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LICHTVOLLE KLARHEIT

UNERMESSLICHE WEITE

Chögyam Trungpa über Zen und Tantra

Herausgegeben von
Judith L. Lief und David Schneider

Aus dem Englischen von
Michael Wallossek

THESEUS VERLAG

Theseus im Internet: www.theseus-verlag.de

Die englische Originalausgabe erschien unter dem Titel
The Teacup & The Skullcup. Chögyam Trungpa on Zen and Tantra
2007 bei Vajradhatu Publications, 1084 Tower Road, Halifax,
Nova Scotia, B3H 2Y5 Canada.

This translation of The Teacup & The Skullcup.
Chögyam Trungpa on Zen and Tantra

is published by arrangement with Vajradhatu Publications, 1084 Tower Road,
Halifax,
Nova Scotia, B3H 2Y5 Canada.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutschen Bibliothek verzeichnet diese Publikation
in der deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
http://dnb.ddb.de abrufbar.

ISBN 978-3-95883-083-7
E-Book ISBN 978-3-95883-105-6

Copyright © 2007 Diana J. Mukpo
Copyright der deutschen Ausgabe © Theseus
in J. Kamphausen Mediengruppe GmbH, Bielefeld

Alle Rechte vorbehalten

Die Verwertung der Texte und Bilder, auch auszugsweise, ist ohne
Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt
auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für
die Verarbeitung mit elektronischen Systemen.

Übersetzung aus dem Englischen: Michael Wallossek Umschlaggestaltung:
Morian & Bayer-Eynck, Coesfeld,
www.mbedesign.de unter Verwendung von Fotos von © Hildegard Morian
Frontispiz: Foto von Cynthia McAdams
Fotografien mit freundlicher Genehmigung der Shambhala Archives
Lektorat: Claudia Seele-Nyima
Gestaltung und Satz: Ingeburg Zoschke, Berlin
E-Book Gesamtherstellung: Bookwire GmbH, Frankfurt a. M.

Inhalt

Einführung von Tensho David Schneider

Auf das Herz vertrauen (Hsin-Hsin Ming)

TEIL EINS: PRAJÑA WACHRUFEN

Ein sehr zweckmäßiger Schabernack

Präzision und unermessliche Weite

Künstler und arbeitslose Samurai

Wildes Zen, verrücktes Tantra

TEIL ZWEI: DAS NETZ DER DISZIPLIN

Den Affen in die Falle locken

Schönheit und Absurdität

Dynamische Stille und kosmische Versenkung

TEIL DREI: OCHSEN HÜTEN

Der Bilderzyklus »Ochsen hüten«

TEIL VIER: SHUNRYU SUZUKI ROSHI

Shunryu Suzuki Roshi – Eine Besinnung auf Buddha, Dharma und Sangha

Anmerkungen

Register der Fachbegriffe

Dank

Literatur

Vorbemerkung

Dieses Buch basiert auf zwei Kursen, die Trungpa Rinpoche 1974, jeweils unter dem Titel »Zen und Tantra«, abgehalten hat. Die vier in Teil eins wiedergegebenen Vorträge und Gespräche fanden vom 1.–4. Januar 1974 im buddhistischen Retreat-Zentrum »Tail of the Tiger« in Barnet, Vermont statt; die drei Vorträge und Gespräche in Teil zwei vom 15.–17. Februar 1974 in Boston, Massachusetts.

Zur Schreibung der Fachbegriffe

Aus dem Sanskrit und aus dem Tibetischen übernommene Begriffe sind, wenn sie definiert werden, bei der ersten Erwähnung kursiv gedruckt. Tibetische Begriffe erscheinen generell in Lautumschrift und werden nicht transliteriert. Chinesische Begriffe werden in der Wade-Giles-Umschrift wiedergegeben. »Tantra« – wörtlich »Kontinuität« – dient als allgemeine Bezeichnung für den Vajrayana-Buddhismus. Von diakritischen Zeichen wird lediglich bei Sanskrit-Ausdrücken im Titel The Life and Teachings of Nāropa und in Zitaten aus diesem Buch Gebrauch gemacht.

Einführung

Am Neujahrstag des Jahres 1974 begann der erste von zwei Kursen, in denen Vidyadhara Chögyam Trungpa Rinpoche das Thema »Zen und Tantra« für ein amerikanisches Publikum erläutert hat. Beide Kurse fielen in die frühe Phase seiner Lehrtätigkeit als Meditationsmeister in Nordamerika – einer Aktivität, die sich über einen Zeitraum von siebzehn Jahren erstreckte, in denen Trungpa Rinpoche sich als eine für diesen Kontinent maßgebliche spirituelle Gestaltungskraft erweisen sollte. Nach vergleichsweise bescheidenen Anfängen leitete er schließlich Hunderte von öffentlichen und privaten Kursen und Seminaren, die letztlich Tausende mündlicher Einzelunterweisungen umfassten. Zu seinem bei weitem noch nicht vollständig dokumentierten Werk gehören unter anderem zahlreiche Bücher, darunter mehrere Bände mit poetischen Texten und Kalligraphien.1 Trotz einer tief verwurzelten Neugier, einer breit gefächerten, kulturelle Grenzen überschreitenden Bildung und der Bereitschaft, innerhalb eines schier grenzenlos scheinenden Interessenspektrums immer neue Aufgaben anzugehen,2 kam Trungpa Rinpoches enorme Energie im Wesentlichen dem Kreis seiner Schüler zugute. Während der ersten drei Jahre in Nordamerika (1970–1973) lag der Schwerpunkt seiner Lehrtätigkeit vornehmlich auf solchen Themen, die für den buddhistischen Weg und die buddhistische Betrachtungsweise des Geistes von grundlegender Bedeutung sind, wobei die Meditationspraxis für ihn stets im Vordergrund stand – ebenso wie die vorbildhafte Rolle, die den Vajra-Meistern seiner Überlieferungslinie zukam.

Trungpa Rinpoches kompromisslose, nichtsdestoweniger ausgesprochen charmante und liebenswürdige Art zu lehren, zog in diesen ersten Jahren viele Schüler an. Sie kamen zu einem nicht unbeträchtlichen Teil aus Zen-Sanghas.3 Aus der zeitlichen Distanz von dreißig Jahren betrachtet, markieren die in diesem Buch versammelten Vorträge und Gespräche für die spirituelle Gemeinschaft seiner Schüler offenbar einen Wendepunkt. Einerseits würdigt Trungpa Rinpoche hier jene Kraft und Disziplin, die dem Einfluss des Zen zu verdanken ist; andererseits grenzt er die beiden Traditionen des Zen und Tantra voneinander ab und macht deutlich, auf welchen Weg er seine Schüler zu führen beabsichtigt.

In diesen ersten Jahren hat Trungpa Rinpoche den tibetischen Buddhismus, das Vajrayana, in den Vordergrund gestellt. Wie hätte es auch anders sein können, war dies doch der Bezugsrahmen, in dem er von klein auf geschult worden war. Von seiner natürlichen Disposition her, aber auch aufgrund seiner Ausbildung war er ein tantrischer Meister, ein Adept der »verrückten Weisheit«. Er war jemand, der das Vajrayana im wahrsten Sinne des Wortes verkörperte. Viele seiner in den USA gehaltenen Vorträge beschreiben das Wesen des Tantra. Bekannt war er indes vor allem für eine andere, überaus charakteristische Eigenheit: Durch seine Art zu sprechen und durch sein ganzes Gebaren entstand eine Atmosphäre, die per se tantrisch anmutete – elektrisch aufgeladen und zugleich ganz gewöhnlich, mysteriös und einfach, klärend und verwirrend, langweilig und doch eine magnetische Anziehung ausübend.

Zu der Zeit, als Trungpa Rinpoche die beiden in diesem Buch zusammengefassten Kurse abhielt, hatte er gerade erst begonnen, den Weg der neun Yanas in seiner Gesamtstruktur darzulegen. Während der drei Monate vor diesen Vorträgen hatte er das Vajradhatu-Seminar – das erste von dreizehn jeweils drei Monate dauernden Kursprogrammen – ins Leben gerufen und angefangen, in diesem Rahmen Unterweisungen zu geben. Darin lehrte er den buddhistischen Weg von seinen Anfängen bis zu seinen späteren Entwicklungen. Dabei war die Art und Weise, wie er die Lehrinhalte darstellte, modern und mitunter sehr verblüffend. Der Weg, den er beschrieb, und die Texte, auf denen seine Erläuterungen beruhten, waren hingegen traditionell. Nicht minder traditionell, aber dennoch für neue Seminarteilnehmer mindestens ebenso verblüffend war die Tatsache, dass er in Bezug auf die Disziplin und die akademischen Studien höhere Standards einführte. Trungpa Rinpoche ging sehr systematisch vor. Die neun Yanas präsentierte er beinahe in der Art eines Landvermessers oder Kartographen, und er erwartete, dass man mit ihm Schritt hielt. Zu jener Zeit stand er kurz davor, seine Schüler vollständig in das Vajrayana einzuführen, die Übertragungen und dazugehörigen Einweihungen inbegriffen, hatte dies allerdings noch nicht getan.

Trungpa Rinpoche war den Schülern gegenüber große Verpflichtungen eingegangen und wollte sie, wie gesagt, in aller Form als tantrische Schüler anerkennen. Der Überlieferung gemäß war es an diesem Punkt angezeigt, die Menschen entweder davor zu warnen, solch eine unwiderrufliche Verpflichtung auf sich zu nehmen, oder aber ihnen Hindernisse in den Weg zu legen bzw. zumindest sicherzustellen, dass ihnen klar war, worauf sie sich einließen. Etwas später, im Sommer 1974, gab er explizit, ausführlich und öffentlich Tantra-Unterweisungen, und zwar im Rahmen einer fünfzehn Vorlesungen umfassenden Reihe in dem gerade erst frisch gegründeten Naropa-Institut in Boulder, Colorado.4 Während der Wintertage zu Jahresbeginn schien Trungpa Rinpoche jedoch vorrangig daran interessiert zu sein, Unterschiede herauszuarbeiten: Seinen Schülern und seinen anderen recht gemischten Zuhörern machte er damals deutlich, inwiefern der für einen tantrischen Weg erforderliche Stil, die Atmosphäre und das Setzen der Schwerpunkte sich von dem Stil unterschieden, der sich bis dahin unter seinen Schülern ausgeprägt hatte – und der, wie er bereitwillig einräumte, vieles dem Zen verdankte. »Ich denke, wir haben eine größere Nähe zum Zen. Möglicherweise praktizieren wir Zen im Geist des Tantra«, erklärte er mit einem leisen Lachen, als ihm bei der zweiten der besagten Vorlesungen die entsprechende Frage gestellt wurde.

Diese subtile, dennoch klar umrissene Unterscheidung hat Trungpa Rinpoche mit größtem Respekt vor beiden Überlieferungen vorgenommen. Es wird kaum überraschen, dass seine Einstellung gegenüber der eigenen Überlieferungslinie und der eigenen Tradition der »verrückten Weisheit« respekt- und hingebungsvoll war. Umso bemerkenswerter ist es, dass er dem Zen mit solch großer Aufgeschlossenheit begegnet und hier zu derart tiefgründigen Einsichten gelangt ist. Dieser Umstand lässt sich vielleicht der engen Freundschaft zuschreiben, die er mit einigen in Nordamerika lebenden Zen-Meistern geschlossen hat. Besagte Freundschaften vermitteln einen Eindruck davon, welchen Respekt er der Zen-Überlieferung insgesamt entgegenbrachte und wie dies wiederum dazu führte, dass er für seine öffentlich zugänglichen Meditationshallen und Rituale auf bestimmte Formen des Zen zurückgriff.

Vielleicht wird so auch nachvollziehbar, warum Trungpa Rinpoche auf viele Zen-Schüler eine derartige Anziehung ausgeübt hat. Welche Gründe im Einzelnen die Mitglieder der Zen-Sangha auch zu ihm geführt haben mögen, auf jeden Fall haben diese Praktizierenden den Charakter der in Trungpa Rinpoches Umfeld entstehenden »Szene« maßgeblich mitgeprägt. Und er hat seinerseits einen humorvollen, scherzenden, ja bisweilen etwas spöttischen Umgang mit ihnen entwickelt. Um gelegentlich der Überheblichkeit eines Schülers den Boden zu entziehen, scheute er sich keineswegs, eine Äußerung oder Handlung der betreffenden Person mit der Bemerkung zu kommentieren: »Das ist ja wirklich ganz besonders ›zen‹!« Oder aber er beklagte (wie etwa in diesem Buch), dass seine amerikanischen Schüler den ausgesprochen funktionalen Charakter bestimmter Formen im Zen missverstanden und aus diesen Aspekten einen ästhetischen Wettbewerb machten, statt sich einfach in grundlegenden Routineabläufen zu üben.

Zur großen Erheiterung seiner Zuhörerinnen und Zuhörer hat Trungpa Rinpoche beispielsweise 1978 Zen-Schüler mit den Worten getadelt: »Im Zendo mögen sie ja durchaus eine einwandfreie Sitzhaltung haben, aber in dem Augenblick, in dem sie die Robe ausziehen und nach Hause gehen, entwickeln sie ihre persönlichen kleinen Neurosen. In den eigenen vier Wänden … machen sie weiterhin allerlei Hokuspokus – einen Hokuspokus, der dem Zen ganz und gar unangemessen ist!«

Seine erste und bedeutsamste Begegnung mit Zen-Lehrern in Nordamerika war die mit Suzuki Roshi, dem Abt und Gründer des San Francisco Zen Center. Trungpa Rinpoche und seine Frau Diana Mukpo lernten Suzuki Roshi und seine Frau Suzuki Sensei (im Allgemeinen schlicht »Okusan« genannt) im Mai 1970 kennen: Rinpoches Verleger Sam Bercholz machte sie miteinander bekannt. Als Rinpoche dem Zen-Zentrum einen Besuch abstattete, trat eine unmittelbare Verbundenheit zwischen den beiden Lehrern zutage. Jeder, der dies miterlebt hat, sprach von einer »Herzensverbindung«. Später vertraute Trungpa Rinpoche seiner Frau an, Suzuki Roshi sei der erste Mensch in den USA gewesen, der ihn an seinen tibetischen Wurzel-Lama Jamgön Kongtrül erinnert habe. Er fügte noch hinzu, in Suzuki Roshi habe er seinen ersten spirituellen Freund im Westen gefunden.

Suzuki Roshi hatte, als sie einander 1970 begegneten, bereits etwa zwölf Jahre in Nordamerika gelebt und gelehrt. Mit den amerikanischen Schülern, die gemeinsam mit ihm Sitzmeditation praktizierten, und mit der Gemeinschaft, die sich in seinem Umfeld gebildet hatte, arbeitete er intensiv. Mit dem Kauf von Tassajara, einem tief in den Bergen des Los Padres National Forest gelegenen Kloster, und der Veröffentlichung von Suzukis erstem Buch Zen-Geist – Anfänger-Geist 5 im Jahr 1970 hatte das von ihm gegründete Zen-Zentrum einen raschen Aufschwung genommen. Suzuki Roshi sprach häufig darüber, welch große Herausforderung es für ihn darstellte, traditionellen zen-buddhistischen Dharma in einem neuen kulturellen Umfeld zu lehren und ihn amerikanischen Schülern zu präsentieren, die in keine der Kategorien passten, mit denen er als japanischer Lehrer vertraut war. Das war gewiss keine leichte Aufgabe für ihn. Doch aus seiner Auseinandersetzung mit dieser großen Herausforderung gingen starke, sehr innovative Unterweisungen und eine dynamische Gemeinschaft hervor.

Seinem Biographen David Chadwick6 zufolge war Suzuki Roshi mit Trungpa Rinpoches Werk vertraut, da Roshi Aktive Meditation7 gelesen und von seinen eigenen Schülern, die mit dem jungen Tibeter in Kontakt gekommen waren, viel Anerkennendes über ihn gehört hatte. Bei seinem ersten Besuch war Rinpoche daran interessiert zu erfahren, wie Suzuki Roshi die während der Sitzmeditation praktizierte Technik des Atemzählens lehrte. Außerdem machte sich der Tibeter zu den im Zen-Zentrum gepflegten Formen und der dort herrschenden Atmosphäre sorgfältig Notizen.

Während der ersten Jahre in den USA legte Trungpa Rinpoche bei seinen Schülern großen Wert auf die Sitzmeditation – im Unterschied zu Pujas oder anderen Praxisformen in der tibetischen Tradition. Eine standardisierte Technik hatte er ihnen jedoch noch nicht an die Hand gegeben. Als Rinpoche zu guter Letzt beschloss, einen einheitlichen Praxisstil festzulegen, stellte auch er die Bedeutung des Atems als primäres Meditationsobjekt in den Vordergrund, freilich in etwas anderer Weise als im Zen. Die Anweisungen zur Sitzhaltung waren ebenfalls ein wenig anders; sie ermöglichten eine entspanntere Haltung. Entsprechendes galt für die Arbeit mit den Gedanken, deren Methodik sich vom Ansatz des Zen geringfügig unterschied. Die Praxis war zwar anders, jedoch »nicht sonderlich anders«, wie Trungpa Rinpoche zu sagen pflegte. Ebenso griff er auf das im Zen als zafu bezeichnete Sitzkissen zurück, ließ die entsprechenden Sitzkissen aber aus rotem und gelbem statt aus schwarzem Stoff, wie im Zen gebräuchlich, anfertigen. Ferner übernahm er vom Zen die Gepflogenheit, im Verlauf eines Praxisabschnitts abwechselnd eine Zeit lang zu sitzen und zu gehen – mit einer Abwandlung allerdings: Statt eines im Voraus festgelegten Zeitablaufs führte er hier eine variable Regelung ein. Wie bei vielen Facetten des westlichen Lebens, mit denen er in Berührung kam, verband Trungpa Rinpoche auch beim Lehren jene Aspekte, die für amerikanische Schüler brauchbar zu sein schienen, mit den traditionellen Formen, die auf seinem aus Tibet übernommenen kulturellen Erbe beruhten. Er führte innovative, den jeweiligen Umständen angemessene Formen ein.

Suzuki Roshi

Suzuki Roshi und Trungpa Rinpoche setzten den Gedankenaustausch zu der Frage, wie man den Buddha-Dharma in den USA fördern könne, bei späteren Treffen und in ihrer Korrespondenz fort. So entstand die Idee, ihre Schüler und Lehren auszutauschen, das heißt, der eine erteilte jeweils den Schülern des anderen Unterweisungen. Ferner gründeten sie eine buddhistische Universität und schufen eine am Dharma ausgerichtete therapeutische Gemeinschaft. Trungpa Rinpoche schickte einige langjährige Schüler zur Schulung nach Tassajara und lud mit Suzuki Roshis Segen erfahrene Praktizierende aus dem Zen-Zentrum nach Vermont und später in die Rocky Mountains ein, wo inzwischen zahlreiche seiner Schüler ansässig geworden waren und eine aufblühende Szene hatten entstehen lassen. Unter der Leitung dieser Zen-Praktizierenden fanden dort – im Rahmen von eintägigen (nyinthün) und einmonatigen (dathün) Retreats – lange Sitzmeditationen statt.

Wie groß Trungpa Rinpoches Wertschätzung für Suzuki Roshi war, zeigt folgendes Beispiel: Während des ersten Dathün in Nordamerika ließ er nur einmal pro Tag eine vorübergehende Aufhebung der Schweigeregel zu – für eine Lesung aus Zen-Geist – Anfänger-Geist. Am deutlichsten kommt seine Ehrerbietung jedoch darin zum Ausdruck, dass Trungpa Rinpoche von ihrer ersten Begegnung an bis zu seinem Tod im Jahr 1987 im Schreinraum eines jeden mit seiner Arbeit verbundenen Zentrums ein Foto von Suzuki Roshi an die Wand hängen ließ. Ansonsten hingen über dem Schrein nur noch Fotos von Trungpa Rinpoche, dem 16. Gyalwa Karmapa und Trungpa Rinpoches engsten Wurzel-Lamas: eine vielsagende Tatsache, dass dort inmitten der tibetischen Linienhalter Suzuki Roshis japanisch geschnittenes Gesicht auf die Besucher des Zentrums schaute. Dazu passte auch, dass Suzuki Roshi mit Blick auf Trungpa Rinpoche erklärte, er sei »wie mein Sohn«.

Shamatha-vipashyana dahingehend umzufunktionieren, dass es zur Selbstverherrlichung dient, oder aus shikantaza, wie Roshi die reinste Form des Sitzens im Zen nannte, einen persönlichen »Trip« zu machen ist ziemlich schwierig. Dessen ungeachtet arbeiteten beide Lehrer geduldig (wenn auch gelegentlich etwas rabiat) daran, dass die Meditationspraxis ihrer Schüler stets dem »Weg ohne Ziel« folgte. Denn das Umfeld, das sie in den USA umgab, glich einem spirituellen Dschungel: Es war zwar fruchtbar, üppig und artenreich, zugleich aber verwildert, chaotisch und voller Gefahren für die Suchenden. Zu den Gemeinsamkeiten, die Suzuki Roshi und Trungpa Rinpoche miteinander verbanden, gehörten nicht zuletzt auch die Enttäuschungen und die Einsamkeit, die sie beide empfanden, während sie sich durch diesen spirituellen Dschungel bewegten und ihr Bestes taten auch andere durch ihn hindurchzugeleiten.

Die nächste wichtige Verbindung zum Zen, die Trungpa Rinpoche knüpfte, war die zu dem beeindruckenden Meister Kobun Chino Otogawa, der stets mit sanfter Stimme sprach. Als Rinpoche einmal Suzuki Roshi auf das Thema Kalligraphie ansprach, verwies dieser ihn an Kobun, wie der junge Lehrer sich gerne nennen ließ. Er lebte zu jener Zeit etwa eine Autostunde entfernt südlich von San Francisco. Sie trafen einander dann aber beinahe zufällig. Anlässlich eines Gesprächs mit einer Gruppe von Psychologen war Trungpa Rinpoche nach Los Altos gefahren. Abe Maslow, Anthony Sutich und andere, zum Beispiel Sonja Margulies, Herausgeberin des einflussreichen Journal of Transpersonal Psychology, wollten Trungpa Rinpoche treffen, weil sie beeindruckt davon waren, wie er die Psychologie als integralen Bestandteil des spirituellen Lebens präsentierte. Hinzu kam, dass Sonja Margulies sich unter Kobuns Anleitung ebenfalls selbst mit Zen befasst hatte. Nach der Ankunft Trungpa Rinpoches wollte sie die beiden Lehrer gerne miteinander bekannt machen.

Trungpa Rinpoche mit Kobun Chino Otogawa

»Gleich auf Anhieb haben sie sich hervorragend verstanden«, erinnert sich Sonja Margulies. »Beide waren sie junge Männer, Asiaten außerhalb des eigenen Kulturkreises. Beide hatten sie ein junges Mädchen aus dem Westen geheiratet – Kobun eine Rothaarige, Trungpa eine Blondine –, und beide hatten sie kleine Kinder. Sie hatten also vieles miteinander gemeinsam.« Außerdem fühlten beide sich mit Suzuki Roshi verbunden, den sie bewunderten. Beide verfassten poetische Texte, sollten sich als meisterliche Kalligraphen erweisen und verfügten über eine intuitive Fähigkeit, westlichen Schülern den Dharma darzulegen, wenngleich auf ganz unterschiedliche Art und Weise.

Bei dieser ersten Begegnung kalligraphierten sie gemeinsam. Kobun besaß eine Vielzahl hochwertiger japanischer Pinsel, darunter auch einen sehr großen. Rinpoche hatte noch nie mit einem Pinsel dieser Größe gearbeitet – tibetische Buchstaben werden ja normalerweise mit einem Stift geschrieben. Aber mit diesem hier zu arbeiten gefiel ihm. Im Laufe der Jahre entwickelte Trungpa Rinpoche einen ganz unverwechselbaren Schreibstil, indem er die Pinsel-Kalligraphie und die Schriftformen der tibetischen Kalligraphie miteinander verband.

Kobun, im Kloster Eiheiji zeremoniell und rituell geschult, war nach seiner Ankunft in den USA, soweit es um diese Aspekte der Praxis ging, im San Francisco Zen Center behilflich. Seit Mitte der siebziger Jahre, als Trungpa Rinpoche allmählich ein höheres Maß an Disziplin und Form in seine Gemeinschaft einführte, übernahm Kobun die entsprechende Rolle für Vajradhatu8. Er brachte den Schülern bei, auf traditionelle Weise zu rezitieren, zu trommeln, sich in einem rituellen Kontext zu bewegen und – für die Schüler eine besonders heikle Erfahrung – unter Verwendung von Oryoki-Schalen auf die für ein Zen-Kloster charakteristische Art und Weise zu essen. In die Oryoki-Praxis führte Kobun die Schüler mit Sorgfalt, aber auch mit einer gewissen Beklommenheit ein, da es sich hierbei eigentlich um eine nur einem bestimmten Kreis vorbehaltene innere Praxis der Zen-Überlieferung handelt. Trungpa Rinpoche hat der Oryoki-Praxis hohe Anerkennung gezollt und ungeachtet der Widerstände, auf die sie bei seinen Schülern stieß, sein Bestes getan, sie zur Durchführung dieser Praxis zu ermuntern.

Durch die Verbindung zu Kobun erhielt Shambhala-Vajradhatu noch zu einem weiteren wichtigen Zweig von Unterweisungen Zugang: dem Weg des Bogenschießens, kyudo. Kobun machte Trungpa Rinpoche Mitte der siebziger Jahre mit seinem Kyudo-Meister und engen Freund Kanjuro Shibata Sensei bekannt. Letzterer gehörte einer Familie von Bogenmachern an, die dieses Handwerk mittlerweile in der zwanzigsten Generation für das japanische Kaiserhaus ausübte. Trungpa Rinpoche lud Shibata Sensei ein, die Shambhala-Sangha in dieser besonderen Kampfkunst zu unterrichten und sich in Colorado niederzulassen. Auf beide Wünsche ging Shibata Sensei nach einiger Zeit ein. Er zog mit seiner Frau nach Boulder und lehrte dort eine Form von Kyudo, die nach seinem Dafürhalten den spirituellen Wurzeln dieser Kampfkunst sehr nahe kam. Für jene Art von Kyudo, die Sensei »Sport-Kyudo« nannte und die mit dem alleinigen Bestreben praktiziert wurde, das Ziel zu treffen und Wettbewerbe zu gewinnen, hatte er ausschließlich Verachtung übrig. In Shambhala eröffnete sich Shibata Sensei indes die Möglichkeit, das Herzstück seiner Überlieferung weiterzugeben, ihre Essenz. Und Frau Shibata, selbst Meisterin verschiedener japanischer do (Wege), machte die Schüler mit dem Wesen von kado (dem Weg der Blumen) und chanoyu (der Teezeremonie) bekannt.

Trungpa Rinpoche mit Kanjuro Shibata Sensei

Als Trungpa Rinpoche 1974 das Naropa-Institut gründete und so einen weiteren Aspekt der gemeinsam mit Suzuki Roshi entwickelten Vision verwirklichte, bat er Kobun, ihm dort zur Seite zu stehen und sich künftig dieses Projektes anzunehmen. Bis zu seinem tragischen Tod im Sommer 2001 besuchte Kobun das Naropa-Institut Jahr für Jahr und leitete es mit jener kultivierten, unaufdringlichen Präsenz und all den anderen Qualitäten eines ernsthaft Praktizierenden, die kennzeichnend für ihn waren. Zum Zeitpunkt seines Todes hatte Kobun den Wisdom Chair des Naropa-Instituts inne, und zahlreiche künstlerische Darstellungen, die er angefertigt hatte, zierten die Räume der Hochschule.

Die Freundschaft zwischen Kobun und Trungpa Rinpoche blieb all die Jahre so, wie sie begonnen hatte: von leisen Tönen, von Liebenswürdigkeit und kreativem Austausch geprägt. »Es war wie in einer Familie«, beschreibt Verleger Sam Bercholz seine Beobachtungen. »Nie hat einer den anderen in den Schatten zu stellen versucht. Ihre Verbindung glich der zwischen zwei Menschen, die schlichtweg Essen und Trinken miteinander teilen. Kobun war jederzeit ganz einfach präsent.« Am Anfang ihrer Freundschaft haben Kobun und Rinpoche einander gelobt, in künftigen Leben als Brüder wiedergeboren zu werden.

1971 war Trungpa Rinpoche zu Gast bei Eido Shimano Roshi in New York. Letzterer – damals noch Tai-san genannt – war ein Schüler des großen Soen Roshi, der ihn in den Westen gesandt hatte. Tai-san hatte diesen Auftrag seines Meisters bereitwillig übernommen und sich ausgezeichnete Englischkenntnisse angeeignet. 1963 kam er zunächst nach New York, wo er für Yasutani Roshi als Übersetzer tätig war. 1971 war Eido Roshi ein dynamischer Zen-Lehrer der alten Schule mit gewissen Macho-Tendenzen: Es war ihm am liebsten, wenn es japanisch und streng zuging. Zugleich hatte er die Gabe, durch dramatischen Einsatz von Zen-Formen wie auch durch seine starke persönliche Präsenz eine elektrisierende Atmosphäre zu schaffen. Außerdem war er ein begabter Künstler.

Trungpa Rinpoche besuchte Eido Roshi anschließend des Öfteren in seinem New Yorker Domizil. Mindestens einmal war Soen Roshi ebenfalls mit dabei. Eido Roshi machte Trungpa Rinpoche – bekannt für seine Eigenheit, Schüler stundenlang auf einen Vortrag warten zu lassen – bei dieser Gelegenheit schon im Voraus darauf aufmerksam, dass er pünktlich sein müsse, wenn er Soen treffen wolle. Rinpoche war sogar überpünktlich. Er kam zehn Minuten vor der verabredeten Zeit. Alle drei Meister widmeten sich gemeinsam der Kalligraphie, und eine eifrige Schülerin servierte Sake, den sie zuvor einer etwas absonderlichen Prozedur unterzogen hatte: Jemand hatte ihr erzählt, bei »menschlicher Körpertemperatur« serviert schmecke Sake am besten, und daraufhin hatte sie die Flasche drei Tage lang am Körper getragen.

Trungpa Rinpoche mit Eido Shimano Roshi

Eido Roshi war Trungpa Rinpoche gegenüber misstrauisch. Dessen ungeachtet war er fasziniert von ihm. »Was ist das bloß für ein Typ?«, fragte er einen Schüler, der beide Lehrer kannte. Offenbar wollte Roshi wissen, wie Trungpa Rinpoche, der anerkannte Linienhalter und Gelehrte mit treuer Anhängerschaft, zugleich solche Gewohnheiten an den Tag legen konnte wie Zigaretten zu rauchen, Alkohol zu trinken und außereheliche Affären mit seinen Schülerinnen zu haben. Wann immer er seine Nase in Dinge hineinzustecken versuchte, die entsprechende Verhaltensaspekte betrafen – und allem Anschein nach hat Eido Roshi recht häufig derartige Versuche unternommen –, war das mit unliebsamen Konsequenzen für ihn verbunden. Der Schüler erklärte ihm, Rinpoche mache weder aus seinem Alkoholgenuss noch aus seinen Affären ein Geheimnis. Falschheit und Scham, so der Schüler weiter, spielten in Rinpoches Verhalten überhaupt keine Rolle; vielmehr scheine er all seinen Schülern aufrichtige Liebe entgegenzubringen, nicht nur jenen Schülerinnen, bei denen innige Nähe sich bis zu einem Punkt entwickle, der in körperliche Liebe münde.

Nach Rinpoches Tod im Jahr 1987 kam Eido Roshi nach Karmê Chöling, wo Trungpa Rinpoches Körper eingeäschert werden sollte. Aufgrund von Verpflichtungen, die er bereits zu einem früheren Zeitpunkt eingegangen war, konnte Roshi der eigentlichen Zeremonie nicht beiwohnen. So meditierte er bei Rinpoches Leichnam, traf sich mit Rinpoches Frau und dem ältesten Sohn (dem jetzigen Sakyong Mipham Rinpoche) und führte persönliche Rituale durch. Außerdem ließ er als Geschenk eine Schachtel Räucherstäbchen feinster Qualität da, die anschließend während der Einäscherung Verwendung fanden. Bei seinem Aufenthalt in Karmê Chöling fühlte sich Roshi so tief bewegt, dass er, obgleich sein Abflug unmittelbar bevorstand, bis zur letzten Minute dort blieb. Er wollte die Atmosphäre in sich aufnehmen, die von jener Hingabe erfüllt war, mit der die Vorbereitungen bereits über mehrere Wochen hinweg durchgeführt worden waren: sorgfältig, mit großer Bereitwilligkeit und unermüdlicher Energie.

Während sein Wagen dann unter Missachtung der geltenden Geschwindigkeitsbeschränkungen in allerletzter Minute zum Flughafen raste, erklärte er seinem Assistenten wieder und wieder, zu guter Letzt habe er doch noch Trungpa Rinpoches Größe gesehen; er habe Rinpoches Größe in dessen eigenem Umfeld – Karmê Chöling – und im Verhalten seiner Schüler gesehen. Seinem gestressten Fahrer erklärte Roshi, Trungpa Rinpoche sei tatsächlich kami. Mit dieser Bezeichnung aus der Shinto-Tradition bedacht zu werden hätte Trungpa Rinpoche gewiss sehr gefreut. Denn sie verweist auf eine übermenschliche Energie, die gewöhnlich mit der Umwelt assoziiert wird – mit Flüssen, Tälern, Bergen, Quellen und dergleichen mehr. Solch eine Energie könnte auch mit einer adligen Familie, einem Nationalstaat und einer authentischen spirituellen Praxis assoziiert werden, und sie entspricht in vielerlei Hinsicht dem, was der tibetische Begriff drala bezeichnet. Drala hervorzurufen und zu manifestieren, das war während der letzten zehn Jahre tatsächlich ein ganz wesentlicher Aspekt in Trungpa Rinpoches Leben und Lehren gewesen.