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Philippe Jaccottet

Clarté Notre-Dame

Gedichte und Prosa

 

Deutsch von
Elisabeth Edl und Wolfgang Matz

 

 

 

 

Wallstein Verlag

Die Übersetzung wurde gefördert von der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia.

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet

diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

 

Originalausgaben:

Truinas, le 21 avril 2001 © La Dogana, Genève 2004

Le dernier livre de Madrigaux © Editions Gallimard, Paris 2021

La Clarté Notre-Dame © Editions Gallimard, Paris 2021

 

© Wallstein Verlag, Göttingen 2021

 

www.wallstein-verlag.de

Umschlaggestaltung: Susanne Gerhards, Düsseldorf

unter Verwendung eines Aquarells von Anne-Marie Jaccottet

 

ISBN (Print) 978-3-8353-5090-8

ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-4717-5

ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-4718-2

Inhalt

Truinas, 21. April 2001

Beigelegte Blätter

Madrigale, letztes Buch

I.

II.

Clarté Notre-Dame

I.

II.

Postskriptum

Notiz

Impressum

 

 

 

 

 

 

TRUINAS, 21. APRIL 2001

 

 

 

 

 

 

Am Tag vor André du Bouchets Begräbnis, am 20. April, hatte seine Tochter Marie mich angerufen und gefragt, ob ich ein paar Worte sagen könnte, und ich hatte ihr geantwortet, ich sei mir nicht sicher, dass ich den nötigen Mut aufbrächte. Nachdem ich dann noch am selben Abend überlegt hatte, wenn niemand sprach – ich ahnte schon, es würde keine richtige Trauerfeier geben –, wäre alles noch viel schmerzlicher, schrieb ich rasch das Folgende nieder:

 

 

»Im letzten Brief, den ich von André du Bouchet erhalten habe, mit dem Datum vom 31. März, die Worte: ›Angekommen in Truinas, in einem wundervollen Schneesturm …‹

Da erinnerte ich mich der Verse Hölderlins aus ›Mnemosyne‹:

 

Und Schnee, wie Maienblumen

Das Edelmütige, wo

Es seie, bedeutend, glänzet mit

Der grünen Wiese

Der Alpen, da vom Kreuze redend, das

Gesetzt ist unterwegs einmal

Gestorbenen, auf der schroffen Strass’

Ein Wandersmann mit

Dem andern, aber was ist diss?

 

›Das Edelmütige‹: ein Wort, inzwischen fast unaussprechlich geworden; und doch, genau das haben wir alle an André du Bouchet bewundert, geliebt; so wie sein Feuer, das er sich trotz allem, was er ertragen musste, erhalten hat bis in die letzten Tage; und diese Tapferkeit, die er ebenfalls bis ans Ende bewahrt hat und um die ich ihn immer beneidet habe.

 

Deshalb fühlten wir uns, Anne-Marie und ich, jedes Mal, wenn wir aus Truinas zurückfuhren, gestärkt, gekräftigt. Und war noch Tag, dann schimmerte rechts vom Heimweg, hinter Dieulefit, der schmale Fluss da vorn gleich einem Licht, eilte uns voraus, führte uns, spaltete hier und da den ebenso schimmernden Fels. Solche Dinge hielten uns über fünfzig Jahre einander nahe, solche Dinge hat er getroffen mit Worten, wie wenig andere Dichter es vermochten, mit einem Pfeilschuss, den Bogen zum Zerreißen gespannt.

 

Weißglühende Worte.

 

Sie nicht mehr zu hören, ich meine mündlich, gesprochen von ihm, das wird uns allen sehr fehlen.

 

›Hinweggerafft in Truinas, an diesem 21. April, wie in einem wundervollen Schneesturm‹: ›Schnee, wie Maienblumen‹ – sie werden nicht mehr lange auf sich warten lassen – ›das Edelmütige, wo es seie, bedeutend‹ …«

 

 

 

Aufgebrochen waren wir in Grignan gegen neun Uhr früh, und während das Auto durch das immer schmalere Tal des Lez in Richtung Dieulefit rollte, machte ich Anne-Marie darauf aufmerksam, dass die Wolken, denen wir entgegenfuhren, sehr gut auf Schnee hindeuten konnten. Und wirklich, schon hinter Dieulefit begann er zu fallen, schwer und nass, zugleich wurde der Nebel so dicht, dass wir uns etwas Sorgen machten für das letzte Stück der Straße. Bei der Ankunft in Truinas war die ganze Landschaft weiß überstäubt, die Luft kalt, die Wege morastig; sodass ich den Satz, mit dem ich meine kleine Rede hatte eröffnen und schließen wollen, diesen »Schneesturm«, in meinen Gedanken bisher nur ein Bild, nun würde ändern müssen, denn der von André selbst »wundervoll« genannte Schnee, der seine erzwungene Abreise aus Truinas Ende März begleitet hatte, fiel nun aufs neue – für seine letzte Rückkehr.

Als wir ankamen auf dem kleinen Friedhof im Talgrund, neben einer Kapelle, zu der wir nie zuvor hinabgestiegen waren, grub in der schlammigen Erde ein Bagger noch das Grab. Einige Leute waren da, Unbekannte, auch Freunde, aber noch keine Familienmitglieder, sodass wir daran dachten, vor der Kälte und dem immer weiter fallenden leichten Schnee Schutz zu suchen in der Kapelle, doch da sie inzwischen nicht mehr benutzt war, wirkte sie auf noch trostlosere Weise kalt. Endlich erblickten wir Anne, dann auch Marie, dann Paule und Gilles. Offenbar war tatsächlich nichts, gar nichts vorbereitet, organisiert; von einer Zeremonie, einem Ritus, die wohl niemand von uns erwartete, ohnehin ganz zu schweigen; aber nicht einmal der Ansatz einer Ordnung: eine Art von seltsamer Verstörung, auch etwas Wildes, das letzten Endes vielleicht sogar passte. Anne-Marie reichte ihren Arm Jacques Dupin, er wäre auf dem abschüssigen Gelände beinahe ausgerutscht. Der Sarg stand auf Böcken aus Metallrohr, wie von einer Baustelle, in einer kleinen, leicht geneigten Einfriedung, dort befanden sich, glaube ich, erst ein oder zwei Gräber. Da überkam mich ein Gefühl von Merkwürdigkeit, und es wurde immer stärker, je mehr Zeit verging: wegen der unerwarteten Kälte, des schneebestäubten Tals, das ich über die niedrige Friedhofsmauer hinweg zu betrachten begann, und mehr noch wegen dieser Art von Unordnung und Verstörung, dieser langen Stille – sodass mir später bewusst wurde, ich hatte nicht eine Sekunde gedacht, in dem Sarg dort liege ein toter Körper, noch dazu der eines so alten Freundes, nicht eine Sekunde – und ich glaube nicht, dass es nur aus unbewusstem Schutz geschah gegen zu viel Rührung …

Vergessen alles Rituelle oder mit Bedacht vermieden, ja sogar das Gegenteil jeder Zeremonie, mag sie auch bescheiden sein und unauffällig: die Stille, die nasse Kälte, der Schnee, der aufgehört hatte zu fallen oder in Regen überging, und diese Art von Erwartung bei denen, die herumstanden, ein wenig betäubt, fast wie verloren.

Schließlich, anstelle einer Liturgie, die ich altmodischer Mensch vielleicht lieber gehabt hätte (doch im Grunde genommen, das wird mir nun klar, hätte sie dort auch nicht hingehört, wo das, was »wahr« gewesen ist, gerade diese Unordnung war, diese Verwirrung, die ich beschrieben habe), wurden Worte gesprochen, fast zufällig und – in der Tiefe – überhaupt nicht zufällig; wie die Blumen, die man hier und da unter dem Schnee erahnte. Dominique Grandmont ist an das Grab getreten und las »April«, ein Gedicht Andrés aus dem Jahr 1983, und das war sehr schön, denn in ihm war die Rede von einem »blauen Fenster« und von Blumen, ganz entgegengesetzt dem morastigen Grab, Worte, die hier erblühten, wild; wie dann, wild und noch herzlicher, noch ergreifender als alles, der Ruf von Jacques Dupin: »André, mein Bruder!« (und ich, ich dachte noch immer nicht daran, dass er jetzt ein Toter war, betrachtete nur die Landschaft, wie ich sie noch nie gesehen hatte – und später sollte ich mir auch eingestehen, Worte wie diese hätte ich nie sagen können, und das gereichte mir nicht zur Ehre). Danach las ich meine paar Zeilen: »Schnee, wie Maienblumen das Edelmütige, wo es seie, bedeutend«, und ich wusste, hier berührte ich dennoch etwas Unwiderlegbares, durch das wir verbunden waren von Anfang an. Schließlich trat jemand vor, den ich nicht kannte, mit einem Buch in der Hand, und begann nun seinerseits zu lesen – es hatte völlig aufgehört zu schneien; und das Gelesene hat das Staunen und die Rührung, die ich empfand, noch vertieft, denn ich erkannte sogleich die letzten Seiten von Obermann, besonders jene Zeilen, die anheben mit »Wenn die Blumen nur schön wären …« und die für mich in den sechziger Jahren eine wahre Erleuchtung wurden, sodass ich sie zum Ausgangspunkt gemacht habe für ein Kapitel von Landschaften mit abwesenden Figuren.

 

Ich hörte zu, und die gelesenen Worte drangen so tief in mich ein wie die Landschaft dieses winterlichen April rings um uns:

 

… Wie viele Unglückliche haben von Jahrhundert zu Jahrhundert gesagt, dass uns die Blumen gewährt wurden, um unsere Ketten zu verdecken, um uns am Anfang zu täuschen und uns immer weiter festzuhalten bis ans Ende! Sie bewirken mehr, aber vielleicht recht vergeblich: sie scheinen auf etwas hinzudeuten, was kein menschlicher Kopf ergründen wird.

Wenn die Blumen nur schön wären vor unseren Augen, sie würden uns dennoch verführen; manchmal aber lockt dieser Duft, wie ein glücklicher Zustand des Daseins, wie ein unerwartetes Rufen, eine Rückkehr in das trautere Leben. Sei es, dass ich diese unsichtbaren Emanationen gesucht habe, sei es vor allem, dass sie sich darbieten, dass sie überraschen, ich empfange sie als den starken, wenn auch gefährdeten Ausdruck eines Denkens, dessen Geheimnis die stoffliche Welt einschließt und verbirgt.

 

Ich hörte zu, immer stärker bewegt:

 

… doch genügen würden schon die Narzisse oder der Jasmin, dass ich sage, so wie wir sind, leben könnten wir in einer besseren Welt.