Madeleine Puljic



Herz des Winters



Roman



Für Liam

karte.png

1. Kapitel

Rückblickend wäre es natürlich einfach zu sagen, all ihre Schwierigkeiten hätten erst mit Berekh begonnen. Hinterher war es immer leicht, mit dem Finger auf jemanden zu zeigen und ihm die Schuld zuzuschreiben, doch die simple Wahrheit war: Ihre Misere hatte nichts mit Berekh zu tun.

In ihren edelmütigen Momenten war sie selbst es, der sie die Unfähigkeit vorwarf, sich ihrem Stand und ihrer Umgebung gemäß zu verhalten. Möglicherweise war das ja der Grund, weshalb sie Anstellungen selten lange genug behielt, um die vereinbarte Bezahlung zu erhalten.

»Was ist, du schmalgesichtige Gossenratte? Mach Platz, oder ich zeig dir gleich, wo’s lang geht!«

Andererseits – vielleicht lag es doch an Berekh.

»Sei gefälligst still!«, zischte Daena ihrem vorlauten Begleiter zu. Zugleich versuchte sie, dem bulligen Soldaten, dem Berekhs Worte gegolten hatten, ein entschuldigendes Lächeln zuzuwerfen. Sie mochte zierlich und hilflos aussehen, doch bei solchen Zeitgenossen half das wenig. Vor allem, da Berekh sich vor fremden Blicken sicher verborgen in ihrem Beutel befand, und sie somit gnadenlos den Reaktionen auf seine eigene Ruppigkeit aussetzte.

Zum Glück gab der Soldat nur ein unwirsches Grunzen von sich. Dann wandte er den finsteren Blick wieder einer Handvoll zwielichtiger Gestalten zu, die sich zwischen den Marktständen herumdrückten und eindeutig nicht hier waren, um einzukaufen.

Schnell brachte Daena eine ihr sicher erscheinende Distanz zwischen sich und das Geschehen. Erst als sie außer Sichtweite des Soldaten und seinem penetranten Schweißgeruch entkommen war, öffnete sie ihre Tasche. »Irgendwann lasse ich dich einfach liegen«, zischte sie. »Ich schwöre es. Mitten auf der Straße. In einer Jauchepfütze!«

Der vergilbte Totenschädel grinste sie aufmüpfig an. »Und wer hört sich dann Nacht für Nacht dein Gejammer an?«

Wütend knallte Daena den Beutel samt Berekh zu Boden und genoss das Geräusch, mit dem seine Zähne aufeinander schlugen. »Ich bin sehr gut allein zurechtgekommen, bevor ich dich gefunden habe!«

»Pah, von wegen gefunden! Meine Krypta hast du geschändet und meinen Kopf gestohlen, du unwissendes Kind!«

Sie schnaubte ungehalten. »Gar nichts habe ich geschändet!« Vor Wind und Regen hatte sie Unterschlupf gesucht und in ihrer Einsamkeit ein Gespräch mit einem – wohlgemerkt, leblosen! – Schädel begonnen, der zwischen Laub und Gestein auf dem Boden gelegen hatte. Als die Nacht und das Unwetter vorüber gewesen waren, hatte sie den vermeintlich stillen Gefährten nicht zurücklassen wollen. Das hatte sie nun davon.

»Ich kann dich ja gerne wieder in ein Grab legen, wenn du so viel Wert darauf legst, du undankbares Gerippe!«

Berekh knirschte wütend mit den Zähnen, und das normalerweise grüne Glühen in seinen leeren Augenhöhlen verwandelte sich in ein tiefes Violett. Er hasste es, im Streit zu unterliegen. Schließlich presste er hervor: »Werde ich jetzt vielleicht auch einmal wieder aufgehoben? Und nenn mich gefälligst nicht Gerippe, ich habe überhaupt keine Rippen.«

Seufzend bückte Daena sich, um nach dem Trageriemen zu greifen – und erstarrte mitten in der Bewegung. Schnee hatte begonnen, in dicken Flocken auf den gefrorenen Boden zu sinken, und sammelte sich im kalten Dreck. Daena scheute weder den Schmutz noch die Kälte – doch dieser Schnee war rot gefärbt von dem Blutvergießen, das er ankündigte.

»Was ist?«, fragte Berekh, der aus seiner Tasche heraus zwar ihren entsetzten Blick, jedoch nicht den blutigen Schnee sah.

Daena schüttelte ihre Starre ab. Es kostete sie unendliche Überwindung, den Riemen zu packen und dabei die roten Flocken mit den ungeschützten Fingerspitzen zu berühren.

»Wir müssen weiter«, presste sie hervor. Ihre Stimme war kaum mehr als ein heiseres Flüstern.

»Warum? Was ist los?«

Sie konnte die ruckartigen Bewegungen an ihrer Hüfte spüren, mit der Berekh sich in dem Beutel umher warf, um einen Blick nach draußen zu erhaschen.

»Die Morochai kommen.« Sie zog die Kapuze ihres Umhangs tief ins Gesicht und verbarg so die Narben, die allzu deutlich vom Ausgang ihrer letzten Begegnung mit den Echsenwesen kündeten.

***

»Findest du es nicht jämmerlich, ständig davonzulaufen? Immerhin bin ich ein mächtiger Zauberer, und du eine ausgebildete Kämpferin …«

»Du warst einmal ein Zauberer«, keuchte Daena, während sie sich durch den engen Mauerspalt quetschte, der einen der Zugänge zu den Fluchttunneln darstellte. Wenn man deinem aufschneiderischen Gebrabbel Glauben schenken darf, fügte sie im Stillen hinzu. »Und meine Ausbildung habe ich nie abgeschlossen, falls du das schon vergessen hast. Da kam eine Kleinigkeit dazwischen. Und die hat, soweit ich mich erinnere, mit denselben Worten von dir begonnen.«

Die Tunnel waren abwechselnd gemauert und einfach in den rauen Fels geschlagen. Dabei waren sie so dunkel, dass Daena sich nur vorantasten konnte. Sie hatte zwar Feuersteine im Gepäck, aber nichts, woraus sich eine Fackel hätte bauen lassen. Davon abgesehen lag ihr absolut nichts daran, sich schon von weitem bemerkbar zu machen. Auch wenn Morochai meist von oben angriffen – man war nirgendwo vor ihnen sicher, sobald sie eine Stadt erst einmal als Ziel auserkoren hatten.

Daena bewegte sich irgendwo zwischen Stolpern und Laufen. Sie konzentrierte sie sich auf die Sinneseindrücke ihrer unmittelbaren Umgebung und versuchte, die Erinnerungen auszusperren. Nicht, dass Berekh ihr dazu Gelegenheit gegeben hätte.

»Das ist sechs Jahre her«, entgegnete der unermüdlich lästernde Schädel. »Du solltest langsam darüber hinweg sein.«

»Vier Jahre davon in der Sklaverei!« Endlich kam ein Lichtschimmer in Sicht – Tageslicht, kein Feuer. Es schien fast, als würden sie es wirklich aus der Stadt schaffen.

»Na und? Mich hast du währenddessen im Dreck verbuddelt! Das war auch nicht gerade der Höhepunkt meines Daseins, und ich werfe es dir auch nicht vor.«

»Doch, mindestens einmal im Monat. Und auch wenn du schon tot bist, hätte dir sicherlich nicht gefallen, was sie mit dir gemacht hätten, wenn du ihnen in die Klauen gefallen wärst.« Das unwillige Brummen, mit dem er antwortete, unterbrach sie barsch. »Still jetzt, der Ausgang kommt.«

Es war kaum zu glauben, doch der Tunnel war weder verschüttet noch mit Echsen gefüllt – sie konnte schon die winternackten Haselsträucher sehen, die vor der mit Efeu und Eis verhangenen Öffnung wuchsen und so das Ende des Fluchtweges von außen selbst zu dieser Jahreszeit nahezu unsichtbar erscheinen lassen mussten. Nur noch wenige Schritte, und sie konnten …

Plötzlich verdunkelte ein Schatten den Ausgang. Bevor sie ihren Dolch aus dem Gürtel gezogen hatte, tauchte ein Arm durch den Efeu und zerrte sie ins Freie. Weitere Schatten drängten sich um sie, kreisten sie ein, und der eiserne Griff, in dem Daena gehalten wurde, machte es ihr unmöglich, sich zu wehren. In Panik grub sie die Zähne in den Oberarm, der sich um sie geschlungen hatte. Ein Schrei erklang, und im gleichen Moment bemerkte Daena, dass sie nicht auf Schuppen biss.

»Verfluchte kleine …«

»Fangt sie, sie fällt!«

»Ganz ruhig, Kind, wir tun dir nichts.«

Daenas Hals schmerzte von den krampfhaften Atemzügen, die ihr die Angst aufgezwungen hatte. Kämpfen war eine Sache, aber gegen Morochai war es zwecklos. Ihre Narben und Albträume erinnerten sie stets daran. Nur langsam ebbte ihre Furcht ab, bis Daena sich schließlich weit genug beruhigt hatte, um in den sie umgebenden Gestalten Menschen zu erkennen – der Kleidung nach zu urteilen Heiler, Priester und Bauern aus den umliegenden Dörfern. Sie sank endgültig zu Boden, mit der Angst auch ihrer Kraft beraubt.

»Alles in Ordnung, Mädchen? Bist du verletzt?«

Benommen sah Daena auf. Sie blickte in das freundliche, runde Frauengesicht und schüttelte den Kopf.

»Waren noch mehr Menschen in den Tunneln?«

»Nein … Ich weiß es nicht. Ich habe nur das Blut gesehen und bin gelaufen …«

Unsicher versuchte Daena, auf die Beine zu kommen, doch einer der Männer kam ihr zuvor. Er riss sie grob hoch. »Was soll das heißen?«, schnauzte er sie an. »Hast du niemanden gewarnt?«

»Eigentlich …« Eigentlich war es ihr nicht einmal in den Sinn gekommen, was mit den anderen sein würde. Sie hatte nur daran gedacht, unauffällig zu verschwinden – und Menschen, die in schreiender Panik versuchten, eine Stadt zu evakuieren, wären dabei ein klares Hindernis gewesen.

»Lass das Mädchen in Ruhe! Du siehst doch, dass sie unter Schock steht.« Damit zog die Frau Daena zu dem improvisierten Lager und drückte ihr eine Schüssel mit Brühe in die zitternden Hände.

Schweigend beobachtete Daena, wie weitere Menschen aus den Tunneln gezogen wurden. Manche blutverschmiert, einige mit kleinen Bündeln auf den Armen, die nun ihr gesamtes Hab und Gut darstellten. Alle wurden sie ans Feuer geführt und versorgt, doch es waren so erbärmlich wenige, die es aus der Stadt schafften.

Das Ende des Fluchtweges und damit ihr Lager lag weit außerhalb der Stadtmauer, versteckt in einem kleinen Wäldchen. Somit konnte Daena nicht sehen, wie es um die Stadt stand, doch aus Erfahrung wusste sie nur zu gut, was vor sich gehen musste. Wer das Gemetzel überlebte, wurde in die Minen und Sümpfe gesteckt, als wertlose Sklaven, die jeden Tag erneut ums Überleben kämpfen mussten. Wer zu schwach zum Arbeiten war, erlebte den Abend nicht. Für Daena waren es die Minen gewesen. Eine endlose Zeit in Dunkelheit und Enge, die trotzdem eine gewisse Sicherheit boten, immerhin waren die Minenschächte zumindest frei von den geflügelten Echsen.

Gerade wurde eine weinende Frau aus dem Tunnel gezogen, als hinter ihr Schreie ertönten. Doch es waren keine menschlichen Stimmen, sondern das pfeifende Fauchen, das die Sprache der Morochai darstellte – und sie drangen aus dem Tunnel.

Ohne zu zögern griffen die Männer nach ihren Spitzhacken. Innerhalb weniger Sekunden hatten sie Felsen und Erdreich rund um den Eingang in Bewegung gesetzt. Ein kurzer Erdrutsch, und die Öffnung war verschwunden. Die Sicherheit der bereits geretteten Menschen ging vor, die Echsen durften dieses Ende des Tunnels nicht erreichen.

Mit sanfter Gewalt zog man die letzte Geflohene von dem verschütteteten Tunnel fort. Die Frau bäumte sich auf und schrie. Sie streckte ihre Hände nach dem Erdwall aus, in dem sie mit bloßen Fingern gegraben hatte, und versuchte, sich loszureißen. »Nein!«, heulte sie. »Ihr versteht nicht. Meine Kinder! Sie waren doch nur ein paar Schritte hinter mir. Nur ein paar Schritte …« Ihre Stimme verklang zu einem unablässigen Wimmern, das nur von ihren bebenden Schluchzern unterbrochen wurde.

Daena schwankte, als sie begriff, was sie getan hatte. Der Mann hatte recht. Sie hatte die Gefahr erkannt und niemanden gewarnt. Das Blut dieser Stadt, dieser Kinder klebte an ihren Händen.

Eine leise Stimme drang aus ihrer Tasche. Sie stimmte ein sanftes Klagelied in Klaavu an, der alten Sprache der Gelehrten. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass Berekh seit dem Verlassen der Tunnel kein Wort mehr gesprochen hatte.

***

Knapp drei Dutzend Männern, Frauen und Kindern war die Flucht aus der Stadt gelungen, die zuvor fast zweitausend Menschen beherbergt hatte. Einer davon, ein junger Mann mit stark blutenden Krallenspuren an Arm und Brust, würde die kommende Nacht nicht überleben. Sie trugen ihn auf einer notdürftig zusammengebauten Trage, ebenso vier weitere, die zu schwer verletzt waren, um auf eigenen Beinen zu gehen.

Auf diese Weise kamen sie nur quälend langsam voran, dennoch benötigten sie nicht einmal eine Stunde, um das nächste Dorf zu erreichen. Was bedeutete, dass es für Daenas Empfinden eindeutig zu nah an der Stadt lag, die sich mittlerweile durch einen erschreckend großen Feuerschein vom dämmrigen Himmel abzeichnete.

Morochai streunten selten nach einem Angriff durch die Umgebung. Sie plünderten und zerstörten, was ihrem Einfall standgehalten hatte, und schafften die Sklaven fort. Nichtsdestotrotz fühlte sie sich alles andere als sicher, und damit war sie nicht die Einzige. In dem improvisierten Schlafsaal, den die Dorfbewohner in der Tempelhalle eingerichtet hatten, herrschten Angst und Schmerz. Diese Menschen hatten alles verloren. Jeder von ihnen hatte Familienangehörige und Freunde in der Stadt zurückgelassen.

Jeder außer Daena.

Sie teilte ihr Leid nicht, und dadurch fühlte sie sich ausgeschlossen und noch schuldiger als ohnehin bereits. Sie hatte kein Recht, inmitten all der Trauernden zu sein und das gleiche Mitgefühl zu empfangen wie sie. Sie konnte allerdings auch schlecht aufstehen und einfach davonspazieren.

Also kauerte sie sich auf ihrer Pritsche zusammen und zog ihren Beutel an die Brust. In dem leisen Schluchzen und Wimmern, das den Raum füllte, würde eine geflüsterte Unterhaltung niemandem auffallen. Und falls doch, würden sie ihr scheinbares Selbstgespräch für ein Gebet halten.

»Berekh, bist du wach?«

Ein dumpfes, orangefarbenes Glühen drang durch den Stoff – die Farbe, die seine Augenhöhlen seit dem Klagelied angenommen hatten.

»Sag mir ehrlich, was du denkst«, bat sie. »Hätten wir etwas tun können?«

Etliche quälende Sekunden vergingen, bevor eine Antwort kam. »Nichts, was etwas geändert hätte«, bekannte er schließlich. »Hättest du eine Warnung gerufen, hätten einige den Tunnel früher betreten. Und auch die Echsen hätten ihn früher gefunden. Andere Menschen wären jetzt hier, aber ich denke nicht, dass ihre Zahl eine andere gewesen wäre.«

»Also hätten wir nicht doch kämpfen sollen?«

Wieder war da dieses Schweigen, das so gar nicht zu dem Schädel passte, den sie kannte. Als er endlich sprach, klang eine derartige Resignation in seiner Stimme, dass sich etwas in Daenas Brust schmerzhaft zusammenzog. »Nein. Du hattest recht. Ich bin nicht mehr, was ich einmal war. Nichts ist mehr, was es einmal war.«

Unwillkürlich zog Daena ihre Tasche und damit Berekh in eine tröstende Umarmung, von der sie nicht sagen konnte, ob sie für ihn oder sie selbst gedacht war.

Sie hätte nicht damit gerechnet, dass er noch mehr erzählen würde, und war überrascht, als er nach einer Weile fortfuhr: »Ich hatte auch einmal eine Familie. Eine wundervolle Frau. Drei großartige Kinder. Sie waren meine Sonne, mein Leben.« Ein trockenes Lachen ließ die Tasche vibrieren, und ein kleiner Funke des altbekannten, sarkastischen Berekh kam zum Vorschein. »Das hättest du mir wohl nicht zugetraut, was?«

Insgeheim musste Daena ihm zustimmen. Berekh der Totenschädel war ihr immer so solide und präsent vorgekommen, dass sie nie darüber nachgedacht hatte, dass es auch einmal Berekh, den Menschen gegeben haben musste.

»Was ist passiert?«, fragte sie.

Tiefrotes Licht drang aus der Tasche, so hell, dass Daena schnell die Decke über sich und den Beutel zog.

»Der Krieg kam.«

»Die Morochai?«, fragte sie mitfühlend.

Die Echsen waren zwar erst vor wenigen Jahren in Yarun und den umliegenden Ländern eingefallen, doch es konnte gut sein, dass es nicht das erste Mal gewesen war.

Berekh jedoch schüttelte den Kopf – also sich selbst. »Menschen gegen Menschen. Ein Krieg wie so viele davor und so viele danach. Ich habe auf unzähligen Schlachtfeldern gestanden, um die Feinde abzuwehren. Aber als es vorbei war …« Er stockte. »Als ich nach Hause kam, war alles zerstört, wofür ich gekämpft hatte. Deserteure waren durch das Land gezogen, hatten geplündert und gebrandschatzt, vergewaltigt und gemordet. Und niemand konnte mir sagen, ob es die Gegner oder unsere eigenen Leute gewesen waren.«

»Was hast du dann gemacht?« Daena graute vor der Antwort, die sie bekommen würde. Sie hoffte, dass sie sich die plötzliche Kälte nur einbildete, doch auch auf den umliegenden Betten begannen die Leute, zu zittern und sich fester in ihre Decken zu wickeln.

»Dann«, kam es ruhig und gefasst aus der Tasche, »bin ich auf die Jagd gegangen.«

***

Daena hatte kaum geschlafen. Berekh hatte nichts weiter gesprochen, aber seine kurzen Enthüllungen waren erschütternd genug gewesen. Der Schmerz in seiner Stimme hatte echt geklungen. Dadurch schienen mit einem Mal all die Dinge sehr viel glaubwürdiger, die Daena bisher für aufschneiderisches Gerede gehalten hatte. Was ihren Gefährten in ein unheimliches Licht rückte.

Trotz der wenig erholsamen Nacht packte sie bereits vor Morgengrauen ihre Sachen zusammen und schlich aus dem Schlafsaal. Sie wollte so schnell wie möglich so viel Land wie möglich zwischen sich und die eroberte Stadt bringen.

Wie sie jedoch feststellen musste, war sie nicht die Einzige, die bereits auf den Beinen war. Sobald sie durch die Doppeltür in die Vorkammer schlüpfte, lief sie einem schmächtigen Mann in die Arme, in dem sie den Priester erkannte, der die Gruppe an Flüchtlingen in seinem Dorf empfangen hatte. Sie nickte ihm zu und wollte an ihm vorbei ins Freie, doch er hielt sie zurück.

»Bitte, einen Augenblick. Du bist eine Kämpferin?«

Widerspruch war zwecklos. Sie trug bewusst Kleidung, die ihre Tätowierung den Blicken preisgab – den Wappengreif der Kämpferakademie, der auf ihrem rechten Oberarm prangte. Einerseits, um ungesunder Gesellschaft vorzubeugen, andererseits, um potentielle Auftraggeber zu ermutigen. Sie entsprach nicht gerade dem Bild, das die Leute sich von heldenhaften Kämpfern machten, was leider zu oft in mangelndes Vertrauen in ihre Fähigkeiten resultierte. Also nickte sie bloß ein weiteres Mal und sah den Priester auffordernd an.

»In Rinnval sammeln sich Truppen«, sagte er. »Jeder, der sich anschließt, ist willkommen.«

Das überraschte Daena nicht. Rinnval, die gigantische unterirdische Hauptstadt der Schneeberge von Zlaival, galt als gut befestigt und war von den fliegenden Eindringlingen wohl noch nicht einmal entdeckt worden. Wenn sich Truppen zum Widerstand sammelten, war dort der geeignetste Ort. Bis zu diesem Moment hatte sie allerdings nie darüber nachgedacht – geschweige denn darüber, sich ihnen anzuschließen.

»Danke«, brachte sie schließlich hervor.

Der Priester drückte ihr segnend den Daumen auf Kinn und Stirn, ehe er durch die Doppeltür im Schlafraum verschwand.

Daena zögerte nicht länger, sie verließ Tempel und Dorf. Und auch wenn sie sich weigerte, es als bewusste Entscheidung anzuerkennen, wählte sie die Richtung, die von Zlaival fortführte und sie nach Yarun bringen würde – ihr Heimatland, und allem Anschein nach auch das von Berekh.