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Markus K. Brunnermeier

Die resiliente Gesellschaft

Wie wir künftige Krisen besser meistern können

Aus dem Amerikanischen von Henning Dedekind, Marlene Fleißig und Frank Lachmann

Vorwort

Das vorliegende Buch ist mein Versuch, die weltweiten wirtschaftlichen Herausforderungen darzustellen, die sich für unsere Gesellschaften aus der Corona-Krise ergeben. Dabei möchte ich eine Brücke zwischen den unmittelbaren Auswirkungen der Pandemie und den gesellschaftlichen Langzeitfolgen bauen. Dieses Buch blickt über Corona hinaus und schlägt einen Wandel unserer Einstellung und unserer sozialen Interaktionen vor: Anstatt lethargisch Risiken zu vermeiden, soll die Gesellschaft idealerweise resilient gegenüber negativen Schocks sein.

Ziel dieses Buches ist es, das Konzept der Resilienz strukturiert darzustellen und sie dadurch einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Es erhebt nicht den Anspruch, allumfassend und abschließend zu sein. Vielmehr wirft es interessante Fragen auf und regt hoffentlich den Leser zum Denken an. Ich hoffe, es eröffnet neue Blickwinkel und führt zu Diskussionen unter politisch interessierten Bürgern, denen der Aufbau einer resilienteren Gesellschaft am Herzen liegt.

Teil I des Buches umreißt das Konzept der Resilienz und die Neufassung unseres Gesellschaftsvertrags, damit die Gesellschaft resilienter gegen Schockereignisse wird. Teil II richtet den Fokus auf das öffentliche Gesundheitswesen und die Herausforderungen, vor denen es während und nach Corona steht. Teil III befasst sich mit künftigen makroökonomischen Herausforderungen, von negativen Langzeiteffekten bis hin zu hohen Verschuldungsgraden und Inflation. Teil IV hebt auf die globalen Herausforderungen ab. Jedes Kapitel steht für sich allein und kann ohne die Lektüre vorheriger Kapitel gelesen werden.

Princeton, im Juni 2021

1. Einleitung

Durch Corona fühlen wir uns verwundbar. Als Individuen haben wir festgestellt, dass wir plötzlich von einer unbekannten Krankheit befallen werden könnten. Das ist etwas, was wir angesichts des medizinischen Fortschritts für unmöglich gehalten hatten. Als Gesellschaften sahen wir uns Störungen ungekannten Ausmaßes gegenüber. Aktivitäten wurden eingeschränkt, das gesellschaftliche Leben wurde unterbrochen, die öffentliche Daseinsvorsorge geriet an ihre Grenzen, die Ärmsten und Schwächsten fielen durchs Raster, unser Zuhause wurde zum Arbeitsplatz, unsere Kinder konnten nicht mehr in die Schule gehen, unser Familienleben war beeinträchtigt, unsere Freunde waren auf einmal weit entfernt und nur noch per Bildschirm zu erreichen.

Wir können zuversichtlich sein, dass Medizin und Technik vielen von uns helfen werden, die Krise zu überstehen, und uns auffangen können. Tatsächlich können wir über Tempo und Effizienz der Impfstoffentwicklung nur staunen – weniger als ein Jahr nach Entdeckung des Virus. Aber was ist mit den Einzelschicksalen, was ist mit den gesellschaftlichen Folgen? Werden sich unsere Gesellschaften rasch erholen, oder werden wir dauerhafte Schäden davontragen? Und vor allem: Werden sie ähnliche Schocks in der Zukunft überwinden können? Das ist die Frage, mit der sich dieses Buch befasst.

Das Schlüsselkonzept ist hier die Resilienz. Diese steht für eine »Fähigkeit, zurückzufedern«, nicht zu verwechseln mit der Robustheit, welche die Fähigkeit ist standzuhalten. Manchmal ist Widerstand nicht der richtige Weg, um Resilienz zu erreichen. Es geht eher darum, einen Sturm zu überstehen und sich danach zu erholen, wie in der berühmten Fabel »Die Eiche und das Schilfrohr« des französischen Dichters Jean de La Fontaine.1 Die Eiche ist mächtig, wirkt unzerstörbar und robust und bewegt sich bei normalen Windverhältnissen nicht. Das biegsame Schilfrohr indes neigt sich bereits bei einer leichten Brise. Als ein starker Sturm losbricht, verkündet das Schilfrohr: »Ich beuge mich, doch ich breche nicht.« In diesem Satz steckt der Kerngedanke der Resilienz. Sobald der Sturm vorüber ist, schnellt das Rohr wie eine Feder zurück und erholt sich in kurzer Zeit ganz davon. Die Eiche hingegen hält zwar starkem Wind stand, bricht aber, wenn der Sturm seinen Höhepunkt erreicht. Ist sie einmal gefallen, wird eine Erholung unmöglich. Ihr Mangel an Resilienz verhindert ein Zurückfedern. Das Schilfrohr ist sehr flexibel und fast ständig in Bewegung. Deshalb erscheint es auf den ersten Blick schwächer. Es erweist sich jedoch als wesentlich stärker als die felsenfest unbeweglich wirkende Eiche. Man bezeichnet dies als Volatilitätsparadox.

Das ist eine hübsche Metapher, aber eine physische, und sie erfasst nicht in vollem Umfang die Herausforderungen, vor denen wir gerade stehen. Natürlich gibt es rein »physische« Säulen der Resilienz. Zum Beispiel hängen wir in unserem Alltagsleben von zahllosen reibungslos funktionierenden Netzwerken und Infrastrukturen ab. Man stelle sich nur das Leben ohne Telefon, Internet oder Straßen vor. Wenn wir wollen, dass sich diese Systeme nach einem Schock rasch wieder erholen, müssen wir uns möglicherweise mit Redundanzen, Pufferbeständen oder Reservestrukturen und ‑kapazitäten abfinden. Das heißt, wir müssen als Preis für eine höhere Resilienz einen Teil der Effizienz opfern. Bislang haben wir unsere Produktionssysteme nach dem »Just‑in-Time-Prinzip« betrieben: maximale Ströme, minimale Bestände – das Ziel globaler Wertschöpfungsketten. Im Gegensatz dazu hebt die Resilienz auf ein »Für-den-Fall-der-Fälle-Prinzip« ab: die Fähigkeit, sich nach einem Schock rasch zu erholen. Deshalb macht die Resilienz Redundanzen nicht zur Sünde, sondern zu einer Tugend. Sicherheitsbestände sind nützlich, weil sie es ermöglichen, Schocks zu absorbieren. Eine Neuordnung unseres Denkens zugunsten der Resilienz umfasst daher eine neue Art von Kosten-Nutzen-Rechnungen.

Beispiele dafür sind die verschiedenen Möglichkeiten, einen elektrischen Schaltkreis mit mehreren Glühbirnen aufzubauen. Die kostengünstigste Art, bei der am wenigsten Kabel benötigt wird, ist die Serienschaltung, wie sie früher etwa bei den meisten Christbaumbeleuchtungen Verwendung fand. Wenn ein Birnchen durchbrannte, wurde allerdings der gesamte Christbaum dunkel. Eine Alternative ist die Parallelschaltung, die man meist bei Treppenhausbeleuchtungen findet. Hier wird jede Birne mit einem Hauptstromkreis verbunden. Brennt die Glühbirne im zweiten Stockwerk durch, bleibt es dank der Parallelschaltung im ersten und dritten Stockwerk hell. Die Gesamtkosten für die Installation sind höher, da mehr Kabel verbraucht wird; dafür ist die Parallelschaltung insgesamt weniger anfällig, falls einmal eine Glühbirne durchbrennt. Resilienz erfordert weniger zusätzliche Redundanzen als Robustheit. Daher erweist sich die Strategie der Resilienz als wirtschaftlich billiger.

Resilienz ist nicht nur von Robustheit, sondern auch von Risiko abzugrenzen. Beim Risiko geht es um die Frequenz und das Ausmaß von Schocks, bei der Resilienz hingegen um die Reaktion nach dem Eintritt des Schocks, die Fähigkeit, sich zu erholen (formell die »Rückkehr zum Mittelwert«). Stärken wir unsere Fähigkeit, uns anzupassen und neu zu erfinden, stärkt dies auch unsere Resilienz. Resilienz mindert die negative Wirkung von Schocks und eröffnet uns so mehr Chancen und Möglichkeiten. Wer in der Lage ist, sich einer Veränderung anzupassen, liegt meist im Vorteil.

Resilienz ist zudem ein wichtiger Bestandteil des Nachhaltigkeitsbegriffs. Ohne Resilienz könnten Schocks eine Gesellschaft über den Rand des Abgrunds drängen, was zu schädlichen Rückkopplungsschleifen führen kann und die derzeitige Situation unhaltbar machen würde.

Corona hat uns auch gelehrt, dass Resilienz weit mehr ist als ein Einzelpersonen-Konzept. Die Gesellschaft als Ganzes sollte auch resilient sein. Davon, wie stark diese Resilienz ausgeprägt ist, hängt ab, wie unsere Gesellschaft funktioniert. Sie entsteht – oder eben nicht – durch die Beschaffenheit unseres Gesellschaftsvertrags. Unsere Lebensführung hat Auswirkungen auf andere – was die Volkswirtschaftslehre als »Externalitäten« oder »externe Effekte« bezeichnet. Ohne Gesellschaftsvertrag ist es wahrscheinlich, dass die Menschen einander negative Externalitäten aufbürden. Durch mein Handeln könnten andere sogar in eine Falle oder aus dem Gleichgewicht geraten, weil ich sie über einen Kipppunkt dränge. Solche Fallen- und Kipppunkt-Externalitäten schwächen die Resilienz. Dadurch entsteht eine Anfälligkeit, die sich insbesondere im Falle eines Schocks bemerkbar macht – und die Pandemie war ein Riesenschock.

In diesem Buch werde ich die These vertreten, dass bei der Gestaltung einer Post-Corona-Gesellschaft die Resilienz wie der Polarstern zur Orientierung dienen kann.2 Dieses übergeordnete Prinzip wird uns erkennen helfen, wie wir uns als Gesellschaft besser auf Gefahren vorbereiten und den Zusammenhalt stärken können, um negative Erschütterungen in Zukunft besser abzufedern. Dabei nehme ich stets den Standpunkt des Wirtschaftswissenschaftlers ein. Die Sicht auf den Gesellschaftsvertrag ist also durch die Brille der Ökonomen gefärbt.

Den Menschen Eigenverantwortlichkeit zuzugestehen und ihnen die Freiheit zu gewähren, zu träumen, zu experimentieren, Strategien zu entwerfen, zu planen und möglicherweise zu scheitern, ist Teil der persönlichen Freiheit und Voraussetzung für den Fortschritt einer Gesellschaft. Es ist Teil davon, den Menschen nicht nur Freiheit, sondern auch Würde zu geben. Dennoch sollten Menschen nicht in ausweglose Situationen geraten oder verarmen, sondern die Möglichkeit haben, wieder auf die Beine zu kommen und einen erneuten Versuch zu wagen, nachdem sie aus ihrem Scheitern gelernt haben. Der Privatinsolvenzschutz dient genau diesem Zweck. Statt die Menschen vor einem möglichen Scheitern zu bewahren, sollte die Gesellschaft daher zu Experimenten und Neugier ermutigen und die Menschen resilient machen.

Dieses Buch untersucht auch die Frage, wie ein resilienter Gesellschaftsvertrag in die Tat umgesetzt werden kann. Das kann durch Regierungen oder soziale Normen geschehen. Autoritäre Regierungen wenden direkten Zwang an, um Externalitäten zu beschränken, wohingegen die Regierungen offener Gesellschaften auf die Macht der Überzeugung setzen. Durch Corona könnte das Pendel zugunsten von Regierungseingriffen schwingen, durch welche die persönliche Freiheit eingeschränkt wird. Ein anderer Weg, den Gesellschaftsvertrag umzusetzen und externe Effekte zu internalisieren, sind soziale Normen. Selbst ohne staatliche Eingriffe halten sich viele Menschen in Japan an Maskengebot und Abstandsregeln, weil sie ein soziales Stigma fürchten. Auch Märkte können eine wichtige Rolle dabei spielen. Sie sind insbesondere gut darin, Informationen, die in der Gesellschaft verstreut sind, zu aggregieren.

Eine Gesellschaft und ihr Gesellschaftsvertrag sind resilienter, wenn die Implementierung des Gesellschaftsvertrags flexibel an die jeweilige Herausforderung angepasst werden kann. Manchmal muss die Mischung aus sozialen Normen, Regierungs- und Marktdurchsetzung reoptimiert werden. Andererseits kann sich eine zu große Flexibilität nachteilig auswirken. Die Menschen müssen sich auf einen klaren Rahmen verlassen können, um Vorhersagen zu treffen und Planungssicherheit zu haben.

Die Corona-Krise liefert ein anschauliches Beispiel dafür, welche Grundprinzipien erforderlich sind, um auf eine resiliente Weise mit einem Schock umzugehen. Vorrangig wichtig ist es, die Verhaltensänderungen der Menschen nach einem Schock zu verstehen. Dazu braucht es Informationen. Im Falle der Corona-Krise sind Tests und Rückverfolgung die entscheidenden Instrumente der Informationsgewinnung. Ein mächtiges Instrument, um Einfluss auf das Verhalten der Menschen zu nehmen, ist die Kommunikation. Diese stellt jedoch insbesondere deshalb eine Herausforderung dar, weil es vielen Menschen schwerfällt, kontrafaktische Szenarien zu begreifen, etwa die alternativen Corona-Sterbeziffern ohne Hygienemaßnahmen, die es gegeben hätte. Eine resiliente Reaktion muss schließlich auch eine Vision der neuen Normalität umfassen. Wohin bewegt sich eine Gesellschaft am Ende einer Krise, etwa eine weitgehend »durchgeimpfte« Gesellschaft am Ende der Corona-Krise?

Aus makroökonomischer und finanzieller Sicht bedeutet Resilienz, Volatilität zu akzeptieren, gleichzeitig aber die Fähigkeit, Erholung beizubehalten und zu entwickeln. Wenn wir an langfristiges Wachstum denken, sind Risikoanpassung und ein offener Umgang mit disruptiven Technologien langfristig weniger riskant und ermöglichen einen stärkeren Wachstumstrend, als im Status quo zu verharren. Schocks wie Corona können zwei langfristige Kräfte für die Erholungsphase triggern. Einerseits befeuerte Corona den technischen Fortschritt und führte zu Innovationen in verschiedenen Bereichen. Neue Technologien fördern die Resilienz und erhöhen die Flexibilität, sich künftigen Schocks anzupassen. Andererseits besteht die Gefahr langfristiger Vernarbungseffekte, welche die Resilienz schwächen können. Arbeiter, die ihre Jobs verlieren, büßen an Qualifikation ein und haben es schwer, auf den Arbeitsmarkt zurückzukehren. Störungen des Bildungssystems können zu negativen Langzeitwirkungen für das Humankapital führen. Schließlich könnte bei Unternehmen ein großer Schuldenüberhang bewirken, dass Investitionen zurückgehalten werden, worunter das Wirtschaftswachstum langfristig leiden würde.

Resilient zu bleiben, bedeutet auch, ein Chaos an den Finanzmärkten zu vermeiden. Im Jahre 2020 und Anfang 2021 blieben die Finanzmärkte resilient. Nach einem anfänglichen Zittern im März 2020 beseitigten die Interventionen der Zentralbanken rasch die Tail-Risiken an den Märkten. Dies stabilisierte die Vermögenswerte, was zu einer Schaukelbewegung führte. Da das Risiko hoher Verluste nunmehr eingedämmt war, konnten sich die Unternehmen dank niedriger Zinssätze die dringend benötigte Liquidität verschaffen. Dies machte die Wirtschaft zwar resilienter, könnte jedoch mittelfristig auch zu finanzieller Instabilität führen.

Typischerweise steigt in Krisenzeiten die Staatsverschuldung, und Corona bildet hier keine Ausnahme. Groß angelegte fiskalische Konjunkturprogramme haben – trotz eines wesentlich stärkeren elementaren Schocks als 2008 – bislang einen Crash in der Größenordnung einer Weltwirtschaftskrise abgewehrt. Sorgen um die Langzeitverschuldung zeigen jedoch, dass sich Wolken am Wirtschaftshimmel bilden. Eine Gesellschaft ist nur dann resilient, wenn die Staatsschulden langfristig tragbar sind, sonst besteht einerseits die Gefahr einer Inflation oder aber auch andererseits einer durch den Schuldenüberhang bedingten Deflation. Bis jetzt ist die Last der Staatsverschuldung noch zu schultern, da die Zinssätze niedrig sind und Staatsanleihen als sichere Anlage gelten. Regierungen, die für Zinserhöhungen anfällig sind, könnten jedoch unter stark ansteigenden Zinslasten leiden. Es ist daher entscheidend, diese sensiblen und potenziell instabilen Gleichgewichte an den Anleihenmärkten im Auge zu behalten.

Zudem besteht die Gefahr, dass die Inflation mittelfristig eine Schaukeldynamik auslöst. Im Jahre 2020 führte eine sinkende Nachfrage zwar zu niedrigen Inflationsraten, doch künftig könnte dies durch inflationäre Kräfte wieder umschlagen. Um die Resilienz zu fördern, müssen die Zentralbanken daher die Entwicklung sowohl der Deflations- als auch der Inflationsrisiken aufmerksam verfolgen, um Fallen zu vermeiden. Wie ein Rennwagen mit guten Bremsen, der sehr hohe Geschwindigkeiten anstreben kann, kann eine unabhängige Zentralbank die wirtschaftliche Erholung beschleunigen, wenn die Wirtschaft in einer Rezession steckt, verfügt aber auch über die Möglichkeit, auf die Bremse zu treten und die geldpolitischen Zügel anzuziehen, wenn es notwendig ist. An diesem Punkt kann es allerdings zu einem Interessenkonflikt zwischen Zentralbank und Regierung kommen, da die höheren Zinsen einer strengeren Geldpolitik für die staatlichen Schuldendienstkosten Mehrausgaben bedeuten. Ein Gesellschaftsvertrag ist nur dann resilient, wenn die Gesellschaft gerecht und leistungsorientiert ist und sich Ungleichheiten in Grenzen halten. Der Wendepunkt im März 2020 zeigte deutlich, dass sich bestehende Ungleichheiten auf sämtliche Bereiche der Gesellschaft auswirken und auch die Folgen von Corona für einzelne Bevölkerungsgruppen beeinflussen. Ungleichheiten zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen oder ein ungleicher Zugang zum Gesundheitssystem verstärkten die heterogenen Auswirkungen der Pandemie. Corona war wie eine Röntgenaufnahme, durch welche die unter der Oberfläche versteckten Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten erkennbar wurden.

Schließlich stellt sich die Frage, wie die Welt als Ganzes resilienter werden kann. Schwellen- und Entwicklungsländer stehen bezüglich ihrer Resilienz vor besonderen Herausforderungen. Eine Gefahr ist, dass Schwellenländer in eine Armutsfalle oder die mittlere Einkommensfalle geraten und langfristig nicht zu den Industrieländern aufschließen. Ihr Spielraum, auf Schocks zu reagieren, ist vergleichsweise begrenzt. Beispielsweise führten Lockdown-Maßnahmen während der Corona-Krise zu Hungertod und anderen nicht erfassten Todesfällen, zum Beispiel durch versäumte Impfungen gegen andere Krankheiten. Obendrein sind die finanziellen Spielräume sehr klein. Strapazierte öffentliche Kassen lassen wenig Raum für Förderprogramme, sollte eine weitere Krise eintreten. Die Corona-Pandemie zeigt, dass wir in einer globalen Gesellschaft leben und deshalb eine globale Resilienz brauchen. Dies wirft weitergehende Fragen zur internationalen Ordnung auf. Wie in früheren Gesundheitskrisen oder im Kampf gegen den Klimawandel steht die gesamte Menschheit einem gemeinsamen Feind gegenüber. Dennoch blieb die internationale Zusammenarbeit recht verhalten, sowohl in der Frühphase der Pandemie als auch später, als sich viele Länder unilateral Impfstofflieferungen sicherten.

Internationale Beziehungen werden auch die Welt nach Corona prägen. Der latente Machtkampf zwischen den USA und China wird sich wahrscheinlich auf mehreren Ebenen fortsetzen, darunter Digitalisierung, Cyber-Sicherheit und Handel. Gleichzeitig wird sich Europa entscheiden müssen, ob es sich stärker mit den USA verbünden oder eine unabhängigere Rolle in seinen Beziehungen sowohl zu China als auch zu den USA spielen will. Corona offenbarte zudem die Anfälligkeit tief integrierter globaler Wertschöpfungsketten. In der Zukunft müssen Lieferketten möglicherweise diversifiziert werden, was trotz geringer Mehrkosten zu höherer Resilienz führt.

Schließlich stehen Klimawandel und ökologische Nachhaltigkeit in engem Zusammenhang mit der Resilienz. Wir werden Schocks und Rückschläge erleben. Wir brauchen Innovationen, um Emissionen zu reduzieren. Das ist entscheidend, denn ohne Emissionsreduktionen steuert die Gesellschaft auf irreversible Kipppunkte zu. Diesen Kipppunkten nahe zu sein, ist gefährlich und macht uns anfällig. Durch einen einzigen Schock oder ein unvorhergesehenes Ereignis könnte die Gesellschaft eine Schwelle überschreiten, jenseits derer es kein Zurück mehr gibt. Abschließend ist es wichtig, zu sagen, dass Schocks aus einer Vielzahl von Quellen kommen können; dabei sind Pandemien nur ein Schock-Typus von vielen. Es mag überraschend klingen, aber es ist ganz normal, dass Viren von Tieren auf Menschen übertragen werden. Es geschieht praktisch im Wochentakt. Eine Übertragung von Mensch zu Mensch ist bei zoonotischen Viren indes viel seltener.3 Die Schließung von Straßenmärkten, Frühwarnsysteme und sofortige Reaktionen auf Ausbrüche sind daher entscheidend für die Erhöhung der Resilienz. Solche Eingriffe können auch dabei nützlich sein, Corona-Mutationen wie die Ende 2020 in Südostengland und Südafrika oder im Frühjahr 2021 in Indien entdeckten Varianten frühzeitig zu erkennen.

Die Corona-Krise hat jedoch auch gezeigt, dass sträflich außer Acht gelassene Risiken verheerende globale Auswirkungen in einer Gesellschaft haben können, die eine zu geringe Resilienz besitzt, um unvorhergesehenen Umständen zu begegnen. Dies unterstreicht die Notwendigkeit, sich Gedanken über das Hauptthema dieses Buches zu machen: Wenn die nächste unvorhergesehene Krise eintritt – sei es ein weitreichender Zusammenbruch des Internets, ein Cyberangriff, ein biotechnischer Störfall, eine Bakterienresistenz gegen Antibiotika oder ein katastrophales Klimaereignis –, profitiert die gesamte Menschheit von einem neuen Gesellschaftsvertrag, der allen die Möglichkeit bietet, aus eigener Kraft auf die Beine zu kommen, wenn sie von einem negativen Schock getroffen werden.

Teil I:

Resilienz und Gesellschaft

Wie sollten Resilienz und der Gesellschaftsvertrag unsere Gesellschaft und unser Zusammenleben leiten? Bevor wir uns den Einzelheiten widmen, definiert Kapitel 2 zunächst den Begriff der Resilienz und stellt ihn den verwandten Begriffen von Robustheit, Nachhaltigkeit und Risiko gegenüber. Darauf aufbauend erkundet Kapitel 3 die Konsequenzen für einen resilienten Gesellschaftsvertrag, insbesondere wie er uns als Gesellschaft ein friedliches Zusammenleben ermöglicht und wie man der Gesellschaftsvertrag selbst resilient macht.