodil, aber was hatte ein Krokodil auf einer Mauer auf dem Festland zu suchen? Wie erstarrt stand sie noch da, als das Tier längst wieder weg war und ein Arbeiter brüllte, er sei durstig, sie solle nicht blöd ins Nichts gaffen, sondern gefälligst Wasser bringen, dafür sei sie da.
Am Abend berichtete sie Azenat von diesem seltsamen Erlebnis und fragte: »Sind wir Sklaven Eidechsen, Schreiber wie Herr Hisisi jedoch Krokodile? Wir sind einander so ähnlich, weil wir Menschen sind, und doch so verschieden, oder? Der Unterschied ist vor allem, dass die Krokodile gefährlich sind, wir aber unschuldig, wenn auch auf eine andere Art, als du es mir erklärt hast …«
Azenat unterbrach die Kleine: »Du bist ein seltsames Mädchen, Hagar. Was dir nicht alles einfällt. Es ist für unsereinen nicht gut, so viel nachzudenken …« Dann machte sie eine Pause und sagte nachdenklich: »Wer weiß, was die Götter mit dir vorhaben.«
Haran war eine reiche Handelsstadt in einem Land gleichen Namens, die Heimstätte freier Menschen, hochgewachsener Männer und schöner Frauen. Ihr Schutzgott hieß Sin und erschien ab und zu auf nächtlichem Himmel. Er hatte Hörner wie eine nach oben gebogene Sichel. Oft saß er auf dem Mond. Der wichtigste ihm geweihte Tempel hieß Uhulu. Händler, die hier durchkamen, erwiesen ihm ihre Ehrerbietung mit Opfern, denn hier befand sich eine wichtige Wegkreuzung für Karawanen. Sie zogen von hier in verschiedene Richtungen, vor allem jedoch über das Land Naharain Richtung Meer.
Manchmal überquerten auch königliche Karawanen in Begleitung schwer bewaffneter Reiter die Straßen, das waren finstere, schweigsame Männer, denen man besser aus dem Weg ging. Man war froh, wenn sie sich damit begnügten, ein wenig Wasser und Nahrung zu verlangen und weiterzogen. Sie hatten den Auftrag, dem Pharao in Ägypten Geschenke und Tribute zu überbringen, oft Gegenstände aus Lapislazuli, dem wunderbaren blauen Edelstein, den es nur in dieser Gegend gab und der seinem Besitzer Weisheit verlieh. Beliebt waren Skarabäen, die dem Käfer nachgebildet waren, der im Schlamm des Nils lebte und das Glück segensreicher Überschwemmungen bezeugte. Auch für die Augen der Totenmasken der Könige brauchte man diesen Stein. Die Karawanen führten auch Goldbarren mit dem Stempel des Pharaos, der anzeigte, wie schwer sie wogen, mit sich.
Man handelte mit Getreide: Weizen, Hirse, Roggen, mit Obst und Gemüse, Rindern, Schafen, Ziegen, Geflügel, Gewürzen, Weihrauchstäbchen, Honig, Farben, allerlei Werkzeug und Gerät, Lampen und Öl. In einem Ort fehlte das eine, im anderen etwas anderes, Tücher, Seide, Leinen und Baumwollstoffe, Holzstämme, Holz in Form von Brettern oder Balken, auch als Möbel, die waren besonders teure Waren und umständlich zu transportieren. Die Schreiber schrieben einander, wo was fehlte und zu welchem Preis was gehandelt wurde, wie viel Gold und Silber man bereithalten oder mitnehmen sollte, wo Räuberbanden die Wege gefährdeten. Sie bekamen ihren Anteil für die wertvollen Nachrichten. Die geschicktesten Kaufleute stellten eigene Karawanen zusammen, charterten Schiffe, kauften billig von verarmten Bauern und Handwerkern, verkauften teuer, wo Mangel herrschte oder einfach Wertvolles und Seltenes gewünscht wurde, dann schafften sie neue Schaf- und Ziegenherden an, Obstgärten und Grundstücke, ließen sich Häuser bauen, mehr als sie bewohnen konnten, sodass sie auch an Wuchermieten verdienten, die Erfolgreichen beneideten die noch Erfolgreicheren, alle opferten jenen Göttern, die sie für ihre wichtigsten Wünsche für zuständig hielten, meinten, so Frieden zu kaufen und die Möglichkeit, noch reicher zu werden, beteten um Erfolg in der Liebe und gesunden Nachwuchs. So kamen auch die Priester zu ihrem Reichtum, denn sie waren gleichzeitig Ärzte und Apotheker, an die man sich wandte, wenn Krankheiten einen überfielen, davon waren nicht einmal die Allerreichsten befreit.
Avram, dessen Name bedeutete, der Vater sei erhaben, Sohn des Terach, und sein Neffe Lot gehörten zu den ziemlich geschickten Kaufleuten in Haran, freilich nicht zu den reichsten und bedeutendsten.
Es schien, als hätte sich die Welt erweitert. Vor nicht so langer Zeit, erzählten Greise, habe man selten seine Siedlung verlassen, die Familien produzierten selbst, was sie zum Leben brauchten, und das war nicht viel, Nahrung und etwas, um den Leib zu bedecken. War das Leben gewesen oder Dahinsiechen?, fragte sich Avram. Immer mehr Menschen gingen jetzt auf Reisen, wechselten die Wohnorte, suchten nach dem Glück. Man sattelte Esel und Maultiere, seltener Pferde und für die Wüstenlandschaften Kamele, bezahlte Plätze auf dem Deck von Schiffen, die ohnehin mit Lasten den Strom hinauf und hinunter segelten oder gerudert wurden. Es hieß, es gebe Völker, die sich weit auf das Meer hinauswagten. Man berichtete über wundersame ferne Länder, Völker, Sprachen, Städte, Tiere, Früchte, Pflanzen, Sitten und Götter. Da es der Götter so viele und unterschiedliche gab, musste man in Erfahrung bringen, welchem man was und wo opfern sollte. Allen überall zu opfern, war nicht möglich, Empfehlungen, die man bei einheimischen Priestern einholte, waren in Silber zu bezahlen. Doch es konnte für das eigene Schicksal entscheidend sein, den richtigen Gott anzubeten oder zu vernachlässigen.
Avram war schon als junger Kaufmann, kaum war ihm noch der Bart gewachsen, ungeduldig, nichts ging ihm schnell genug, die Unruhe, die ihn jeden Abend befiel, war quälend, denn er war mit seinem bisherigen seiner Meinung nach zu ruhigen Leben unzufrieden, anders als sein Neffe, der friedfertige Lot. Die Geschäfte liefen auch nicht mehr so, wie er sich das vorstellte, die Konkurrenz war groß. Er wollte sich nicht damit abfinden und beschloss, sich aufzumachen, Richtung Meer. Vielleicht war inzwischen die Hälfte seines Lebens vergangen, er kannte kaum jemanden, der älter als sechzig Jahre war. Sein Vater war jung gestorben, er aber hatte immer noch nichts erlebt, was lebenswert gewesen wäre. Warum lebte der Mensch? Er wollte weg von hier, es war wohl ratsam, sich mit einem der vielen Götter zu beraten, seinen Segen zu erflehen. Aber welchen sollte er um Hilfe bitten?
Avram beschloss, den Priester der Göttin Ningal aufzusuchen, der Schutzherrin der Stadt Ur, aus der sein Vater hierher nach Haran gekommen war. Auch er war also von Unruhe erfasst gewesen. Der Priester des Ningal geweihten Tempels war ein sehr alter, angeblich weiser Mann.
Der Göttinnenname Ningal bedeutet Laut rufende Herrin. Ihr Wahrzeichen war die Sichel, ihr Gatte war der Mondgott Nannar, der jedoch in der Stadt Haran Sin hieß. Sins Wahrzeichen war der Mond in Form einer waagrechten Sichel, die als Boot verstanden wurde, mit dem man über den Himmel reist.
So suchte Avram mit vielen Geschenken den Priester der Ningal auf, der Munambu hieß, das bedeutet Überbringer von Nachrichten, und beklagte sich wegen seiner Unruhe, die fast schon eine Krankheit sei. Er erzählte von seiner Absicht, alles zu verkaufen und wegzureisen, weg und dem Meer entgegen. Munambu hörte ihm aufmerksam zu.
»Du bist keineswegs der Einzige, der unruhig ist und nach etwas anderem, nach Höherem strebt, guter Avram. Das ist stets so mit Männern deines Alters, das legt sich mit der Zeit. Dass du südwärts dein Glück suchen willst, ist auch in Ordnung, warum nicht?«
Avram gefiel die Antwort.
»Was darf ich deiner Göttin opfern, um ihren Segen für meine Reise zu bekommen?«
»Eine schöne Kuh!«
»Eine Kuh? Ich dachte an eine Schafherde oder so etwas. Wieso eine Kuh?«
»Ningal ist eifersüchtig auf Kühe. Ihr Ehemann Nannar hat sich in eine irdische Kuh verliebt und sie geschwängert, sie weiß jedoch nicht, welche Kuh das war. Deshalb erfreut sie eine jede geschlachtete Kuh, die schon Kälber auf die Welt gebracht hat.«
Das leuchtete Avram nicht ein, er wollte es jedoch dem Greis nicht sagen und fragte: »Hast du dein hohes Alter deshalb erreicht, verehrter Munambu, weil du Ningal viele Kühe geopfert hast?«
Lächelnd antwortete der Priester: »Das weiß ich nicht, mein lieber Freund. In meinem eigenen Namen und für mich selbst bittend habe ich nie geopfert, nie. Nur für andere, die deshalb zu mir kamen. Ich weiß nicht, was die Götter erreicht, was sie zu irgendeinem Beschluss bringt oder bereits Beschlossenes verändert. Niemand weiß das und trotzdem versuchen es viele, fast jedermann. Ich rate dir, opfere die Kuh. Schaden kann es nicht. Rufe dann die Göttin an. Vielleicht antwortet sie dir. Das soll vorgekommen sein …«
Schon in der nächsten Nacht opferte er seine schönste Kuh und für alle Fälle auch ihre Kälber dazu. Die Nacht war hell, unendlich viele Sterne funkelten auf dem Himmel und es war Vollmond. War das die richtige Nacht? Sollte er warten, bis sich der Mond waagrecht und sichelförmig zeigte? Und was sollte er erbitten, falls ein Zeichen kam? Eine gute Reise und Schutz vor einem Überfall. Gewiss, aber das war nicht genug, wenn schon, denn schon. Also noch eine große, eine ganz große Bitte, dann würde er zehnmal zehn Kühe opfern, Land, ein ganzes Land, und Söhne, um es zu bevölkern. Die ganze Nacht wartete Avram, aber er empfand nichts Neues, seine Unruhe wuchs sogar noch, als die Sonne aufging. Er beschloss, dennoch fortzureisen, denn es war nichts geschehen, um ihn aufzuhalten.
»Bevor wir abreisen, wollen wir heiraten, Lot«, sagte Avram, ohne von seinem Gespräch mit dem Priester und der geopferten Kuh zu erzählen. »Nirgendwo werden wir so schöne und dem Mann ergebene Mädchen finden wie hier. Ich nehme Sarai, sie ist aus meinem Geschlecht, meines Blutes, sie soll mir viele Kinder gebären, hübsch wie … wie der Vollmond schön ist meine Sarai. Dann aber müssen wir auch einen neuen Gott finden, an den wir uns wenden können, Gott Sin und die Göttin Ningal werden uns auf dieser Reise und in der Ferne nicht helfen können.«
Lot hatte gerade einen Krug in der Hand, setzte ihn ab, weil er nicht gleichzeitig etwas tun, denken und sprechen konnte, und sagte zögernd: »Man kann doch Götter nicht einfach finden. Die Priester wissen, wo welche angebetet werden, ist es nicht so? Willst du die Götter auswechseln?«
»Nein, du hast mich falsch verstanden, nicht auswechseln. Ich will unseren eigenen Gott suchen, denn anscheinend passt keiner der bekannten zu uns. Ich habe mit vielen Menschen gesprochen. Pass auf! Mein Vater, die Götter mögen ihm ein gutes Jenseits gönnen, kam aus Ur. Auch ich wurde dort geboren, ich kann mich aber nicht an diese Stadt erinnern. Ich weiß jedoch, dass sie ein Hort der Weisheit, der Kunst und des Reichtums ist. Greise erzählten, Vater sei trotzdem in Richtung eines Landes aufgebrochen, das Kanaan heißt. Dort soll es große, sehr große Städte mit vielen Tausend Einwohnern am Meeresufer geben, ein Riesenangebot an Waren und Möglichkeiten. Vater hat jedoch schon hier haltgemacht und es für gut befunden, ich weiß nicht warum, er ist zu einem bescheidenen Wohlstand gekommen, bis er das Diesseits verlassen hat. Vielleicht wohnt dort in Kanaan unser Gott und wartet auf uns.«
Die Stadt Ur lag am Fluss Al Furat, dem Euphrat. Hier befand sich ein großer Zikkurat, ein künstlicher Berg aus Ton und Ziegelsteinen, auf den die Menschen stiegen, um den Sternen und den Göttern etwas näher zu sein. Geweiht war der Gipfel dem Mondgott Etemiguru, auch ein Name des Gatten der Ningal. Dort glaubte man, ihre Kinder wären der Sonnengott An, der Zeiten und Unwetter bewegende Gott Adad und die als Falke erscheinende Inana, die das Schilf segnet. Man kam aus allen Richtungen, um hier diesen Göttern zu opfern, um inständig zu beten und von ihnen alles Mögliche zu erbitten. Das alles wusste Avram, doch es genügte ihm nicht.
An dieser Stelle hatte man entdeckt, wie man aus Ton nicht nur Ziegelsteine für den Bau herstellen, sondern auch Platten, in die man Zeichen ritzte, die man verstehen konnte. So konnte man Verträge absichern, nicht nur wie bisher mit Handschlag, den unredliche Menschen mitunter vergaßen, man konnte auch Nachrichten sicherer senden, als wenn sich Boten merken mussten, was sie berichten sollten.
»Aber warum sollen wir jetzt weg von hier?«, zauderte Lot. »Hungrig sind wir hier auch nicht …«
»Ich reise auf jeden Fall, du musst ja nicht mitkommen.«
»Natürlich komme ich mit, Avram. Ich habe auch gehört, dass Kanaan ein fruchtbares Land ist.«
»So ist es.«
Wenn er stillstand, wurde Lot gesprächig. Dabei fuchtelte er nie mit den Armen, scharrte nicht mit den Füßen, denn entweder sprach er oder er bewegte sich. Er werkte mit den Händen oder er ging einfach, im Laufen zu reden war für ihn unmöglich. Nicht allen fiel das auf, aber Avram merkte es und zog daraus seine Schlüsse.
Lot ängstigte sich: »Onkel! Dort leben doch gewiss schon Leute. Warum meinst du, dass man uns friedlich aufnehmen wird, dass wir willkommen sein werden? Vielleicht bringen sie uns einfach um.«
»Wenn die uns nicht in Frieden empfangen, werden wir sie zwingen, sich zu unterwerfen. Wir werden sagen, dass uns unser Gott dieses Land verheißen hat.«
Avram setzte sich immer durch. Fast immer. Sie heirateten in aller Eile, was nicht allen gefiel. Avram kümmerte sich nicht darum, Lot litt deswegen. Sie nahmen nicht die jüngsten, aber die hübschesten Mädchen, deren Eltern einverstanden waren, immerhin waren Avram und Lot aus einer angesehenen Familie und Töchter musste man anbringen. Wen interessierte es schon, wie die Frauen aussahen, wichtiger war, wie ihre Kinder sein würden, man wusste, wofür man Frauen brauchte. Wovon hatten sie geträumt, bevor sie verheiratet wurden? Wen kümmerte das? Avram erklärte Lot immer wieder, dass er viele starke und schöne Kinder haben musste.
Sie verkauften das einstöckige, aus Ziegelsteinen erbaute weiß gekalkte Familienhaus. Ziegelhäuser waren im Gegensatz zu den Hütten aus Lehm und Stroh Zeichen von Reichtum, mehr als nur ein Dach über dem Kopf, ein Zuhause. Lot war auch weiterhin unglücklich, diese Sicherheit und Bequemlichkeit zu verlassen, gehorchte jedoch und verließ sich auf die Willenskraft des älteren Verwandten.
In der Nacht, bevor er endgültig sein Haus verlassen musste, das Haus, in dem seine Unruhe ins Unerträgliche gewachsen war und ihn nicht einmal die geduldige, allerdings willenlose Hingabe Sarais in der ersten Ehenacht beruhigt hatte, stieg er auf das Dach, um den Himmel zu betrachten. Der Mond zeigte sich diesmal als Sichel und stand waagrecht am Himmel. Hatte das etwas zu bedeuten? Nein, dachte Avram, alle diese Geschichten über Götter und Göttinnen, ihre verschiedenen Namen und Eigenschaften, waren zu verwirrend. Die Priester verwirrten die Besucher ihrer Tempel vielleicht, um möglichst viele Fleischopfer zu erwirken, alle, alle waren sie wohlbeleibt, weil sie so viel von den besten Stücken der Tiere für sich selbst nahmen, wie es ihnen beliebte. Das war keine Anbetung von Erhabenem, sondern Geschäft. Ein gutes Geschäft. Von Geschäften verstand Avram etwas.
Als er etwas später sein Gespräch mehrmals von Neuem überdachte, hielt er anfangs manches, was ihm Munambu gesagt hatte, für richtig. Da hatte ein weiser, alter Mann versucht, einem jüngeren seine Unruhe zu erklären, sie war damit jedoch nicht aus der Welt geschafft. Sie ergriff ihn immer stärker wie ein Juckreiz, den man nicht loswerden kann.
Am schlimmsten war es vor der Abreise. Alles war bereit. Schläuche mit Wasser und Wein, die notwendigen Vorräte, gut verpackt Gold und Silber. Früh am Morgen würde man das Haus den neuen Besitzern überlassen und losziehen. Noch einmal ging er aus einer Kammer in die andere, inspizierte den Stall und das Vieh, beruhigte mit wenigen Worten die aufgeregten Knechte, wusste, dass er keinen Schlaf finden würde, und ging langsam durch die Stadt, in der er aufgewachsen war. Hinaus ins Freie, bis er zwischen den alten Bäumen auf eine Brache stieß, stehen blieb und hinauf in den Himmel schaute. Wo würde er anfangen, wollte er die Sterne zählen? Es war unmöglich, aber dann sagte er sich, es geht nicht um die Sterne! Es geht um mich und mein Leben.
Urplötzlich, als hätte ihm eine unsichtbare starke Hand eine Last abgenommen, fühlte Avram sich frei. Zuversichtlich und frei. Befreit vom Zweifel, ob er richtig entschieden hatte. Gewiss, dass er die Zukunft erobern würde. Nicht ein neues Haus, nicht ein neues Gut, nein, ein neues Land. Nein, er war nicht alt, die erste Hälfte des Lebens war nur der Beginn, nur die Vorbereitung gewesen. Die Vorbereitung für die Vorbereitung. Und wieso die Hälfte. Der Priester war doch alt, manche Menschen wurden sehr alt. Nicht viele, aber manche. Wieso nicht er? Warum sollte das bisher die Hälfte seines Lebens gewesen sein, warum nicht ein Drittel? Ein Viertel? Mit einem neuen Blick zum Himmeln hinauf, mit der beruhigenden Feststellung, dass alle Sterne da waren, seit jeher da gewesen waren und am Himmel jede Nacht weiterleuchten würden, wusste er, dass es oben mehr gab als nachts Sterne und Mond, am Tage Sonne, manchmal Wolken, diese Harmonie konnte nicht von miteinander streitenden, eifersüchtigen, menschenähnlichen oder tierähnlichen Göttern stammen. Der Gedanke schlug ein wie ein Blitz und er rief so laut er konnte zum ewigen Gewölbe hinauf: »Bist du ein Gott? Hast du mir eingegeben, mein Vaterland und meine Verwandtschaft und mein Haus zu verlassen und in ein neues Land zu gehen?«
Der Antwort war er nicht sicher, nicht ganz sicher, aber er glaubte an sie. Eiligen Schrittes ging er nach Hause, ruhig legte er sich auf die Matte neben sein schlafendes Weib, schlief kurz, aber fest, und als er aufwachte, als hätte ihn jemand wachgerüttelt, war er auf einmal hellwach und erinnerte sich an die Nacht, als hätte nicht er den Himmel angerufen, sondern eine urmächtige Stimme ihn. Zu Sarai sagte er, er habe einen großen Segen erhalten, Gott habe versprochen, ihm ein Land zu schenken und ein Volk.
»Welcher Gott?«, fragte Sarai schlaftrunken.
»Unser Gott, der Allmächtige!«
So begaben sie sich auf eine Reise, zogen los, wie der Mond das Himmelsgewölbe überquert von Nacht zu Nacht, zogen los mit ihren Frauen, den Hirten und Knechten, bildeten eine große Karawane, ritten auf guten Pferden. Die Säcke mit Proviant und den Waren, die sie unterwegs verkaufen oder eintauschen wollten, trugen die starken Maulesel, begleitet wurden sie von ihren Schaf- und Ziegenherden.
Es wurde eine lange, schwierige Reise durch wechselvolle Landschaften und durch Wüsten, nur selten hielten sie an saftigen Oasen. Nacht für Nacht wurde ein Lager aufgeschlagen, am Morgen abgebrochen, man schlief in ungemütlichen Zelten auf einfachen Matten, mit den Säcken, in denen das Gold und das Silber war, unter den Köpfen. Einige der Knechte waren gut bewaffnet und lösten einander als Nachtwachen ab, sie hatten jedoch Glück oder es war ihr Gott, ihr neuer Gott, der ja kein neuer war, denn er hatte alles geschaffen, der von Avram neu entdeckte Gott, der sie bewahrte. Sie wurden nicht von Räubern überfallen, größeren Banden hätten sie nicht standhalten können. So erreichten sie nach vielen Tagen das Land Kanaan westlich des mächtigen Flusses Nahar ha-Jarden, des Jordan. Tatsächlich lag es am Ufer des Meeres. Die Weite der See, die Brandung mit ihrem Geräusch, wie sie nie eines gehört hatten, die frische, salzige Luft begeisterten alle, Herren und Gesinde. Sie fanden eine Stadt mit einem großen Hafen, wo sie zum ersten Mal Schiffe mit hohen Masten sahen.
Am Meeresufer waren viele Städte erbaut, freie Gemeinschaften bildeten keine Bündnisse. Nachdem sie die ägyptische Herrschaft abgeschüttelt hatten, fühlten sich die Städte sicher, weil jedermann auf der Welt gut geordnete Handelsstätten und seetüchtige Mannschaften brauchte und dafür einen ruhigen Ort bewahren würde. Dieser Ort waren sie. Diese Nützlichkeit war ein stärkerer Schild als jedes Bündnis und als Waffen, die sie hätten aufbringen können. Eroberer fürchteten sie nicht. Irrten sie?
Das Meer. Am ersten Abend, an dem sie in einer großen Siedlung am Meeresrand angekommen waren, stand Avram am Strand und beobachtete den Himmel, die Dämmerung und die Farben, die sie auf der endlosen Wasserfläche zauberte. War es derselbe Himmel wie über Haran, immer dasselbe Gewölbe über ihnen auf der langen Reise? Ja. Sicher. Dann aber war es auch derselbe Gott. Diesem Gedanken ergeben stand Avram lange bewegungslos da, als wäre er eine Säule, kein lebendiger Mensch. Wie sollte er ausdrücken, was ihn bewegte, mit wem hätte er reden sollen? Mit niemandem. Oder doch? Mit keinem Menschen. Noch nicht? Aber mit dem Himmel hatte er doch schon in der Nacht vor der Abreise aus der Stadt seiner Kindheit gesprochen. Oder hatte er sich das eingeredet, eingebildet? Nein. Unmöglich. Es fehlte jetzt ein Wort, ein Ausdruck für das, was er fühlte. Das war keine Unruhe. Oder doch eine andere als jene, die ihn losgeschickt hatte, etwas zu suchen. Und zu finden. Was? In Gedanken versuchte er es auszudrücken: dieses Wunder, das Leben, Land und See, das Murmeln der Wellen, der Himmel, der rote Sonnenball, der silberne Mond, die Sterne, die unzählbaren Sterne, denn es war inzwischen Nacht geworden. Sie breitete mildes Halbdunkel über die Stadt, denn Lichter in den Häusern und der Mondschein ließen es nicht ganz finster werden. Für das alles musste es ein umfassendes kurzes Wort geben, ein einfaches und kurzes – El, Gott? Alles war eins. Einheitlich schön, herrlich. Jetzt wusste er, es war unmöglich, Einzelnes aus der Gesamtheit, dieser Harmonie herauszulösen und je einem Gott anzuvertrauen, der noch dazu in seltsamer Gestalt zu erscheinen geruhte. Der Gott, den Avram suchte, nein, den er gefunden hatte, der ihn gefunden hatte, konnte nur selbst in einer Vielzahl existieren und doch eins sein, wenn er der eine war, El, er musste im Plural gedacht und angesprochen werden, Elohim. Einen Namen für ihn entdeckte Avram nicht, konnte er nicht ersinnen. Sicher, ganz sicher war es keiner der Götter, von denen er bisher gehört, denen er Opfer dargebracht hatte, weil es so Sitte war, dieser Gott, den er jetzt fühlte, mit allen Poren fühlte, befand sich in allem, was er sah und nicht sah, im Himmel, im Meer und auf Erden, Sand, Acker, Blumen, Palmen, Abenddämmerung, Sonnenaufgang. Ja, sicher, es war eine Einheit, er, dieser Gott, war eine Einzigkeit, ein Unendlicher.
Der groß gewachsene Mann verliebte sich in dieses Unaussprechbare, fürchtete sich gleichzeitig davor und war doch überzeugt, dass eine solche Liebe nur auf Gegenseitigkeit beruhen konnte.
War es vorstellbar, dass es immer schon gewesen war wie jetzt? Unmöglich. Hatte es etwas gegeben, bevor irgendetwas gegeben war? Ja. Und nein. Wüst musste es gewesen sein, wüst und leer. Er benannte es in seiner Sprache – tohu va-bohu. Er sprach es nicht laut aus, das Rauschen des Wellengangs hätte er ohnehin kaum übertönen können. Es war auch keiner da, der es hätte hören können. Oder doch? Vogelgezwitscher im Hintergrund, Grillengezirp um ihn herum. Das alles war eine Schöpfung, es war aus dem tohu va-bohu geschaffen worden. Das war einleuchtend. Wer sonst hätte der Schöpfer sein können, wenn nicht Elohim. Man musste die Natur loben und preisen, und Elohim.