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© 2021 Elke Hangebrauck
Titelillustration: Marina Halak
Satz, Umschlaggestaltung, Herstellung und Verlag:
BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 978-3-7534-8928-5
»Kann ich ins Klo?« Selman rast von seinem Platz aus vorn zu mir, bremst kurz ab und schaut mich erwartungsvoll an. Eine ironische Antwort liegt mir auf den Lippen wie: »Wenn du gern nass werden willst …«. Doch ich muss mich beherrschen und wiederhole nochmals den Satz, den ich gern gehört hätte. »Darf ich zur Toilette?«, sage ich und »nein, du musst warten bis Inan wieder da ist. Schau mal, die Ampel ist doch rot.« Selman dreht sich zur Tür und nickt. Dort hängt ein roter Kreis an einem Faden. Auf der Rückseite ist er grün. Unsere Toilettenampel. Um zu vermeiden, dass zu viele Kinder gleichzeitig im Treppenhaus unterwegs sind und dort irgendwelchen Unfug anstellen, darf immer nur einer losgehen. Der dreht dann die Ampel auf rot, so dass jeder weiß, dass jemand unterwegs ist. Da öffnet sich auch schon die Tür. Inan dreht das Schild auf grün, Selman kann starten.
Eigentlich kann ich stolz sein auf den kleinen Kerl. Er hat die Regel verinnerlicht, dass man sich abmelden muss, wenn man aufs Klo will. Das war für ihn am Anfang nicht durchschaubar, alle Regeln schienen wie ein dichter Dschungel. Meine Gedanken gehen an meine erste Begegnung mit ihm zurück. Selbstbewusst und offen schob er sich vor seine Mutter, die zaghaft an der Tür zum Klassenzimmer geklopft hatte: »Kannst du mir die Deutsch lernen?« Ja gerne – komm herein – wir versuchen es.
Auf den Tischen stapeln sich heute Tonpapier, Klebstoff und Scheren, wir haben Fensterbilder gebastelt. Als Selman zurückkommt schalte ich wortlos den Kassettenrekorder ein. Eine bewegte fröhliche Musik erklingt. Das kennen die Kinder nun auch schon. »Aufräumzeit« brüllt Elvis trotzdem noch einmal, doch jeder weiß bereits, dass diese Melodie zum Wegräumen aller Sachen aufruft. Solange die Musik läuft, ist Zeit Papier zur Altpapierkiste zu bringen, Bilder abzugeben und Schultaschen einzupacken. Erst wenn ich ausschalte und von zehn aus rückwärts zähle, müssen sich auch die Letzten beeilen, denn bei Null muss jeder fertig sein. Doch leider klappt das heute nicht so gut. Bei Paul liegen noch lauter Schnipsel auf dem Boden, Klebestiftdeckel rollen herum, die Altpapierkiste quillt über. »Das gefällt mir noch nicht«, sage ich, »ich zähle noch mal rückwärts und jeder steht auf und sammelt noch drei Sachen ein«. Als nun die Null erreicht ist, sieht es ordentlich aus im Zimmer. »Gut gemacht«, lobe ich. Da ertönt auch schon die Pausenglocke.
Vier Wochen Schule sind ins Land gegangen. Ein wenig kenne ich die neuen Kinder jetzt schon. Die wichtigen Regeln sind eingeführt, die Namen für die Gegenstände im Schulranzen werden den Kindern immer vertrauter. Wenn ich jetzt möchte, dass sie den roten Ordner herausnehmen (*schulinterner Name für das, was auch als Schnellhefter bekannt ist), dann liegen an acht von zehn Plätzen tatsächlich die roten Ordner auf dem Tisch. Bei einem Kind liegt der blaue Ordner da – immerhin ein Erfolg, es liegt kein Heft dort. Das letzte Kind hat gar nicht mitbekommen, dass eine Arbeitsanweisung erfolgte.
Wir wollen Arbeitsblätter aus dem Deutschunterricht abheften, die sich bei mir zwecks Korrektur angesammelt haben. Da klopft es an der Tür.
Ich gehe um zu öffnen. »Haben sie mal grad einen Augenblick Zeit?« Unsere Sekretärin steht dort. Sie ist nicht allein. Ein schwarzhäutiger Mann, eine Frau mit Baby auf dem Arm und ein kleiner Junge, der sich schüchtern hinter beiden versteckt stehen mit ihr dort. Ich ahne und weiß was kommt. So geht das oft, wenn die Vorbereitungsklasse Nachwuchs bekommt.
Andere Eltern in der Schule würden wir mit einem Gesprächstermin wieder fortschicken oder bitten, nach dem Unterricht noch einmal vorbeizukommen. Aber bei den ausländischen Eltern funktioniert das oft nicht. Sie verstehen meisten schon die Sprache nur mangelhaft und wenn sogar beide Elternteile gleichzeitig auftauchen muss die Gelegenheit beim Schopf gefasst werden. Deshalb klopft unsere Sekretärin in diesen Ausnahmefällen auch mitten im Unterricht an, damit ich Eltern persönlich begrüßen und mich kurz vorstellen kann. Für ihre Kinder und auch für sie selbst ist es ein Sprung ins Ungewisse, mitten im Schuljahr mal eben so an einem fremden Ort in eine fremde Schule zu springen und das eigene Kind dort vertrauensvoll zurückzulassen.
Kurz drehe ich mich zur Klasse. »Das schafft ihr grad allein«, regle ich den Auftrag für die nächsten Minuten. »Elvis, du verteilst die Blätter auf den Bänken, jeder schaut, welches ihm gehört. Wenn ihr fertig seid mit Abheften, dürft ihr ein Bild malen. Ich bin gespannt, wie leise ihr sein könnt.«
Vorsichtshalber lasse ich die Tür einen spaltbreit offen und trete auf den Flur hinaus. Hände werden geschüttelt, der kleine Junge mag gar nicht hervorkommen. Seine Mutter stupst ihn an, sein Vater ermuntert ihn auf Englisch, mich zu begrüßen und seinen Namen zu nennen. Doch er flüstert so leise, dass ich mich ratsuchend an den Vater wende. »Omar, er heißt Omar.« »Herzlich willkommen bei uns«, sage ich. Ein paar organisatorische Fragen werden geklärt: wann Omar heute Schule aus hat, wann es morgen losgeht, wie der Stundenplan aussieht, welche Materialien er benötigt. Zum Glück habe ich Stundenplan und Materialliste immer griffbereit in der Schublade – für genau solche Gelegenheiten. Omars Vater spricht ein gut verständliches Deutsch. Von ihm erfahre ich, dass Omar so gut wie kein Wort dieser Sprache spricht, ein wenig Englisch, ja, damit könnte man sich am Anfang vielleicht helfen.
Während unsere Sekretärin die Eltern wieder mitnimmt, um die Formalitäten der Anmeldung zu klären, kehre ich in die Klasse zurück und bereite die Kinder darauf vor, dass morgen jemand Neues zu ihnen gehört.
Zwei Tage später tauchen wieder zwei neue Kinder auf – diesmal aus Rumänien. Sie standen schon zu Beginn auf der Klassenliste, aber ihre Eltern hatten noch wichtige Angelegenheiten im Heimatland zu klären, Urlaub war noch zu machen, so kommen sie erst jetzt nach Deutschland.
Und für mich geht mit diesen Kindern wieder alles von vorn los: An Regeln gewöhnen, wichtige Orte zeigen und als größte Herausforderung: Ihnen die Sprache beibringen. Der kleine Südafrikaner und die beiden Rumänen sind nämlich nicht in Deutschland geboren und auch ihre Eltern leben nicht schon eine Weile hier. Aus Gründen, die sie mir vielleicht nie erzählen werden, sind sie jetzt plötzlich in das Einzugsgebiet der Vorbereitungsklasse gezogen und sollen bei mir so viel lernen, dass sie bald in die normale Klasse wechseln können. Zumindest für die Eltern ist das das größte Ziel.
Wieder einmal gilt es den Stoffverteilungsplan zu ändern und anzupassen an die Klassensituation. Das Erlernen der Buchstaben wird normal weiterlaufen, das ist klar. Die neuen Kinder steigen einfach ein, wo wir sind und lernen von dort aus weiter. Aber viele andere Dinge gilt es zu erklären und einzuführen, was die Kinder an Regeln und Grundlagen für den Schulalltag brauchen und was die anderen schon stückweise gelernt haben. Zum Teil werde ich in Arbeitsphasen mit Einzelnen differenziert arbeiten und versuchen, Versäumtes in diesem Bereich mit ihnen nachzuholen.
Doch vorrangig ist jetzt der Einstieg in den Schulalltag. Die wichtigsten Gegenstände und Handlungen müssen erlernt werden. Und da auch die Kinder, die schon ein paar Wochen in der Schule sind immer wieder Regeln vergessen und Schwierigkeiten im Arbeitsverhalten zeigen, wird die Einführung für die Neuen eine gute Wiederholung für die anderen sein.
Wieder einmal arbeitet meine Fantasie auf Hochtouren, denn den Luxus einer Doppelbesetzung haben wir in der Schule selten und wenn, dann nur für wenige Stunden. Auch sind die Kinder so verhaltensauffällig und unselbstständig, dass es wenig gelingt, einen Großteil mit Stillarbeit zu beschäftigen und mit dem Rest Neues einzuführen. Okay, was also tun?
Meine Fantasie arbeitet am besten kurz nach dem Aufwachen, wenn ich noch im Bett liege. So ist es auch diesmal. Mir fällt ein ganz besonderes Spiel ein, das meine Kinder auf den verschiedensten Ebenen abholen und fördern wird. Beim Aufstehen greife ich nach Blatt und Stift und zeichne so gut ich kann meine Piktogramme auf. Professionell wirkt das nicht, aber es wird seinen Zweck erfüllen
Ein Spiel sollte es auf jeden Fall sein, da war ich mir sicher. Trockenen Unterrichtsstoff gibt es genug, Sprachlerntraining muss Spaß machen.
Und weil meine Schüler gerade auch trainieren müssen, Würfelbilder richtig zu erkennen, ohne dass sie die Punkte zählen müssen, besteht die erste Spalte meines Blattes aus den sechs Würfelseiten. Später wird ein Kind mit dem großen Schaumgummiwürfel werfen dürfen, der Zufall entscheidet dann, welche Aufgabe zu erfüllen ist. Ich träume davon, dass die Kinder dieses Spiel nach einer gründlichen Probephase dann auch ohne mich in der Kleingruppe spielen können, was mir den Freiraum verschaffen würde, mich intensiv um einzelne zu kümmern.
In der dritten Spalte des Blattes notiere ich in Druckbuchstaben meine Anweisungen. Sie sind eine Kombination aus den wichtigsten Unterrichtsmaterialien und Tätigkeiten. Sie hier aufzuschreiben wird eine Hilfe für mich, immer wieder dieselben Wörter zu gebrauchen, damit sich Anweisungen auch festigen können. Nebenbei sind sie für das ältere Kind der Klasse, das schon lesen kann, eine gute Übung und Anreiz, vielleicht selbst Spielleiter zu sein. Dann brauche nicht ich die Anweisung sprechen, sondern Cameron kann sie lesen.
Die freigebliebene mittlere Spalte nun wird die Brücke für die Kinder, die nicht lesen, bzw. meine deutschen Wörter noch nicht verstehen. Dort landen Piktogramme, die zeigen was zu tun ist. Das sieht dann jetzt ungefähr so aus
1. male einen Kreis mit dem Buntstift
2. schreibe drei große A mit dem Bleistift
3. Trinke Wasser aus dem Becher
4. Renne um den Tisch herum
5. Schneide mit der Schere einen Streifen Papier ab
6. Stehe auf und setz dich wieder auf den Stuhl
In der praktischen Umsetzung mit der Klasse stehe ich vor ungeahnten Hürden. Zunächst einmal müssen die Voraussetzungen für das Spiel geschaffen werden. Jedes Kind braucht einen Bleistift, einen Buntstift, eine Schere und einen Becher mit Wasser auf seinem Tisch. Die Neuen schauen bei den alten Kindern ab, was aus dem Ranzen zu holen ist. Bis das jeder geschafft hat, ist schon viel Zeit vergangen. Wörtertraining Teil 1 geschafft.
Nun teile ich die Blätter aus und hole den großen Würfel. Es fällt die 2. »Schreibe drei große A mit dem Bleistift!« spreche ich langsam und deutlich. Große Augen blicken mich an. Da beginnt Cameron zu schreiben, sein Nachbar zieht nach und die anderen ahnen, dass auch sie jetzt tun sollen, was sie auf dem Bild sehen. Die nächste Zahl ist die 5. Die Kinder greifen zur Schere – aber o weh. Anweisung verstanden: Prima. Schneidevermögen: mangelhaft. Vielen fällt es deutlich schwer, auf der Linie am unteren Blattende entlang zu schneiden. Wieder ein Defizit entdeckt. Es braucht viel Zeit, bis der Würfel wieder fallen kann. Die Lieblingszahl wird die 4 – hier kann man endlich mal aufstehen und sich bewegen nach all dem Zuhören und anstrengenden Tun. Was als kleines Zehn-Minuten-Spiel zwischendurch geplant war, wird zum Projekt der Woche. Am ersten Tag war alles noch mühsam und neu, doch von Tag zu Tag läuft das Spiel automatischer. Und wo ich schon denke, es wird langweilig, kommen die Kinder gerade erst in Fahrt, weil sie endlich verstehen, wie es geht. Jeder lernt hier etwas anderes und doch alle gemeinsam. Die einen konzentrieren sich angestrengt, um die Anweisung umzusetzen. Cameron entziffert lesend die Wörter und bei Alex, Paul und Omar wird langsam klarer, was der Unterschied zwischen einem Bleistift und einem Buntstift ist.
Bei der sich wiederholenden Kombination aus Piktogramm und gesprochenem Satz erhoffe ich, dass die Wörter und Anweisungen auch für andere Unterrichtsphasen verfügbar bleiben. Wenn ich nun nach der Pause ins Klassenzimmer komme und Alex noch herumläuft, sage ich: »Setz dich auf deinen Stuhl.« Er tut es tatsächlich. Vielleicht ist ja der Satz aus dem Spiel hängen geblieben. Wenn wir anschließend zum Schreiben einen Bleistift brauchen, guckt auch Paul nicht mehr so verständnislos wie noch vor fünf Tagen, sondern kramt zielsicher in seinem Mäppchen. Zum Basteln brauchen wir eine Schere, Omar steht vor mir: »Schere - nein«, sagt er und zeigt auf seine Tasche. Er besitzt keine Schere und hat mir das mitgeteilt. Erste Erfolge? Ich glaube ja, atme tief durch und strahle meine Schüler an.
Immer häufiger gerate ich an die Grenzen der Möglichkeiten für Einzelförderung. Gleichzeitig wird auch das unterschiedliche Arbeitstempo der Kinder oft zum Problem. Wie beschäftige ich die Kinder sinnvoll, die immer schon schnell fertig sind mit ihren Aufgaben, etwas Neues aber ohne meine Hilfe nicht anfangen können. Ich mag sie nicht jeden Tag mit Malen abspeisen oder in die Spielecke schicken, die dann auch wieder Unruhe bringt, wenn dort mit Bausteinen geklappert wird.
Es muss etwas Sinnvolles her, das die Kinder greifen können, wenn ich keine Zeit habe, ihnen etwas Neues zu erklären. Es soll etwas sein, das ihnen Spaß macht und Anreiz schafft, zügig zu arbeiten. Wie wäre es also mit Weben?
Da fällt mir ein, dass ich ja fast nur Jungen in der Klasse haben, ob die Spaß am Weben haben werden? Nun – es wird ihnen gut tun, Konzentration und Feinmotorik trainieren, da müssen sie durch. Und die Mädchen werden sich freuen.
Gedacht – getan. Ich krame also aus unserem Materialraum die Webrahmen hervor, suche nach Wollresten und beginne die Kettfäden zu spannen. Jetzt gilt es, das Weben sorgfältig einzuführen, damit die Kinder später selbstständig daran arbeiten können und mir ein Freiraum zur Förderung bleibt.
An einem Freitag erscheine ich also mit meinem Karton Webrahmen in der Klasse. »Och, das kenne ich schon aus dem Kindergarten.« »Ich weiß schon wie das geht.« »Ham wir im Kindi auch gemacht.« So oder ähnlich klingt es mehrfach. Im ersten Moment will ich enttäuscht aufgeben und die Webrahmen wieder einpacken. Doch das Bespannen hat schon so viel Zeit gekostet und außerdem weiß ich, dass die Kinder manchmal auch nur mit ihrem Können blenden. Und wenn sie es tatsächlich schon gemacht haben und beherrschen, ist der Effekt mit der selbstständigen Arbeit ja leicht zu erreichen.