Der Bruder mit den Schlehenaugen. Er nimmt mich an der Hand. Wir sind das Waisenpaar, das in den Dörfern auffällt wegen seiner Unzertrennlichkeit. Er macht abends Feuer, damit wir Schutz und Wärme haben. Er besorgt Essen, das wir am Wiesenrand teilen.

Das Verlies im Schloss des Spielkartenkönigs bringt er zum Einsturz mit seinem Lachen. In mein kältestes Tal kommt er mit dem warmen, lichten Frühling in seinen Händen. Er segelt mit mir über den Schmerzensfluss, das Boot eine Nussschale und als Segel mein größtes Tränentaschentuch.

An jeder Kreuzung weiß er Rat. Bin ich traurig, malt er am Horizont ein Märchenreich. Bin ich verzagt, lässt er einen kleinen Käfer auf meiner Nase landen, rot mit schwarzen Punkten. Die Zeit wird nicht lang mit ihm. Wir sind auf dem Weg. Auf dem langen Weg nach Hause.

Rainer Gross, Jahrgang 1962, studierte Philosophie, Literaturwissenschaft und Theologie. Er lebt mit seiner Frau heute wieder in seiner Geburtsstadt Reutlingen

Bisher u.a. erschienen: Grafeneck (2007, Glauser-Debüt-Preis 2008); Weiße Nächte (2008); Kettenacker (2011); Kelterblut (2012).; Die Welt meiner Schwestern (2014); Yûomo (2014); Haus der Stille (2014); Schrödingers Kätzchen (2015); Haut (2015); My sweet Lord (2016); Holiday (2016); Am Ende des Regenbogens (2016); Scheherazade (2017); Die sechzigste Ansicht des Berges Fuji (2017); Der Sommer der Glühwürmchen (2017); In der fernen Stadt (2017); Räucherstäbchenjahre (2018); Albatros (2018); Nordkapp (2018).

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© 2018 Rainer Gross

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

Layout und Umschlaggestaltung: Rainer Gross

Umschlagfoto: © Depositphotos.com/Lunter

Alle Rechte vorbehalten

ISBN: 9783752853124

„Wo gehn wir denn hin?“

„Immer nach Hause.“

NOVALIS, HEINRICH VON OFTERDINGEN

Wir müssen doch nach Hause. Mein Bruder und ich. Es gibt nichts Dringlicheres. Wo wir sind, können wir nicht bleiben. Die Leute meinen es gut mit uns, aber ich habe Heimweh. Vielleicht droht uns auch Gefahr. Wir gehören nicht hierher. Wir gehören nach Hause.

Und ich möchte auch gerne nach Hause. Ich war noch nie dort. Nur in meinen Träumen. Manchmal sitzen wir, mein Bruder und ich, irgendwo an der Landstraße im Sonnenuntergang und ruhen aus. Ein Feuer brennt, das hat mein Bruder angezündet, und unser Nachtlager haben wir bereitet, aus Laub und Moos und Zweigen.

Dort sitzen wir und sehen die Sonne untergehen, ein feuerroter Ball in einem Meer aus Apfelsine und Zitrone. Die Wolken stehen still, wie aus Stein, schieferblau, und leuchten von unten. Dann fragt mich mein Bruder:

„Wie stellst du dir denn unser Zuhause vor, Schwesterlein?“

Und ich sage: „Ich weiß nicht, Bruder. Schön stelle ich es mir vor.“

„Ja, sicher. Aber was heißt das: schön?“

Ich zucke die Schultern. „Ich weiß nicht. Schön eben.“

„Ist es ein Haus?“

„Ja. Aber nicht nur.“

„Was noch?“

„Ein Haus und ein Land.“

„Wie groß ist das Land?“

„Ich weiß nicht. Ein Land eben.“

„Und wer wohnt in dem Haus?“

„Wir.“

„Und wer noch?“

„Die Eltern?“

„Die sind verschollen. Das weißt du, Schwester.“

„Ja, aber vielleicht haben sie auch heimgefunden. Wie wir.“

„Also gut. Aber wem gehört das Haus?“

„Allen.“

„Wer: alle?“

„Alle, die heimgefunden haben. Sie wohnen mit uns zusammen. Es gibt überhaupt ganz viele Häuser in diesem Land. Lauter Häuser. Aus Holz mit einer Veranda und Zimmern unterm Dach, wo wir schlafen. Und morgens scheint die Sonne herein und weckt uns, und wir bekommen Tee zum Frühstück und Waffeln und Löwenzahnhonig mit frischen Himbeeren. Und wir waschen uns unten am Bach und plantschen und spritzen, und dann laufen wir über die Wiese, über lauter Augentrost und Weidenröschen, und im Wald fressen die Trüffelschweine und von Ast zu Ast schaukeln die Bernsteinlemuren, und der ganze Tag vergeht im Lachen und Singen und Spielen, und wenn wir am Abend heimkommen, gibt es Pfannkuchen mit Blaubeerkompott und Puderzucker, und wir essen jeder dreitausend Stück, und das Beste ist, dass wir alle hierher gehören, jeder Einzelne, und dass wir nie wieder weg müssen in die Fremde und dass uns gar nichts passieren kann und dass ... und dass ...“

Mein Bruder schaut mich an.

Tränen laufen mir über die Wangen.

„Ist gut, kleine Schwester“, sagt er. „Du hast recht. Es wird schön sein.“

Und dann legen wir uns schlafen, und wenn ich nicht einschlafen kann, rückt mein Bruder näher, sodass ich mich an ihn heran kuscheln kann. So schlafe ich bald ein.

Unsere Eltern sind verschollen, sagt mein Bruder. Davon weiß ich nichts. Ich kann mich nur erinnern, dass ich als kleines Kind glücklich war. Vater und Mutter waren für mich da und hatten mich lieb. Sonst wüsste ich ja gar nicht, was ein Zuhause ist. Dann kam eine schlimme Zeit, in der sie eines Tages einfach verschwunden waren. Sie hatten ihre Sachen gepackt und mich zurückgelassen. Ich habe mir die Augen ausgeweint, aber sie kamen nicht zurück.

Wohin sie gegangen sind, wo sie jetzt sind, ob ich sie je wiedersehen werde, weiß ich nicht. Irgendwann ist mein Bruder aufgetaucht: Er stand eines Tages vor der Haustür und nahm mich an der Hand.

„Komm mit“, sagte er. „Wir gehen nach Hause.“

„Aber ich bin doch zuhause“, sagte ich.

„Ein Gebäude mit vier Wänden und einem Dach ist kein Zuhause. Dein wahres Zuhause ist da, wo alle dich lieb haben, niemand dir Böses will und wo du in Wahrheit herkommst. Verstehst du das?“

„Natürlich verstehe ich das!“, sagte ich und schüttelte seine Hand ab. „Aber wer bist denn du?“

„Ich bin dein Bruder“, sagte er.

Er war zwei Kopf größer als ich und schon einige Jahre älter. Er sah Vertrauen erweckend und zugleich ein bisschen schlampig aus, als wäre er wochenlang durch die Wälder gezogen.

Er sah aus, als hätte er viele Schrecknisse gesehen und Abenteuer überstanden.

Du willst mich nach Hause bringen?“

„Ja. Vertrau mir. Ich kenne den Weg.“

Ich habe ihm vertraut. Ich habe meine kleine Hand in seine gebräunte Pranke gelegt und bin mitgegangen.

Heute glaube ich manchmal, er hat mich angelogen. Er kennt den Weg nämlich gar nicht. So sieht es zumindest aus.

Wenn wir an eine Kreuzung kommen, fragt er mich, welche Richtung ich wählen würde.

Ich zucke die Schultern.

Aber er wartet so lange, bis ich eine Entscheidung gefällt habe. Dann gehen wir ein Stück, und er meint: „Du hast richtig gewählt. Das ist der Weg nach Hause.“

Dabei habe ich das Gefühl, er weiß gar nicht, ob es der richtige Weg ist.

Erst hinterher, wenn wir einen Abschnitt des Weges hinter uns haben, wenn wir das Abenteuer bestanden oder ein wichtiges Zwischenziel erreicht haben, stellt es sich heraus, dass der Weg richtig war.

Später habe ich Zweifel daran bekommen, dass er tatsächlich mein Bruder ist.

Er sieht mir gar nicht ähnlich. Er hat von der Sonne gebräunte Haut, rau von Wetter und Wind. Er hat eine andere Nase als ich und andere Haare. Meine Haut ist weiß und glatt, ich habe blaue Augen und blonde, glatte Haare, die er mir meist zu Zöpfen flicht.

„Woher will ich wissen“, sagte ich einmal zu ihm, „dass du wirklich mein Bruder bist?“

„Das spürt man doch“, sagte er und lachte, als hätte ich etwas sehr Dummes gesagt.

Aber am Anfang spürte ich gar nichts. Er war mir fremd. Von meinen Eltern redete er nie. Ich hatte das Gefühl, dass er sie gar nicht kannte. Hatte er weit weg von zuhause gelebt? War er früh ausgezogen und in die weite Welt gereist? So alt sieht er aber nicht aus. Er ist kein Erwachsener. Er ist ein Kind wie ich.

Einmal habe ich ihn gefragt: „Wie alt bist du eigentlich?“

„Älter als du. Viel älter. Ich bin so alt, dass du es gar nicht zählen kannst.“

„Zehn?“, fragte ich.

„Älter.“

„Fünfzehn?“

„Älter.“

„Hundert?“, staunte ich.

„Viel älter.“

„Tausend Jahre alt?“, fragte ich mit aufgerissenen Augen.

„Das kommt eher hin.“ Und er grinste.

Da wusste ich, dass er mich auf den Arm genommen hatte.

Wir gehen, wenn nichts dazwischen kommt, am Tage. Abends suchen wir einen Lagerplatz, und nachts schlafen wir.

Manchmal werden wir aufgehalten, in einem Dorf, in einer Burg, von Leuten, die uns begegnen, oder wir müssen eine Arbeit erledigen. Weil wir Hunger haben und essen müssen.

Mein Bruder besorgt die Arbeit, und ich helfe, wo ich kann. Gemeinsam kriegen wir dann einen Brotkanten mit Schmalz oder einen Korb Obst oder einen blanken Silbertaler. Das Geschäftliche erledigt mein Bruder, davon verstehe ich nichts.

Wenn wir an Flüsse kommen, wo es keine Brücke gibt oder wo die Brücke Zoll kostet, schwimmen wir hinüber. Manchmal ist die Strömung so stark, dass mein Bruder mich an einem Seil hält, während ich schwimme.

Wir gehen über bunte Blumenwiesen, wo das Gras hoch steht. Schafen und Kühen und Ziegen schauen wir beim Weiden zu. Unterwegs sammeln wir Beeren und Pilze, wenn es die Jahreszeit ist, Bucheckern und Nüsse und essbare Wurzeln und auch sonst allerlei Kraut, mit dem mein Bruder sich auskennt. Und winters verdingen wir uns in einem warmen Haus, wo es uns gut geht. Dann mache ich Hausputz, und mein Bruder spielt den Diener.

Mit der ersten Frühlingswärme, die den Schnee schmelzen lässt, brechen wir auf. Uns ist wohler, wenn wir unterwegs sind. Besonders mir. Ich bleibe ungern an einer Stelle. Ich habe dann das Gefühl, dass unser Zuhause immer ferner rückt.

Und ich habe doch solches Heimweh!

Mein Bruder hat Schlehenaugen. Ich kann das nicht erklären, aber es ist so. Wenn ich in seine dunklen, runden Augen schaue, muss ich immer an den Schlehenbusch denken, der bei uns im Garten stand. Er war groß und ausladend und hatte Dornen. Im Frühjahr kamen die Blätter, dann die weißen Blüten, bis der Busch wie eine Wolke aussah und duftete.

Süß und ein bisschen nach Arznei. Und im Sommer bekam er die blauen Beeren, die wir sammelten und zu allerlei Sachen verwendeten. Oft pflückte ich sie vom Baum und aß sie roh, sie schmeckten sauer und süß. Mutter machte Gelee daraus oder setzte einen Schnaps an, Vater machte aus dem Holz einen Stiel für seine Axt, und den Tee trank die Nachbarin für ihr Herz.

Wo eine Schlehe auf einem Hügel wächst, erzählte mir Mutter, darunter schlafen die Elfen. Man muss auf Zehenspitzen gehen, um sie nicht zu wecken. Wenn sie geweckt werden, sind sie schlecht gelaunt und treiben allerlei Unfug.

Ich habe mich unter dem Schlehdorn ins Gras gelegt und gelauscht. Ich habe ein leises Wispern gehört, ein Schnurren wie von unserer Katze, und dachte damals: Die Elfen schnarchen!

Heute denke ich, dass sie zu den guten Mächten gehören, die mich beschützen. Mein Bruder mit den Schlehenaugen steht sicher mit ihnen im Bunde. Manchmal frage ich mich, ob er einer von ihnen ist. Das ist auch etwas, was ich nicht verstehe: wieso er Schlehenaugen hat.

Mein Bruder hat wildes Haar. Ganz anders als ich. Sie kräuseln sich und stehen in alle Richtungen ab. Die Vögel nisten darin und ziehen ihre Brut auf. Die ganze Zeit, im Frühjahr und im Sommer, ist er umschwirrt von Vögeln. Er ist ein richtiger Vogelzähmer. Ein Vogelkirrer. Er lockt sie und tschilpt, er zwitschert mit ihnen und fiept und trillert, sie kommen von überall her angeflogen und setzen sich auf seine Hand, auf seine Schulter, sie lieben ihn und singen ihm täglich ein Ständchen. Da kommen Rotkehlchen und Buchfinken, Blaumeisen und Dompfaffe, Kleiber und Zaunkönige, Eichelhäher und Raben, Schwalben und Zeisige, die Taube und die Amsel. Die Amsel ist sein Liebling. Sie begleitet ihn oft, sitzt auf seiner Schulter und gibt ihm Rat.

Das machen seine Schlehenaugen, davon bin ich überzeugt.

Das Traurige ist: Manchmal lässt er mich allein. Ist unterwegs in irgendwelchen Angelegenheiten. Dann tut es richtig weh, den Weg alleine zu gehen. An Kreuzungen bin ich verzagt und wähle irgendeine Richtung. Abends liege ich in meinem Schlafnest und schaudere vor der leeren Stelle neben mir. Nach ein paar Tagen habe ich mich daran gewöhnt, aber ich sehne mich immer nach dem Augenblick, wenn er wieder neben mir ist und meine Hand nimmt.

Eigentlich will ich ohne ihn keinen Schritt gehen, auch wenn ich manchmal daran zweifle, dass er den Weg kennt. Aber ich fühle mich so klein und verloren ohne ihn. Ich fühle mich, als wäre ich die Einzige auf der Welt, die auf dem Heimweg ist.

Umso mehr freue ich mich an den Tagen, da wir zu zweit sind. Ich rede und lache und erzähle ihm Dinge, die ich erlebt habe. Manchmal kommt er zurück und sagt mir mit ernster Miene:

„Schwester, wir müssen etwas erledigen!“

Dann weiß ich, dass uns ein Abenteuer bevorsteht oder eine schwierige Aufgabe. Manchmal habe ich das Gefühl, dass er diese Aufgaben mitbringt, dass er mich verlässt, um irgendwo einen Auftrag aufzutreiben, oder dass er sich mit anderen berät und sie sich fragen, welches Abenteuer ich als Nächstes bestehen könnte.

Ich weiß nicht, wozu das dient. Ich könnte um den Zauberwald oder den Bodenlosen See oder den Hexenturm einfach einen Bogen machen. Andere Hindernisse lassen sich nicht umgehen, das sehe ich ein. Aber insgesamt scheint es mir, das gehört alles zu unserem Weg. Oder anders gesagt: Unser Heimweg ist nicht der kürzeste und direkte.

„Das muss so sein“, sagt mein Bruder. „Den richtigen Weg zu finden, heißt nicht, den kürzesten oder geraden zu nehmen. Der richtige Weg ergibt sich manchmal erst. Er taucht auf und war vorher gar nicht da. So ein Zuhause findet sich nicht wie ein Dorf oder ein Berg. Im Grunde liegt es nirgendwo, und da musst du erst hingelangen.“

„Das verstehe ich nicht“, sage ich dann.

„Das macht nichts“, erwidert er. „Hauptsache, ich verstehe es.“

Manchmal habe ich genug vom Umherziehen und will irgendwo bleiben, wo es uns gut geht. Will ein bequemes und ordentliches Leben anfangen.

Er lässt mich dann. Verschwindet eine Weile und kommt zurück.

Er fragt mich: „Na, bist du zufrieden mit deinem ordentlichen Leben?“

Und ich muss sagen: „Nein. Mir fehlt etwas. Ohne den Weg nach Hause hat alles keinen Sinn.“ Das ist auch etwas, was ich nicht verstehe.

„Das macht nichts“, sagt er dann wieder. „Hauptsache, ich verstehe dich.“

Manchmal ist das Alleinsein wie Kälte auf der Haut. Mich friert, ich werde ganz steif. Dann kommt er und legt seinen Arm um mich und drückt mich, und ich werde ganz weich.

„Ich liebe dich“, sagt er.

Im Nacken sträuben sich mir alle Haare.

Manchmal bin ich völlig verzagt. Dann will ich nicht mehr weitergehen. Ich setze mich ins Gras am Wegrand und weine. Er bleibt stehen und schaut nach dem Wetter oder erkundet mit den Augen die Landschaft oder schnürt sich seine Schuhe neu.

Ich weine immer noch.

„Was ist denn los?“, fragt er mild.

„Ich will nach Hause“, schluchze ich.

„Aber wir sind doch auf dem Heimweg.“

„Ich will aber jetzt nach Hause.“

„Ist es so schlimm?“

„Nein. Dort ist es so schön.“

„Da hast du recht.“

„Wie weit ist es denn noch?“

Ich schniefe und putze mir die Nase mit meinem Vergissmeinnichttaschentuch.

„Ich weiß es nicht“, sagt er freundlich.

„Ich dachte, du kennst den Weg.“

„Den kenne ich auch. Aber ich weiß nicht, wie lange wir dafür brauchen. Das hängt von vielen Dingen ab.“

„Wovon?“

„Zum Beispiel, ob du verzagt bist. Je verzagter du bist, desto länger brauchen wir.“

„Das ist gemein.“ Und ich heule gleich wieder los.

„Je nun“, sagt er und zuckt die Schultern. „Ich kann nichts dafür.“

Er lässt mich weinen, bis meine Augen jucken und mein Taschentuch ganz nass ist. Dann seufze ich und rupfe Gras aus.

„Geht’s wieder?“, fragt er.

„Nein“, antworte ich trotzig.

„Lass dir Zeit.“

„Können wir nicht etwas Anderes tun als laufen?“

„Willst du mit einem Wagen fahren?“

„Nein.“

„Oder mit einem Heißluftballon fliegen?“

„Au ja, das wäre toll.“

„Dann lass uns einen suchen.“

„Hast du schon einmal einen Heißluftballon gesehen? Bist du schon einmal mit einem Heißluftballon geflogen?“

„Aber ja“, sagt er und beginnt zu erzählen. Und im Erzählen, ohne dass ich es merke, gehen wir schon wieder.

Er macht das gut, mein Bruder.

Eines Tages gehen wir durch den Zauberwald. Man hat uns gewarnt, der Zauberwald sei gefährlich, besonders nachts. Aber wir müssen hindurch, um am Morgen an der Apfelschimmelfurt zu sein. Dort erwartet uns jemand, der uns ins Bauernland führt.

Der Weg ist schmal und voller Wurzeln. Die Bäume stehen still und haben Gesichter. Immer ist in der Ferne, manchmal auch ganz nah, ein Wispern und Raunen zu hören. Welche Bewohner mag der Wald haben?

Ich habe natürlich ein bisschen Angst. Aber wenn mein Bruder bei mir ist, ist es zum Aushalten.

„Ist es gefährlich, Bruder?“, frage ich.

„Bisher nicht“, sagt er fröhlich. Er pfeift ein Liedchen. Hat er wirklich keine Angst, oder tut er nur so?

Wir gehen und gehen. Der Wald wird immer dichter. Von Zauber sehe ich nicht viel, aber das weiß ich inzwischen. Wenn die Leute von Zauber oder Magie, von Geheimnis oder Mystik reden, dann übertreiben sie meistens. Es ist dann ein Ort, an dem eine seltsame Stimmung herrscht, oder eine Person, die ein wenig schrullig ist, oder ein Ding mit einem verrückten Namen, von dem keiner weiß, wozu es gut ist.

Der Zauberwald allerdings hat wirklich eine seltsame Stimmung. Je länger wir gehen, desto banger wird mir. Hier scheint es keinen sonnigen Mittag, keinen freudigen Morgen, kein Licht und keine Hoffnung zu geben. Überhaupt: Es ist stockfinster hier.

Die Dunkelheit legt sich mir aufs Gesicht wie eine kalte Hand. Ein Wunder, dass mein Bruder den Weg findet. Sonst würden wir in tausend Jahren noch hier herum irren.

Dann, plötzlich, in der Ferne zwischen den knorrigen Stämmen, sehe ich ein Licht. Ein kleines, das flackert und hin und her springt. Es sieht lustig aus und wechselt die Farbe von Gelb zu Rot zu Weiß.

Ich bleibe stehen und bin entzückt.

Das Licht hüpft fort, und gleichzeitig erscheint ein neues, viel näher jetzt. Es sprüht und funkelt und tanzt durchs Gezweig.

„Sieh mal“, sage ich, „wie lustig!“

„Das ist nicht lustig“, sagt mein Bruder.

„Warum nicht?“

„Das sind Irrlichter. Die halten dich zum Narren. Die führen dich in die Irre.“

Wohin?“

„Da, wo du nicht hin willst, wo es nicht weitergeht und wo du immer bleiben musst.“

„Oh.“

Ich schweige respektvoll und halte mich enger an ihn. Der Weg ist schwierig, immer wieder muss mein Bruder voraus gehen und ihn suchen, manchmal Pflanzen ausreißen und Unterholz wegschieben.

Aus dem Augenwinkel linse ich zu den Irrlichtern hinüber. Dort zwischen den Stämmen hopsen sie jetzt rot und gelb und weiß, sie tanzen übereinander und kobolzen durch die Luft, ich höre es knistern und spüre eine merkwürdige Kälte auf der Haut.

Überall um mich her sind sie, ich schaue ihnen mit großen Augen zu, und ohne es zu merken, mache ich einen Schritt in ihre Richtung.

Da packt mich mein Bruder an der Hand.

„Du darfst ihnen auf keinen Fall folgen, Schwester!“, sagt er streng.

„Aber das sieht so fröhlich aus“, maule ich.

„Komm. Weiter.“

Er schleppt mich hinter sich her, aber kaum muss er wieder voraus gehen, sind die Lichter wieder da. Jetzt umschwirren sie mich wie eine Wolke von Schmetterlingen, und ich lache und versuche sie zu erhaschen.

Sie spielen mit mir, denke ich.

Ohne es zu merken, bin ich einige Schritte vom Weg abgekommen.

Mein Bruder ruft mich: „Schwester, wo bist du?“

Ich höre ihn, aber ich antworte nicht. Ich starre auf die Lichter und folge ihnen in die Finsternis.

Ich bleibe stehen. Die Lichter fliegen davon, und plötzlich ist es um mich her ganz dunkel. Keine Lichter mehr. Aber auch kein Weg. Kein Bruder mehr, und ich erschrecke zu Tode.

Ich rufe ihn, aber meine Stimme ist schwach. Sie klingt dumpf wie aus einem tiefen Keller. Ich kann schwer atmen, die Luft kratzt mir im Hals.

„Bruder“, krächze ich, „mein Bruder ...“

Fern blinken die Lichtlein, wie um mich zu verspotten. Soll ich ihnen weiter folgen? Führen sie mich irgendwohin, wo es hell und warm ist?

Ich zittere am ganzen Leib. Ich schaue mich verzweifelt um, aber ich kann nichts erkennen. Nur die Bäume mit den Gesichtern, schattenhaft.

Am besten, du gehst nicht weiter, sage ich mir. Ich kauere mich auf den Boden und mache mich ganz klein.

Da höre ich Schritte.

Jemand bricht durchs Unterholz.

Ich kann kaum den Kopf heben. Meine Stimme ist erstickt, ich bin blind und taub.

Dann bleiben die Schritte nah bei mir stehen, und zwei kräftige Arme reißen mich empor. Über mir leuchten zwei Augen in einem freundlichen weißen Licht.

Es sind seine Schlehenaugen!

So habe ich sie noch nie gesehen.

„Bruder“, krächze ich und umarme ihn.

„Schwester!“, ruft er und drückt mich fest.

Ich will weinen, aber ich kann nicht. Meine Hände und Füße sind ganz kalt.

„Komm“, sagt er und nimmt meine Hand. „Zurück auf den Weg.“

Seltsamerweise ist es dort heller. Ein sachter Schimmer erleuchtet den Pfad.

„Jetzt bleibst du aber bei mir“, sagt mein Bruder, und ich antworte kleinlaut:

„Aber wenn mich doch die Lichter so lustig locken.“

Beim nächsten Mal dann, wenn ich stehen bleibe und die Lichtlein in der Ferne kobolzen, legt er einfach seine warme, raue Hand auf meine Augen. Sie riecht nach Geißblatt und wildem Wein. Das beruhigt mich, und ich lasse mich folgsam leiten. Die Lichter können mir nichts mehr anhaben.

So kommen wir wohlbehalten aus dem Zauberwald heraus. Wir gehen die ganze Nacht und sind doch nicht rechtzeitig an der Apfelschimmelfurt. Der Jemand ist ungeduldig geworden oder musste zu dringenderen Angelegenheiten, leider, sodass wir nicht ins Bauernland kommen.