1. Auflage: April 2021

ISBN: 9-783753-470399

© für diese Ausgabe: Günther Rühle

Satz, Umschlaggestaltung: Nadine Englhart mit der Hilfe von LATEX, KomaScript, Gimp, IrfanView und Notepad++, verwendete Schriften: Latin Modern (Satz), Excalibur Noveau (Umschlag), Liberation Serif (Umschlag)

Herstellung und Verlag: Books on Demand GmbH Norderstedt

Bibliographische Information der dnb: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind auf www.dnb.de abrufbar.

Zur Autorin

Margret Rühle wurde 1929 in Kaaden in Nordböhmen (heute: Kadaň, Tschechien) geboren. Nach dem Studium der Germanistik und Anglistik unterrichtete sie in Vollzeit an einem Frankfurter Gymnasium. 1999 schrieb sie das Kinderbuch Max macht Theater.

Margret Rühle starb 2008 in Bad Soden. 2009 erschien der vierte Band der Alfred Kerr-Ausgabe Sucher und Selige, Moralisten und Büßer (S. Fischer), die sie zusammen mit Dr. Deborah Vietor-Engländer herausgegeben hatte.

Kurze Anmerkung der Herausgeberin

Das Kinderbuch Max macht Theater speist sich aus mehreren Quellen: Margret Rühle hat in dieses Buch ihre ganze Liebe zum Theater eingewoben. Hinzu kamen die Blicke hinter die Kulissen; die verdankte sie ihrem Mann, dem Theaterkritiker, Theaterhistoriker und ehemaligen Intendanten des Schauspiels Frankfurt, Dr. Günther Rühle.

Dieses Buch spiegelt aber auch die Erfahrungen der Lehrerin Margret Rühle wider, die bis in die 90er Jahre als Studiendirektorin an einem Frankfurter Gymnasium unterrichtete und ganz sicherlich Erfolg dabei hatte, ihren Schülern die Geheimnisse des Theaters zu entschlüsseln.

Wir haben uns nach einem Blick auf die Personen und einige Hinweise im Buch entschieden, die Handlung im Jahr 1974 beginnen zu lassen, kurz vor dem Ende der Sommerferien.

Inhaltsverzeichnis

Max macht Theater

»Heute kommt Lilliiiii«, rief Elfi und führte einen kleinen Freudentanz im Flur auf: »Sie verbringt den Rest der Ferien bei uns!« »Och nööö-öö-ö«, stöhnte Max. Die Cousinen waren ein Herz und eine Seele, tuschelten andauernd, gingen miteinander Eis essen, ohne ihn mitzunehmen, wussten immer alles besser und behandelten ihn wie ein kleines Kind. Er hatte nicht vergessen, wie sie sich einmal über ihn lustig gemacht hatten, als sie glaubten, er könne sie nicht hören. Noch so eine im Haus. Und das fast die ganze Woche. Das hält doch kein Mensch aus, dachte Max. Elfi fragte: »Kommste mit, sie abholen? Ihr Zug kommt in zehn Minuten!«

Max dachte gar nicht daran: »Am Ende darf ich dann noch ihren Koffer nach Hause schleppen?! Das kann sie mal schön selber machen! Und überhaupt: Lilli! Wie kann man nur Lilli heißen!«, brüllte Max, knallte seine Zimmertür zu und legte sich im Bett auf die Lauer. Von dort aus hatte er die Straße vor dem Haus immer bestens im Blick. Er hörte sie schon, ehe er sie überhaupt sah. Sie plapperten und lachten. Lilli trug ihr blondes Haar offen und hatte sich anscheinend extra herausgeputzt. Sie juchzte und ließ ihren Koffer fallen, als sie Mutter sah und rannte mit ausgebreiteten Armen los: »Tante, ich bin daaaa!« Sie sang das so richtig. Alle fielen sich in die Arme und freuten sich.

Max tat im Schutz seiner Festung so, als ob er sich übergeben müsste und beobachtete weiter. Er wollte sich gerade schmollend unter seinem Kopfkissen vergraben, da flog die Türe auf. Es war Mutter. Sie guckte wieder so und sagte: »Du kommst jetzt runter und begrüßt mir die Lilli, danach kannst du meinetwegen für den Rest des Tages schlafen.« Max überlegte, ob er es auf eine Schreierei anlegen sollte und entschied, dass er im Zweifel den Kürzeren ziehen würde. Mutter hatte weitaus mehr Übung als er.

»Mäxchen«, rief Lilli, als sie Max sah, »Du bist ja schon so groß. Du bist ja schon fast ein richtiger Mann!« Max schnaufte. Mal davon abgesehen, dass Lilli fast jeden Monat zu Besuch kam, glaubte er kaum, dass sie sowas beurteilen konnte. Sie war erst vor kurzem vierzehn geworden. Max hatte ganz eigene Vorstellungen von Männlichkeit. Weiber, dachte er, sagte es aber lieber nicht laut. Er nickte Lilli knapp zu, grunzte etwas Undeutliches, schnappte sich seinen Fußball und floh zu Paule, der gegenüber wohnte.

»Er ist nicht so schlimm, wie er immer tut«, sagte Elfi. »Mutter sagt, er ist jetzt in einer sehr kritischen Phase.« Lilli lachte wieder los, aber Elfi war sich nicht sicher, ob die Mutter nicht auch sie damit meinte. Aber sie war immerhin schon fast vierzehneinhalb! Die Große! Die Vernünftige! Sie ging mit Lilli auf ihr Zimmer, auspacken, die Ferienerlebnisse der letzten Wochen bequatschen.

Lilli lebte mit ihren Eltern in Frankfurt. Sie war gern bei der Tante, und die freute sich immer, sie zu sehen. Die Tante hatte einen schönen Garten, man konnte hier spielen, in der Sonne liegen, lesen. Daheim war alles enger und dunkler. Gleich zur Begrüßung gab es Lob. »Ich hab von deinem tollen Zeugnis gehört und mich so sehr drüber gefreut«, hatte Tante Ella gesagt und ihr auf die Schulter geklopft.

Onkel Gerner war auch nett, aber brummig und oft genervt von seiner Arbeit. Zuhause verschanzte er sich am liebsten hinter seiner Zeitung oder vor dem Fernseher, aber alles in allem war er lieb und lachte gern. Am liebsten schleppte er seine Familie an den Wochenenden in den Zirkus und spendierte hinterher riesige Eisbecher. Max sagte oft: »Ich weiß gar nicht, was ich lieber mag: die Clowns oder die Eisbecher.«

Als das Abendessen schon auf dem Tisch stand, aber alle noch auf Onkel Gerner warteten, merkte Lilli, dass die Tante mit dem guten Porzellan gedeckt hatte. Sogar ein kleiner Blumenstrauß stand in der Mitte des Tisches. Es gab lauwarmen Speckkuchen und frischen Apfelmost. »Mein Lieblingsessen«, juchzte Lilli.

Nur Max hatte unbedingt seinen Grießbrei mit Zimt haben müssen, weil er den jeden Montag hatte. »Wenn du nicht da wärst, könnten wir jetzt in der Küche essen«, zischte er Lilli zu. Die sah ihn fragend an, wollte sich setzen und fuhr gleich wieder in die Höhe. »Was zum ...«, sagte sie, klaubte von ihrer Sitzfläche zwei Bauklötzchen aus Holz, zeigte sie herum und schaute nochmal fragend auf Max.

Mutter presste die Lippen aufeinander und warf einen langen, lauernden Blick auf ihren Sohn: Wir sprechen uns. Aber Max löffelte bereits seinen Grießbrei, den Blick fest auf sein Lieblingsschüsselchen gerichtet, auf das er ebenfalls bestanden hatte. Lilli setzte sich, beobachtete Max und sagte nach einer Weile: »Ich esse schon fünf Jahre keinen Grießbrei mehr. Ist der nicht für ganz kleine Kinder?« Max tat, als hätte er sie nicht gehört.

Da kam Vater nach Hause und rief: »Da ist ja unsere Lilli!« Lilli sprang auf und umarmte ihn. Max ließ den Löffel in seine Schüssel fallen, dass es nur so schepperte, und rannte auf sein Zimmer.

Am nächsten Morgen war Max früh wach und konnte nicht mehr einschlafen. Er griff sich aus der Ecke seines Zimmers das bunt lackierte Holzgestell seines Kasperletheaters, stellte es auf und hängte den roten Vorhang ein. Anschließend kramte er aus einer Kiste einige der Handpuppen heraus und legte sie neben sich hin: den Kasper, den Polizisten, den Lehrer, die Hausfrau und das Krokodil. Zuletzt suchte er nach dem jungen blonden Mädchen mit den abstehenden Zöpfen. Es lag ganz unten in der Kiste. Er hatte schon ewig nicht mehr mit Kaspers Theater gespielt. Jetzt war ihm danach.

Er lauschte, ob die anderen noch schliefen. Dann hockte er sich hinter das Gestell, schob probeweise den Vorhang zur Seite, warf einen Blick auf sein zerwühltes Bett und schob den Vorhang wieder zu. Auf die linke Hand streifte er das blonde Mädchen, auf die rechte den Polizisten. Er schob den Vorhang beiseite.

Das Mädchen mit den Zöpfen tippelte singend einher, traf den Polizisten und fragte: »Wo geht’s denn hier zu meiner Tante Ella?«

»Zu welcher Tante?«

»Zu meiner!«

»Wer ist denn deine Tante Ella?«

»Na, die Schwester meiner Mama.«

»Wie heißt denn deine Tante Ella?«

»Ella«, sagte das Mädchen.

Max lachte, weil diese Lilli sich so anstellte; als ob der Polizist eine Tante Ella kennen müsste. »Ich kenne aber keine Tante Ella«, sagte der Polizist.

»Meine Tante ist aber sehr bekannt.«

»Aber ich kenne sie nicht.«

»Gerner heißt sie.« Das war schon besser. Der Polizist sagte: »Da vorne rechts rum, das zweite Haus«, und ging ab. Die blonde Lilli sah sich um, da kam die Hausfrau schon hinter dem Vorhang vor, streckte die Arme von sich und rief: »Was für gute Noten du hast!« Sie quiekten beide in den höchsten Tönen. Max fand, dass er ihre Stimmen sehr gut traf. Dann schloss er den Vorhang.

Als der sich wieder öffnete, war Lilli in der Schule, und der Lehrer sagte: »Lilli, du bist doch so klug. Wer war Nikolaus Kopernikus?« Da sagte die blonde Puppenlilli eifrig: »Der Nikolaus kommt im Dezember und bringt allen braven Kindern Geschenke.« Der Lehrer drehte sich auf der Stelle um und brüllte: »Falsch, falsch, falsch«, tauchte ab und gleich wieder auf, sah jetzt aber aus wie das Krokodil. Es riss das Maul auf und schnappte nach Lilli. Das war Max’ Lieblingsspiel: der Lehrer als Krokodil.

Plötzlich stand die echte Lilli in der Tür, noch ganz zerzaust, im Schlafanzug. Sie rieb sich die Augen und frage: »Was tust du da?«

»Ich hab dich gefressen«, rief das Krokodil und verschwand.

Lilli warf die Arme hoch, verdrehte die Augen und lief zurück in Elfis Zimmer. Die schlief aber noch.

Da ließ Max den Kasper tanzen. Wortlos. Das war er. Dann packte er alles weg. Er hatte keine Lust mehr auf Kaspers Theater. Er kam sich auf einmal sehr kindisch vor. Wie hatte Lilli nochmal gesagt? »Du wirst ja ein richtiger Mann!«

Am späten Vormittag hatte sich alles wieder eingerenkt. Elfi und Lilli nahmen ihn sogar mit zur Eisdiele: Erdbeer, Himbeer und Vanille, mit extra Sahne. Lilli bezahlte: »Meine Eltern haben gesagt, ich soll euch beide einladen.« Max bedankte sich, Elfi sagte nur: »Ich revanchier’ mich.«

Sie gingen zur Schreibwarenhandlung Huskes am Markt. Herr Huskes liebte ungewöhnliche Schaufensterdekorationen. Diesmal hatte er mechanische Affen im Schaufenster, die allerhand Bewegungen vollführten. Einer winkte sogar. »Hey Max, der Affe im Schaufenster erkennt dich«, sagte Elfi spitz. »Selber Affe!«, gab Max zurück. Lilli lachte. »Wir müssen echt mal wieder in den Zoo, wenn ihr in Frankfurt seid.«

Dann erzählte sie von Matze, dem Flachlandgorilla, der dort in einem riesigen Gehege hauste. In ihrer Erzählung wurde er zu einem richtigen Ungetüm. Natürlich hatte Huskes keine Gorilla-Dekoration im Schaufenster. »Ich könnt stundenlang im Affenhaus sitzen und die Kerls beobachten«, sagte Lilli. Max verkniff sich seine Bemerkung und aß lieber sein Eis.

Am Spätnachmittag saßen sie im Wohnzimmer herum. Berta, eine von Elfis Freundinnen, war auch da. Doch das Wetter hatte sich eingetrübt, es regnete. Draußen konnten sie nichts machen. Da ging plötzlich die Tür auf. Elfi, Lilli und Berta erschraken. Wer war das denn? Vor ihnen stand jemand, den sie kannten und doch wieder nicht.

Das Wesen hatte eine knallrote Nase, unter einer Strickmütze quoll gelbes Haar hervor. Es trug einen Rock, Strickjacke drüber, drunter ein weißes T-Shirt und sagte kein Wort. War das ein Mädchen oder ein Junge? »Ulrich?«, rief Elfi. Ulrich wohnte nebenan.

Der Mund unter der roten Nase zuckte nicht mal und Elfi versuchte es weiter: »Tutti, bist du es? Mary?!« Keine Antwort. Der lange Rock, die Strickjacke und der strohbehaarte Kopf standen nur da. Elfi sah nach unten: Wieso kamen ihr die Stöckelschuhe so bekannt vor? Und dieser Rock?! »Also Mary, wenn du es nicht bist, dann muss es Jutta sein!«

Erst bebte die Gestalt nur, doch dann fing sie an zu wackeln. Es war weder Tutti noch Mary und schon dreimal nicht die lange Jutta. Max gackerte vor Lachen. Dann schleuderte er die Stöckelschuhe von seinen Füßen und drehte sich dreimal im Kreis.

»Du Hund!«, schrie Elfi und gleich nochmal, »Du Hund!«, und schlug nach ihm. »Du warst an meinem Kleiderschrank!!«, kreischte sie, »Du Hund! Mit Mamas besten Schuhen!« Sie zog an der roten Nase und ließ das Gummiband in sein Gesicht zurückschnalzen. Max zuckte zusammen und jaulte nun wie ein Hund: »Waauuuuuuu, wauuuuuu, auuuuuu!« Er hechelte, rollte auf dem Rücken herum, machte Männchen.

Elfis Zorn schmolz dahin, sie musste trotz alledem lachen. Lilli und Berta stimmten lauthals mit ein. Als sich alle wieder eingekriegt hatten, sagte Elfi nur: »Ach, Max. Immer machst du nur Theater! Du bist und bleibst ein Clown.« Sie wusste gar nicht, wie sehr sie den Nagel auf den Kopf getroffen hatte. Max hatte schon oft überlegt, ob er nicht Clown werden sollte, wenn er mal groß war.

Herr Stimpel, Max’ Klassenlehrer, nannte ihn immer »unser Klassenclown«. Max konnte einfach nicht stillsitzen. Er machte Verrenkungen, um die anderen zum Lachen zu bringen. Und Max liebte Wortspiele, mit denen er sich seine Ergebnisse bei Schularbeiten ruinierte. Es hatte schon Gründe, dass Lehrer Stimpel vor Diktaten oft sagte: »Passt mal auf, meine Lieben, wir üben heute nochmal das Trennen von Wörtern. Dass mir ja nicht wieder einer das Wort komisch wie Komm-Ich schreibt!« Und dann guckte er immer ganz lange zu Max rüber.

Diese langen, harten Blicke war Max auch schon von seiner Mutter gewohnt, die miese Noten abzeichnen und blaue Briefe unterschrieben zurückschicken musste. Statt »Kommt ihr? Komisch!« schrieb er im Diktat: »Kommst du, komm ich!«, statt »Diktat« stand da auch schon mal: »Dicke Tat!« Max konnte einfach nicht widerstehen und er hatte schon ein treues Publikum: Kurt, Willi, David, Adrian und Antonia, die immer so laut über alles lachte. Und natürlich Paul Klapp, Spitzname: die Klappe. Der war sein bester Freund und Vize-Klassenclown.

Nicht alle mochten Max’ Späße: Sie schimpften und beschwerten sich über ihn. Nicht nur Herr Stimpel war ein schlechter Kunde. Auch der Primus verdrehte oft genug die Augen, wenn Max auch nur den Mund aufmachte. Der Primus wollte immer nur Einsen schreiben. Der Primus gab seine Arbeiten immer als erster ab. Der Primus konnte vor lauter Streberei gar nicht mehr gradeaus gucken. Das fand zumindest Max.

Er selbst hielt nicht viel vom Lernen. Zuhause entwarf er lieber kleine Nummern, wie ein echter Clown eben. Er dichtete Spottlieder auf die Lehrer. Er machte das immer mittags, wenn er zuhause eigentlich Bruchrechnen, Wurzeln ziehen oder mit siebenhundert mal nehmen und das Ergebnis dann verdoppeln sollte. Max führte seine Nummern am liebsten in der Mathestunde auf. Dafür hatte Herr Kurzmüller gar kein Verständnis. Der Mann war kein echter Clown, trotz der vielen Nummern. Herr Kurzmüller, Spitzname: der Rechenschieber, schrieb die meisten blauen Briefe und das verstand Max nicht.

Ein Clown wie Max brauchte doch ein Publikum. Vater hatte ihm das nach dem Zirkus mal genauer erklärt: »Was braucht ein Clown? Eine echte Nummer und Zuschauer. Was macht ein Clown ohne Zuschauer? Er spielt ins Leere.« Als Max fragte, was das heißen sollte, antwortete Vater: »Du kannst für dich allein witzig sein, aber damit deine Witze wirklich zünden, brauchst du Leute, denen du sie erzählen kannst.«

Das hatte Max nach etwas Nachdenken auch verstanden. Klar konnte er seine Verkleidungen allein vor dem Spiegel in Elfis Zimmer üben, wenn sie bei Berta oder Jutta war. Aber das kriegte niemand mit.

Vor den Ferien hatte ihn wegen einer Aufgabe des Rechenschiebers die Wut gepackt. Da war er ins Wohnzimmer gelaufen und hatte laut in die Tasten des Klaviers gehauen, auf dem Elfi dienstags und donnerstags zwischen ein und zwei Uhr mit Frau Ohlmüller, ihrer Klavierlehrerin, übte. Doch Max war ganz allein: keiner hörte, dass er Wut hatte, keiner hörte das Klaviergetöse, keinen konnte er ärgern, um seinen Ärger los zu werden. Da hatte er endlich auch begriffen, was sein Vater mal über Wut und Witze gesagt hatte: »Clowns müssen ruhig sein, auf ihren Witz und ihren Auftritt gespannt. Die dürfen keine Miene verziehen.«

»Komik ist eine ernste Sache«, hätte Herr Reckta wohl gesagt, wenn sie Clowns in Gemeinschaftskunde je durchgenommen hätten. Max hatte das beim Clown Luzzi im Zirkus neulich bemerkt: Der schaffte es sogar, zu weinen, als die anderen lachten. Wie machte der das? Max war sich nicht sicher. Er musste noch viel lernen, um ein echter Clown zu werden.

»Zieh meine Sachen aus! Jetzt!«, rief Elfi und riss Max aus seinen Gedanken. Er schlüpfte aus Rock und Strickjacke, und gab ihr auch die Mütze und die strohgelben Haare zurück, Elfis alte Fastnachtsperücke. Sie hatte in Elfis Kleiderschrank gelegen, längst vergessen, genau wie Elfis Lieblingspuppen. Elfi spielte nicht mehr mit Puppen, seit Carl von nebenan sie gefragt hatte, ob sie mal mit ihm Eis essen gehen wollte.

Als Max sich umgezogen hatte und wieder im Wohnzimmer stand, fragte Lilli: »Willst du nicht mal ins Theater?« Max war aber noch nie im Theater gewesen, Elfi auch nicht und auch Berta schüttelte den Kopf. »Wir gehen höchstens mal in den Zirkus. Du warst doch auch schon dabei«, sagte Elfi, »Aber wenn Mutter genervt ist und Krach macht, ruft Vater oft: ›Mach nicht so’n Theater, Luise.‹ Dabei heißt sie doch Ella. Oder er sagt Sachen wie: ›Es ist doch die Aufregung nicht wert‹ oder: ›Schlucks runter. Ist doch alles ganz einfach.‹ Manchmal weint sie und er legt den Arm um sie.«

»Manchmal giften sie sich aber auch an, und dann knallen aber die Türen«, sagte Max, »Neulich hat Mutter die neue Kaffeekanne hingeschmissen und gebrüllt: ›Es ist mir jetzt egal!‹ – Ich bin dann schnell hoch ins Zimmer. Ist das auch Theater?«

Berta fragte: »Hat Theater viel mit Krach zu tun? Bei uns gehts immer gleich ab, wenn Mutter zu schreien anfängt: ›Wie sieht’s hier denn wieder aus? Bin ich denn nur die Aufräumliese?‹ Da duck ich mich lieber weg.«

Lilli nickte: »Das kenn ich. Wenn Vollmond ist, dreht Papa am Rad, sagt Mama. Es stimmt aber; ich krieg bei Vollmond immer Kopfweh. Papa regt sich wegen nix und wieder nix auf und dann ist Drama. Mein Deutschlehrer sagt immer: Das Drama zeigt die Menschen, wie sie sich gegenseitig was antun.« Lilli dachte nach. »Aber echtes Theater ist viel, viel schöner«, sagte sie auf einmal. Sie schnappte sich Max’ rote Clownsnase, setzte sie auf, ging in Elfis Zimmer, trat vor den Spiegel und musste grinsen. Sie sah gleich anders aus, als machte sie sich über sich selbst lustig. Was so eine Pappnase alles mit einem Gesicht anstellte! Sie nahm die Nase gleich wieder ab.

»Ich war schon mal in einem richtigen Theater. Mit Papa. Das war ganz toll,« sagte Lilli, als sie zurück ins Wohnzimmer kam, »Das Stück hab ich nicht kapiert. Es ging um einen alten Mann, der so tat, als sei er sehr krank. Papa meinte, das ist ein altes Stück und es käme vielleicht auch irgendwann in der Schule dran.

Der Dichter hieß Molière, sagte Papa. Er war in Frankreich ganz berühmt. Bei der Aufführung war dieser eine Schauspieler, ein ganz kleiner zarter Kerl, nicht mehr jung, mit so großen Augen und langen Armen. Das war der Allerbeste. Er hatte ein ganz schmales Gesicht.

Er stand auf einmal auf der Bühne und hat Fratzen gemacht. Und wackelte so beim Laufen. Und er hat so lustig mit den anderen geschimpft und dabei die Arme hochgeworfen.«

Lilli warf die Arme hoch, zog eine Schnute und drohte ihnen mit dem Finger: »So hat er das gemacht.«

Elfi, Berta und Max lachten. Dann erzählte Lilli weiter: »Der war so witzig, ich bin aus dem Lachen gar nicht mehr rausgekommen. Ich hab die Leute neben uns richtig angesteckt. Irgendwann lachte das ganze Theater. Der Schauspieler hat das gemerkt und mich so angeguckt.

Am Ende hab ich wirklich gedacht, der spielt nur für mich. Ich glaube, ihm ist immer noch was eingefallen, weil ich so gelacht hab. Ich wollte gar nicht mehr heim und war so traurig, als dann Schluss war.« Lilli guckte ganz wehmütig: »Ich hab beim Schlussapplaus wie wild geklatscht. Das vergess’ ich nie.«

Die anderen hatten so was noch nie erlebt. Elfi meinte: »Die haben echt alle wegen dir gelacht?« Berta guckte auch ein bisschen skeptisch und Max fragte: »Meinst du, das war ein Clown?« Lilli schüttelte den Kopf: »Clowns gibts nur im Zirkus. Das war ein richtiges Theaterstück, mit ganz vielen Schauspielern. Aber im echten Leben gibts doch auch genug Clowns.« Lilli zwinkerte Max zu und der kriegte vor Verlegenheit ganz rote Ohren.

Dann sagte Lilli: »So einen hat dieser Schauspieler gespielt. Die anderen auf der Bühne haben es gar nicht bemerkt. Die Zuschauer aber wohl.«

Max straffte sich, er stand jetzt ganz aufrecht da: »Ich will auch mal ins Theater. Gibts dort immer was zu lachen, so wie bei dir?«

Lilli sagte: »Das ist wohl nicht immer so. Es gibt auch ernste Stücke mit ganz vielen Toten. Tante Hildchen kam neulich und sagte: ›Dass im Theater immer die Leute sterben müssen!‹ Sieben Tote hat sie gezählt. Die sind nach dem langen Abend auf der Bühne herumgelegen. Es muss furchtbar gewesen sein. Erstochen, erschossen und vergiftet haben die sich. Und nicht nur die Männer.«

Jetzt waren sie alle ganz still, weil sie sich all die Schauspieler vorstellten, die den ganzen Abend da herumliegen und sich tot stellen mussten. Wie kriegen die das nur hin?, dachte Max und zuckte zusammen, als Elfi ihn plötzlich anfuhr: »Du! Meine Kleider ziehst du nicht mehr an! Und überhaupt: Du kommst mir nicht mehr in mein Zimmer!« Max tat entsetzt und ging ab, humpelnd, als sei er ein Schauspieler, der einen Verletzten spielte. »Guck«, sagte Berta, »er übt schon«, und alle lachten.

Ein Clown von dreizehn Jahren

Am Mittwoch feierte Max seinen dreizehnten Geburtstag. Alle waren da: Kurt, Willi, David, Adrian und Paule. Paule hatte seine Puppen aus Pappmaché mitgebracht. Die bastelte und bemalte er selbst und steckte sie auf kleine Holzstöckchen. Er hatte eine ganze Kiste voll dabei, stellte sie alle der Reihe nach auf, und plötzlich stand da eine ganze Puppengesellschaft. Auch einen Teufel hatte er und eine Hexe.

Lilli und Elfi schauten nur ganz kurz rein, um sich ihr Stück Kuchen zu sichern. »Ist die Hexe die einzige Frau in eurem Männerklub?«, fragte Elfi. Max ignorierte seine Schwester und sagte zu Paule: »Du hast immer noch keinen Clown.«

»Die gibts nicht auf der Straße«, sagte Paule, »Ich hab noch nie einen Clown auf der Straße herumlaufen sehen.« Max glaubte ihm nicht: »Hexen und Teufel seh ich da aber auch nicht so oft.« Er war drauf und dran, Paule mal einen echten, lebendigen Clown zu zeigen: sich selbst. Hätte er jetzt weiße, schwarze und rote Schminke gehabt, er hätte spontan eine Nummer aufgeführt. Statt dessen sagte er zu Paule: »Bau doch mal einen Clown.« Paule grinste: »Den nenn’ ich dann Max.«

Elfi lachte beim Hinausgehen. Ins Theater wäre sie auch gern gegangen. Aber Clowns konnte sie nicht ab. »Clowns find ich das Allerletzte«, sagte sie beim Abendessen. Mutter hatte sich gerade in den Daumen geschnitten und lutschte daran. »Verschluck dich nicht«, sagte der Vater, und Mutters Augen blitzten. Elfi wiederholte ihren Satz und sagte: »Clowns sind so hässlich und können garnix.«

Max war sauer: »Die können wohl was, du Pute!« Ihm war der Appetit vergangen, dabei hatte Mutter extra zur Feier des Tages Kartoffelsalat mit Bockwürstchen gemacht. Der Vater pustete über Mutters Schnitt, wickelte ihr ein Pflaster um den Daumen und sagte mit einem kurzen Seitenblick auf Max: »Was redest du da, Elfi? Es gibt sehr kluge und schöne Clowns. Ich hab euch doch schon so oft von den Weißclowns erzählt.« Elfi guckte ihn bloß an und zuckte mit den Schultern.

»Gut, dann erzähl ich es eben nochmal«, sagte Vater, »Im Zirkus sind die Rotclowns, die Auguste, mit der großen Klappe und den Latschfüßen oft in der Überzahl. Es gibt aber auch die Weißclowns, die Pierrots.

Die sind richtige Schönlinge, treten weiß geschminkt und in seidenen Kostümen auf und haben einen ganz anderen, trockenen Witz. Sie sind manchmal der Gegenspieler oder der Chef des August, spielen aber auch tragische Rollen oder Musikinstrumente.«

Elfi zog ein Gesicht. Sie konnte sich den frechen Max nicht als tragischen Clown vorstellen. Und schön? Sie konnte da nur lachen. Wie krumm der Kerl da am Tisch saß und schmollte. Immer verdrehte er die Augen, wenn sie was sagte. Jetzt streckte er ihr sogar heimlich die Zunge heraus... Da fehlte nur noch die rote Nase. »Wer einen Clown spielen will, darf selber keiner sein«, sagte Elfi spitz. Sie wusste gar nicht, woher sie das wusste. Sie lächelte. Ihr gefiel der Satz.