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WACHS MIT MIR!

Ruhiger, gelassener, zufriedener – Bewährte Achtsamkeitsübungen für Kinder

ULLA KÖNIG

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© 2021 Ulla König

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ISBN Print: 978-3-948642-40-2

ISBN E-Book: 978-3-948642-41-9

Originalausgabe

Erste Auflage 2021

© 2021 by Remote Verlag, ein Imprint der Remote Life LLC, Oakland Park, US

Projektleitung: Nico Hullmann

Manuskriptbearbeitung: Katrin Gönnewig, Nina Blank

Umschlaggestaltung: Wolkenart - Marie-Katharina Becker, www.wolkenart.com

Abbildungen im Innenteil: © Ulla König

Satz und Layout: Melvyn Paulino

Alle Rechte vorbehalten. Vervielfältigung, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages.

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Inhalt

Was ist Achtsamkeit?

Einführung in die Achtsamkeit

Achtsamkeit mit Kindern üben

Ziele und Erwartungen

Drei grundlegende Haltungen: einfach, freudvoll und gelassen

Erste Haltung: Achtsamkeit ist ganz einfach

Zweite Haltung: Achtsamkeit darf Spaß machen

Dritte Haltung: Probier‘s mal mit Gelassenheit

Grundlagen der Achtsamkeit

Die klassischen Haltungen

Übung – Stehen wie ein Baum

Übung – Schritt für Schritt

Übung – Sich im Sitzen erden

Übung – Sich einpendeln

Übung – Sich dem Boden anvertrauen

Der Körper

Übung – Über den Körper staunen

Übung – Die Handmassage

Übung – In Balance

Übung – Das Gesicht baden

Übung – Der Achtsamkeitstanz

Übung – Sich Strecken wie die Katze

Übung – Sternenstrahlen

Übung – Fäuste ballen

Der Atem

Übung – Den Atem suchen

Übung – Atembilder

Übung – Die Ballatmung

Übung – Liebevoll zurück zum Atem

Übung – Hand aufs Herz

Unsere Sinne

Übung – Ich sehe was, was du nicht siehst

Übung – Die Regenbogen-Wanderung

Übung – Adleraugen

Übung – Geräusche sammeln

Übung – Sinnes-Spaziergang

Übung – Die Fühl-Kiste

Übung – Genussvoll essen

Übung – Wärme Trinken

Gefühlswelten

Gefühle und Bedürfnisse verstehen

Übung – Gefühle raten

Übung – Gefühlt kreativ

Übung – Jagd auf Gefühle

Ärger und Frustration

Übung – Wo der Ärger wohnt

Übung – Das Gefühlsbarometer

Übung – Sich am Atem festhalten

Übung – Die Wut umarmen

Übung - Bedürfnisse erkennen

Übung – Bedürfnisse sammeln

Übung - Der Bedürfniskreis

Angst und Sorge

Übung – Sich besinnen

Übung – Barfuß laufen

Übung – Der Atemaufzug

Gelassenheit und Ruhe

Übung – Die Wellen beobachten

Übung – Die 12-Stunden-Regel

Übung – Die Gelassenheitsräuber

Übung – Der Kochtopf-Detektiv

Übung – Ein Freund, ein guter Freund

Mut und Neugier

Übung – Lebe lieber ungewöhnlich

Übung – Mut proben

Übung – Das Hallo-Spiel

Konzentration und Entspannung

Das Geschenk der Aufmerksamkeit

Konzentration stärken

Übung – Grundpfeiler der Konzentration

Übung – Konzentrationsräuber

Übung – Konzentrationshelfer

Übung – Ohne Absicht

Übung – Hier und Jetzt

Übung– Der Entscheidungsspielraum

Übung – Sorgfalt walten lassen

Übung – Der Atem als Anker

Übung – Geräuschen folgen

Übung – Wartezeit

Übung – Merk dir zehn

Übung – Etiketten vergeben

Zur Ruhe kommen

Übung – Balanceakt

Übung – Leicht wie ein Vogel

Übung – Die Schneekugel

Übung – Gedanken vorbeiziehen lassen

Übung – Fingerspitzengefühl

Schlaf gut!

Übung – Slow-Motion

Übung – Die Sorgen schlafen legen

Übung – Eine Reise ins Innere

Übung – In den Schlaf schaukeln

Herzensqualitäten

Die Kunst der Empathie

Übung – Mit Forschergeist

Übung - Gefühle-Bingo

Übung – Gemeinsamer Raum

Übung – Sich nach Innen wenden

Freundschaft knüpfen

Übung - Nach innen lächeln

Übung – Stärken sammeln

Übung – Gute Wünsche

Übung – Wunsch-Gedichte schreiben

Dankbarkeit und Wertschätzung

Übung – Danke sagen

Übung – Dankbarkeitsgirlande

Übung – Ein Marmeladenglas voll Freude

Übung – Glücksbringer

Mitgefühl stärken

Übung – Einen Anker setzen

Übung – Heilsames Zuhören

Übung – Mitgefühl nach innen lenken

Selbstwert stärken

Ein gesunder Selbstwert

Wachsen durch Verbundenheit

Übung – Innehalten, Neuanfangen

Übung – Achtsam zuhören

Übung – Zielloses Spielen

Übung – Mich stört da was

Übung – Guten Tag

Übung – Kontakt aufnehmen

Wachsen durch Vertrauen

Übung – Wachsen lassen

Übung – Kleine Schritte

Übung – Stärken benennen

Übung – Die Samen gießen

Übung – Die Vogelperspektive

Übung – Der freundliche Kommentator

Übung – Eine liebevolle Sprache

Wachsen durch Handlungsspielraum

Übung – Resilienz stärken

Übung – Die Anti-Grübel-Kiste

Übung – Fragen stellen

Übung – Bestärkende Erinnerungen

Übung – Superkräfte finden

Achtsamkeit für Eltern und Bezugspersonen

Schlüssel zur Praxis

Unterstützung finden

Übung – Kraft schöpfen

Übung – Wertschätzung stärken

Übung – Mitgefühl zulassen

Übung – Sich in Gelassenheit üben

Beziehungen stärken

Übung – Ruhen und Beobachten

Übung – Perspektivwechsel

Übung – Sich führen lassen

Übung – Wärmende Worte

Einen achtsamen Alltag gestalten

Übung – Der achtsame Morgen

Übung – Gemeinsam Essen

Übung – Ein gemeinsames Abenteuer

Übung – Schlaf gut

Gruppen stärken

Übung – Den Kreis schließen

Übung – Die Eierschlange

Übung – Das Steinspiel

Übung - Seifenblasen

Übung – Spieglein, Spieglein

Übung – Wünsche verschenken

Übung – Das Sonnenstrahlenbad

Übung – Ich höre dich

Was ist Achtsamkeit?

Einführung in die Achtsamkeit

Achtsamkeit ist in den letzten Jahren zu einem viel verwendeten Begriff geworden, dem wir in den unterschiedlichsten Bereichen begegnen. Egal ob im Arbeitsumfeld, in Freizeit, Beziehung, Sport oder im Bereich der Selbsterfahrung, Achtsamkeit wird immer wieder als Mittel angepriesen, um Stress zu lindern, das Leben zu entschleunigen, die Leistung zu verbessern, Kommunikation zu gestalten, und vieles mehr.

Tatsächlich haben klinische Studien nachgewiesen, dass Achtsamkeit einen positiven Einfluss auf unsere Stimmung haben kann, Hilfe bietet im Umgang mit chronischen Schmerzen und sogar Linderung in Fällen von Krebs und Multipler Sklerose. Andere Forscher haben nachgewiesen, dass Achtsamkeit dazu beitragen kann, das Gedächtnis, die Kreativität, die Aufmerksamkeitsspanne und die Reaktionsgeschwindigkeit zu verbessern. Aber nicht nur das: So verbessert Achtsamkeit auch unsere emotionale Intelligenz und lindert unser Stressempfinden. Kurzum, sie wirkt wie ein wahres Wundermittel, das einen positiven Einfluss auf alle Aspekte des Lebens zu haben scheint.

Was aber steckt hinter dieser Achtsamkeit? Was macht sie in so vielen unterschiedlichen Umgebungen und Feldern so wirksam? Oder handelt es sich etwa doch nur um einen weiteren Trend, der früher oder später verhallen wird?

Wie bei jedem Trend besteht die Gefahr, dass unser Interesse am Thema für eine kurze Zeit relativ hoch ist, dann aber ebenso rasch abflaut und wir uns einem neuen Spielfeld zuwenden. Das wäre schade, denn eine solche oberflächliche Begegnung mit dem Thema Achtsamkeit lässt uns keine Aussage darüber treffen, was Achtsamkeit ist und kann. Achtsamkeit ist weder ein Hobby noch eine Pflicht. Um zu verstehen, ob Achtsamkeit uns tatsächlich bereichern kann, bedarf es der Bereitschaft und der Beharrlichkeit, uns über längere Zeit mit ihr zu beschäftigen. Das liegt daran, dass Achtsamkeit eine Übung bzw. ein Training ist, das nur durch Wiederholung und Hingabe seine Wirkung und Vorteile für uns entfaltet.

Einmaliges Üben oder die theoretische Beschäftigung mit dem Thema sagen herzlich wenig darüber aus, ob und auf welche Weise Achtsamkeit das Leben bereichern wird. So wie wir Fahrradfahren nicht lernen, indem wir ein Buch über Fahrräder lesen, oder einmal das Fahrrad eines Bekannten in den Händen halten, so lässt sich auch Achtsamkeitspraxis nicht über Lektüre und Reflexion allein verstehen.

Zudem ist Achtsamkeit nichts Neues oder Esoterisches. Sie ist vielmehr eine typische menschliche Fähigkeit, die wir alle bereits besitzen und nutzen. Ein Werkzeug unseres Geistes, das wir tagtäglich im Gebrauch haben. Achtsamkeit ist die Fähigkeit, die es uns erlaubt, etwas in den Vordergrund unserer Aufmerksamkeit zu stellen und dort zu halten. Mit ihrer Hilfe gelingt es uns, Details und Veränderungen zu beobachten, in der Betrachtung zur Ruhe zu kommen und herauszufinden, wie es um unser Verhältnis zum Erlebten steht.

Als solche ureigenste menschliche Fähigkeit, gehört Achtsamkeit weder einer bestimmten psychologischen Linie noch einer Tradition oder Religion an. Wir treffen sie vielmehr überall dort, wo Menschen erkannt haben, wie wichtig es ist, zu lernen, unsere Aufmerksamkeit zu schulen und zu lenken.

Wenn Sie verstehen möchten, wie Achtsamkeit funktioniert, so stellen Sie sich Achtsamkeit als den Lichtkegel einer Taschenlampe vor. Wenn wir einen dunklen Raum betreten, zum Beispiel den Dachboden eines Hauses, dann sehen wir ohne Licht nichts. Wir erkennen die Gegenstände und die Ausmaße des Raumes nicht und die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass wir uns stoßen, etwas umwerfen oder übersehen. Schalten wir dagegen die Taschenlampe an, so haben wir die Möglichkeit, einzelne Gegenstände voneinander zu unterscheiden. Wir können den Lichtkegel auf einem Gegenstand ruhen lassen, um die Details zu erkennen. Auf diese Weise können wir uns im Raum sicher und bewusst bewegen.

Wo ansonsten ein Gedanke den anderen jagt, entsteht durch Achtsamkeit ein ruhiger und sanfter Fokus. Das Innehalten verhindert, dass zu viele Reize und Gedanken auf einmal auf uns eindringen. Die Übung des stillen Beobachtens und Betrachtens führt dazu, dass sich nach und nach Beunruhigung und Rastlosigkeit legen. Der Geist kommt zur Ruhe, da er nicht ständig reagieren, kommentieren, bewerten und handeln muss. Ein ruhiger Geist erlaubt auch Herz und Körper, sich zu erholen.

Entspannung ist aber längst nicht der einzige Vorteil einer achtsamen Haltung. Das wäre auch wenig nachhaltig, denn am Ende jeder Achtsamkeitsübung begegnet uns unser Alltag wieder – und mit ihm unsere Gewohnheiten. Die kurzzeitige Entspannung geht schnell verloren, wenn unsere eingeübten Verhaltensmuster uns in die üblichen Stressreaktionen zurückführen. Deshalb schafft Achtsamkeit Raum zwischen den Reizen und unserer Reaktion auf diese – einen Handlungsspielraum.

Dieser Handlungsspielraum formt eine regelrechte Sicherheitszone zwischen einem Sinneseindruck, oder einem Gedanken und unserer Reaktion auf diesen. Dank des Platzes, der sich um unser Erleben schafft, können wir wahrnehmen, was geschieht, und dann bewusst auf das Erlebte reagieren. Wir sind nicht länger Spielball unserer Impulse und Gewohnheiten.

Durch achtsame Beobachtung wird es möglich, eingeübte Muster zu überdenken und zu ändern. Sei es in unserem alltäglichen Handeln, in der Beziehung zu uns selbst oder im Umgang mit anderen. Auf diese Weise führt uns Achtsamkeit in ein eigenverantwortliches Handeln, das sich des Stresses und Drucks annimmt und bereit ist, die zugrundeliegenden Dynamiken und Prozesse zu beleuchten. Achtsamkeit ist ein Erkenntnisprozess, indem wir nach und nach verstehen lernen, welche Handlungen uns unterstützen und welche uns hindern. Achtsamkeit ist auch ein Wachstumsprozess, indem wir das Erkannte schrittweise umsetzen.

Nicht zuletzt erkennen wir dadurch, welche bedeutende Rolle Beziehungen für unser Wohlbefinden spielen. Sowohl die Beziehung zu uns selbst als auch unsere Verbindungen mit anderen haben große Bedeutung für unsere Zufriedenheit, Ruhe und unser Glück. Achtsamkeit beobachtet die Dynamiken, die sich im Miteinander ergeben und sucht nach Wegen, Beziehung zu gestalten, die ein Mehr an Ruhe, Klarheit, Zuwendung und Vertrauen geben. Wir sind eingeladen, uns selbst und andere neu zu entdecken, mitsamt unseren Talenten und Schwachstellen.

Achtsamkeit mit Kindern üben

Achtsamkeit und Meditation wird oft verbunden mit Bildern, die zufrieden lächelnde Menschen in malerischen Umgebungen darstellen, die genügend Zeit und Muße haben stillzusitzen und Ruhe zu genießen. Für all diejenigen, die einen Alltag mit Kindern meistern, haben diese Bilder nur wenig mit dem tatsächlichen Erleben zu tun. Das Leben mit Kindern ist dynamisch und unvorhersehbar – mal laut, mal bunt, mal emotional.

Kinder sind aller Regel nach verspielt und bewegungsfreudig. Es liegt ihnen fern, über längere Zeit in der Stille und im Nichtstun Zuflucht zu suchen. Respektieren wir diese Seite unserer Kinder, so wirft dies unmittelbar die folgenden Fragen auf: Wie kann eine Achtsamkeitspraxis aussehen, die die Natur unserer Kinder respektiert? Wie können wir sie mittels Achtsamkeit in ihrer Entwicklung unterstützen, anstatt sie in einer Idealvorstellung von Ruhe und Entspannung zu unterwerfen?

Wie bereits beschrieben, ist Achtsamkeit eine Fähigkeit, die wir alle besitzen. Wir können sie durch Übung stärken, wodurch sie wächst und uns schließlich stärkt. Wie wir besitzen auch unsere Kinder bereits die Anlage zur Achtsamkeit. Wenn Sie an Ihre Kinder denken, so werden Sie erkennen, dass diese in manchen Momenten hoch konzentriert sind, eine große Liebe zum Detail zeigen und Freude haben an den scheinbar alltäglichsten Ereignissen. Für sie ist vieles, an das wir uns bereits gewöhnt haben, noch neu und aufregend. Ihr Erfahrungshorizont hat noch nicht für jedes Erlebnis ein Konzept und eine Erklärung parat. Dadurch eröffnet sich Raum zum Staunen und Erkunden.

Gleichzeitig erleben wir unsere Kinder auch oft als impulsiv, ungeduldig und unkonzentriert. Manchmal sind sie von ihren Erlebnissen überfordert, manchmal überflutet von allerlei Reizen und Informationen. Es fällt ihnen oft genug schwer ihre Emotionen zu regulieren, und zur Ruhe zurückzufinden. Doch wenn wir einen ehrlichen Vergleich ziehen zwischen den Reaktionen unserer Kinder und unseren eigenen Verhaltensweisen, dann werden wir feststellen, dass wir uns erstaunlich ähnlich sind. Wut, Angst, Sorge, Enttäuschung, Rastlosigkeit, Trägheit, Freude, Mitgefühl, Freundlichkeit – all das sind menschliche Weisen, mit Erlebnissen umzugehen, ganz unabhängig vom Alter.

Diese Erkenntnis kann uns zur Achtsamkeitspraxis ermutigen. Wir müssen für unsere Kinder nicht das Rad der Achtsamkeit neu erfinden, wohl aber verstehen wie wir ihnen die Achtsamkeitspraxis so nahebringen können, dass sie darin Freude und Nutzen finden. Anstatt ihnen ein Idealbild überzustülpen, sollten wir unsere Kinder dort abholen, wo sie gerade stehen – in ihrem Bedürfnis nach Erkundung, Wachstum, Bewegung, Kreativität und Aktivität. Entgegen aller stereotypen Bilder schließen sich Achtsamkeit und Spiel nicht aus. Achtsamkeit findet statt, wann immer wir präsent sind für unser Erleben – ob wir dabei stillsitzen oder uns bewegen, ob wir auf unseren Atem achten oder mit den Fingern die Umgebung erkunden, tut nichts zur Sache.

Wollen wir als Eltern und Bezugspersonen mit unseren Kindern Achtsamkeit praktizieren, sind wir immer auch selbst angesprochen. Kinder lernen viel mehr durch das gelebte Beispiel als durch graue Theorie. Wie Sie selbst Achtsamkeit leben, praktizieren und erkunden, wird unter Umständen mehr Eindruck auf Ihr Kind machen als jede Übung, die Sie ihm vorschlagen. Eine kurze, aber gemeinsam ausgeführte Praxis ist in der Regel nachhaltiger, als jede Anleitung oder Aufforderung. Am glaubwürdigsten wirken die Übungen, wenn Sie selbst mitmachen und aus Ihrer eigenen Achtsamkeitserfahrung sprechen.

Eine geteilte Praxis ist auch eine wunderbare Gelegenheit, gemeinsam etwas zu unternehmen und die Beziehung zwischen ihnen zu stärken. Aus diesem Grund sind viele Übungen in diesem Buch so angelegt, dass sie sie gemeinsam erkunden und ausprobieren können.

Für unsere Kinder, wie für uns selbst, kann Achtsamkeit Wege eröffnen zu einem ausgewogenen, gelassenen und freudvollen Umgang mit dem eigenen Erleben. Was Achtsamkeit dagegen nicht ist, ist eine Methode, Kinder ruhig zu stellen, ihnen Hochleistungen abzugewinnen oder bestimmte Verhaltensweisen anzugewöhnen. Niemals sollte Achtsamkeit als Strafe verwendet werden. Das würde den Kindern den Zugang zu Achtsamkeit und Meditation dauerhaft erschweren und ihnen damit eine mögliche hilfreiche Stütze für ihr Leben rauben.

Achtsamkeit ist eine Reise mit offenem Ende. Sie lädt Sie ein, sich, Ihr Kind und Ihre Beziehung zueinander neu zu entdecken. Als Menschen sind wir ständig im Begriff, uns zu verändern und weiterzuentwickeln. Achtsamkeit respektiert unsere dynamische Natur und ermuntert uns, miteinander und übereinander zu staunen. Nutzen Sie Achtsamkeit als ein mögliches Werkzeug, um Ihr Erleben gelassener, freudvoller und inniger zu gestalten.

Ziele und Erwartungen

Probieren wir etwas Neues aus oder nehmen ein Vorhaben in Angriff, so kommen wir nicht umhin, dies mit einer bestimmten Erwartung oder Zielsetzung zu tun. Wenn Sie dieses Buch in den Händen halten, so stellt sich die Frage, was Sie zum Lesen und Ausprobieren motiviert. Warum sind Sie bereit Zeit und Energie in das Lesen und vielleicht sogar das Üben der Achtsamkeit zu investieren? Was motiviert Sie dazu?

Das ist keine geringe Frage, denn unsere Motivation hat einen großen Einfluss darauf, ob wir unsere Ziele umsetzen oder nicht. Und nicht nur darauf, ob wir etwas tun, sondern auch „wie“ wir es tun. Mit Kindern Achtsamkeit zu üben, gelingt dann am besten, wenn uns der Wunsch führt, gemeinsam mit unseren Kindern einen Weg zu mehr innerer Ruhe und Zufriedenheit zu finden. Die Betonung liegt in der Gemeinsamkeit. Nicht umsonst lautet der Titel dieses Buches „Wachs mit mir“ Dieser Imperativ sagt es ganz deutlich: Es handelt sich um einen gemeinsamen Weg, auf dem Sie und Ihr Kind miteinander und voneinander lernen.

Als Eltern und Bezugspersonen wünschen wir unseren Kindern natürlich das Beste. Dies kommt in dem Wunsch zum Ausdruck, sie glücklich, gesund und in Sicherheit sehen zu wollen. Wir wünschen Ihnen, dass Sie in der Lage sind, mit den verschiedenen Herausforderungen des Lebens einen Umgang zu finden, ohne dabei Klarheit und innere Ruhe zu verlieren. Wir möchten Sie darin unterstützen Entscheidungen zu treffen, die Ihrem Glück zuträglich sind und Ihnen zeigen, wie wir als Menschen Bindungen eingehen, die uns Freundschaft und Verbundenheit schenken.

Als Erwachsene blicken wir auf viele Momente unseres Lebens zurück, in denen sich die Welt nicht nach unseren Wünschen und Erwartungen entwickelt hat. Wir haben erlebt, dass nicht alles in unserem Leben unter unserer Kontrolle ist und dass es oftmals Geduld, Gelassenheit und eine gehörige Portion Mitgefühl braucht, um mit unerwünschten Entwicklungen und Enttäuschungen zurechtzukommen.

Manchmal erleben wir auch, dass unsere persönlichen Wünsche für unsere Kinder in Reibung geraten mit den Vorstellungen und Zielen, die unsere Kinder aus Gesellschaft und Kultur vermittelt bekommen. Wo es in der Zweisamkeit um Zufriedenheit, Herzensruhe und Freundschaft geht, da geht es auf gesellschaftlicher Ebene oft um Erfolg, emotionale Unverwundbarkeit, hohe Leistungsfähigkeit und maximalen Genuss. Ein tägliches Spannungsfeld, das oft genug Verwirrung stiftet und auch seinen Einfluss auf die Praxis der Achtsamkeit nimmt. So leicht kommen wir auch hier in Leistungsdruck oder praktizieren Achtsamkeit, um uns unverwundbar oder „besser“ zu machen. Das ist der Grund, warum die Frage: ‚Warum übe ich mich in Achtsamkeit?‘ von so großer Bedeutung ist.

Achtsamkeit wird allzu leicht Opfer unserer Vorstellungen davon, wie wir sein sollten. Wir könnten alle immer noch ein wenig aufmerksamer, konzentrierter und fokussierter sein. Oft ertappen wir uns dabei, dass wir für lange Zeit geistesabwesend handeln oder unseren Gedanken nachhängen und nur wenig Bewusstsein für den gegenwärtigen Moment aufbringen. Wie leicht ist es da, mit sich zu hadern und eine Haltung des inneren Kritikers einzunehmen, der unser Verhalten kommentiert und entwertet?

Um Achtsamkeit nicht zu einem weiteren Feld für Selbstkritik und Selbstoptimierung zu machen, ist es wichtig, die eigenen Erwartungen und Zielsetzungen zu überprüfen. Wie viel Druck übt unsere Achtsamkeitspraxis auf uns aus? Wie viel Akzeptanz können wir für uns selbst, für unser Kind und unsere momentane Lebenslage aufbringen? Sind wir in der Lage, uns selbst und unser Kind so anzunehmen, wie wir gerade sind?

Wenn wir uns in einer solchen Haltung üben, dann ist es möglich, dass die Achtsamkeitspraxis sich mit unserem natürlichen Mitgefühl verbindet. Mitgefühl und Freundlichkeit sind der Schlüssel zur Achtsamkeitspraxis. Sie erlauben uns, uns selbst und andere anzunehmen und sind gleichzeitig daran interessiert, dass wir und andere wachsen und zu mehr Wohlbefinden finden.

Wir sind eingeladen, immer einmal wieder einen Blick auf unsere Ansprüche und Erwartungen zu werfen und diese zu hinterfragen. Geht es noch immer darum, mehr Glück, Ruhe, Gelassenheit oder Freude zu fördern, und unsere Kinder dazu zu befähigen, mit Schwierigkeiten und Herausforderungen einen angemessenen Umgang zu finden? Oder haben Ideale und Ziele die Oberhand gewonnen, die zu einem Gefühl von Druck oder Ablehnung führen?

Achtsamkeit ist eine große Stütze, wenn sie sich mit Fürsorge und Wohlwollen verbindet. Dann entsteht die Gelegenheit Achtsamkeit zu einer gemeinsamen Entdeckungsreise werden zu lassen, die durch beständiges Ausprobieren neue Spielräume schafft. Achtsamkeit reagiert immer auf die spezifische Situation, wie sie sich hier und jetzt zeigt. Und nicht darauf, wie etwas sein sollte oder wir es geplant hatten. Achtsamkeit erkennt, dass Perfektion stets eine Idee ist, die uns ausbremst und daran hindert zu wachsen. Wir können diese Idee getrost fallen lassen, und sind eingeladen Achtsamkeit auf eine unperfekte Weise in einer unperfekten Welt zu üben. Mit allen Höhen und Tiefen.

Eure Kinder (Khalil Gibran)

Eure Kinder sind nicht eure Kinder.

Sie sind die Söhne und Töchter der Sehnsucht des Lebens, das sich nach sich selbst sehnt.

Sie kommen durch euch, aber nicht von euch. Und obwohl sie bei euch sind, gehören sie euch nicht.

Ihr könnt ihnen eure Liebe geben, aber nicht eure Gedanken.

Denn sie haben ihre eigenen Gedanken.

Ihr könnt ihre Körper beherbergen, aber nicht ihre Seelen.

Denn ihre Seelen wohnen im Haus von morgen, das ihr nicht zu besuchen vermögt,

noch nicht einmal in euren Träumen.

Ihr könnt versuchen zu sein wie sie, aber versucht nicht, sie zu euch zu machen.

Denn das Leben läuft nicht rückwärts oder verweilt im Gestern.

Ihr seid die Bogen, von denen eure Kinder als lebendige Pfeile ausgesandt werden.

Der Schütze visiert ein Ziel auf dem Pfad der Unendlichkeit an, und biegt euch mit seiner Macht, damit seine Pfeile schnell und weit fliegen.

Lasst euch von der Hand des Schützen biegen, um der Freude willen.

Denn er liebt den davonfliegenden Pfeil so sehr wie den stabilen Bogen.

Drei grundlegende Haltungen: einfach, freudvoll und gelassen

Achtsamkeit ist an sich keine komplizierte Praxis. Sie kann immer und überall und von jedem angewendet werden. Wir brauchen keine Materialien und kein Expertenwissen, um dies zu tun. Was wir allerdings benötigen, ist ein wenig Beharrlichkeit und Geduld. Der Schlüssel zur Achtsamkeit liegt in ihrer Anwendung. Über die Zeit und durch die Übung allein entfaltet sie ihre unterstützende Kraft.

Zusätzlich sind wir eingeladen immer mal wieder einen Blick auf die Haltung zu werfen, mit der wir praktizieren. Auch hier verfallen wir gern in alte Muster und Einstellungen, die uns gefühlt zu einer „zweiten Haut“ geworden sind. Dank der Achtsamkeit können wir diese aufspüren und behutsam abstreifen. Um Ihnen dies zu erleichtern sind im Folgenden drei ganz grundlegende Eigenschaften einer gesunden und hilfreichen Achtsamkeitspraxis genannt: Sie ist denkbar einfach, sie bereitet Freude und sie ist gebettet in Gelassenheit.

Erste Haltung: Achtsamkeit ist ganz einfach

Achtsamkeit zu üben ist denkbar einfach. Wir treten aus unserer Geschäftigkeit und Zerstreutheit heraus und wenden unsere Aufmerksamkeit einer Sache zu. Sei es der Atem, der Körper, die Bewegung, unsere Haltung oder seien es Sinneseindrücke – etwas rückt in den Vordergrund unserer Wahrnehmung. Das ist einfach, aber nicht immer leicht.

Manchmal wirkt die Praxis derart einfach, dass wir bezweifeln, dass eine so simple Tätigkeit tatsächlich Auswirkungen auf uns haben kann. Oft ist es aber gerade diese Einfachheit, die uns Ruhe und Klarheit schenkt. Sie bietet uns einen Ausweg aus Reizüberflutung und kontinuierlichem Nachdenken, Analysieren und Anzweifeln.

Doch gerade in Momenten, in denen wir uns unruhig, gestresst oder frustriert fühlen, kann uns die einfache Art der Achtsamkeit als nicht ausreichend erscheinen. Mitunter hilft es dann, etwas mehr Vertrauen in die Praxis einzuladen. Forschungsergebnisse, positive persönliche Berichte zahlreicher Menschen überall auf der Welt, und Jahrtausende alte Traditionen bestätigen, dass Achtsamkeit hilfreich sein kann. Nun gilt es für Sie und Ihr Kind einen Zugang zu dieser Praxis zu finden. Das mag etwas Zeit dauern, ist aber kein hoffnungsloses Unterfangen.

Geduld ist ein starker Verbündeter, auch in der Achtsamkeitspraxis. Erwarten Sie nicht, dass eine Übung sofort Wirkung zeigt oder sich ein gewünschter Effekt einstellt. Aktive Kinder werden nicht urplötzlich ruhig und alte Muster lassen sich nicht mit einigen Momenten der Achtsamkeit ablegen. Lenken Sie Ihren Blick weg von Resultaten und Erwartungen und praktizieren Sie stattdessen auf eine Weise, die Ihnen im Moment der Übung Freude bereitet.

Wenn wir mit dem Grundsatz der Einfachheit praktizieren, darf Achtsamkeit zu etwas werden, was den Alltag begleitet und bereichert, anstatt eine weitere zeit- und kraftraubende Aktivität zu sein. Erinnern Sie sich beim Üben daran, dass weniger mehr ist, was die Dauer und die Anzahl unterschiedlicher Übungen angeht, die sie ausprobieren. Überfordern Sie weder sich selbst noch Ihr Kind mit den Übungen. Zu Beginn sind zwei oder drei Minuten völlig ausreichend, um sich mit einer Übung vertraut zu machen. Bauen Sie die Übungszeit dann nach und nach aus. Kommen Sie regelmäßig auf die Übung zurück und wiederholen Sie insbesondere die Übungen, die Ihren Kindern viel Freude bereitet haben.

Probieren Sie bewusst und nicht zu viel auf einmal aus. Wählen Sie sich pro Woche eine oder zwei Übungen und testen Sie, inwiefern sich diese in Ihren Alltag einbinden lassen. Wenn Sie eine neue Übung einführen, dann beginnen Sie mit der einfachsten Variante. Setzen Sie zuerst nur die notwendigsten Anleitungen um und üben Sie diese für einige Minuten. Fügen Sie dann über die Zeit hinweg mehr Details hinzu. Viele Übungen in diesem Buch besitzen verschiedenen Varianten. Passen Sie sich in der Auswahl dem Interesse und der Stimmung Ihrer Kinder an.

Zweite Haltung: Achtsamkeit darf Spaß machen

Achtsamkeit darf und soll Freude bereiten. Auf diese Weise verbündet sie sich mit unserem Entdeckergeist, der es uns erlaubt, Erlebnisse wahrzunehmen, als würden wir ihnen das erste Mal begegnen. Achtsamkeit lädt uns ein, die bereits vorhandenen Feinheiten und Wunder des Lebens bewusst wahrzunehmen und uns an ihnen zu erfreuen.

Komplexität und Schönheit sind nie fern von uns. Sie machen sich im Kleinen, im Großen und im ganz Alltäglichen bemerkbar. Der ganz gewöhnliche Alltag bietet genug Material für spannende Entdeckungsreisen. Unsere Praxis lockt uns aus unserem Dornröschenschlaf und stoppt den Autopiloten, durch den wir so viele Geschehnisse als selbstverständlich und gewöhnlich hinnehmen. Wir werden daran erinnert, dass etwas so Einfaches wie die Wärme einer Tasse Tee, das Gezwitscher der Vögel oder das Lächeln eines Familienmitglieds, bereits Schätze sind, an denen wir uns erfreuen können. Achtsamkeit schenkt uns den notwendigen Fokus und die Ruhe, die es braucht, um dem gegenwärtigen Moment die volle Aufmerksamkeit zukommen zu lassen.

Wir sind eingeladen, Achtsamkeit auf eine Weise zu praktizieren, die uns beschenkt und erfreut. Härte, Druck, Erwartungshaltung oder Zielsetzungen nehmen uns in aller Regel diese Freude an der Praxis. Halten Sie daher das spielerische und neugierige Element in Ihrer Praxis lebendig.

Kinder erfreuen sich dann an der Praxis, wenn sie sie mitgestalten und sich ausprobieren dürfen. Das fordert uns Eltern und Bezugspersonen so manches Mal eine Portion Flexibilität und Umdenken ab. Es hilft, wenn wir die Übungen als etwas Dynamisches und Lebendiges verstehen. Ganz allgemein gilt, dass die Übungen dazu da sind, uns zu unterstützen, und sich daher unseren Bedürfnissen, unserer Stimmung und Energie anpassen – nicht andersherum. Probieren Sie verschiedene Varianten einer Übung mit Ihrem Kind aus und schaffen Sie so ihre ganz persönliche Praxis.

Wie bereits erwähnt, sind Bewegung, Toben, Kreativität und Musik keine Hindernisse für eine achtsame Haltung. Im Gegenteil! Oft sind dies gerade die Zugänge, über die Sie Ihre Kinder zur Praxis einladen können. Verknüpfen Sie die Achtsamkeitspraxis mit dem Spiel Ihrer Kinder und flechten Sie die Übungen in einen Zeitvertreib ein, der Ihren Kindern Freude bereitet. Achten Sie darauf, in der Achtsamkeitspraxis genug Raum zu lassen, für den Wunsch nach körperlichem und kreativem Ausdruck und insbesondere darauf, dass ausreichend Bewegung im Spiel ist. Nur wer seine überschüssige Energie abgeben darf, kann zur Ruhe kommen.

Ein weiterer Quell für Freude ist die Gemeinschaftlichkeit der Praxis. Achtsamkeit eignet sich ganz wunderbar dafür, zusammen geübt zu werden. Durch das gemeinsame Erleben und Erkunden stärkt sie unsere Verbindung zueinander. Hinzu kommt, dass Kinder vieles durch Nachahmung und Beobachtung lernen. Sie imitieren das, was sie bei uns Erwachsenen wahrnehmen. Wenn wir selbst Freude und ehrliches Interesse an der Achtsamkeitspraxis haben, anstatt sie nur als einen weiteren Meilenstein auf dem Weg zu mehr Selbstoptimierung wahrzunehmen, dann wirkt die Praxis auch für unsere Kinder authentisch und lebendig.

Um mit Freude zu praktizieren, benötigt es genug Fingerspitzengefühl, um zu wissen, wann der Zeitpunkt gekommen ist, miteinander eine neue Übung auszuprobieren oder zu vertiefen. Spüren Sie vor Beginn einer Übung nach, ob Ihnen und Ihrem Kind gerade genug Energie, Zeit und Kraft zur Verfügung steht, um etwas Neues zu lernen. Binden Sie die Übungen in ihren Erlebensalltag ein und wählen Sie die Übungen aus, die zu ihrer Tagesstruktur passen. Erlauben Sie sich stets die Freiheit, die Übungen den gegenwärtigen Bedürfnissen Ihrer Kinder anzupassen. Es geht nicht darum, die Übung „richtig“ zu machen, sondern sie beide zu bereichern.

Einige der Übungen in diesem Buch werden bei Ihren Kindern auf Begeisterung stoßen, andere vermutlich auf Desinteresse. Jedes Kind hat seine eigenen Interessen und Schwerpunkte und wir alle tendieren je nach Tagesform dazu, unterschiedliche Aktivitäten zu bevorzugen. Erzwingen Sie das Üben nicht, wenn Ihr Kind kein Interesse daran hat, und üben Sie nur so lange, wie dies ohne Druck und Ermahnung möglich ist.

Abhängig vom Alter Ihrer Kinder und deren Interessen kann es sein, dass Ihre Kinder zu Beginn nur wenig oder kein Interesse an Achtsamkeitsübungen haben. Akzeptieren Sie dies und zwingen Sie sie nicht zur Praxis. Nutzen Sie stattdessen die Zeit, um Ihre eigene Achtsamkeitspraxis zu vertiefen und die Dynamiken und Gewohnheiten in Ihrer Beziehung zu Ihrem Kind zu beobachten. Lernen Sie besser zu sehen und zu verstehen, wie sie als Familie „ticken“ und in welchen Situationen ein Mehr an Ruhe, Gelassenheit, Klarheit oder Freundlichkeit sie unterstützen würde. Lesen Sie die Übungen in diesem Buch und überlegen Sie, auf welche Weise sich diese in den Alltag einbinden lassen, ohne dass sie explizit eine „Übung“ oder „Aufgabe“ miteinander machen.

Dritte Haltung: Probier‘s mal mit Gelassenheit

Wie alle unsere Fähigkeiten entsteht auch Achtsamkeit nicht, indem wir theoretisches Wissen über sie ansammeln, sondern sie mit viel Geduld und einer gewissen Beharrlichkeit in unser Tun und Handeln einbinden.

Wollen wir mit unseren Kindern Achtsamkeit praktizieren, braucht es ein gesundes Maß an Gelassenheit. Kinder können sprunghaft sein und sind leicht abgelenkt. Sie machen ihrem Unmut über eine Übung, mit der sie sich nicht verbinden können, schnell Luft, indem sie mit wachsender körperlicher Unruhe oder Albernheiten reagieren. Als Eltern und Bezugspersonen üben wir uns daher miteinander nicht nur in Achtsamkeit, wir stärken zugleich auch andere Qualitäten wie Geduld, Nachsicht und einen respektvollen Umgang miteinander.

Erwarten Sie nicht, dass Ihre Kinder über längere Zeit stillsitzen oder Übungen stets konzentriert ausführen. Solche Erwartungen bauen Druck auf, der uns über kurz oder lang die Freude an der Praxis nimmt. Gelassenheit lädt uns dazu ein, Achtsamkeit immer wieder und auf unterschiedliche Weise in den Alltag einzubauen und es hinzunehmen, dass die Praxis an manchen Tagen wunderbare Früchte trägt und an anderen einfach nicht fruchten will.

Es lohnt sich, hin und wieder einen Blick darauf zu werfen, wie sehr wir unter dem Druck stehen, die Situation unter Kontrolle zu haben. Wie deutlich macht sich eine Erwartung darüber, wie die Übung „sein sollte“, bemerkbar? In solchen Fällen kann es viel wert sein, sich bewusst zu entspannen und sich daran zu erinnern, dass die Praxis Ihnen und Ihrem Kind dient und nicht andersherum. Es gibt keine Ziele zu erfüllen, sondern eine Beziehung und ein Erleben mit Neugier und Freude auszufüllen.

Sie sind eingeladen, immer wieder die Rolle des Beobachters oder der Beobachterin einzunehmen, die herausfindet, wann welche Übung hilfreich ist, nachzuspüren wie Ihr Kind gerade tickt und wie Sie es am besten unterstützen können. Sie sind es, die Ihr Kind am besten kennen. Aus diesem Grund stellt dieses Buch eine ganze Bandbreite an Übungen vor, die Ihnen genau das ermöglichen sollen: den situativen Einsatz von Achtsamkeit.

Viele der Übungen schließen mit einem gemeinsamen Austausch über die Empfindungen und Erkenntnisse, die sich während einer Übung zeigen können. Ein solcher Austausch fördert nicht nur Nähe und Verständnis, er lässt uns auch verstehen, wie unterschiedlich Menschen auf ein und dieselbe Situation reagieren. Lassen Sie diese Reflexionen völlig ergebnisoffen. Es gibt nichts, was erfahren oder verstanden werden „muss“. Bestärken Sie stattdessen Ihre Kinder darin, ihre eigenen Erfahrungen und Empfindungen zum Ausdruck zu bringen. Dies stärkt ihr Vertrauen in die eigene Wahrnehmung und die Fähigkeit, ihre Emotionen und Befindlichkeiten in Worte zu fassen. Stellen Sie Fragen, um Ihre Kinder besser zu verstehen, aber halten Sie sich zurück mit Kommentaren und Bewertungen darüber, was Sie hören.

Es kann hilfreich sein, sich daran zu erinnern, dass die gemeinsame Praxis der Achtsamkeit ein Geschenk ist, das Sie Ihrem Kind machen. Aus Ihrer eigenen Überzeugung heraus, dass Achtsamkeit nährend und stärkend ist, entwickelt sich der Wunsch, diese Stütze auch Ihrem Kind zur Verfügung zu stellen. Manche Geschenke werden freudig angenommen. Andere brauchen ihre Zeit, bis sie in ihrem Wert erkannt werden. Wieder andere werden zurückgewiesen – was den Wert des Geschenkes an sich aber nicht mindert.

Nehmen Sie sich selbst die Last von den Schultern, indem Sie sich daran erinnern, dass nichts schiefgehen kann, wenn Sie sich an diesen Grundsätzen der Einfachheit, Freude und Gelassenheit orientieren. Im schlimmsten Fall haben Sie aus dem Wunsch heraus, sich und Ihr Kind zu bereichern, Ihrem Kind eine gemeinsame Aktivität angeboten und dadurch zum Ausdruck gebracht, wie wichtig Ihnen das Zusammensein und das Wohlergehen Ihres Kindes ist. Im besten Fall finden Sie beide in der Übung ein wertvolles Werkzeug für die Zukunft und das gemeinsame Erleben bestärkt ihre Bindung.

Grundlagen der Achtsamkeit

Die klassischen Haltungen

Achtsamkeit ist auch deshalb so wirksam, weil wir sie immer und überall anwenden können. Wir brauchen keine Ausrüstung oder besondere Umstände, um achtsam zu sein. Achtsamkeit beginnt im Hier und Jetzt und beschäftigt sich mit dem, was ohnehin schon vorhanden ist, wie zum Beispiel unserem Körper.

Ein ganz einfacher Zugang zur Achtsamkeit ist, damit zu beginnen, der Art und Weise, wie wir uns „halten“, unserer Körperhaltung, Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Spüren Sie einmal hin: Welche unterschiedlichen Empfindungen zeigen sich jetzt gerade in Ihrem Körper? Woher wissen Sie, ob Sie sitzen, gehen, stehen oder liegen? Wie verändert sich Ihr Fühlen und Spüren, wenn Sie sich bewusst aufrichten und dem Körper mehr Platz und Raum anbieten?

Wenn wir uns mit solcher Neugier verschiedenen Haltungen und Bewegungsabläufen widmen, ankern wir uns gleichzeitig im gegenwärtigen Moment und werden empfänglicher für die Befindlichkeiten unseres Körpers. Anstatt uns in Gedanken, Plänen und Sorgen zu verlieren, haben wir ganz unmittelbar Kontakt mit dem Körper. Und der Körper ist immer hier und jetzt. Mit ein wenig Übung entsteht so eine wichtige Quelle für Ruhe und Sammlung mitten im Alltag. Die Übungen in diesem Abschnitt laden Sie und Ihr Kind dazu ein, sich den Körper als Spielwiese der Achtsamkeit zunutze zu machen und ihn in seinen verschiedenen Haltungen kennenzulernen.

Die erste Haltung, die sie erkunden können, ist das Stehen. Wir stehen oft und viel im Alltag und sind uns dabei dennoch selten unserer Haltung bewusst.

Das kann aber ein sehr lohnenswertes Unterfangen sein. Ob wir gerade und stabil, gebeugt oder steif stehen, beeinflusst unser Wohlbefinden so sehr wie unsere Stimmung. Die folgende Übung lädt Sie dazu ein, sich immer wieder bewusst zu machen, wie Sie dastehen und zu erkunden, ob es möglich ist, Ihren Körpern etwas mehr Offenheit, Entspannung und Aufrichtung anzubieten.

Übung – Stehen wie ein Baum