Über das Buch

Köln, 1838: Seite an Seite mit ihrem Vater arbeitet Anna Sophia jeden Tag in der Apotheke am Neumarkt. Ihre Hustenbonbons schmecken nicht nur köstlich, sondern helfen auch bei so manchen Beschwerden. Als der Apothekergeselle August um ihre Hand anhält, scheint ihre Zukunft gesichert, doch dann wird ihr Vater schwer krank. Anna Sophia beobachtet August dabei, wie er Medikamente vertauscht, und ihr kommt ein ungeheuerlicher Verdacht: Steckt er etwa hinter der plötzlichen Krankheit ihres Vaters? Während die Apothekertochter verzweifelt versucht, Licht ins Dunkel zu bringen, kehrt der Zuckerbäcker Franz Stollwerck, der schon als kleiner Junge in sie verliebt war, nach Köln zurück. Als er sie bittet, seine Frau zu werden, stimmt sie zu, ohne zu ahnen, vor welche Schwierigkeiten sie diese Entscheidung stellen wird. Franz eröffnet eine Bäckerei, und Anna Sophia hat eine Idee: Sie werden süße Hustenbonbons anbieten! Doch die Apotheker der Stadt stellen sich ihnen in den Weg, schließlich dürfen bisher nur sie Heilmittel verkaufen.

Über Rebekka Eder

Rebekka Eder, 1988 in Kassel geboren, hat Theaterwissenschaft und Germanistik in Berlin, Erlangen und Bern studiert und gleichzeitig ihre ersten Romane veröffentlicht. Nachdem sie als Werbetexterin und Journalistin gearbeitet hat, konzentrierte sie sich schließlich ganz auf ihre Leidenschaft. Sie lebt und schreibt in Nordhessen.

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Rebekka Eder

Die Schokoladenfabrik - Die Tochter des Apothekers

Roman

Mutter, löse die Spangen mir!

Mich hat ein Fieber befallen,

Denn das Fenster ließest du auf,

Das immer sorglich verhängte.

Verliebt, Annette von Droste-Hülshoff

Man nehme:

Gänseblümchen, Eibischwurzel, Süßholz, Mohnblüten, Huflattich, irländisches und isländisches Moos,

mahle sie mit einem Mörser,

gebe Souchong-Tee und destilliertes Wasser hinzu,

versiede Zucker und mische ihn unter den Brei aus Heilkräutern.

Teil 1

1838

1. Kapitel

Anna Sophia konnte es kaum erwarten. Während sie die Arzneifläschchen ordnete, schaute sie immer wieder zu ihrem Vater hinüber. Würde er es ihr heute erlauben? Am Rücken, den er ihr zuwandte, konnte sie keine Hinweise auf seine Stimmung ablesen. Wie ein knorriger Baum stand Gottlieb am Tresen seiner Apotheke. Er stützte sich auf die Fingerspitzen, während er in sein Kassenbuch starrte. Anna Sophia verglich ihn gern mit dem Lindenbaum, der direkt vor der Ladentür seine Äste und Blätter in den Himmel reckte. Er war genauso stark, unverrückbar, in dieser Stadt verwurzelt wie er. In letzter Zeit aber auch etwas ausgedünnt, seine Äste schienen trocken. Der Baum hatte schon bessere Tage gesehen, und doch wirkte er noch immer herrschaftlich. Auch an diesem schon fortgeschrittenen Abend. Durch das Schaufenster und die Äste der Linde konnte Anna Sophia den Neumarkt Kölns sehen, auf dem nur noch vereinzelt Mägde mit ihren weißen Hauben und an Armen baumelnden Körben über die Straße eilten. Wenn sie Glück hätte, würde ihr Vater den Laden in Kürze für heute schließen.

»Anna Sophia? Hörst du nicht?«, fragte ihr Vater, ohne den Kopf zu heben. Sie zuckte zusammen. Hatte sie mal wieder geträumt? Verflixt nochmal, dachte sie. Wieso musste ihr das ständig passieren?

»Entschuldige, Papa, was hast du gesagt?«

»Ob deine Schwestern versorgt sind, habe ich gefragt.«

»Natürlich. Betty ist bei ihnen.«

Die Haushälterin der Familie war immer bei ihren Schwestern. Während der Hausarbeit betreute sie die Kleinen, Julie und Elise, und gleichzeitig hatte sie noch ein offenes Ohr für die sechzehnjährige Wilhelmine.

»Ich nehme an, die Regale sind sauber?«

»Blitzblank«, bestätigte Anna Sophia. Ihren stolzen Blick konnte er nicht sehen, denn er drehte sich noch immer nicht um. Doch es stimmte: Sie hatte sämtliche Regale abgestaubt, die sich an den Seiten der Apotheke fast bis unter die Decke drängten und in den oberen Reihen mit Schachteln, Dosen und Karaffen gefüllt waren. Auch die Türchen der Schubladen in den unteren Reihen hatte sie abgewischt, und die bronzefarbenen Verzierungen, die den Abschluss der Regale bildeten, glänzten in der Abendsonne. Sogar den Apothekertisch, auf den sich Gottlieb gerade stützte, hatte sie ausgeräumt und seine kleinen Schubladen gesäubert. Neben dem dicken Kassenbuch leuchtete die große Waage mit den bronzenen Schalen – auch die hatte sie poliert. Sie liebte es, wenn die Apotheke so glänzte wie jetzt.

»Nun gut«, sagte er. Gleich würde er es ihr erlauben, doch in diesem Moment läutete das Glöckchen über der Ladentür. Anna Sophia bemühte sich, nicht die Augen zu verdrehen. Wieso musste kurz vor Ladenschluss immer noch jemand hereinkommen? Diesmal war es ein Bediensteter, doch als Anna Sophia ihn erkannte, wich sie erschrocken zurück. Sie stieß gegen den Apothekerschrank und die Fläschchen zitterten. Der Mann hatte Schatten um die Augen, lichtes Haar und bis auf den Leberfleck, der auf seiner Stirn prangte, sah er aus wie ein gewöhnlicher Dienstbote. Dennoch wusste sie genau, wer er war und für welche Familie er arbeitete. Ob er sich wohl auch an sie erinnerte? Damals war Anna Sophia ein Kind gewesen, trotzdem wusste sie noch genau, wie sie zum ersten Mal an die fremde Tür geklopft hatte, mit zahlreichen Medikamenten im Gepäck. Und welcher Mann sie hereingebeten und die Tür hinter ihr geschlossen hatte. Sie kniff Lippen und Augen zusammen. Daran wollte sie sich nicht erinnern, nie wieder. Mit aller Kraft schob sie die Bilder beiseite, doch sie machte dadurch nur Platz für eine weitere Erinnerung: Es war ein sonniger Tag im September, an dem sie eigentlich Brot und Äpfel hatte kaufen wollen. Sie stand in einer schmalen Gasse, die von der Bäckerei in Richtung Dom führte. Fast fühlte Anna Sophia wieder den kalten Stein der Fassade in ihrem Rücken, sie sah wieder, wie jemand auf sie zukam: eine große Gestalt, ein breites Grinsen. Anna Sophia schloss die Augen, atmete tief ein und aus, bevor sie sie erneut öffnete und sich zwang, wieder in der Gegenwart der Apotheke anzukommen.

Mittlerweile war der Bedienstete näher an ihren Vater herangetreten. »Ich komme mit einem … komplizierten Anliegen. Herr Mertens fühlt sich nicht wohl. Er hat einen fürchterlichen Husten.«

Gottlieb nickte. »Was sagt der Arzt?«

»Er zieht … nun, ja … eine Schwindsucht in Betracht. Aber ein vornehmer Mann wie Herr Mertens … Woher soll er denn die Schwindsucht haben?«

Gottlieb wendete sich zu seiner Tochter um. Die Enden seines weißen, gezwirbelten Schnurrbarts hingen bereits ein wenig hinab – wie immer, wenn sich der Tag gen Abend neigte. »Anna, rufst du bitte nach August?«

Anna Sophia nickte, drehte sich um und öffnete die Hintertür neben dem Apothekerschrank. Während sie den Gang entlanglief, spürte sie, wie ihr Herz schneller schlug. Heute hatte sie gar nicht mehr damit gerechnet, ihn noch einmal zu treffen. Für gewöhnlich experimentierte der Gehilfe ihres Vaters im Hinterzimmer bis spät in die Nacht mit Medikamenten. Wenn er das Haus verließ, war sie schon längst oben auf ihrem Zimmer. Nun atmete sie tief ein, um ihre Nervosität zu bekämpfen, und klopfte.

»August?«

Sie hörte ein Räuspern, Schritte, dann ging die Tür auf.

»Anna Sophia! Ist alles in Ordnung?«

»Ja, ähm, nein, also …«, stammelte sie. August lächelte munter, seine Augen funkelten, und sein lockiges Haar zeigte rechts und links seiner Ohren fröhlich in die Luft. Er legte wie ein galanter Diener eine Hand auf den Rücken. »Oh. Was ist geschehen?«

Wenig später stand Anna Sophia wieder mit verschränkten Fingern vor dem Apothekerschrank und beobachtete das Gespräch zwischen den drei Männern am Tresen.

»Könnten Sie Herr Mertens’ Zustand ein wenig genauer beschreiben?«, bat Gottlieb den Dienstboten.

»Der Herr ist seit drei Tagen sehr erschöpft.«

»Leidet er unter Nachtschweiß?«, fragte August, während er sein Monokel zwischen Augenbraue und Wange klemmte. Gottlieb belohnte ihn für diese Frage mit einem kaum merklichen Nicken.

»Ich fürchte, ja.«

»Appetitlosigkeit?«

»Er isst seit Tagen nicht mehr.«

»Bekommt er Fieberschübe?«

»Tagsüber sinkt das Fieber, aber nachts ist es schlimm.«

August zog eine Braue hoch und ließ dabei das Monokel von seinem Auge springen, so dass es an der silbernen Kette von seinem Hals baumelte. »Mmh.« Er sah den Apotheker an.

»Wir empfehlen Herrn Mertens dringend, auf den Rat seines Arztes zu hören«, übernahm Anna Sophias Vater. »Er braucht viel frische Luft und Bettruhe. Am besten wäre der Besuch eines Sanatoriums. Wir hätten außerdem eine exzellente Gesundheitsschokolade im Sortiment. Sie erfrischt und vermehrt die Lebensgeister, hilft gegen Husten und erweicht kalten und zähen Schleim.«

Der Diener kratzte sich an der Stirn oberhalb seines Leberflecks. »Nun ja, was soll ich sagen? Er bittet lediglich um Ihre Hustenbonbons, Herr Müller.«

Gottlieb seufzte und sah über die Schulter zu seiner Tochter. »Haben wir noch welche?«

Anna Sophia konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. »Wenige, Vater«, sagte sie und hob ein großes Glas vom Regal. Mit einer Kelle fischte sie die letzten verbliebenen Kräuterbonbons heraus und wickelte sie in Papier.

Der Mann zahlte und nahm die Bonbons an sich. Dann griff er nach der Türklinke – und hielt inne. Mit einem Mal schüttelte ihn ein heftiger Hustenanfall. Er krümmte sich, und während er nach Luft rang, röchelte und japste, fiel ihm das Bonbonpäckchen aus der Hand. Noch in der Luft öffnete sich das Papier, die Bonbons fielen herunter und kullerten einzeln über den Fußboden.

Als der Mann gegangen war, kniff August die Lippen zusammen. Gottlieb zwirbelte sich mit den Fingern beider Hände den Schnurrbart zurecht. Und Anna Sophia trat von einem Fuß auf den anderen.

»Schwindsucht bei einem Mann wie Herrn Mertens …? Wirklich sehr unwahrscheinlich«, brummte Gottlieb.

August nickte. »Unwahrscheinlich ist es. Aber nicht unmöglich.«

»Anna, du kannst schon hochgehen, ich schließe das Geschäft für heute.«

Anna Sophia nickte ihrem Vater zu, allerdings machte sie noch keine Anstalten, zu gehen.

»Ist noch was?«

Er würde es doch nicht vergessen haben? Sie legte den Kopf schief, doch noch bevor sie etwas erwidern konnte, rief er schon aus: »Ach, die Zuckerlieferung! Natürlich! Was stehst du hier noch herum? Na, geh schon!«

In der Mitte der Küche blieb Anna Sophia stehen. Endlich! Dieser Teil des Tages gehörte allein ihr. Durch das kleine Fenster fiel das letzte Sonnenlicht des Abends, und in seinen Strahlen funkelte der Staub in der Luft. An der steinernen Wand stand der große Feuerherd, der seit Kurzem sogar mit einem Wasserschiff ausgestattet war. Darüber hing das kupferne Kochgeschirr an großen Haken an der Wand. Und auf dem Küchentisch lag der Beutel Zuckerhüte, den der Vater hatte ergattern können. Auch der Mörser, der normalerweise im Hinterzimmer der Apotheke seinen Platz hatte, stand bereit. Wanne und Stab waren aus glänzendem Kupfer, seine Füße aus fein geschnitztem Holz. August hatte ihn für Anna Sophia hochgetragen. Als er hinter ihr in die Küche getreten war, hatte ihr Herz schon wieder wie verrückt gepocht. Seit wann machte dieser Mann sie eigentlich so nervös? Sie konnte sich noch gut an seinen ersten Tag als Geselle erinnern. Er war ein Jahr jünger als sie und damals gerade fünfzehn Jahre alt gewesen. Viel kleiner als heute und mit etwas zu langen Locken hatte er hinter dem mit Fläschchen und Schüsseln beladenen Tresen gestanden. Er hatte sich schüchtern umgeschaut und leise und vorsichtig gesprochen, so dass sie über ihn hatte schmunzeln müssen. Wann hatte sich diese Situation dermaßen verändert? Mittlerweile war er achtzehn Jahre alt und hatte eine so vornehme, bescheidene Selbstsicherheit angenommen, dass ihr manchmal ganz schwindelig wurde.

Sie schüttelte den Kopf, um die Gedanken loszuwerden, und öffnete den Küchenschrank. Im obersten Regal standen die Gläser, in denen sie ihre Lieblingskräuter aufbewahrte: darunter Huflattich, Mohnblüten, Eibisch und Süßholz. Daneben standen kleine Behälter mit getrockneten Gänseblümchen, isländischem und irländischem Moos. Ihr Vater durfte niemals erfahren, warum sie ausgerechnet diese Kräuter für ihre Sammlung ausgewählt hatte. Zum Glück hatte er keine Ahnung, wie Anna Sophia auf ihr Rezept gekommen war. Wüsste er es, würden seine morgens so fröhlich gezwirbelten Bartspitzen vor Enttäuschung wahrscheinlich ganz plötzlich schlaff herabhängen. Und schon bei dieser Vorstellung bekam sie ein schlechtes Gewissen. Sie wollte ihren Vater keinesfalls enttäuschen. Für die ganze Familie wäre es besser, wenn er niemals hinter ihr Geheimnis käme.

Zunächst holte sie das Glas mit den Gänseblümchen heraus; ihr süßlicher Duft ließ Anna Sophia an einen milden Frühling denken, an einen Sommertag und eine bunte Blumenwiese. Großzügig streute sie die Blätter in die Kupferschale des Mörsers. Anschließend fügte sie den geruchlosen Huflattich hinzu, der Hustenreiz linderte und gleichzeitig das Abhusten erleichterte, und mischte einige krautig beruhigend riechende Mohnblätter hinzu – ein hervorragendes Mittel gegen Schmerzen. Als sie den Deckel des Eibisch-Glases öffnete, vermied sie es, durch die Nase zu atmen. So blumig Eibisch auch duftete, wenn er als Staude wuchs, so eigenartig dunkel und stechend rochen seine Wurzeln in getrocknetem Zustand. Schnell schüttete sie davon einen kleineren Teil in die Wanne. Mit kreisenden Bewegungen zerstieß sie die Kräuter, bis sie zu einem feinen Pulver gemahlen waren und ihr Geruch in der Küche hing. Zuletzt fügte sie die Moossorten und das Süßholz hinzu und atmete tief ein. Wie sehr sie jeden Schritt dieser Prozedur liebte. Seit Monaten verfeinerte sie dieses Rezept nun immer weiter, und jedes Mal dachte sie wieder daran, wie es angefangen hatte: Vor einem Jahr war Julie, ihre kleinste Schwester mit den größten Ohren, so erkältet gewesen, dass sie kaum hatte sprechen können. Die Heiserkeit war eines Morgens plötzlich da gewesen und tagelang geblieben. Anna Sophia wusste zwar, welche Kräuter bei Heiserkeit halfen, doch die Kleine hatte sich beim Gurgeln so heftig verschluckt, dass sie nur noch geweint und den Kopf geschüttelt hatte, sobald sie ihr Tee gereicht hatte. Ratlos hatte Anna Sophia in der Küche gestanden und darüber nachgedacht. Was könnte sie Julie geben, damit sie die Kräuter lang genug im Mund behielt? Dass ausgerechnet die Haushälterin Betty sie auf die rettende Idee bringen würde!

Anna Sophia machte Feuer im Herd und goss Wasser in einen Topf. Nun war es so weit: Sie gab die Blätter des Souchongs hinzu und ließ den Tee aus dem chinesischen Wuyi-Gebirge aufkochen. Schnell legte sich sein rauchig würziger Duft über den der Kräuter. Gemeinsam mit dem Wasser, das sie schon am Vormittag destilliert hatte, mischte sie ihn unter die Kräuter und begann dann mit dem Versieden des Zuckers. Wie so oft erinnerte sie sich an Bettys Worte: »Du musst genau aufpassen, Mädchen. Der Zucker muss heftig kochen – und lange, damit er flüssig wird. Aber nicht zu lange, sonst verbrennt er. Wichtig ist der genau richtige Moment.«

Während der französischen Besatzung Kölns, als Betty noch ein junges Mädchen gewesen war, hatte die Haushälterin bei einer wohlhabenden Pariser Familie gearbeitet, die sie das Karamellisieren gelehrt hatte. Die Familie lebte mittlerweile wieder in Paris, aber einen Teil ihrer Kenntnisse hatte sie in der Stadt am Rhein zurückgelassen. Wie ein Geschenk, dachte Anna Sophia. Betty hatte es damals lediglich genutzt, um an Feiertagen kleine Köstlichkeiten wie Zuckerstangen für die Kinder herzustellen. Doch Anna Sophia hatte angesichts Julies Heiserkeit mithilfe ihrer Kräuter aus harten Zuckerwürfeln ein Heilmittel erschaffen. Aufmerksam schaute sie nun in den Kessel. Ein paar Sekunden noch. Drei, zwei, eins …

»Wie fürchterlich gemein du bist!«, rief ein helles Stimmchen hinter ihr.

»Du hast uns kein Wort gesagt!«

»Ich habe nur zufällig das Feuer gehört, sonst hätten wir es alle verpasst!«

Anna Sophia drehte sich um. Nacheinander drängten sich ihre Schwestern in die Küche. Vorneweg Julie. Normalerweise war die Sechsjährige ein stilles Kind, doch in diesem Moment, als sie Anna Sophia vor dem brodelnden Kessel stehen sah, strahlte sie übers ganze Gesichtchen. Sie wurde angeschoben von Elise, die zwei Jahre ältere und um einiges rosigere Schwester mit den dunkelsten Haaren und den schwärzesten Augen der Familie. Als Letzte folgte Wilhelmine. Ihr Rock war wie immer zerknittert, ihre dunkelblonden Haare leicht zerzaust und ihr ebenmäßiges Gesicht mit den markanten, dunklen Augenbrauen glänzte.

»Dass ihr immer im falschen Moment hier auftaucht!« Anna Sophia pustete sich eine Haarsträhne aus der Stirn. Hastig zog sie sich die Lederhandschuhe über, die neben dem Kochgeschirr an der Wand hingen, und hob den Kessel vom Herd.

»Vorsicht, heiß!«

Sofort stoben die Mädchen auseinander – aber nur, um aus sicherer Entfernung zu beobachten, wie Anna Sophia die kochende Zuckermasse auf die Steinplatte goss, die sie neben dem Herd bereitgelegt hatte.

»Die Kräuter fehlen noch, oder?«, rief Elise.

»Sehr gut.« Anna Sophia lächelte sie über die Schulter hinweg an. Mit beiden Händen griff sie nach der Mörserschale und hob sie hinüber zur Steinplatte. Dann goss sie die Masse in den Zucker.

»Wie das duftet«, piepste Julie. In der Küche hatte sich ein süßlicher Geruch ausgebreitet, der nun von den heiß werdenden Kräutern verfeinert wurde. Mit einem Kupferlöffel schob Anna Sophia die Masse hin und her. Sie musste abkühlen, durfte aber nicht zu fest werden. Hinter sich hörte sie, wie die Stuhlbeine über den Steinboden kratzten – ihre Schwestern setzten sich an den großen Küchentisch.

»Darf ich das allererste Bonbon essen?«, rief Elise aufgeregt.

»Sei still«, sagte Wilhelmine. »Du willst doch nicht, dass Vater uns hört.«

»Jetzt ist der Zucker doch noch viel zu heiß«, wandte Julie ein und wieder mal fiel Anna Sophia auf, dass die Kleinste für ihr Alter schon viel zu klug war.

»Ich meine doch auch, wenn er nicht mehr heiß ist.« Anna Sophia konnte beinahe hören, wie Elise bei diesen Worten die schwarzen Augen verdrehte.

Nun war es endlich so weit. Die zuckrige Kräutermasse war genauso zäh, wie Anna Sophia sie haben wollte. Also begann sie, sie zu kneten und zu rollen. Durch die Lederhandschuhe hindurch fühlte sie die Hitze, beobachtete, wie sich das Grün der Kräuter im Zucker verteilte und wie er dabei geschmeidiger und fester wurde. Zuletzt rollte sie ihn zu langen Stangen. Jetzt musste es schnell gehen. Stange um Stange zog sie aus der Masse und legte sie auf dem Tisch ab.

»Darf ich eine?«, rief Elise und Wilhelmine schlug ihr sachte auf die Finger.

»Natürlich nicht«, antwortete sie mit einem Lachen in der Stimme. »Immer das Gleiche mit dir!«

Zuletzt legte Anna Sophia die hart gewordenen Stangen über eine große Schüssel und schlug mit einem Messer mundgerechte Stücke ab. Mit einem Klackern purzelten die Bonbons in die Schale.

»Wieso kannst du das so gut?«, fragte Elise.

»Weil ich das schon so oft gemacht habe«, sagte Anna Sophia.

»Naja, so oft nun auch nicht, oder?« Wilhelmine musste einfach immer widersprechen. »Ich glaube, du hast einfach Talent. Schon deine allerersten Bonbons für Julie waren köstlich.«

»Das stimmt!«, piepste Julie. »Und ich konnte noch am gleichen Abend wieder sprechen! Deswegen verkauft Papa sie ja auch in der Apotheke. Manchmal glaube ich, deine Bonbons können zaubern!«

»So?« Anna Sophia sah die Kleine einen Moment lang mit möglichst geheimnisvollem Blick an. »Wieso glaubst du das nur manchmal?« Sie zwinkerte.

Als ihre Schwester damals ihre allerersten eigenen Bonbons gelutscht hatte, da war sie selbst kaum aus dem Staunen herausgekommen. Seit Tagen hatte Julie kein Wort herausgebracht – und schon nach einem Bonbon konnte sie wieder sprechen! Wo zuvor kein Laut gewesen war, war nun zumindest ein Krächzen. Anna Sophia hatte es zuvor schon geahnt, doch in diesem Augenblick war ihr klar geworden, welche Macht die Natur besaß. Und wie viel Anna Sophia den Menschen um sich herum helfen könnte, wenn sie diese Macht nur richtig einsetzte. Damals hatte sie beschlossen, dass sie genau das ihr Leben lang tun wollte: die Natur verstehen lernen, um anderen zu helfen. Wie gut, dass sie in eine Apotheke hineingeboren worden war. Sie konnte sich keinen Ort vorstellen, der mehr mit Magie zu tun hatte.

»Darf ich jetzt endlich eins?«, rief Elise.

»Na gut.« Anna Sophia nickte. »Jede von euch darf sich ein Bonbon nehmen. Aber nur eins! Und wie immer: Bloß kein Wort zu Vater! Ihr wisst, was dann los ist.«

Und während drei Hände gleichzeitig in die Schüssel griffen, flog die Küchentür auf.

»Anna Sophia, bist du hier?« Bettys Kopf schaute zur Küche herein. Normalerweise konnte die hagere Haushälterin mit den starken Armen und den kurzen Beinen nichts aus der Ruhe bringen. Ihr Dutt saß weit oben auf dem Kopf und ihre eisblauen Augen schauten in die Welt, als hätten sie schon alles gesehen. Doch in diesem Moment war es anders. Anna Sophia wusste sofort, dass etwas nicht stimmte. Betty war hochrot im Gesicht. »Es geht um deinen Vater – komm schnell.«

2. Kapitel

Victor Mertens leckte sich über die Lippen. Er kratzte sich die Halbglatze. Dann rümpfte er die Nase.

»Es wird Zeit, findest du nicht?«, fragte er.

»Ha«, machte Ferdinand abfällig und warf sich eine blonde Strähne aus der Stirn.

Warum nur hatte sein Bruder so volles Haar und eine so hohe Denkerstirn – Victor aber nicht? Er und Ferdinand saßen in ihrer Kutsche und warteten vor der Weinhandlung ihres Onkels, der wohl größten und beliebtesten der ganzen Stadt. In der Wohnung darüber hatten sie einen Großteil ihrer Kindheit verbracht, allerdings hatten sie diese Räume seit Jahren nicht von innen gesehen. Und das würde sich auch am heutigen Tag nicht ändern. Darum konnte ihre Mutter sie noch so eindringlich bitten. Es zeigte genug guten Willen, dass sie ihre Kutsche zumindest hatten hierher lenken lassen. Ihre Mutter konnte sie vom Schlafzimmerfenster aus sehen – das musste genügen.

Obwohl die Sitze samtrot gepolstert waren, tat Victor so langsam der Hintern weh. Er rutschte hin und her, beugte sich nach vorn und betrachtete die geschwungenen Lettern auf der Steinfassade: Mertens Weine und Spirituosen. Darunter konnte er durch zwei Fenster einen Blick auf die hölzernen Fässer erhaschen. Ohne es zu wollen, betrachtete Victor auch sein eigenes, schemenhaftes Spiegelbild in der Scheibe. Wann war er eigentlich so alt geworden? Ach, der Eindruck täuscht, versuchte er sich einzureden. Sicherlich lag es nur an den schlechten Lichtverhältnissen an diesem Abend.

»Ah, da kommt er endlich!« Ferdinand zeigte in die enge Gasse mit den krummen Giebeldächern, die vom Dom aus in Richtung Weinhandlung führte. Dort trat gerade der Diener der Familie Mertens aus dem Schatten. In den Armen hielt er ein riesiges Käserad.

»Was soll das denn? Bonbons solltest du holen«, rief Ferdinand ihm entgegen, während er sich aus der Kutsche beugte. »Wenn der alte Herr mittlerweile tot ist, weil du noch Käse kaufen warst, bist du schuld, hast du verstanden?«

Bei ihnen angekommen, entschuldigte sich der Diener keuchend. »Ihre Mutter … Sie hatte mich gebeten, auf dem Weg auch Käse … aber die Bonbons habe ich natürlich auch …«

»Spar dir deine Ausreden!«, herrschte Ferdinand ihn an.

»Und … nun, ja … sind Sie sich sicher, dass er keine weiteren Medikamente will?«

Victor konnte kaum glauben, was er da hörte. Wagte es dieser Mann tatsächlich, die Worte seines Bruders in Zweifel zu ziehen? Ruckartig richtete er sich auf, stieß mit dem Kopf gegen die Kutschendecke und fluchte.

»Was erlaubst du dir?« Victor bemerkte, wie seine eigene Stimme bei jedem seiner Worte schriller wurde. »Wenn ich noch einen Ton des Widerspruchs vernehme, dann …«

Ein Keuchen unterbrach ihn. Auf der Straße krümmte sich der Diener plötzlich zusammen, hustete wie wild auf den Käse und rang nach Luft. Die beiden Mertens-Brüder wichen zurück und sahen einander mit entsetzten Mienen an. Victor war sich nicht ganz sicher – schmunzelte sein Bruder in diesem Moment etwa ein wenig?

»Schon gut«, sagte Ferdinand dann mit sanfter Stimme zum Diener. »Geh hoch und bring unserem Onkel die Bonbons.«

So schnell der Mann es mit dem Käse in der Hand schaffte, hastete er an der Kutsche vorbei und durch die Tür neben dem Laden ins Wohnhaus.

Es dauert nicht lange, bis sich die Tür wieder öffnete. Diesmal war es ein junges Mädchen, das schüchtern herausschaute. Victor beugte sich weit durch die Kutschentür nach draußen und rief: »Oh, na, guten Tag!«

Sie trug Haube und Kleid eines Dienstmädchens. Victor sprangen sofort ihr helles Dekolleté und die glatte Haut ins Auge. Er legte den Kopf schief, um ihren Blick aufzufangen, doch sie sah schüchtern zu Boden. Er widerstand dem Drang, aus der Kutsche zu springen und ihr Kinn zu fassen, um ihre Blickrichtung selbst bestimmen zu können.

»Ihre Mutter schickt mich«, murmelte sie statt einer Begrüßung. Was war nur los mit dem Personal? Hatte die Schwindsucht in diesem Haus nun auch den Respekt ihm gegenüber dahingerafft? »Sie lässt nach einem Arzt für Herrn Mertens schicken. Sie sagt, es sei dringend.«

»Wie dringend?« Ferdinand warf sich eine Strähne aus der Stirn.

»Sie sagt, er stirbt, es dauert nicht mehr lang. Er braucht einen Arzt, aber von uns will sie niemanden schicken. Wir sollen bei ihr bleiben, sagt sie.«

»Nun gut.« Ferdinand drehte seinen Stock in den Händen. »Sag ihr, ein Arzt ist unterwegs.«

Sie nickte und verschwand wieder.

Victor runzelte die Stirn. »Nach wem möchtest du schicken lassen?«

»Nach niemandem. Ich habe eine viel bessere Idee. Wie lange hast du keinen Alkohol mehr getrunken, lieber Bruder?«

Victor kratzte sich die Halbglatze. »Viele Jahre?«

Tatsächlich hatte er lange keinen einzigen Tropfen mehr zu sich genommen. Keinen Wein, kein Bier, keine Spirituosen. Nichts, seit jenem Tag. Und dieser Tag lag so weit zurück, dass er nur noch eine verschwommene Erinnerung war. Victor tat gut daran, nie wieder darüber nachzudenken.

»Mir geht es genau so. Aber heute, lieber Bruder, heute ist der Tag.«

Victor klappte der Mund auf. Sobald er es bemerkte, schloss er ihn wieder. War das wirklich eine gute Idee?

»Glaub mir. Wir genehmigen uns einen schönen Wein und stoßen auf den alten Herrn an. Es ist das Beste, was wir nun tun können. Nach allem, was geschehen ist.«

Victor horchte den Worten hinterher, dann nickte er langsam und bedächtig.

»Er ist tot!« Es war ein Satz, den man häufig aussprechen musste, damit er sich irgendwann wahr anfühlte.

»Der alte Herr ist tot!« Victor Mertens sagte es immer wieder. Zuerst rief er es dem Kutscher entgegen, obwohl der es natürlich längst wusste. Victor sprang aus der Kutsche, stolperte und taumelte. Sobald er sich wieder einigermaßen gefangen hatte, rief er es noch einmal in Richtung des zu dieser Stunde nur noch schemenhaft zu erkennenden Mannes auf dem Kutschbock: »Er ist mausetot!«

Alles drehte sich um Victor herum: die schwarze Kutsche mit den großen, filigranen Rädern; die Auffahrt zu Schaaffhausens Stadtpalast, in dem Victor Mertens seit ein paar Monaten wohnte; die akkurat geschnittenen Hecken und Büsche, die das Anwesen vor den Blicken Neugieriger abschirmten und deren sonst so bunt leuchtenden Blumen im bleichen Licht des gerade aufgetauchten Mondes grau waren. Sogar die dunkeln Wolken und die ersten Sterne der Nacht schienen über seinem Kopf zu tanzen. Victor Mertens war zum ersten Mal in seinem Leben betrunken. Er lachte auf. Niemals hatte er damit gerechnet, sich einmal so zu fühlen. Ihm war der Kopf ganz leicht und die Zunge schwer. Dennoch wollte er unbedingt reden. Er musste die Neuigkeit verbreiten, sie schrie geradezu danach!

Er schwankte die Auffahrt entlang bis zur breiten Treppe, stolperte die Stufen hinauf und wurde von einem potthässlichen Hausmädchen empfangen, auf dessen Namen er einfach nicht kam. War ja auch egal, bei den klapperdürren Hüften. »Er ist tot!«, herrschte er sie an, so dass sie zusammenzuckte. Sie starrte ihn mit dümmlich fragendem Gesicht an. Dass diese Schaaffhausens so fürchterliches Personal haben mussten!

»Steh nicht so dumm da! Wo ist meine Frau?«, lallte er.

In diesem Moment öffnete sich die Tür zum Salon, und eine wahre Lichtgestalt trat ins Foyer. Er seufzte. Diese hellblonden Haare, zu tausend Zöpfen geflochten, dieses üppige Dekolleté im engen Kleid, die weichen, weißen Oberarme und der spitze, tiefrote Mund!

»Mein lieber Victor«, rief Emma Mertens und musterte ihn bestürzt von oben bis unten. »Bist du etwa betrunken?«

Er antwortete nicht, stattdessen versank er in ihrem Anblick. Wie schön sie war! Und Tag für Tag schien die Sechszehnjährige sogar noch schöner zu werden. Wieso konnte seine Frau nicht genauso aussehen? Hätte sie solche Lippen, solche Hüften, diese Jugend, dann wäre die Sache mit dem Nachwuchs sicherlich kein Problem. Er würde sie einfach packen und sie wäre schneller schwanger, als sein so griesgrämiger wie reicher Schwiegervater »Erbschaft« sagen konnte.

»Ich war bei unserer lieben Tante in Bonn, als ich einen Brief von Mutter bekommen habe. Sie schrieb, Vater gehe es schlecht. Ich wollte sofort zu ihm, doch Mutter hat mir verboten, das Haus zu betreten, stattdessen sollte ich zunächst zu euch fahren«, erklärte sie aufgeregt.

»Sicher, ja. Das ist tatsächlich … also … gut. Ja.« Er hörte selbst, dass er nuschelte.

»Victor, was ist mit dir?«

Er verkniff sich ein Grinsen. »Er ist tot.«

»Wer ist tot, Victor?«

»Mausetot. Es ging ganz schnell.«

»Wer, Victor, wer? Sag, du sprichst doch nicht etwa … von Vater?«

Ihr hübsches Gesichtchen wurde ganz weiß, und ihr weicher Mund stand offen. Er wusste schon, wie er sie trösten könnte. Wenn das blöde Hausmädchen nicht dümmlich danebenstehen würde, wäre er der kleinen Emma noch an Ort und Stelle zu Diensten, so dass sie das Monster, das sie Vater nannte, ganz schnell vergessen hätte.

»Es war die Schwindsucht, meine liebe, süße Emma. Sie hat das ganze Haus erwischt. Wir konnten nichts mehr für ihn tun. Vor einer Stunde ist er von uns gegangen.«

Emma schrie auf. »Nein!« Sie stürmte zur Tür.

»Du kannst dort nicht hin«, rief er und hielt sie an den Schultern zurück. Wie warm sie sich anfühlten. Sanft drückte er sie an sich, so dass er ihre Schulterblätter an der Brust fühlen konnte.

»Lass mich los«, kreischte sie, doch Victor dachte natürlich nicht daran. Während sie versuchte, den Türgriff zu fassen, streichelte er ihr Schlüsselbein. Was für eine Gelegenheit, überlegte er, grinste und ließ seine Hand so unauffällig wie möglich tiefer gleiten.

»Das ganze Haus hat die Schwindsucht. Du hast es doch selbst gesagt – Mutter will nicht, dass du das mitansiehst!« Trotz seiner Worte zappelte Emma weiter. Auch dann noch, als seine Hand schon in ihrem Ausschnitt steckte.

»Victor!«, rief laut und streng eine tiefe Stimme. »Lass sofort deine Halbschwester los!«

Schnell zog er seine Hand wieder hervor und umfasste nur noch Emmas Schultern.

»Sie will zu ihrem Vater, aber das geht nicht«, erklärte er, ohne sich umzudrehen. Er wollte die Nähe zu diesem hübschen Mädchen noch einen Moment länger genießen.

»Lass Emma sofort los!«, herrschte die Stimme ihn noch einmal an. »Emma, du bleibst hier. Victor hat recht – deine Anwesenheit hilft dort heute niemandem«, fügte sie an das Mädchen gewandt hinzu. Als er fühlte, dass Emma aufhörte, sich unter seinen Händen zu winden, ließ er widerwillig von ihr ab und wandte sich zu seiner Frau um. Groß, schmal und streng stand Sibylle Mertens-Schaaffhausen da, die Hände vor der Taille gefaltet. Sie trug ein blau kariertes Kleid mit aufgebauschten Ärmeln, das ihre Schultern frei ließ. Warum nur musste sie so eine unendlich lange, spitze Nase haben? Ohne diese Nase hätte er ihr Gesicht vielleicht sogar erträglich finden können, zumindest in diesem Dämmerlicht.

»Er ist tot«, sagte er zu Sibylle. »Onkel ist tot.« Hinter ihm heulte Emma bei diesen Worten auf und stützte sich an der Wand ab. Doch Sibylle reagierte nicht. Emotionsloses Weibsstück! Begriff sie nicht, was geschehen war? Emmas Vater, sein Onkel und zugleich seit knapp zwanzig Jahren der Mann der gemeinsamen Mutter war endlich gestorben. Unglaublich, dass es eine Krankheit nun wirklich geschafft hatte, diesen zähen, alten Mistkerl dahinzuraffen.

»Minna, kümmere dich bitte um Emma und bring sie ins Gästezimmer. Sie hatte einen langen Weg, bevor sie heute hier angekommen ist. Victor, du kommst mit mir«, sagte Sibylle zuerst zum Dienstmädchen, dann zu ihm. Sie drehte sich um und ging vor. Er wusste, wo sie hin wollte, und folgte ihr. Der Gang mit den hohen Gemälden und der blauen Tapete schien sich hin und wieder ein wenig zu neigen. Sogar die Treppe, die er hinauf schritt, bebte unter seinen Füßen. Ihm war noch immer schwindelig – was für ein wunderbares Gefühl! Er genoss die Taubheit in seinem Kopf, während er seiner Frau ins Schlafzimmer folgte. Gut, dachte er. Nach dem kleinen Gerangel mit Emma war er durchaus in Stimmung. Sibylle drehte sich zu ihm um und möglichst sanft lächelte er sie an.

»Ich habe mich danach gesehnt, wieder mit dir allein zu sein«, verkündete er. Langsam ging er auf sie zu und musterte sie, während er es vermied, ihre Nase zu genau anzuschauen. »Ein hübsches Kleid ist das.« Mit diesen Worten umfasste er seine Frau an der Taille. Sie zuckte zusammen.

»Was erlaubst du dir?« Fest stieß Sibylle ihn zurück.

»Was ich mir erlaube?« Er taumelte etwas, hielt sich an der Wand fest. Wie sprach sie denn mit ihm? Mit ihm, dem erfolgreichen Bankier Victor Mertens? Sie war seine Frau. Und seine Frau hatte gefälligst zu tun, wonach ihm die Lust stand.

»Ich möchte, dass du mir gehorchst«, befahl er. Doch alles, was sie tat, war trocken aufzulachen.

»Nie im Leben.«

Fast blieb ihm die Luft weg. Wie konnte sie es wagen? Nun gut, dachte er. Dann würde sie es eben auf die harte Tour lernen müssen. Er fasste ihre Handgelenke und drängte sie zurück in Richtung Bett. Dann griff er nach ihrem Rock, um ihn hochzuschieben.

»Nimm deine Finger weg!«, presste sie hervor, doch er lachte nur und drehte sie um. Fast hatte er ihre Beine freigelegt. Gleich war es soweit, dachte er, doch plötzlich wirbelte Sibylle herum – und sie hatte etwas in der Hand. Was war das? Etwa ihre Bettpfanne? Er hatte gar nicht bemerkt, wie sie danach gegriffen hatte. Er versuchte zu reagieren, seine Arme waren jedoch zu langsam. Sie gehorchten ihm einfach nicht. Mit einem leisen Sausen schoss die Bettpfanne in der Dunkelheit auf ihn zu.