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Manfred Osten

Die Welt, »ein großes Hospital«

Goethe und die Erziehung des Menschen
zum »humanen Krankenwärter«

 

 

 

 

 

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

 

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

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© Wallstein Verlag, Göttingen 2021

www.wallstein-verlag.de

Umschlag: Marion Wiebel, Wallstein Verlag

unter Verwendung einer Federzeichnung

von Max Beckmann zu »Faust II«

© Bundesrepublik Deutschland und Museum Wiesbaden,

Dauerleihgabe Freies Deutsches Hochstift, Frankfurt am Main

 

 

ISBN (Print) 978-3-8353-5045-8

ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-4760-1

ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-4761-8

Inhalt

Einleitung

Teil I
Die Erziehung zum »humanen Krankenwärter«

1. Kapitel
Das »einfachere Tier
im zusammengesetzten Menschen«

2. Kapitel
Die Immunität des entschiedenen Willens

3. Kapitel
Goethes Islam:
die Immunität der Furchtlosigkeit

4. Kapitel
»Nur durch Mäßigung erhalten wir uns«

5. Kapitel
Gesundheit ex oriente

6. Kapitel
»Lazaret-Poesie«

Teil II
Die Wege in das »große Hospital«

1. Kapitel
»Die Natur versteht gar keinen Spaß«

2. Kapitel
»Erde, wie sie sich quälen lässt«

3. Kapitel
Das große »Fratzengeisterspiel«

4. Kapitel
»Wir brauchen alle Tage mehr«:
die Schuldenakrobatik

5. Kapitel
»Krieg, Handel und Piraterie«

Schluss

Goethes asketologische Sendung oder:
Von der therapeutischen Erziehung des Menschen
Nachwort von Peter Sloterdijk

Siglen- und Literaturverzeichnis

Einleitung

8. Juni 1787: Goethe skizziert das verstörende Zukunftsmodell einer planetarischen Gesellschaft, deren Umrisse sich erst jetzt, im Zeichen der Corona-Pandemie, schemenhaft abzuzeichnen beginnen. Vor über 230 Jahren wagt er eine Prophetie, die den Optimismus seines frühen Mentors, Gottfried Herder, heute als Mangel an Information erscheinen lässt. Frau von Stein offenbart er nämlich, dass Herder zwar »den schönen Traumwunsch der Menschheit« ausgeführt habe, er aber, Goethe, habe eine ganz andere abgründige Vision: dass nämlich »zu gleicher Zeit die Welt ein großes Hospital und einer des anderen humaner Kranckenwärter werden wird.« (Brief an Charlotte von Stein, 8.6.1787)

»Vom Himmel durch die Welt zur Hölle« also? Den Gang der Handlung der Faust-Tragödie hat Goethe jedenfalls so beschrieben (Vers 242). Und dennoch erwartet Faust nach seinem Tod unerwartete Rettung: mithilfe der sogenannten Wiederbringungslehre des ketzerischen griechischen Kirchenvaters Origenes. Im 3. Jahrhundert hatte er gegen die kirchliche Orthodoxie protestiert mit einem optimistischen Erlösungs-Versprechen. War er doch überzeugt von einer alles erfassenden liebevoll-versöhnenden Rückführung Gottes. Alles, was einmal von ihm ausgegangen war, auch diejenigen, die sich ihm entfremdet hatten, abirrten und verloren gingen, haben verlässliche Aussicht auf eine Rückkehr zu Gott.[1] Oder, wie es Goethe im vorsorglich versiegelten Schluss-Bild (Faust  II, Bergschluchten) dem sündigen Faust verheißen lässt: »Der früh Geliebte / Nicht mehr Getrübte / Er kommt zurück.« (Vers 12073 ff.) Eine Wiederbringungs-Verheißung, mit der Goethe schon 1772 in seinem Brief des Pastors sympathisiert hatte. Sie wird jetzt Faust vom Chor der Engel als Erlösungs-Rückzug in Aussicht gestellt.

Eine Aussicht, deren Hoffnungs-Potential gerade in Zeiten der Pandemie jedenfalls wieder mit Interesse rechnen dürfte. Denn moderne Rückzugswege aus dem »großen Hospital« unserer Krisen scheinen sich zunehmend als sperrig zu erweisen. Allein die seit 2020 rapide fortschreitende Virusevolution scheint diese Tendenz zu bestätigen. Warum? Weil sich am Horizont eine fatal gegenläufige Entwicklung im Zeichen des neu zu deutenden Goetheschen Schlüsselbegriffs des »Veloziferischen«[2] abzuzeichnen beginnt: die Epidemien der vor-»veloziferischen« Zeit waren mit Ausnahmen wie der großen Pest im 14. Jahrhundert meist noch beklagenswerte Regional-Katastrophen. Doch mit der exponentiellen Beschleunigung des Transportwesens als Folge der industriellen Revolution erreichten sie jenen unkontrollierbaren Charakter, den Goethe bereits 1825 beschreibt mit den Worten: »und so springt’s von Haus zu Haus, von Stadt zu Stadt, von Reich zu Reich und zuletzt von Weltteil zu Weltteil, alles veloziferisch.« (Briefentwurf an G. H. L. Nicolovius, vermutlich Ende November 1825) Mit dem Ergebnis, dass mit dieser beschleunigten Verbreitungschance auch die Virusevolution beschleunigt dem ehernen Wahrheitsgesetz der Natur folgt: der Optimierung des eigenen Reproduktionserfolgs. Und zwar nach der Faustregel: Je mehr Infizierte, desto größer die Viren-Masse, und desto mehr vervielfachen sich die Möglichkeiten zu Mutationen und neuen, noch erfolgreicheren Infektions-Eigenschaften. Das heißt, der Mensch hat das Social Distancing gegenüber der Natur offenbar missachtet. Und die viralen Mutationen beginnen nun, die Politik, die Wissenschaft und die menschliche Gesellschaft vor sich herzutreiben. Während das Virus vermutlich gekommen ist, um zu bleiben. Die menschliche Aufholjagd bei der Ortung dieser Mutations-Dynamik steht dabei vor dem langwierigen nicht-»veloziferischen« Problem: dass in Laborversuchen jeweils die rund 30.000 RNA (Ribonukleinsäure)-Buchstaben eines SARS-Cov-2-Virus untersucht werden müssen, um die einzelnen Biomoleküle als materielle Basis des Genoms zu entziffern.

Hinzu kommt, dass die menschliche Gesellschaft dieser Evolutions-Dynamik der global von »Weltteil zu Weltteil« springenden Wahrheit der Natur im Zustand einer globalen Immunschwäche gegenübersteht. Deren Anfänge Goethe bereits 1829 gegenüber Eckermann skizziert hat, und deren Ursachen im zweiten Teil des Buches näher untersucht werden sollen: »Das Schwache ist ein Charakterzug unsers Jahrhunderts […] es ist, mit wenigen Ausnahmen alles schwach, und in der Masse steht es nicht besser.« (Gespräch mit Eckermann, 2. Teil, 12.2.1829)

Angesichts der zunehmenden Zahl apokalyptischer Zukunfts-Gespenster des 21. Jahrhunderts wäre es daher sicherlich hilfreich, die erwähnte freundliche »Erlösungs«-Choreographie des faustischen Endspiels zu deuten im Sinne der Empfehlung des Antonio im Torquato Tasso: »Wir hoffen immer, und in allen Dingen, / Ist besser hoffen als verzweifeln. Denn / Wer kann das Mögliche berechnen?« (Vers 2163 ff.)

Was sich umso mehr empfehlen dürfte, da der so erlösungs-bedürftige Faust ohnehin als erster Patient im »großen Hospital« der globalen Postmoderne verstanden werden kann. Hinzu kommt, dass der erwähnten Hoffnungsempfehlung Goethes im Tasso ausgerechnet Goethe selbst im Werther früh widersprochen hat. Lautet doch dort die wenig optimistische Bilanz: »Alle Menschen werden in ihren Hoffnungen getäuscht, in ihren Erwartungen betrogen.« (Zweites Buch, 4.8.)

Und in der Tat ist es Werther, der sich heute wie kaum ein anderer als pessimistischer Zeitgenosse im Zeichen wachsender Krisen-Szenarien präsentiert. Denn er ist es, der unbeirrt den Weg in jenes »große Hospital« antritt, über dessen Portal die Diagnose geschrieben steht, der die Menschheit zu entkommen hofft: die »Krankheit zum Tode«. Es sei denn, es gelingt, die Wurzel dieser Krankheit zu erkennen und sie konsequent zu kurieren.

Goethe hat jedenfalls vor fast 250 Jahren hellsichtig diese »Wurzel« im Werther bereits beim Namen genannt. Ohne dass bislang die Aktualität seiner Einsicht für das 21. Jahrhundert bewusst geworden ist: es ist jene bereits erwähnte Wahrheit der Natur, die sich nach wie vor als wirkmächtigste Bedingung des Lebens erweist, und deren Nichtbeachtung sich als Selbstzerstörung des Menschen und als Zerstörung unseres Planeten abzuzeichnen beginnt. Eine Wahrheit, die erst 1968 vom Club of Rome im Zeichen einer nachhaltigen Zukunft der Menschen und als Weckruf an die Weltgesellschaft schemenhaft wiederentdeckt worden ist. Bekanntlich ohne wesentliche reale Folgen. Hier Goethes beunruhigende Erkenntnis: »aber die Natur versteht gar keinen Spaß, sie ist immer wahr, immer ernst, immer strenge; sie hat immer Recht, und die Fehler und Irrtümer sind immer des Menschen.« (Gespräch mit Eckermann, 2. Teil, 13.2.1829)

Womit sich die Frage stellt nach der Art und Weise der »Späße«, die für Goethe schon zu seinen Lebzeiten mit der Natur getrieben wurden auf dem Weg in das »große Hospital« der Welt. Und zwar mit der im Werther als »Krankheit zum Tode« geschilderten Folge, »wodurch die [menschliche] Natur so angegriffen wird, daß theils ihre Kräfte verzehrt, theils so außer Wirkung gesetzt werden, daß sie sich nicht wieder aufzuhelfen, durch keine glückliche Revolution, den gewöhnlichen Umlauf des Lebens wieder herzustellen fähig ist« (Erstes Buch, 12.8.).

Lässt sich, was hier auf einen einzelnen Menschen bezogen ist, auch auf die Menschheit als Ganzes übertragen? Manifestiert sich also dieser Prozess inzwischen als ständig wachsende Immunschwäche des Menschen gegenüber der Natur? Beginnt hier ein Prozess der »Schwäche« als »Charakterzug unsers Jahrhunderts«? Mit Krankheitssymptomen, wie sie Goethe schon der Romantik vorgeworfen hat? War dies der Versuch einer Wiederverzauberung der entzauberten Welt, mit der Folge einer beginnenden Immunschwäche in Gestalt einer Realitäts- und Gegenwarts-Verweigerung? Der Goethe jedenfalls in den Chinesisch-Deutsche Jahres- und Tageszeiten (XIV) mit der Aufforderung begegnet: »Sehnsucht in’s Ferne, Künftige zu beschwichtigen, / Beschäftige dich hier und heut im Tüchtigen.« Jedenfalls ist es Nietzsche als Goethe-Bewunderer, dem schließlich die Erklärung gelingt für diesen von Goethe diagnostizierten »Charakterzug« der »Schwäche«: »Krankheit« sei »jedesmal die Antwort […] wenn wir anfangen, es uns irgendworin leichter zu machen […], unsre Erleichterungen sind es, die wir am härtesten büßen müssen! Und wollen wir hinterdrein zur Gesundheit zurück, so bleibt uns keine Wahl: wir müssen uns schwerer belasten als wir je vorher belastet waren« (Menschliches, Allzumenschliches, SA  1, 741).

Diesen »Erleichterungen« soll nachgegangen werden. Und zwar im Sinne von Fortschritt als »Erleichterung«, als das erfolgreiche Experiment moderner Wissenschaft und deren Ergänzung durch die Technik. Als folgenreiche Entlastung menschlicher Energie-Anstrengungen durch Rückgriff auf die fossilen Energieressourcen der Erde. Hatte doch Goethe schon erkannt: »Erde sie steht so fest! / Wie sie sich quälen läßt!« (Pandora, Vers 189 f.)

In Teil I dieses Buches soll daher vorrangig gefragt werden nach Goethes Strategien zur Steigerung der Immunität gegenüber der sich abzeichnenden »hospitalen« Immunschwäche. Und zwar als resolute Verweigerung der »Erleichterungen« durch Beispiele eines übenden Lebens. Die neu verstanden werden könnten als Goethes Arbeit am Mythos des Sisyphos. Der – wie Goethe im Rückblick auf sein Leben bemerkt – für ihn bedeutete: »das ewige Wälzen eines Steines, der immer von neuem gehoben sein wollte.« (Gespräch mit Eckermann, 1. Teil, 27.1.1824)

Es war das Wälzen eines Steins vor allem gegen die zunehmend extremistischen Tendenzen der Entgrenzung und Maßlosigkeit im Zeichen einer entfesselten Lebensgier. Die Notwendigkeit permanenten Übens also als Aufforderung der Natur zur Sicherung des Lebens durch Stärkung des Immunsystems. Das heißt, schon vor Nietzsche hat Goethe die Erde verstanden als »asketischen Stern« (Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral, SA  2, 858), als einen Planeten des ständigen Übens.

Das übende Leben also als die eigentliche »Aufgabe«, über die Nietzsche spricht als »jenes verborgene und herrische Etwas, für das wir lange keinen Namen haben, bis es sich endlich als unsre Aufgabe erweist, – dieser Tyrann in uns nimmt eine schreckliche Wiedervergeltung für jeden Versuch, den wir machen, ihm auszuweichen oder zu entschlüpfen« (Menschliches, Allzumenschliches, SA  1, 740).

Da Goethe seine Prophetie des »großen Hospitals« der Welt aber gleichzeitig verstanden hat als »Aufgabe«, dass »jeder des anderen humaner Kranckenwärter werden wird«, so soll sichtbar werden, dass er sich selbst auch als erster solidarischer »Krankenwärter« verstanden hat: »Ich kann und will das Pfund nicht mehr vergraben! / Warum sucht’ ich den Weg so sehnsuchtsvoll, / Wenn ich ihn nicht den Brüdern zeigen soll?« (Zueignung, Vers 70 ff.)

Was Goethe »den Brüdern« zeigt, sind Empfehlungen zur Vermeidung des Weges in das »große Hospital«. Darunter vor allem die (in Vergessenheit geratenen) Übungen der Ermutigung und Selbstdisziplinierung durch Mäßigung. Übungen also zur Vermeidung der »Krankheit zum Tode«. Jener Krankheit, die es – wie die Marienbader Elegie zeigt – bis ins hohe Alter zu vermeiden galt. Immer wieder lautet daher die Frage: Wie kann es – im Sinne des genannten Werther-Zitats – gelingen, durch eine »glückliche Revolution, den gewöhnlichen Umlauf des Lebens wieder herzustellen«? Gibt es hierzu, etwa mit Blick auf das kaum beachtete China-Verständnis Goethes, Hinweise auf eine immunitäre Sicherung des Lebens? Also jenseits des Horizonts der eurozentristischen Belehrungsgesellschaft mit der notorischen Weigerung, sich in eine Lerngesellschaft fremder Kulturen zu transformieren? Gibt es dort Praktiken, die Goethe als paradigmatisch verstanden hat zur Vermeidung des »großen Hospitals« der Welt? Zum Beispiel im Sinne einer Stärkung des Gemeinsinns zur wechselseitigen Sicherung der Immunität der Menschen? Ließe sich Goethes zur bildungsbürgerlichen Leerformel mutierte Forderung »Edel sei der Mensch, / Hülfreich und gut« in diesem Sinne neu lesen?

Eine neue Lesart, die allerdings nur dann Erfolg haben könnte, wenn es gleichzeitig gelänge, zwei wichtige Phänomene im Weltverständnis Goethes therapeutisch umzusetzen. Folgt doch Goethe auf eigene Weise der Einsicht Nietzsches, dass unsre »kleine Vernunft« nur ein Werk- und Spielzeug »deiner großen Vernunft« ist (Also sprach Zarathustra, SA  2, 300). Und dass jedes Verharren in der Maßlosigkeit gegenüber dieser »großen Vernunft« jeder Vernunft der Lebens-Sicherung widerspricht. Mit dem 1825 festgehaltenen fatalen Ergebnis: »alles […] ist jetzt ultra […]. Niemand kennt sich mehr, niemand begreift das Element worin er schwebt und wirkt.« (Brief an Zelter, vermutlich 6.6.1825)

Und dass es andererseits im Sinne Goethes gilt, die in »der großen Vernunft des Leibes« wirkmächtige Natur zu verstehen als Universum unendlicher »Wechselwirkungen« (A. v. Humboldt, Alles ist Wechselwirkung). Mit der Besonderheit komplexer nicht-linearer Prozesse. Denen gegenüber es nur ein einziges Rettungsmittel gibt: Empathie im Sinne der Forderung Alexander von Humboldts: »Denn die Natur muß gefühlt werden, wer sie nur sieht und abstrahiert, kann […] Pflanzen und Tiere zergliedern […]. […] er wird ihr aber selbst ewig fremd bleiben.« (Brief von A. v. Humboldt an Goethe, 3.1.1810)

Es soll in diesem Zusammenhang gezeigt werden, dass Goethe und Humboldt verstanden werden können als Vordenker einer alternativen Naturwissenschaft im Zeichen der Reinhaltung der Natur statt ihrer Nutzung in fortschreitenden Prozessen des Weltverbrauchs. Eine Reinhaltung im Geiste vor allem jenes »heiligen Vermächtnisses«, das Goethe im West-östlichen Divan für die Nachwelt festgehalten hat als Aufforderung zu globalem »brüderlichen Wollen«: zur Reinhaltung der drei Elemente Luft, Wasser und Erde. Und dies als »Schwerer Dienste tägliche Bewahrung, / Sonst bedarf es keiner Offenbarung.« (Vermächtniß alt persischen Glaubens im Buch des Parsen) Zu dieser dominanten Rettungs-Idee der Reinheit wird sich – wie gezeigt werden soll – dann im hohen Alter bei Goethe noch die Idee der Herden-Immunität gesellen: als konkrete Strategie der Gesundung bei viralen Infektionen.

Vor diesem Hintergrund könnte Goethes »großes Hospital« verständlich werden als gegenläufige Groß-Metapher des 21. Jahrhunderts. Die den Blick freigibt für eine neue »Lesbarkeit der Welt« (Hans Blumenberg): mit Sisyphos, als ihrem ältesten »humanen Krankenwärter«. Gelang es ihm doch, den Tod zu überlisten und den Todesgott (Thanatos) zu fesseln. Goethe hat ihn jedenfalls für sich reklamiert: im Namen der Immunsteigerung zur Bewahrung des Lebens.

Sisyphos, der gleichzeitig verstanden werden muss als Repräsentant eines übenden Lebens im Zeichen jener Geduld, die Goethes Faust nicht kennt. Und der, indem er die Geduld verflucht, sich als erster Intensiv-Patient im pandemischen »Hospital« der Moderne erweist: Lemuren, »geflickte Halbnaturen« (Vers 11514) nämlich, sind seine Totengräber. »Verwirrende Lehre zu verwirrenden Handel« (Brief an W. v. Humboldt, 17.3.1832) waltet bereits über Fausts Welt.

Statt Therapieempfehlungen hinterlässt Faust hier der Nachwelt die mephistophelische Trias der Dreieinigkeit von »Krieg, Handel und Piraterie« (Vers 11187). Begleitet von der Liquidierung des kulturellen Gedächtnisses (Philemon und Baucis), den Straflagern der Zukunft (»Menschenopfer mußten bluten«, Vers 11127) und den Rache-Feldzügen der Elemente (»In jeder Art seid ihr verloren«, Vers 11548). Und schließlich mit der barbarischen Hospital-Strategie als Triage-Empfehlung des Baccalaureus für künftige Pandemien im »großen Hospital« der Welt: »Hat einer dreißig Jahr vorüber, / So ist er schon so gut wie tot. / Am besten wär’s euch zeitig totzuschlagen.« (Vers 6787 ff.)

Goethe hat den zweiten Teil des Faust vorsorglich versiegelt. Er hat es der Nachwelt überlassen, die infektiösen Symptome auf dem Weg zum »großen Hospital« der Welt zu erkennen. Um dieses Erkennen zu verbinden mit der aktuellen Frage, ob wir – wie Faust – entschlossen sind, weiter über unsere Verhältnisse zu leben. Oder jenem Weg der Genesung den Vorzug geben, den Faust zu spät erkennt (Vers 11404 – 11407):

 

Könnt ich Magie von meinem Pfad entfernen

Die Zaubersprüche ganz und gar verlernen

Stünd ich, Natur! vor dir ein Mann allein

Da wär’s der Mühe wert ein Mensch zu sein.

 

 

 

 

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1      Zu Goethes Rezeption der »Wiederbringungslehre« des Origenes siehe Albrecht Schöne, Faust. Kommentare, FA  7.2, 788 ff.

2      Veloziferisch: Goethes Verschränkung von velocitas, Geschwindigkeit, mit Lucifer, dem Teufel; siehe auch Manfred Osten, Alles veloziferisch oder Goethes Entdeckung der Langsamkeit, Göttingen 2013.

Teil I
Die Erziehung zum »humanen Krankenwärter«

1. Kapitel
Das »einfachere Tier
im zusammengesetzten Menschen«

Goethe hat es nicht belassen bei der Prophetie vom »großen Hospital der Welt«, wo »einer des anderen humaner Kranckenwärter werden wird«. Er wusste zwar noch nichts von den Pandemie-Erkenntnissen der Gegenwart, aber es hätte ihn sicherlich nicht überrascht, dass die Natur, ähnlich wie die Literatur auf dem Weg zur »Weltliteratur«, von »der sich immer vermehrenden Schnelligkeit des Verkehrs« (Aus dem Faszikel zu Carlyles ›Leben Schillers‹, FA  22, 866) profitieren würde: in Richtung einer Welt-Natur. Und dass auch virale Wanderungen sich diesem globalen Trend anschließen, hätte ihn vermutlich am wenigsten überrascht. Denn wenn alles, wie er 1825 notierte, inzwischen »von Weltteil zu Weltteil« springt, warum nicht auch jene Mikroorganismen, die er längst in seine Betrachtungen als archaische Gäste des Menschen einbezogen hatte.

Goethe hatte frühkindlich Erfahrung mit Pockenviren gemacht, die ihn vermutlich im sechsten Lebensjahr befallen hatten, und über die er in Dichtung und Wahrheit berichtet (I, 1). Eine Kindheitserinnerung, deren Aktualität mit Blick auf Impf-strategien der Gegenwart zur Bekämpfung des pandemischen Corona-Virus auf der Hand liegt. Wird hier doch Goethes rational geleitete Offenheit gegenüber Impfungen erkennbar. Wobei allerdings inzwischen vermutet wird, dass für Impfungen im Falle von Virus-Pandemien ein fataler Prozess aktiviert wird: je mehr Menschen geimpft sind, desto schneller werden sich auch Mutationen des Virus verbreiten, die gegen die Impfstoffe gefeit sind. Goethe schreibt (FA  14, 43):

Ich hatte mir eben den Fortunatus [mittelalterliches Volksbuch] mit seinem Säckel und Wunschhütlein gekauft, als mich ein Mißbehagen und ein Fieber überfiel, wodurch die Pocken sich ankündigten. Die Einimpfung derselben ward bei uns noch immer für sehr problematisch angesehen, und ob sie gleich populare Schriftsteller schon faßlich und eindringlich empfohlen; so zauderten doch die deutschen Ärzte mit einer Operation, welche der Natur vorzugreifen schien. Spekulierende Engländer kamen daher aufs feste Land und impften, gegen ein ansehnliches Honorar, die Kinder solcher Personen, die sie wohlhabend und frei von Vorurteil fanden. Die Mehrzahl jedoch war noch immer dem alten Unheil ausgesetzt; die Krankheit wütete durch die Familien, tötete und entstellte viele Kinder, und wenige Eltern wagten es, nach einem Mittel zu greifen, dessen wahrscheinliche Hülfe doch schon durch den Erfolg mannigfaltig bestätigt war. Das Übel betraf nun auch unser Haus, und überfiel mich mit ganz besonderer Heftigkeit. Der ganze Körper war mit Blattern übersäet, das Gesicht zugedeckt, und ich lag mehrere Tage blind und in großen Leiden. Man suchte die möglichste Linderung, und versprach mir goldene Berge, wenn ich mich ruhig verhalten und das Übel nicht durch Reiben und Kratzen vermehren wollte. Ich gewann es über mich; indessen hielt man uns, nach herrschendem Vorurteil, so warm als möglich, und schärfte dadurch nur das Übel. Endlich, nach traurig verflossener Zeit, fiel es mir wie eine Maske vom Gesicht, ohne daß die Blattern eine sichtbare Spur auf der Haut zurückgelassen; aber die Bildung war merklich verändert. Ich selbst war zufrieden, nur wieder das Tageslicht zu sehen, und nach und nach die fleckige Haut zu verlieren.

Erst 1959 wird die WHO darauf aufmerksam machen, dass diese Viren als Infektionskrankheiten auch »zoonotisch«, das heißt zwischen Wirbeltieren und dem Menschen, übertragen werden können. Man vermutet heute, dass Zehntausende von möglicherweise zoonotischen Parasiten existieren. Sie alle können von Wirbeltieren auf Menschen übertragen werden. Dabei wird die Zahl der bislang unentdeckten Viren auf etwa 1,6 Millionen geschätzt.

Hinzu kommt, dass beim zoonotischen Grenzübergang Viren transportiert werden, deren archaische Vorfahren bei näherem Hinsehen seit Urzeiten (vor 40 bis 70 Millionen Jahren) schon mit den Vorfahren des Homo sapiens vertraut waren. Ja, sie können sogar beanspruchen, dass etwa acht Prozent der menschlichen DNA aus ihren »Überresten« besteht. Es war ihnen offenbar gelungen, eine archaische Immunschwäche des Menschen zu nutzen, um in ihm heimisch zu werden: indem sie ihr eigenes Erbgut in dessen Genom »einschleusten«. Bestimmte Viren – man nennt sie Retroviren – können sich seitdem sogar nur im menschlichen Wirt vermehren.

Und es war Goethe, der es gewagt hat, die Blickrichtung auf den Menschen zu ändern, um diesen Kunstgriff der Natur im Menschen zu erkennen. Bereits während seiner frühen anatomischen Studien hat Goethe unorthodox empfohlen, den Menschen von »unten« her zu erkennen (Schriften zur Morphologie, FA  24, 265 f.):

der Einblick, wie die allgemeinen Gesetze bei verschieden beschränkten Naturen wirksam sind, die Einsicht zuletzt, wie der Mensch dergestalt gebaut sei, daß er so viele Eigenschaften und Naturen in sich vereinige und dadurch auch schon physisch als eine kleine Welt, als ein Repräsentant der übrigen Tiergattungen existiere, alles dieses kann nur dann am deutlichsten und schönsten eingesehen werden, wenn wir, nicht wie bisher leider nur zu oft geschehen, unsere Betrachtungen von oben herab anstellen und den Menschen im Tiere suchen, sondern wenn wir von unten herauf anfangen und das einfachere Tier im zusammengesetzten Menschen endlich wieder entdecken.

Ein wissenschaftlicher Grenzgang von unten also, vom »einfacheren Tier« hinauf zum »zusammengesetzten« Menschen als dem »noch nicht festgestellten Tier« (Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, SA  2, 623). Mit dem überraschenden Ergebnis moderner Viren-Forschung, dass nicht nur acht Prozent des menschlichen Genoms von Viren abstammen, sondern dass diese zum Teil uralten DNA-Schnipsel ausgerechnet an der Entwicklung unseres Immunsystems beteiligt waren und sind. Ihnen gelingt, was Goethe hochgeschätzt hat: das Paradoxon! Viren helfen dem Menschen bei der Abwehr gegen die Artgenossen dieser Viren. Also gehören durchaus auch Viren zu diesen »einfacheren Tieren im zusammengesetzten Menschen«! Ließen sich aus diesem Paradoxon der »einfacheren Tiere im zusammengesetzten Menschen« möglicherweise Einsichten gewinnen für jene »geheim-offenbaren« Prozesse der Natur bei der Entwicklung der Immunschwächen und -stärken im Menschen im Laufe der Evolution? Könnte man der Wissenschaft vielleicht auf die Sprünge helfen?

Etwa so, wie es Goethe gegenüber dem Philologen und Pädagogen Riemer angedeutet hat: »Die Natur kann zu allem, was sie machen will, nur in einer Folge gelangen. Sie macht keine Sprünge.« (Gespräch mit Riemer, 19.3.1807) Es überrascht daher nicht, dass Goethe schon 1782 in einem Brief an Merck den Blick auf die Entwicklung der »niederen Tiere« seit der Urzeit lenkt und prophezeit: »Es wird nun bald die Zeit kommen, wo man Versteinerungen […] verhältnismäßig zu den Epochen der Welt rangieren wird.« (Brief an Merck, 27.10.1782) Eine Prophetie, die dann erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine wissenschaftliche Bestätigung finden sollte: mit der Erstellung einer auf dem Prinzip der Leitfossilien gründenden Zeitskala der Erdgeschichte.

Die Vorstellung der Menschwerdung von ganz »unten« hat Goethe jedenfalls über Jahrzehnte weiter beschäftigt. Um dann gegenüber Zelter zu dem Schluss zu gelangen: »Manche Exemplare einer vor allen geschichtlichen Zeiten versenkten organischen Welt« hätten sich bei ihm eingefunden. »Fossile Tier- und Pflanzenreste versammeln sich um mich, wobei man sich notwendig nur an Raum und Platz des Fundorts halten muß, weil man bei fernerer Vertiefung in die Betrachtung der Zeiten wahnsinnig werden müßte.« (Brief an Zelter, 11.3.1832)

Zu dieser »Betrachtung der Zeiten« gehört denn auch die erwähnte Tatsache, dass virale Überreste der Urzeit als freundliche Assistenten einer angeborenen »Immunreaktion« jenes Immunsystem gestärkt haben, dessen Erhalt und Stärkung für Goethe von höchstem Interesse bleiben sollte. Das gilt vor allem für jene Steigerung des Lebens, die sich im Werther