Inhalt

  1. Cover
  2. Über dieses Buch
  3. Über die Autorin
  4. Titel
  5. Impressum
  6. 1. Kapitel
  7. 2. Kapitel
  8. 3. Kapitel
  9. 4. Kapitel
  10. 5. Kapitel
  11. 6. Kapitel
  12. Epilog

Crystal Lake – Die Serie

Das Crystal Lake Medical Center in Aspen ist eine der renommiertesten Sport-Kliniken der Welt. Umgeben von verschneiten Berghängen, Skipisten und luxuriösen Villen rettet das beste Krankenhaus-Team der USA Tag für Tag Menschenleben. Vor allem Sportler, die auf dem Weg zur Spitze einen tiefen Fall hinnehmen mussten, gehören zu den Patienten im Crystal Lake – wo nicht nur Knochenbrüche, sondern auch Herzen geheilt werden. Denn hinter der nächsten Tür wartet oft schon die ganz große Liebe …

Über diese Folge

Allana McGinty lebt für ihren Job. Als neue Leiterin des Crystal Lake Medical Center muss sie sich allerdings erst noch beweisen. Zum Glück hat sie den charismatischen Chefarzt Dr. James Raker auf ihrer Seite. Als Allana einen Zeitungsartikel liest, in dem das Crystal stark belastet wird, ahnt sie noch nicht, dass dies der Beginn ihrer härtesten Prüfung ist.

Währenddessen beginnt Leena Summers ihren ersten Tag als ausgebildete Orthopädin gleich mit einem schwierigen Fall. Mark Turner, erfolgreicher Snowboarder und wahnsinnig attraktiv, wird nach einem Sturz ins Crystal Lake eingeliefert. Von Beginn an knistert es gewaltig zwischen Leena und Mark. Seine arrogante Art stößt sie zwar ab, übt jedoch auch einen gewissen Reiz auf sie aus. Aber Leenas Herz wurde schon einmal gebrochen. Ist sie bereit, einer neuen Liebe eine Chance zu geben?

Über die Autorin

Nach etlichen ausgedehnten USA-Aufenthalten lebt und schreibt Annabell Nolan in Berlin, ihrer Stadt der Liebe. Die schönste Jahreszeit für sie ist der Frühsommer, wenn der Flieder betörend duftet und die Bienen durch ihren Garten summen. Dann schreibt sie im Schatten ihres knorrigen Apfelbaums, bis es Zeit wird, den Grill anzuzünden und mit ihrem Liebsten und guten Freunden bis spät in die Nacht zu plaudern.

Wenn Annabell nicht gerade neue Geschichten für Verlage, Funk und Fernsehen entwickelt, bummelt sie gern durch Berlins Schlösser und deren Gärten oder versinkt in moderner Kunst.

A N N A B E L L  N O L A N

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1. Kapitel

Um ihn herum war es schwarz und kalt. Nur sehr langsam kehrten die Farben vor seinen Augen zurück. Als Erstes das Weiß des Schnees, später dann das Grün der Tannen und das Blau des Himmels.

Seine Sonnenbrille musste er beim Sturz verloren haben. Ja, genau, er war gestürzt. Glücklicherweise war er wohl nur ein paar Minuten bewusstlos gewesen. Oder Sekunden?

Also schön, dachte er, der Reihe nach. Mein Name ist Mark Turner, und ich bin Snowboardfahrer. Amerikanische Olympiahoffnung. Ich sehe gut aus, und Emely Redding ist meine Verlobte.

So weit, so gut.

Er hob den rechten Arm. Alles dran. Dann den linken, ebenfalls in Ordnung. Fängt gut an. Vorsichtig wischte er sich mit dem Handschuh über das Gesicht. Nase, Augen, Mund, Zähne, alles da. Ein wenig Blut. Rasch zog er den Handschuh aus und betastete seine Wange. Eine Schürfwunde. Kein Problem, nichts Tiefes. Schon mal gut.

Was auch immer passiert war, sein Gesicht hatte keinen großen Schaden genommen, und das erleichterte ihn. Schließlich zierte sein Kopf die Dosen eines namhaften Sporterfrischungsgetränkes. Gebräunt und gutaussehend lächelte er darauf dem Trinkenden zu.

Linkes Bein noch dran.

Rechtes Bein … Ein stechender Schmerz durchfuhr seinen ganzen Körper. Rechtes Bein im Arsch.

Er schloss einen Moment lang die Augen, dann blinzelte er und suchte den strahlend blauen Himmel nach dem Helikopter ab, der ihn am Old Lady Ridge Bergkamm zum Training abgesetzt hatte. Als er ihn endlich entdeckte, begann er hilflos zu winken.

Ungläubig sah er dem kleiner werdenden Helikopter nach. Niemand hatte ihn gesehen.

Kälte kroch jetzt unter seine Skijacke und in seine Thermohosen. Was auch immer mit seinem Bein nicht stimmte – wahrscheinlich war es gebrochen –, so würde er es auf keinen Fall aus eigener Kraft ins Tal schaffen.

Hier würde ihn so schnell niemand finden. Das war keine offizielle Piste, deshalb hatte er sich ja hier absetzen lassen: um ungestört zu trainieren. Hastig sah er sich nach allen Seiten um. Natürlich war nichts und niemand zu sehen.

Was ihn auch erleichterte, denn in seinem Zustand wäre er ein gefundenes Fressen für jeden Bären oder wahrscheinlich sogar für einen Berglöwen.

Würde ihn überhaupt jemand finden? Würde ihn jemand vermissen? Vielleicht heute Abend das Hotel, in dem er abgestiegen war. Vielleicht in ein paar Tagen seine Verlobte oder auch sein Agent und Manager, aber bis dahin konnte er längst tot sein. Erfroren, vom Bären gefressen oder von einem Puma zerfleischt.

Ja, okay, das klang jetzt etwas melodramatisch, aber ganz von der Hand zu weisen war es nicht. Vorsichtig und unter großen Schmerzen robbte er auf dem Hang ein Stückchen aufwärts, bis er sich schwer atmend mit dem Rücken gegen einen Felsen lehnen konnte. Das war ein schöner Blick ins Tal, dachte er. Wie oft war es ihm nur darum gegangen, möglichst schnell unten anzukommen. Hatte er jemals diese unglaubliche Schönheit wirklich genießen können?

Die Sonne auf dem glitzernden Schnee, das leise Rauschen des Windes in den Bäumen, knackende Äste. Irgendwo sang ein Vogel tapfer gegen den Winter. Eine zauberhafte Welt, die er sehr vermissen würde, müsste er jetzt und hier sein Leben lassen.

Abgesehen von dieser Schönheit, würde ihn wirklich jemand vermissen?

Emely, weil er kein Geld mehr in die Kassen spülte. Roger, weil er keine Werbedeals mehr für ihn abschließen konnte. Seine Eltern? Ob ihnen überhaupt auffallen würde, dass er nicht mehr da war?

Seltsam, solange er sich über den Tod keine Gedanken gemacht hatte, war seine Welt völlig in Ordnung gewesen. Jetzt war ihm, als legte dieser verdammte Unfall die Finger in alle wunden Stellen seiner Existenz.

Das erste Mal in seinem Leben spürte Mark Turner so etwas wie Angst in sich aufsteigen.

*

Als Dr. Leena Summers die Schwingtür zur Notaufnahme des Crystal Lake Medical Centers aufstieß, atmete sie einmal tief ein. Krankenhausluft ist doch überall gleich, dachte sie. Und die Mischung aus Putz- und Reinigungsmitteln umhüllte sie wie ein vertrauter Kokon.

Zügigen Schrittes durchquerte Leena den Wartebereich, trat an den Stationstresen und lächelte Schwester Betty freundlich zu, die dahinter telefonierte und ihr mit einer knappen Handbewegung zu verstehen gab, dass Leena sich gedulden müsse.

Um Bettys Augen hatten die letzten Jahre feine Falten gezaubert, und sie hatte ein paar Kilo zugelegt, aber von ihr ging immer noch dieselbe Energie aus, die Leena schon als Jugendliche bewundert hatte.

Jetzt erst legte Betty auf, musterte Leena und runzelte ungläubig die Stirn, bevor sich ihre Züge zu einem breiten Lächeln entspannten.

»Leena?« Ihre helle Stimme klang erstaunt. Und dann fragte sie noch einmal, diesmal etwas lauter: »Leena? Das glaub ich nicht! Was …?« Behände stand sie auf, umrundete den Tresen, und bevor Leena sichs versah, hatte sie zwei Küsse auf jeder Wange. »Ich kann es immer noch nicht fassen!« Betty schob sie auf eine Armlänge von sich, um sie genau in Augenschein zu nehmen. »Die kleine Leena ist erwachsen geworden. Wie lange ist das her? Zehn Jahre? Meine Güte, dann bist du jetzt achtundzwanzig, oder? Was machst du denn hier? Ich dachte, du lebst in Chicago und hast die Nase voll vom Landleben. Das hast du jedenfalls immer gesagt, als du noch klein warst.« Bettys Spott war gutmütig, so wie eben Betty gutmütig war, dachte Leena.

»Heute ist mein erster Tag am Crystal Lake. Sei lieb zu mir, Betty.«

»War ich nicht immer lieb zu dir?« Entrüstet griff Betty nach Leenas Hand. »Hab ich dich nicht immer mit Muffins gefüttert und dir Stifte zum Malen gegeben, wenn du deinen Vater zur Visite an den Wochenenden begleitet hast? Ach, das freut mich so, du glaubst es nicht! Wenn dein Vater das jetzt sehen könnte …« Rasch schlug Betty die Augen nieder.

»Ja, ich weiß«, gab Leena leise zurück, »ich glaube, er wäre stolz auf mich.«

»Ja, das wäre er. Ganz sicher. Ich hab ihn nicht vergessen. Er war einer unserer besten Unfallchirurgen. Es vergeht kein Tag …«

»Für mich auch nicht.« Leena musste schlucken. Fünf Jahre lag der Verkehrsunfall ihres Vaters schon zurück, bei dem er sich so schwere Verletzungen zugezogen hatte, dass er drei Tage später im Crystal Lake Medical Center verstarb. Ein schwarzer Tag für Leena und ihre Mutter, aber auch für das gesamte Krankenhaus.

»Sieh dich an«, sagte Betty betont leichthin, »jetzt bist du selbst Ärztin. Und was ist mit deiner Stelle in Chicago?«

»Ich bin fertig mit meiner Ausbildung. Vor dir steht Dr. Leena Summers, Orthopädin und Sportmedizinerin.« Als sie es aussprach, wurde Leena von einer Woge von Stolz erfasst. Ja, kein Zweifel, sie hatte es geschafft. »Und ich wollte nach Hause zurück.«

»Gibt es nicht genug Schnee in Chicago?«, fragte Betty ironisch, und Leena begann zu lachen.

»Unmengen davon sogar, aber es gibt keine Berge, und das hat mir gefehlt. Die Luft, die Wälder und die Skipisten –«

Das schrille Läuten des Telefons unterbrach Leenas Aufzählung. Betty lehnte sich über den Counter.

»Notaufnahme, Crystal Lake Medical Center!«, meldete sie sich knapp, bevor sie die Sprechmuschel mit ihrer Hand bedeckte. Gerade als Leena sich umdrehen und nach einem der Klemmbretter greifen wollte, um den ersten Patienten des Morgens zu behandeln, spürte sie einen Ruck an ihrem Kittel.

»Leena, bleib hier. Der Rettungshubschrauber landet in vier Minuten!«

»Frag den Notarzt, was er bringt.«

Selbst nach all den Jahren Berufserfahrung an einem der größten Krankenhäuser Chicagos durchfuhr Leena jetzt ein unbestimmtes Gefühl der Anspannung, während sie Bettys Antwort lauschte.

»Snowboardunfall, sieht nach einer komplizierten Fraktur aus, sagt der Notarzt.«

Das zweite Mal an diesem Tag atmete Leena tief durch. Ein Beinbruch also ist mein erster Fall zu Hause, dachte sie, bevor sie ihr Stethoskop aus der Kitteltasche holte und es sich um den Hals hängte.

Vier Minuten können zäh verstreichen oder rasend schnell vergehen, so wie eben jetzt. Leena fuhr sich durch die dunklen kurzen Locken, während sie mit Betty und einem weiteren Pfleger hinter der Tür zum Dach der Klinik auf den Hubschrauber wartete. Leises Motorendröhnen drang in ihre Ohren, bis es immer lauter wurde und schließlich aufbrandete wie ein Orkan. Vor dem klaren Winterhimmel der Rocky Mountains senkte sich der Rettungshubschrauber langsam auf die Landesplattform.

Als Erster sprang der Notarzt aus der Tür, bevor zwei Sanitäter den Patienten auf der Trage nach draußen hoben.

Eisige Winterluft umfing Leena auf dem Dach, während der Notarzt auf sie zukam und ihr ein Klemmbrett in die Hand drückte.

»Hi, ich bin Dr. Pete Bowers, und Sie sind neu hier, stimmt’s?«, brüllte ein freundlicher, schlanker Mann Mitte fünfzig gegen die lärmenden Rotorblätter an.

»Ja, Dr. Leena Summers, mein erster Tag am Crystal Lake.« Leena lächelte freundlich.

»Freut mich, willkommen an Bord! Ich bring Ihnen heute Mark Turner, neunundzwanzig Jahre alt, Snowboardunfall oben an der Old Lady Ridge. Er hat ein Weilchen im Schnee gelegen und ist unterkühlt. Das rechte Bein sieht nicht gut aus. Wir haben es geschient. Keine sichtbaren Kopfverletzungen, war wohl nur sehr kurz bewusstlos. Sonst ein paar Schürfwunden.« Dr. Bowers beugte sich vor und schrie Leena jetzt direkt ins Ohr: »Viel Spaß am Crystal Lake! Wir sehen uns bestimmt noch öfter!« Mit einem verschmitzten Zwinkern nickte er ihr zum Abschied zu.

»Ja, danke, ich freu mich!«, brüllte Leena zurück, und dann wandte sie sich im Gehen ihrem Patienten zu.

»Hallo, Mr Turner. Ich bin Dr.-«

»Summers. Hab ich gehört, bin ja nicht taub«, unterbrach sie Mark Turner rüde.

Verblüfft hob Leena die Augenbrauen und musterte ihren Patienten, der halb aufrecht auf der Trage saß, die Betty und ihr Kollege eben zum Fahrstuhl schoben. Sein kantiges Gesicht schimmerte blass unter seiner Sonnenbräune im unbarmherzigen Licht der Neonleuchte. Er sieht ziemlich gut aus, durchfuhr es Leena, und trotz seiner Verletzung und des angegriffenen Zustandes, in dem er sich befand, lag in seinen hellblauen Augen eine Entschlossenheit, die sie beeindruckte.

Dennoch hatte der Unfall Spuren bei ihm hinterlassen. Nicht nur gut erkennbar an der Halskrause, die ihm der Notarzt vorsichtshalber umgelegt hatte, der zerrissenen Skijacke und den Schürfwunden auf seinen scharfen Wangenknochen, sondern auch am Zittern seiner Finger, als er sich fahrig eine Strähne seines nussbraunen Haares aus der Stirn wischte.

»Und wie geht es jetzt weiter, Dr. Summers?«, fragte Mark Turner, als sie im Behandlungsraum der Notaufnahme ankamen. Seine Stimme klang ungeduldig.

»Ich sehe mir Ihr Bein an, danach checken wir Sie erst einmal genau durch, und dann kann ich mehr sagen.« Leena antwortete betont ruhig, spürte aber eine gewisse Verärgerung über seinen rauen Ton. Das ist sicher der Schock, dachte sie und wandte sich rasch Bettys gutmütigem Gesicht zu: »Vitalzeichen, großes Blutbild, und wir brauchen zügig ein Röntgenbild vom rechten Unterschenkel. Achtet auf seine Temperatur. Gebt ihm ganz langsam einen halben Liter erwärmte Kochsalzlösung. Das sollte für den Anfang reichen.«

Leena rieb beide Hände gegeneinander, bevor sie die leichte Decke zurückschlug und einen Blick auf Mark Turners Bein warf.

»Das wird jetzt wehtun«, warnte sie den jungen Snowboarder und lächelte ihm beruhigend zu.

»Machen Sie schon«, gab er zischend zurück, ohne ihr Lächeln zu erwidern, »als Profisportler bin ich Schmerzen gewöhnt.«

Vorsichtig strich sie mit dem Finger über seine weiche Haut. Kühl fühlte sich das Bein an, und gerade als sie den Bruch und die Schwellung abtastete, hörte sie, wie ihrem Patienten ein leises Stöhnen entfuhr.

»Gib ihm bitte noch etwas gegen die Schmerzen in seine Infusion, Betty.«

Mark Turner entfuhr ein pustender Laut. »Na, schön, dass Sie darauf noch gekommen sind!«

Leena legte die Decke wieder behutsam über das Bein, richtete sich auf, holte tief Luft und sagte dann ruhig: »Mr Turner, ich kann Ihr Bein nicht richtig untersuchen, wenn ich Ihnen schon vorher Schmerzmittel gebe. Können Sie mir sagen, wie der Unfall passiert ist?«

Sie fing seinen Blick auf. Was habe ich ihm denn bloß getan, fragte sie sich. Bei allem Verständnis für seine Situation, seine Schmerzen und den mit Sicherheit traumatischen Sturz kam sie trotzdem nicht umhin, sich über seinen unfreundlichen Ton zu wundern. Viel schlimmer allerdings als die Verwunderung war der Ärger, den sie in sich aufsteigen spürte.

Mark Turner schloss für einen Moment die Augen, als das Schmerzmittel in seine Vene floss, dann sah er ihr wieder in die Augen. »Was soll schon passiert sein? Ich habe mich mit dem Helikopter am Old Lady Ridge zum Training absetzen lassen und muss eine Unebenheit übersehen haben. Der Abhang ist steil, ich verlor das Gleichgewicht, umarmte einen kahlen Strauch, bevor ich gegen einen kleinen Felsen prallte.« Er zuckte die Schultern, als wäre das alles nichts. »Nächste Woche ist die Meisterschaft, aber die kann ich wohl vergessen.« Er bedachte seinen Unterschenkel mit einem bösen Blick, als wäre ebendieses Körperteil an seinem Sturz schuld. »So, Mrs Summers, und jetzt müsste ich mal telefonieren. Und wo bleibt eigentlich mein behandelnder Arzt, Dr. Bade? Schaffen Sie ihn her, er soll sich das unbedingt ansehen.«

Hatte Leena es bisher noch geschafft, höflich zu bleiben, spürte sie jetzt, wie aus dem Ärger Wut wurde. Was bildete sich dieser aufgeblasene Affe eigentlich ein?

»Erstens bin ich Doktor Leena Summers und nicht Mrs Summers, und zweitens –« Leena unterbrach sich. Was war eigentlich zweitens? Dass er es wagte, ihren Titel unter den Tisch fallen zu lassen, hatte sie so erbost, dass sie völlig vergessen hatte, was sie noch sagen wollte.

Mark Turners Lippen kräuselte jetzt ein spöttisches Lächeln. Überraschend warm war seine Hand, als er nach ihrer griff. »Und zweitens, Doktor Summers?« Diesmal betonte er ihren Titel so, dass er völlig unwahrscheinlich erschien, so als hätte sie nie studiert, so als würde sie sich nur als Ärztin ausgeben.

»Zweitens«, mischte sich Betty energisch ein und löste die Bremsen der Trage, »zweitens fahren wir jetzt zum Röntgen. Brandon«, sie nickte ihrem Kollegen zu, »wenn du so lieb wärst?«

»Kommen Sie, Dr. Summers, Sie haben noch andere Patienten!« Leena ließ sich von Betty ins Arztzimmer ziehen, wo sich Betty in ihrer vollen Größe von ungefähr anderthalb Metern vor ihr aufbaute.

»Leena, was war das denn? Warum lässt du dich von dem eingebildeten Kerl so provozieren?«

Verwirrt fuhr sich Leena mit dem Handrücken über das Kinn. »Ach, Betty, ich weiß nicht, das fängt ja gut an. Was habe ich diesem Mr Turner eigentlich getan?«

Betty tätschelte Leenas Arm. »Jetzt mach dir mal nicht so einen Kopf. Das wird schon. Willst du, dass ich seinen Arzt, Dr. Bade, anpiepe?«

Kämpferisch reckte sie ihr Kinn nach oben. »Bis wir alle Ergebnisse haben, wird sich Mr Turner wohl gedulden müssen! Ich kümmere mich jetzt erst einmal um andere Patienten.«

Verschwörerisch zwinkerte Betty ihr zu. »Da ist noch eine junge Dame mit einem gebrochenen Daumen im Behandlungsraum eins.«

»Die sehe ich mir gleich mal an. Wenn alles fertig ist, sagst du dann Dr. Bade bitte Bescheid? Danke, Betty.«

*

Mark Turner starrte erst einen Moment lang finster auf sein Bein, dann auf das Telefon, das ihm eine der Schwestern gegeben hatte. Vielleicht der ältere Drachen, er konnte es nicht mehr sagen. Das Schmerzmittel vernebelte seine Gedanken. So ganz war ihm nicht klar, was er von diesem Unfall zu halten hatte, und vor allem wusste er nicht, was dieser Unfall für seine zukünftige sportliche Karriere bedeuten könnte.

Er schloss die Augen. Eine bleierne Müdigkeit übermannte ihn. Wach bleiben, Mark, befahl er sich und drehte unentschlossen das Telefon in seiner Hand. Wen sollte er zuerst anrufen? Roger, seinen Agenten und Manager? Emely, seine Verlobte? Oder vielleicht seine Eltern? Letzteres schob er weit weg. Sinnlos. Nicht nachdenken, Mark.

Emely also. Langsam und Ziffer für Ziffer wählte er ihre Nummer. Es klingelte ein paarmal, dann näselte ihre vertraute hohe Stimme ungeduldig: »Emely Redding!«

»Em, ich bin es, Mark.«

»Mark? Was ist das für eine komische Nummer, unter der du mich anrufst? Wo bist du?« Ihre Fragen klangen wie Pistolenschüsse in seinen Ohren.

»Ich bin im Crystal Lake Medical Center, in Woody Creek.« Er machte eine dramatische Pause.

»Ja, und? Ich habe gleich einen Termin bei unserer Wedding-Planerin. Also fass dich kurz.«

»Em, ich hatte einen Unfall, mein Bein ist gebrochen. Ich muss operiert werden!«

»Ach, nein, das ist ja schrecklich!« Emely stieß einen kleinen Schrei aus. »Meinst du, du bist bis Juni wieder fit? Weil – ach, Mark, wir werden zur Zeremonie fast achthundert Meter Strand entlanglaufen müssen. Außerdem, wie wird der Anzug sitzen, wenn du vielleicht noch eine Schiene tragen musst? Und außerdem«, und jetzt klang ihre Stimme wirklich alarmiert, »wie willst du denn Geld verdienen, wenn du nicht an Turnieren und Wettkämpfen teilnehmen kannst?«

Mark fühlte sich matt. »Em, kannst du Roger anrufen? Er muss Bescheid wissen, damit er das Aspen International nächste Woche absagen kann.«

»Nichts mache ich.« Emelys Stimme klang entschlossen.

»Fürs Erste ist das einfach nur eine kleine Trainingspause, sonst springen uns noch deine Sponsoren ab. Und jetzt reiß dich zusammen, Mark, und werd gesund. Ich komm, sobald ich alles unter Kontrolle habe.«

Sie hatte aufgelegt, bevor er noch etwas sagen konnte. Typisch Emely. Sie wollte immer alles kontrollieren. Normalerweise hätte er sich mit ihr jetzt bis aufs Blut gestritten, aber heute fehlte ihm einfach die Kraft. Normalerweise, und das ging so, seitdem sie ein Paar waren, also ungefähr seit der Highschool, hätten sie sich jetzt angebrüllt. Am Ende hätte Emely geweint und das zu ihm gesagt, was seine Mutter sonst zu seinem Vater sagte: Ich meine es doch nur gut mit dir!

Es war nicht immer so gewesen, aber die Zeit, in der sie so verliebt ineinander waren, dass sie es kaum ertragen konnten, den Blick vom anderen zu lösen, war lange her.

Jetzt war ihre Beziehung wie eine Angewohnheit, die man nicht mehr ablegen konnte oder auch wollte. Sie hatten sich beide verändert, das wurde ihm immer klarer, hier in diesem Krankenhausbett. Emely hatte sich an sein Geld und sein Ansehen gewöhnt, während er immer weniger Zeit mit ihr verbrachte, weil ihn seine sportliche Karriere zunehmend forderte.

So würde es weitergehen. Hochzeit am Strand von Malibu, ein Haus, zwei wunderschöne Kinder, die aussehen würden wie Emely und die genauso leer und kalt aufwachsen würden wie er.

Seine Gedanken glitten zu dieser jungen Ärztin. Leena Summers. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Sie hatte etwas, das er ungemein anziehend fand. Wenn sie wütend war, tauchten kleine rote Punkte auf Hals und Wangen auf.

Ganz ehrlich, es war ihm völlig egal, ob Dr. Bade oder sie ihn operierte, aber er sah es gern, wenn sie sich aufregte. Sie hatte etwas Ungestümes, wie eine ungezähmte Berglöwin. Und trotz seines momentanen Zustandes erwachte etwas wie Jagdinstinkt in ihm.

*

»Randall Murray«, murmelte Allana McGinty leise vor sich hin, als sie die Zeitung sinken ließ. »Randall Murray, der Rodler.« Und war Randall Murray bisher einfach nur ein Fall am Crystal Lake gewesen, einer von vielen, blieb jetzt, dank des Artikels, ein schaler Beigeschmack, wenn sie diesen Namen aussprach.

Nachdenklich hob sie ihre Kaffeetasse zum Mund und stellte sie dann doch wieder ab, ohne einen Schluck zu trinken. Stattdessen stand sie auf, ging langsam die drei Schritte bis zum Panoramafenster ihres Büros und legte ihre Hand an die beruhigend kühle Scheibe.

Hatte sie in den letzten drei Jahren als Klinikleitung am Crystal Lake den Blick vom Hang auf das kleine Skiörtchen Woody Creek und den gleichnamigen Bachlauf, der sich malerisch durch das Tal in Richtung Aspen schlängelte, immer wie selbstverständlich genossen, schienen ihr die schneebedeckten Hänge, die Pisten und der langsam zuckelnde Skilift plötzlich sehr zerbrechlich. Fast so, als würde sie auf eine Miniatureisenbahnlandschaft schauen, die jederzeit mit einer beiläufigen Handbewegung vom Brett gewischt werden könnte.

Trotz der Wärme im Büro fröstelte sie und zog die schmalen Schultern zusammen. Es ist nur ein Zeitungsartikel, beruhigte sie sich selbst. Noch dazu in einem Lokalblatt. Keine wichtige Zeitung, die viele Menschen lesen, sondern nur die, die an der Tankstelle warten und gelangweilt eine Ausgabe davon aus dem Ständer ziehen.

Einen tiefen Atemzug später fühlte sie, wie die Anspannung ein wenig wich. Viel stand ja auch gar nicht in dem Artikel. Ausführlich beschrieb er die früheren Erfolge des Profirodlers, und erst im letzten Absatz tauchte in einem Nebensatz die Frage auf, ob das derzeitige Karrieretief des Sportlers vielleicht auf die Operation im letzten Jahr zurückgeführt werden könnte.

Wer schrieb außerdem für solche lokalen Käseblätter? Junge, unerfahrene Journalisten. Vielleicht war das einfach eine ungeschickte Formulierung mit dem Behandlungsfehler.

Trotzdem sollte sie der Sache nachgehen, so viel stand fest. Sie drückte den Knopf auf ihrer Sprechanlage: »Gloria, bitte lassen Sie mir zügig alle Patientenakten zum Fall ›Randall Murray‹ in mein Büro liefern.«

Es knarrte einen Augenblick, dann antwortete Glorias kratzige Stimme gut gelaunt wie immer: »Sehr gern, Ms McGinty!«

Erleichtert ließ sich Allana wieder in ihren Schreibtischsessel fallen und lehnte sich zurück, um für einen Augenblick die Augen zu schließen. Es ist immer gut, so etwas gleich anzugehen und nicht auf die lange Bank zu schieben, dachte sie. Und das war ja auch ihre große Stärke: Dinge anpacken, Dinge erledigen und dabei alle mitreißen und begeistern. Und mit ebendiesen Qualitäten hatte sie sich in den letzten zehn Jahren hochgearbeitet. Von der einfachen Krankenschwester zur angesehenen Klinikleitung.

Ohne Ryan hättest du das nicht geschafft, meldete sich eine hartnäckige kleine Stimme in Allanas Hinterkopf. Ryan. Ryan Bellcrest. Allana verbannte den Gedanken an ihren Exmann in die hinterste Ecke ihrer Gedankenwelt. Nein, sie würde sich ihren Tag weder von Randall Murray und dem Zeitungsartikel versauen lassen noch von diesem intriganten Mistkerl.

Sie sah gerade aus dem Fenster auf den wolkenlosen blauen Himmel, auf die schrägen Sonnenstrahlen und den glitzernden Schnee auf dem schmalen Fensterbrett, als Glorias Stimme knarrend aus der Sprechanlage drang: »Ms McGinty, ich habe das Archiv in der Leitung, kann ich durchstellen?«

Allana runzelte verwundert die Stirn. »Ja, sicher«, gab sie zurück und griff zum Hörer.

»Ms McGinty? Hier ist Sarah Preston aus dem Archiv. Ich habe gerade nach den Akten geschaut, die Sie angefordert haben, und wollte Ihnen nur sagen, dass eine fehlt, nämlich die letzte. Den Rest schicke ich Ihnen gleich nach oben.«

»Die letzte …«, murmelte Allana nachdenklich, also wahrscheinlich genau die, die den Aufenthalt mit der Operation beschrieb. »Wo könnte sie sein, diese letzte Akte?«

»Sehen Sie, Ms McGinty, das ist genau das, was mich auch wundert, ich habe keine Ausleihe im Computer verzeichnet.«

»Können Sie sehen, wer die Akte als Letzter bearbeitet hat?«

»Einen Moment, bitte.« Rauschen im Hörer. Ungeduldig griff Allana nach einem ihrer vielen Bleistifte und tippte mit der Spitze rhythmisch auf den Notizzettel vor ihr.

»So, jetzt«, meldete sich Sarah Preston zurück. »Dr. Bade hat als Letzter ein Dokument hinzugefügt. Gut möglich, dass die Akte noch bei ihm auf dem Schreibtisch liegt. Sie wissen ja, wie das ist. Immer wieder fordern wir sie an, aber –«

»Ja, ja, danke«, unterbrach Allana Sarahs Beschwerde. »Schicken Sie einfach hoch, was Sie haben.«

Nachdenklich schrieb Allana seinen Namen in Großbuchstaben auf den Zettel vor ihr:

Dr. William Bade.

*

»Haben Sie Dr. Bade schon erreicht?«, fragte Mark Turner mit einem raschen Blick auf die Uhr.

Leena zog sich einen der Hocker heran und setzte sich neben das Bett ihres Patienten in der Notaufnahme.

»Leider noch nicht, Mr Turner. Aber ich habe Ihnen hier Ihre Röntgenaufnahmen mitgebracht und mit meinem Kollegen aus der Radiologie ihren CT-Befund ausgewertet. Sie müssen heute noch operiert werden. Das Gewebe um den Bruch beginnt anzuschwellen, und wenn wir das nicht entlasten, wird die Blutzufuhr unterbrochen.« Leena schluckte. Nachdem sie alle Befunde gesehen hatte, tat ihr Mark Turner sogar ziemlich leid. »Sie könnten Ihr Bein verlieren, wenn wir nicht zügig handeln.«

Falls ihn diese Neuigkeit schockierte, konnte er das mit seinem ausdruckslosen Gesicht gut verbergen. Einzig seine Stimme zitterte leicht, als er sprach. »Das Wichtigste ist doch jetzt Dr. Bade.« Und da war es wieder: sein spöttisches kleines Lächeln, das sie so auf die Palme brachte.

»Mr Turner,« unterbrach sie ihn hastig, »wichtig ist, dass ich Sie jetzt zügig operiere!« Er sieht gut aus, schoss es ihr durch den Kopf, aber trotzdem kann er sich nicht alles erlauben.

»Vergessen Sie ’s! Ich verlange, dass Sie Dr. Bade anfordern, damit er mich operiert und mir endlich sagt, wann ich wieder Snowboard fahren kann.«

Jetzt platzte Leena endgültig der Kragen. Hastig erhob sie sich und schob den Hocker beiseite. »Sie hören mir jetzt mal gut zu, Mr Turner, im Moment bin ich hier die diensthabende Ärztin. Wenn ich Sie nicht bald auf dem Tisch habe, kann ich Ihnen versichern, dass nicht die Frage ist, wann sie wieder auf dem Snowboard stehen, sondern ob jemals wieder! Etwas anderes würde Ihnen übrigens Ihr Dr. Bade auch nicht sagen!«

Unbeirrbar stemmte sie die Hände in ihre Hüften.

»Ha!«, entfuhr es Mark Turner. »Sie können ja auch ganz energisch, Dr. Summers. Das steht Ihnen wirklich gut, aber jetzt ist Schluss mit den Spielchen. Bringen Sie mir ein Telefon! Kann doch nicht sein, dass hier niemand meinen Arzt erreicht.«

»Ich verbitte mir diesen Ton, Mr Turner!«

Auf dem Absatz drehte sie sich um. Erst als sie im Arztzimmer die Tür hinter sich geschlossen hatte, spürte sie, wie Tränen der Wut in ihr aufstiegen. Hatte sie dafür wirklich Chicago verlassen? Aus dem halben Ostteil der Stadt waren die Menschen zu ihr gekommen, um sich operieren zu lassen, und jetzt kam irgendein dahergelaufener Snowboardfahrer, von dem sie noch nie vorher gehört hatte, und behandelte sie, als wäre sie eine blutige Berufsanfängerin. Wütend ballte sie die Hände zu Fäusten. Nein, sie würde in Zukunft anders mit diesem Turner sprechen. Betont freundlich und höflich, das nahm sie sich vor, und am Ende würde es klingen, als hätte er nicht mehr alle Tassen im Schrank.

Bevor sie den Raum verließ, warf sie einen prüfenden Blick in den Spiegel. Sie hatte in den Tagen nach ihrem Umzug nach Woody Creek nicht wirklich viel geschlafen. Die Umzugskisten packten sich eben nicht von allein aus, und außerdem hatte sie noch etliche Möbelstücke aufgebaut und an ihren Platz gewuchtet. Die schlaflosen Nächte rächten sich jetzt mit dunklen Ringen unter ihren braunen Augen. Und viel an die frische Luft war sie ebenfalls nicht gekommen. Ihre Mutter hatte ihr auch schon gesagt, sie sähe blass aus, viel zu blass.

»Dr. Summers bitte zur Aufnahme, Dr. Summers bitte zur Aufnahme!« Bettys Stimme knarrte aus dem Lautsprecher, und Leena setzte sich hastig in Bewegung.

»Etwas Neues von Dr. Bade?«

Betty schüttelte den Kopf, bedeckte wieder die Sprechmuschel mit der Hand. Unser Chefarzt, Dr. Raker, ist am Telefon und will wissen, wann du gedenkst, Mr Turner zu operieren.« Betty verdrehte die Augen. »Wahrscheinlich hat er sich die CT-Bilder im Computer angeschaut.«

»Hallo, Dr. Raker, ich …« Weiter kam Leena nicht.

»Dr. Summers, herzlich willkommen im Crystal Lake Medical Center, na, haben Sie sich schon eingelebt? Ich gehe davon aus, dass schon ein OP für Mr Turner vorbereitet wird? Wir wollen doch unsere amerikanische Olympiahoffnung nicht mit diesem hässlichen Bruch herumliegen lassen, oder?« Dr. Raker lachte in den Hörer, doch Leena ließ sich von seiner vorgeschobenen Freundlichkeit nicht täuschen. Er ist nett zu mir, weil ich neu bin, dachte sie. In drei Wochen redet er sicher anders mit mir. »Mr Turner verlangt nach seinem eigenen Arzt, Dr. Bade, wir versuchen schon, ihn zu erreichen.«

»Na, na, dann fangen Sie halt schon mal an, und Dr. Bade stößt zu Ihnen, wenn er da ist.«

Kleinlaut schluckte Leena. »Mr Turner möchte nicht von mir operiert werden, Dr. Raker. Vielleicht könnten Sie noch einmal …«

»Dr. Summers, ich bin sicher, Sie bekommen das hin. Immerhin sind Sie wahrscheinlich aus Chicago noch ganz andere Sachen gewöhnt, was? Natürlich würde ich Ihnen sehr gerne helfen, nur leider bin ich auf dem Weg nach Dallas zu einer Tagung. Und jetzt ab in den OP mit unserem Snowboardwunder!«

Dr. Raker hatte aufgelegt, bevor Leena noch etwas sagen konnte.

»Betty, wünsch mir Glück!«

»Wofür denn, Süße?«

Doch Leena hatte sich schon umgedreht und zog mit einem Ruck den Vorhang vor Mark Turners Bett beiseite.

»So Mr Turner, keine Spielchen mehr, das sagten Sie doch vorhin. Dr. Bade ist nicht zu erreichen. Entweder ich operiere Sie jetzt, oder Sie verlieren Ihr Bein. Suchen Sie sich aus, was Ihnen gefällt.«

Fest erwiderte Leena Mark Turners zweifelnden Blick.

»Entschuldigen Sie, Dr. Summers, Sie sehen mir einfach zu jung aus. Ich brauche mein Bein, ich brauche jemanden mit viel Erfahrung, der mich operiert. Nicht jemanden, der seinen ersten Tag am Crystal Lake hat.« Diesmal klang er weder bissig noch spöttisch, sondern nur ängstlich. Das hat er also verborgen, dachte Leena, der große Mark Turner hat einfach nur Angst, so wie jeder Mensch vor so einem Eingriff Angst hätte. Ein Schleier hatte sich über seine blauen Augen gelegt, so als hätte jemand von innen das Licht ausgeknipst. Ein wirklich schöner Mann, dachte Leena. Ein Mann, dem ein unbeschwertes Lächeln sehr viel besser stand als die Sorge auf seiner Stirn. Und trotz allem Ärger über seine unverschämte Art war es die Ärztin in Leena, die ihm gern seine Unbeschwertheit zurückgeben wollte.

»Leena, ach, Dr. Summers!«

Betty war hinter ihr aufgetaucht und atmete hastig. »Es gab einen Lawinenabgang am Longneck Mountain!« Aufgeregt wedelte Betty mit ihrer kleinen Hand.

»Ok, Betty, ganz ruhig. Wie viele Verletzte? Du kümmerst dich mit dem jungen Assistenzarzt, wie heißt er? Ach ja, Montgomery, mit Dr. Montgomery um die Triage, ich bereite die OPs vor.«

»Nein, nein, keine Verletzten, aber Dr. Bade ist quasi in seinem Haus eingeschlossen. Alle Passstraßen sind gesperrt. Vor Morgen wird da nichts geräumt. Vor Morgen kann er nicht hier sein.«

Leena nickte langsam und drehte sich wieder zu Mr Turner um. »Also, Mr Turner, Sie hören ja, wie es steht. Soll ich den OP für Sie vorbereiten lassen?«

*

Zum zweiten Mal an diesem Tag hinterließ Allana eine Nachricht auf Dr. Bades Mailbox. Vielleicht sollte sie einfach selbst nachsehen, wo er steckte? Vielleicht war er im OP oder in der Rettungsstelle, aber würde dann nicht eine Schwester seine Anrufe entgegennehmen?

Und plötzlich war sie wieder da, die unbestimmte Unruhe von heute Morgen, das seltsam flaue Gefühl im Magen. Ebenjenes Gefühl, das Allana nach der Lektüre des Artikels überfallen hatte.

Was wusste sie eigentlich über Dr. Bade, außer dass er gleichermaßen beliebt war bei Patienten und Personal? Dr. Bade, der Arzt mit dem gütigen Lächeln, der leise und beruhigend sprach, der am Wochenende zu Visiten einen Karton Donuts mitbrachte und die gestresste Nachtschwester aufheiterte.

Hatte sie jemals mit ihm näher zu tun gehabt? Sie konnte sich nicht daran erinnern.

Entschlossen schlüpfte Allana in ihr tailliertes Jackett, das ausgezeichnet zu ihrem neuen kurzen, schwarzen Rock passte, fädelte ihr Namensschild ans Revers und zog die Bürotür ins Schloss.

»Ich bin im Haus unterwegs, Gloria, bitte stellen Sie keine Anrufe auf mein Handy durch. Ach, und versuchen sie, Dr. Bade für mich zu erreichen.«

Freundlich wie immer nickte Gloria ihr zu, und die beiden Frauen tauschten einen Blick. Allana erinnerte sich noch gut an den Tag, an dem die rundliche ältere Frau mit der großen Brille zum Vorstellungsgespräch erschienen war. Ein Bauchgefühl hatte ihr gleich gesagt, dass sie die Richtige für den Job war, und die Zeit hatte ihr recht gegeben. Gloria war ihr Fels in der Brandung geworden, ihre treue rechte Hand. Vor allem aber war sie ihr kluger Ratgeber in schwierigen Situationen. Vielleicht, schoss es Allana durch den Kopf, vielleicht würde sie heute ihren Rat noch brauchen.

Und während sie mit klappernden Absätzen in Richtung Treppenhaus ging, versuchte sie, genau diesen Gedanken abzuschütteln.

Zügig stieg sie bis ins Erdgeschoss hinab und betrat die Rettungsstelle durch einen Seiteneingang direkt hinter dem Schwesterntresen.

»Ah, Schwester Betty!« Natürlich. Allana seufzte innerlich. Zwar war Betty eine ausgezeichnete Krankenschwester, das musste Allana zugeben, aber eben auch echt anstrengend, wenn es darum ging, ihre Rettungsstelle gegen die notwendigen Sparmaßnahmen zu verteidigen. Bedauerlicherweise war sie schon so lange im Haus, dass sie einen guten Draht zum Chefarzt hatte, den sie noch als einfachen Assistenzarzt kennengelernt hatte.

Langsam drehte sich Betty zu ihr um und hob eine Augenbraue. »Ms McGinty, was kann ich für sie tun? Soll ich noch ein paar Schwestern an diesem sonnigen Tag entlassen?«

Das Beste würde es sein, diese Spitze zu übergehen, dachte Allana, räusperte sich und sagte dann ruhig: »Ich bin auf der Suche nach Dr. Bade. Haben Sie ihn gesehen?«

»Nein, habe ich nicht.« Bettys Antwort kam wie aus der Pistole geschossen.

»Wissen Sie, wo ich ihn finden kann?«

Für einen Moment öffnete Betty den Mund, als ob sie etwas sagen wollte, dann presste sie die Lippen fest aufeinander und zuckte wortlos die Schultern.

»Na schön, Schwester Betty, vielen Dank für die Auskunft!« Vielen Dank für nichts, fügte Allana im Geiste hinzu. Irgendetwas verschwieg ihr Betty, so viel war sicher, aber Allana war klug genug, um zu wissen, dass es keinen Sinn ergab weiterzufragen. Betty hatte ihren eigenen Kopf, und dieser Kopf hatte beschlossen, Allana die Schuld an allen notwendigen Einsparungen der Klinik zu geben.

Hier kam sie nicht weiter, aber vielleicht weiß jemand im OP mehr, dachte sie und rieb sich die Stirn, als sie ihren Weg durch das Krankenhaus fortsetzte.

Eilig bog Allana um die Ecke und stieß dabei mit einer ihr entgegenkommenden jungen Ärztin zusammen.

»Tut mir leid!«, sagte sie, bückte sich, um auch ein paar der zu Boden gefallenen Papiere aufzuheben, und sah dann auf.

»Macht nichts, um die Ecke kann man schlecht sehen«, antwortete die junge Frau mit den dunklen kurzen Locken. Sie hat ein hübsches Gesicht, dachte Allana. Klare Züge und ein gewinnendes Lächeln. Und plötzlich fiel es ihr ein: »Sie müssen unsere neue Kollegin sein, Dr. Summers.«

Sichtlich verlegen reichte ihr die junge Ärztin die Hand.

»Richtig, ich bin Dr. Leena Summers!«

Fest griff Allana zu. »Allana McGinty, ich bin die Klinikleitung. Willkommen im Crystal Lake, ich hoffe, es gefällt Ihnen bei uns?«

»Ja, vielen Dank!«

»Sagen Sie, Dr. Summers, haben Sie zufällig Dr. Bade gesehen? Ich habe schon mehrfach versucht, ihn zu erreichen.«

»Oh.« Über Leenas Gesicht legte sich ein kleiner Schatten. »Nein, gesehen nicht, aber ich habe gehört, dass der Weg zu seinem Haus von einer Lawine verschüttet wurde. Man sagte mir, dass die Passstraßen vor morgen nicht geräumt werden.« Leena Summers schüttelte bedauernd den Kopf. »Vielleicht hat es auch ein paar Handymasten erwischt, er konnte sich nur einmal bei uns melden, und es scheint mir, dass er wohl von der Außenwelt abgeschnitten ist.«

»Das ist in der Tat bedauerlich.«

»Ja, aber keine Sorge, ich übernehme seine OP

Wenigstens der OP-Plan würde also nicht allzu sehr durcheinanderkommen. Aufmunternd tätschelte Allana Dr. Summers’ Arm. »Sehr gut, das fängt ja gut an für Sie!«

Leena lachte herzlich. »Ach, ich bin aus Chicago einiges gewöhnt.«

Ein letztes Nicken, dann setzte Allana ihren Weg fort. Jetzt allerdings ging sie zielstrebig wieder in Richtung Treppenhaus. Vielleicht war die Akte in Dr. Bades Büro. Sie könnte seine Tür mit ihrem Generalschlüssel öffnen. Dann drehte sie sich ein letztes Mal um und rief: »Sagen Sie, Dr. Summers, wer hat Ihnen das mit der Lawine erzählt?«

»Schwester Betty! Fragen Sie sie, wenn Sie mehr Informationen brauchen! Schönen Tag noch!«

*

Das Händewaschen vor der Operation war für Leena ein heiliger Moment und der Augenblick, in dem sie sich selbst sammelte. Mechanisch übernahm ihr Körper das gewissenhafte Waschen ihrer zarten Haut, während sie im Kopf die anstehende OP durchgehen konnte. Und ebendiese OP würde nicht einfach werden. Unterhalb des Knies war Mark Turners Schienbeinknochen in viele einzelne Fragmente gesplittert, sodass das Röntgenbild aussah, als wäre ein Glas auf dem Boden zerbrochen. Trotzdem war Leena zuversichtlich. Sie hatte in Chicago Skateboardfahrer wieder auf ihr Board steigen sehen, an denen sie weitaus schlimmere Verletzungen operiert hatte. Die nächsten Stunden würden anstrengend werden, keine Frage, aber sie waren auch ihr Lohn für das harte Studium.

Gerade jetzt, als sie das Desinfektionsmittel auf ihren Händen und Armen verteilte, wurde ihr sehr deutlich, dass es genau das war, was sie sich immer gewünscht hatte: jemanden zu heilen. Und heute war dieser jemand Mark Turner. Hätte sie vorhin noch beinahe vor Wut geweint über sein Verhalten ihr gegenüber, stieg jetzt in ihr eine Milde auf. Er war auch nichts weiter als ein Patient, der Angst hatte und ihre Hilfe brauchte.

Ein letzter tiefer Atemzug, dann drückte sie die Schwingtür zum Operationssaal auf. »Alles fertig? Für die, die mich noch nicht kennen: Ich bin Dr. Leena Summers, und heute ist mein erster Tag am Crystal Lake. Also schön, dann geben wir jetzt diesem Mann sein Bein zurück, er wird es weiterhin auf dem Snowboard brauchen.«

Leena warf im Vorbeigehen einen letzten Blick auf das Gesicht von Mark Turner. Er sieht friedlich aus, schoss ihr durch den Kopf. Die Narkose gab seinem Gesicht etwas angenehm Weiches, beinahe Jungenhaftes.

»Bereit, Dr. Montgomery?« Der junge Assistenzarzt nickte ihr zu, und sie konnte seine Aufregung fühlen. Es war nicht lange her, da hatte sie ebenfalls zitternd am Tisch gestanden und bewundernd die Fachärzte angesehen. Jetzt war sie es, zu der Dr. Montgomery aufblickte. Und das nicht nur, weil er ihr bis zur Schulter ging, sondern weil er wissbegierig war. Das hatte er schon vorhin in der Notaufnahme bewiesen.

Ruhig nahm sie das Skalpell aus den Händen der OP-Schwester entgegen. »Also schön, Dr. Montgomery. Ich erkläre einfach, was ich tue, und Sie fragen, wenn etwas unklar ist, ja?«