Über das Buch

Was ist Leben? Und was bedeutet die Antwort auf diese Frage für die Herausforderungen, denen sich die Menschheit heute gegenübersieht – Klimawandel, Pandemien und Artensterben? Paul Nurse erhielt den Nobelpreis dafür, gezeigt zu haben, wie lebende Zellen funktionieren. In seinem so klar wie elegant verfassten Buch synthetisiert er auf wenigen Seiten sämtliches Wissen darüber, was es heißt, am Leben zu sein.

Schritt für Schritt erläutert Nurse die fünf revolutionären Ideen, die der Biologie zugrunde liegen – die Zelle, das Gen, Evolution durch natürliche Selektion, das Leben als Chemie und das Leben als Information.

Über Paul Nurse

Sir Paul Nurse erhielt 2001 den Nobelpreis für Medizin und wurde mit dem Albert-Einstein-World-Award-of-Science und der Französischen Legion d'Honneur ausgezeichnet. Er war Berater des britischen Premierministers in Wissenschafts- und Technologiefragen und erhielt über 60 Ehrendoktortitel und Stipendien von internationalen Universitäten. Derzeit ist er Direktor und Chief Executive des Londoner Francis Crick Institute, einem Zentrum, das sich dem Verständnis der Biologie widmet, die der Gesundheit zugrunde liegt.

Hainer Kober, geboren 1942, studierte Germanistik und Romanistik. Seit 1972 übersetzt er Werke aus dem Englischen und Französischen, unter anderem von Stephen Hawking, Brian Greene, Antonio Damasio und Oliver Sacks. 2015 wurde Kober mit dem Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Preis für deutschsprachige Übersetzer ausgezeichnet. Hainer Kober lebt in Soltau.

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Paul Nurse

Was ist Leben?

Die fünf Antworten der Biologie

Herausgegeben von Ben Marynoga

Aus dem Englischen von Heiner Kober

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

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Einleitung

Kapitel 1: Die Zelle

Kapitel 2: Das Gen

Kapitel 3: Evolution durch natürliche Selektion

Kapitel 4: Leben als Chemie

Kapitel 5: Leben als Information

Die Welt verändern

Was ist Leben?

Dank

Über den Autor

Fußnoten

Impressum

»Eine wunderbar geschriebene Erkundung der vielleicht wichtigsten naturwissenschaftlichen Frage. Ich hatte den Eindruck, dass sich mir hier ein komplexes und tiefgründiges Thema auf ganz neue Weise erschloss. Das ist die beste Einführung in die moderne Biologie, die ich je gelesen habe.«

Brian Cox

»In diesem anschaulichen, lebendigen Werk taucht Sir Paul Nurse, der Entdecker einiger der für die Zellteilung wichtigsten Gene, tief in die Welt der Biologie ein, indem er fünf wesentliche Merkmale von ›Leben‹ erklärt. Das Buch ist so inspiriert und kenntnisreich geschrieben – und die fünf Abschnitte so angefüllt mit überraschenden Erkenntnissen –, dass ich es nicht aus der Hand legen konnte. Es wird einer ganzen Generation von Biologen Inspiration und Ansporn sein.«

Siddhartha Mukherjee

»Ein meisterhafter Abriss der Biologie, der große Ideen, erhellende Details und persönliche Einsichten zusammenführt. Der staunende Leser gewinnt einen tieferen Einblick in die Vielfalt, Komplexität und Vernetzung lebender Organismen. Es ist die bedeutendste Frage der Biologie. Und dieses Buch liefert die besten Antworten, die mir je zu Gesicht gekommen sind. Paul Nurse ist eine seltene Lebensform – ein nobelpreisgewürdigter Wissenschaftler und ein brillanter Wissensvermittler in einer Person.«

Alice Roberts

»Als Wissenschaftler genießt Paul Nurse höchstes Ansehen. Gleichzeitig ist er jedoch auch ein großartiger Wissensvermittler. In seinem Buch erläutert er – klar und elegant zugleich –, wie sich die Lebensprozesse entfalten, und beantwortet die Titelfrage, so gründlich und erschöpfend, wie es die Naturwissenschaft vermag. In einer Zeit, in der die Welt so dicht zusammengewachsen ist, dass jede neue Krankheit mit ungeheurer Geschwindigkeit von einer Nation zur anderen überspringen kann, sollten wir alle – einschließlich der Politiker – bestmöglich informiert sein. Dieses Buch vermittelt die Art von Klarheit und Verständnis, die viele Tausend Leben retten könnte. Ich habe viel gelernt und das Lernen sehr genossen.«

Philip Pullman

»Paul Nurse liefert eine knappe, luzide Antwort auf eine uralte Frage. Seine Darstellung beruht nicht nur auf langer Erfahrung, sondern ist auch klug, visionär und persönlich. Ich habe dieses Buch auf einen Sitz gelesen und fühlte mich am Ende beschwingt, als wäre ich kilometerweit gelaufen – vom Garten des Autors ins Innere der Zelle, von dort rückwärts in der Zeit bis zu den ältesten Vorfahren der Menschheit und durch das Labor eines leidenschaftlichen Naturwissenschaftlers, um ihn bei der Arbeit zu erleben, die er am meisten liebt.«

Dava Sobel

Leben umgibt uns von allen Seiten, verschwenderisch, vielfältig und höchst extravagant.
In seiner verschwenderischen Vielfalt ist es etwas ganz Außergewöhnliches.
Doch was bedeutet es, »lebendig« zu sein?

Um die Herausforderungen zu überwinden,denen sich die Menschheit heute gegenübersieht – Klimawandel, Pandemien, Verlust der Biodiversität und Ernährungssicherung –, ist es von höchster Wichtigkeit, dass wir alle verstehen, was Leben ist.

Für Andy Martynoga (Yog), Freund und Vater,
und meine Enkel
Zoe, Joseph, Owen und Joshua
und ihre Generation,
denen es obliegen wird,
für das Leben auf unserem Planeten Sorge zu tragen

Einleitung

Vielleicht war ein Schmetterling für mich der erste Anstoß, ernsthaft über Biologie nachzudenken. Es war Frühlingsanfang; ich mochte zwölf oder dreizehn Jahre alt gewesen sein und saß im Garten, als ein gelber Schmetterling mit zartem Flügelschlag über den Zaun schwebte. Er änderte die Richtung, stand in der Luft und ließ sich kurz nieder – gerade so lange, dass ich die kunstvollen Äderchen und Flecken auf seinen Flügeln erkennen konnte. Als ihn ein Schatten aufschreckte, hob er sich wieder in die Luft und verschwand über den Zaun auf die andere Seite. Dieser so fein und vollkommen gestaltete Schmetterling beschäftigte meine Gedanken. Wir waren völlig verschieden und ähnelten einander gleichzeitig doch irgendwie. Wie ich war er so offenkundig lebendig: Er konnte sich bewegen, er konnte empfinden, er konnte reagieren, er schien so zweckmäßig zu sein. Ich begann mich zu fragen: Was bedeutet es tatsächlich, lebendig zu sein? Kurzum, was ist Leben?

Ich habe über diese Frage einen Großteil meines Lebens nachgedacht, aber es ist nicht leicht, darauf eine zufriedenstellende Antwort zu finden. Es mag überraschen, dass es keine Standarddefinition des Lebens gibt, obwohl sich Naturforscher und Wissenschaftler seit Urzeiten mit dieser Frage auseinandersetzen. Selbst den Titel dieses Buches – Was ist Leben? – habe ich schamlos von Erwin Schrödinger gestohlen, einem Physiker, der 1944 ein einflussreiches Buch gleichen Namens veröffentlichte. Sein Hauptaugenmerk lag auf einem wichtigen Aspekt des Lebens: Wie Lebewesen Generation für Generation in einem Universum, das sich nach dem Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik unaufhaltsam in Richtung von Unordnung und Chaos entwickelt, eine so eindrucksvolle Ordnung und Gleichförmigkeit bewahren können. Diese Frage hat Schrödinger völlig zu Recht als grundlegend erachtet, und er glaubte, dass das Verständnis der Vererbung – was Gene sind und wie sie zuverlässig von einer Generation an die nächste weitergegeben werden – der Schlüssel zur Antwort sei.

Im vorliegenden Buch stelle ich dieselbe Frage – Was ist Leben? –, aber ich glaube nicht, dass wir von der Entschlüsselung der Vererbung allein eine erschöpfende Antwort erwarten dürfen. Vielmehr werde ich fünf zentrale Ideen der Biologie betrachten und sie als Stufen benutzen, auf denen wir – eine nach der anderen erklimmend – mehr Klarheit über die Frage erhalten, wie das Leben funktioniert. Die meisten dieser Ideen gibt es schon seit einiger Zeit, und sie werden als Erklärung für die Funktion lebender Organismen im Allgemeinen akzeptiert. Aber ich werde diese Ideen auf neue Weise zusammenfügen und so eine Reihe vereinheitlichender Prinzipien für die Definition von Leben entwickeln, in der Hoffnung, dass sie Ihnen helfen, die Welt mit neuen Augen zu sehen.

Ich sollte Ihnen von vornherein sagen, dass wir Biologen uns häufig scheuen, über große Ideen und grandiose Theorien zu sprechen. In dieser Hinsicht unterscheiden wir uns erheblich von Physikern. Gelegentlich vermitteln wir den Eindruck, wir vertieften uns lieber in Einzelheiten, Kataloge und Beschreibungen, sei es, dass wir alle Arten in einem bestimmten Habitat auflisten, die Haare auf einem Käferbein zählen oder Tausende von Genen sequenzieren. Vielleicht ist die verwirrende, ja, überwältigende Vielfalt der Natur daran schuld, dass es so schwierig erscheint, einfache und vereinheitlichende Ideen zu entwickeln. Trotzdem gibt es durchaus wichtige übergreifende Ideen in der Biologie, die uns helfen, das Leben ungeachtet all seiner Komplexität zu verstehen.

Die fünf Ideen, die ich Ihnen erläutern werde, sind: »Die Zelle«, »Das Gen«, »Evolution durch natürliche Selektion«, »Leben als Chemie« und »Leben als Information«. Ich werde nicht nur erklären, woher sie kommen, warum sie wichtig sind und in welcher Wechselbeziehung sie stehen, sondern möchte Ihnen auch zeigen, dass sie sich heute noch immer verändern und weiterentwickelt werden, da Wissenschaftler in der ganzen Welt neue Entdeckungen machen. Außerdem möchte ich Ihnen eine Vorstellung davon vermitteln, wie es ist, an wissenschaftlichen Entdeckungen zu arbeiten, daher werde ich Sie mit den Wissenschaftlern bekannt machen, die diese Fortschritte erzielt haben – einige von ihnen habe ich persönlich gekannt. Ich werde Ihnen auch aus eigenem Erleben von der Forschungsarbeit im Labor, im »Lab«, erzählen – über die Ahnungen, die Enttäuschungen, das Glück und die seltenen, aber wundervollen Augenblicke wirklich neuer Erkenntnis. Ich möchte Sie daran teilhaben lassen, wie es ist, eine aufregende wissenschaftliche Entdeckung zu machen und die Befriedigung zu spüren, die sich durch das wachsende Verständnis für die Natur einstellt.

Die Tätigkeit des Menschen bringt das Klima und viele der Ökosysteme, die es erhält, an die Grenze dessen, was sie ertragen können – oder sogar darüber hinaus. Um das Leben, wie wir es kennen, zu bewahren, brauchen wir alle Erkenntnisse, die wir aus dem Studium der lebendigen Welt gewinnen können. Aus diesem Grund wird die Biologie in den kommenden Jahren in zunehmendem Maße die Grundlagen für die Entscheidungen liefern, mit denen wir festlegen, wie Menschen leben, geboren, ernährt, geheilt und vor Pandemien geschützt werden. Ich werde einige der Anwendungen biologischen Wissens beschreiben und auf die schwierigen Kompromisse, ethischen Ungewissheiten und möglichen unbeabsichtigten Konsequenzen hinweisen, die aus diesen Anwendungen erwachsen können. Doch bevor wir uns an diesen zunehmenden Debatten beteiligen können, müssen wir erst fragen, was Leben ist und wie es funktioniert.

Wir leben in einem riesigen, Ehrfurcht gebietenden Universum, doch das Leben, das ausgerechnet hier, in dieser winzigen Ecke des immens großen Ganzen gedeiht, ist einer seiner faszinierendsten und mysteriösesten Aspekte. Die fünf Ideen dieses Buchs werden uns als Stufen dienen, die uns beim Hinaufsteigen immer weitere, für das Leben auf der Erde maßgebliche Prinzipien offenbaren werden. Das wird uns auch helfen, wenn wir darüber nachdenken, wie das Leben auf unserem Planeten begonnen haben und wie es aussehen könnte, sollten wir ihm anderswo im Universum begegnen. Egal, welche Vorkenntnisse Sie besitzen – selbst wenn Sie glauben, Sie wüssten wenig oder gar nichts über Wissenschaft –, so ist es doch meine Absicht, Ihnen so viele Einsichten zu vermitteln, dass Sie nach der Lektüre dieses Buches ein besseres Gespür dafür haben, wie Sie, ich, dieser zarte gelbe Schmetterling und alle anderen Lebewesen auf unserem Planeten miteinander verbunden sind.

Ich hege die Hoffnung, dass wir, gemeinsam, am Ende einer Antwort auf die Frage, was Leben ist, etwas näher gekommen sein werden.

1.
Die Zelle

Das Atom der Biologie

Meine erste Zelle sah ich in der Schule, nicht lange nach der Begegnung mit dem gelben Schmetterling. Meine Klasse hatte Zwiebelsamen zum Keimen gebracht und die Wurzeln der Sämlinge unter einen Objektträger gequetscht, um festzustellen, woraus sie bestanden. Mein Biologielehrer Keith Neal, ein Quell der Inspiration, erklärte, wir würden jetzt Zellen sehen, die Grundeinheiten des Lebens. Und da waren sie: exakte Anordnungen kastenartiger Zellen, alle zu gleichmäßigen Säulen gestapelt. Wie beeindruckend erschien mir, dass Wachstum und Teilung dieser winzigen Zellen ausreichten, die Wurzeln einer Zwiebel durch die Erde zu schieben, damit sie die wachsende Pflanze mit Wasser, Nährstoffen und Halt versorgen konnten.

Je mehr ich über Zellen lernte, desto größer wurde mein Staunen. Zellen weisen eine unglaubliche Vielfalt an Formen und Größen auf. Die meisten von ihnen sind mit bloßem Auge nicht zu erkennen – sie sind wirklich winzig. Dreitausend einzelne Zellen eines parasitischen Bakteriums, das gelegentlich die Blase befällt, messen, nebeneinander aufgereiht, einen Millimeter. Andere Zellen sind gigantisch. Bedenken Sie beim nächsten Ei, das Sie zum Frühstück verspeisen, dass es sich beim Eigelb um eine einzige Zelle handelt. Auch in unserem Körper gibt es einige riesige Zellen. Beispielsweise reichen einzelne Nervenzellen von der Basis Ihres Rückgrats bis zur Spitze des großen Zehs. Mit anderen Worten, jede dieser Zellen kann rund einen Meter lang werden!

So beeindruckend diese Vielfalt auch ist, mich interessiert viel mehr, was alle diese Zellen gemeinsam haben. Naturwissenschaftler streben immer danach, fundamentale Einheiten zu entdecken, das beste Beispiel dafür ist das Atom als Grundeinheit der Materie. Das Atom der Biologie ist die Zelle. Die Zelle ist nicht nur die grundlegende Struktureinheit aller lebenden Organismen, sondern auch die grundlegende Funktionseinheit des Lebens. Damit meine ich, dass Zellen die kleinsten Einheiten mit den Kernmerkmalen des Lebens sind. Das ist die Grundlage der Zelltheorie, wie wir Biologen sagen: Soweit wir wissen, ist alles, was auf dem Planeten lebt, entweder eine Zelle oder eine Ansammlung von Zellen. Die Zelle ist das einfachste Gebilde, von dem sich mit Sicherheit sagen lässt, dass es lebt.

Die Zelltheorie ist knapp zweihundert Jahre alt und sie wurde in dieser Zeit zu einem der Fundamente der Biologie. Angesichts der Bedeutung, die dieser Begriff für das Verständnis der Biologie besitzt, finde ich es überraschend, dass sie das öffentliche Bewusstsein nicht in stärkerem Maße beschäftigt. Vielleicht liegt es daran, dass man den Leuten im Biologieunterricht den Eindruck vermittelt, Zellen seien lediglich die Bausteine für komplexe Lebewesen, obwohl die Wirklichkeit weit interessanter ist.

Die Geschichte der Zelle beginnt 1665 mit Robert Hooke, einem Mitglied der neu gegründeten Royal Society of London, einer der ersten wissenschaftlichen Akademien der Welt. Wie so häufig in der Wissenschaft wurde diese Entdeckung durch eine technische Neuerung ermöglicht. Da die meisten Zellen zu klein sind, um sie mit bloßem Auge zu erkennen, musste ihre Entdeckung auf die Erfindung des Mikroskops Anfang des 17. Jahrhunderts warten. Häufig sind Naturwissenschaftler eine Kombination aus Theoretikern und geschickten Handwerkern, jedenfalls galt das mit Gewissheit für Hooke, der mit der gleichen Selbstverständlichkeit, mit der er die äußersten Grenzen der Physik, Architektur oder Biologie erforschte, neue wissenschaftliche Instrumente entwickelte. So baute er sein eigenes Mikroskop, mit dem er dann die seltsame Welt entdeckte, die sich jenseits der Reichweite des bloßen Auges entfaltete.

Zu den Dingen, die Hooke auf diese Weise betrachtete, gehörte eine dünne Scheibe Kork. Er sah, dass die Korkrinde aus unzähligen Reihen von Hohlräumen bestand, die von Wänden umschlossen waren, ganz ähnlich den Zellen in den Wurzelspitzen von Zwiebeln, die ich dreihundert Jahre später als Schüler sah. Hooke benannte diese Zellen nach dem lateinischen Wort cella, »Kammer« oder »Stübchen«. Damals wusste Hooke nicht, dass die Zellen, die er gezeichnet hatte, nicht nur die Grundeinheiten aller Pflanzen, sondern überhaupt allen Lebens waren.

Nicht lange nach Hooke machte der holländische Forscher Anton van Leeuwenhoek eine andere wichtige Beobachtung – er entdeckte einzelliges Leben. Diese mikroskopischen Organismen fand er in Proben von Teichwasser und in dem Belag, den er von seinen Zähnen kratzte: eine Beobachtung, die ihn bestürzte, war er doch ziemlich stolz auf seine Zahnhygiene! Er bezeichnete diese winzigen Lebewesen liebevoll als »dierkens«, Tierchen, einen Ausdruck, den wir heute nicht mehr verwenden. Bei den Bewohnern seines Zahnbelags handelte es sich tatsächlich um die ersten Bakterien, die jemals beschrieben wurden. Leeuwenhoek war auf eine vollkommen neue Domäne winziger, einzelliger Lebensformen gestoßen.

Heute wissen wir, dass Bakterien und andere Formen mikrobieller Zellen (»Mikrobe« ist eine allgemeine Bezeichnung für alle Mikroorganismen, die als einzelne Zellen leben können) die bei Weitem zahlreichsten Lebensformen auf der Erde sind. Sie bewohnen alle Umwelten, von den höchsten Schichten der Atmosphäre bis hinab in die Tiefen der Erdkruste. Ohne sie käme das Leben zum Stillstand. Sie bauen Müll ab, erneuern Böden, recyceln Nährstoffe und fangen aus der Luft den Stickstoff ein, den Pflanzen und Tiere zum Wachstum brauchen. Und ein Blick auf unseren eigenen Körper zeigt den Wissenschaftlern, dass wir für jede unserer 30 Billionen oder mehr menschlichen Zellen mindestens eine mikrobielle Zelle haben. Sie – und jeder andere Mensch – sind kein isoliertes, individuelles Gebilde, sondern eine riesige, sich ständig wandelnde Kolonie aus menschlichen und nichtmenschlichen Zellen. Diese Zellen mikroskopisch kleiner Bakterien und Pilze leben auf und in uns und bestimmen maßgeblich, wie wir Nahrung verdauen und Krankheiten bekämpfen.

Doch vor dem 17. Jahrhundert hatte niemand den Hauch einer Vorstellung, dass es diese unsichtbaren Zellen geben könnte, ganz zu schweigen davon, dass sie den gleichen Prinzipien gehorchten wie alle anderen sichtbareren Lebensformen.

Im 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts verbesserten sich die Mikroskope und mikroskopischen Techniken fortwährend, und schon bald konnten Forscher Zellen der unterschiedlichsten Lebensformen bestimmen. Einige Wissenschaftler äußerten die Vermutung, alle Pflanzen und Tiere bestünden aus Ansammlungen dieser mikroskopisch kleinen »dierkens«, die Leeuwenhoek mehrere Generationen vor ihnen entdeckt hatte. Dann, nach einer langen Reifezeit, wurde die Zelltheorie endlich geboren. 1839 fassten der Botaniker Matthias Schleiden und der Zoologe Theodor Schwann ihre eigene Arbeit und die anderer Forscher mit den Worten zusammen: »Wir haben gesehn, daß alle Organismen aus wesentlich gleichen Theilen, nämlich aus Zellen, zusammengesetzt sind.«1 Die Wissenschaft war zu der erhellenden Erkenntnis gelangt, dass die Zelle die fundamentale Struktureinheit des Lebens ist.

Noch weitreichendere Bedeutung erhielt diese Einsicht, als die Biologen erkannten, dass jede Zelle eine eigenständige Lebensform ist. Diesen Gedanken griff der wegweisende Pathologe Rudolf Virchow auf, als er 1858 schrieb: »Jedes Thier erscheint als eine Summe vitaler Einheiten, von denen jede den vollen Charakter des Lebens an sich trägt.«2

Mit anderen Worten, jede Zelle ist ihrerseits lebendig. Diesen Nachweis führen Biologen höchst anschaulich, indem sie Zellen aus vielzelligen Tieren oder Pflanzen entnehmen und sie in Glas- oder Plastikgefäßen – häufig flachen Behältern, die wir Petrischalen nennen – am Leben erhalten. Seit Jahrzehnten wachsen einige dieser Zelllinien endlos in Laboratorien auf dem ganzen Globus. Auf diese Weise können Forscher biologische Prozesse untersuchen, ohne dass sie sich mit der Komplexität ganzer Organismen auseinandersetzen müssen. Zellen sind aktiv; sie können sich bewegen und auf die Umwelt reagieren, ihre Inhalte sind ständig in Bewegung. Verglichen mit einem ganzen Organismus, etwa einem Tier oder einer Pflanze, mag eine Zelle einfach erscheinen, aber sie ist zweifellos lebendig.

Allerdings gab es eine entscheidende Lücke in der Zelltheorie, wie sie ursprünglich von Schleiden und Schwann formuliert worden war. Sie erklärte nicht, wie Zellen entstehen. Diese Lücke schloss sich, als Forscher entdeckten, dass Zellen sich reproduzieren, indem sie sich teilen, so dass aus einer Zelle zwei werden. Daraus schlossen sie, dass Zellen nur entstehen können, wenn sich aus einer vorher existierenden Zelle durch Teilung zwei neue bilden. Das formulierte Virchow in dem knappen lateinischen Satz Omnis cellula e cellula – jede Zelle entsteht aus einer Zelle. Er wandte sich damit auch gegen die damals durchaus noch vertretene Auffassung, Leben entstehe fortwährend und spontan aus lebloser Materie – das tut es nicht.

Zellteilung ist die Grundlage für Wachstum und Entwicklung aller lebender Organismen. Sie ist der erste entscheidende Schritt zur Verwandlung einer undifferenzierten einzelnen befruchteten Eizelle eines Tieres zu einem Zellklumpen und schließlich zu einem hochkomplexen und hochorganisierten Lebewesen, einem Embryo. Alles beginnt mit einer Zelle, die sich teilt und zwei Zellen hervorbringt, die verschiedene Identitäten annehmen können. Die ganze weitere Entwicklung des Embryos beruht auf dem gleichen Prozess – immer neue Zellteilungsrunden, aus denen ein immer komplexer organisierter Embryo entsteht, während sich die Zellen im Zuge von Reifungsprozessen in zunehmend spezialisierte Gewebe und Organe verwandeln. Daraus folgt, dass alle lebenden Organismen, unabhängig von ihrer Größe und Komplexität, aus einer einzigen Zelle hervorgehen. Vermutlich würden wir alle etwas mehr Ehrfurcht vor Zellen haben, wenn wir uns vor Augen hielten, dass jeder von uns irgendwann einmal eine einzige Zelle war, die im Augenblick der Empfängnis aus der Verschmelzung einer Samen- und einer Eizelle entstand.

Die Zellteilung erklärt auch die scheinbar wundersame Selbstheilung des Körpers. Wenn Sie sich am Rand dieser Seite schnitten, ließen sich Zellteilungen in der Umgebung der Wunde lokalisieren, die die Wunde schlössen und so zur Gesundung des Körpers beitrügen. Krebserkrankungen sind allerdings die fatale Schattenseite der Fähigkeit unseres Körpers, immer neue Zellteilungen in Gang zu setzen. Krebs wird durch unkontrollierte Wachstums- und Teilungsprozesse von Zellen hervorgerufen, die auch ihre Bösartigkeit weiterverbreiten und so den Körper schädigen oder sogar töten können.

Wachstum, Reparatur, Verschleiß und Bösartigkeit hängen alle damit zusammen, dass sich – in Krankheit und Gesundheit, in Jugend und Alter – die Eigenschaften unserer Zellen verändern. Tatsächlich lassen sich die meisten Krankheiten auf Funktionsstörungen von Zellen zurückführen. Wenn wir verstehen, was in bestimmten Zellen schiefgeht, kann uns das helfen, neue Wege zur Behandlung von Krankheiten zu entdecken.

Auch heute noch beeinflusst die Zelltheorie die Forschungsrichtungen in den Biowissenschaften und der medizinischen Praxis. Sogar den Verlauf meines eigenen Lebens hat sie nachhaltig geprägt. Seit mein dreizehnjähriges Selbst in ein Mikroskop blickte und die Zellen in den Wurzelspitzen einer Zwiebel entdeckte, hat mich das Interesse an Zellen und ihrer Funktionsweise nicht mehr losgelassen. Als ich meine wissenschaftliche Tätigkeit in der biologischen Forschung begann, entschied ich mich für die Beschäftigung mit Zellen, insbesondere mit der Frage, wie Zellen sich reproduzieren und ihre Teilung regeln.

Die Zellen, mit denen ich in den siebziger Jahren zu arbeiten begann, waren Hefezellen, die nach Meinung der meisten Menschen allenfalls zur Herstellung von Wein, Bier oder Brot taugen, aber nicht zur Lösung fundamentaler biologischer Probleme. Tatsächlich aber sind sie ein großartiges Modell, das zeigt, wie Zellen komplexerer Organismen arbeiten. Die Hefe ist ein Pilz, aber ihre Zellen ähneln auf überraschende Weise Pflanzen- und Tierzellen. Außerdem sind sie klein, relativ einfach und wachsen rasch und kostengünstig, wenn man sie mit einfachen Nährstoffen füttert. Bei der Anzucht im Labor schwimmen sie entweder frei in einem flüssigen Nährmedium oder sie liegen auf einem Nährboden in einer Petrischale, wo sie cremefarbene Kolonien von wenigen Millimetern Durchmesser bilden, von denen jede einzelne aus vielen Millionen Zellen besteht. Trotz – oder genauer – wegen ihrer Einfachheit verdanken wir nicht zuletzt der Hefe, dass wir heute verstehen, warum sich die Zellen der meisten lebenden Organismen – einschließlich derjenigen des Menschen – teilen. Ein Großteil dessen, was wir über die unkontrollierte Teilung von Krebszellen wissen, entwickelte sich aus der Forschung an schlichten Hefezellen.

Zellen sind die Grundeinheiten des Lebens. Sie sind individuelle, lebende Gebilde, die von einer Membran aus fettähnlichen Lipiden umschlossen werden. Doch genau so, wie Atome aus Elektronen und Protonen bestehen, enthalten auch Zellen kleinere Komponenten. Mit den modernen, sehr leistungsfähigen Mikroskopen können Biologen heute die komplizierten und häufig außerordentlich schönen Strukturen innerhalb der Zellen sichtbar machen. Die größten Strukturen sind die Organellen, die von einer eigenen Membran umhüllt sind. Eine dieser Organellen ist der Kern, die Kommandozentrale der Zelle, da er in seinen Chromosomen die genetischen Anweisungen enthält, während die Mitochondrien – von denen es in manchen Zellen gelegentlich Hunderte gibt – die Funktion von Miniaturkraftwerken haben und die Zelle mit der Energie versorgen, die sie braucht, um zu wachsen und zu überleben. Diverse andere Räume und Kompartimente in der Zelle übernehmen komplizierte logistische Aufgaben, wie die Herstellung, die Zerlegung oder das Recycling von Zellteilen sowie den Transport von Material in die Zelle hinein, aus der Zelle hinaus oder innerhalb der Zelle.

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