Madeleine Puljic


Das Unglück Mensch

Darwin’s Failure Teil 1


Roman





Für Dorina. Damit die Zukunft,
die du sehen wirst, eine bessere ist.

Prolog

 

Tare

 

Unbeobachtet schlüpfte Tare auf das Dach des N4-Centers. Der Sonnenuntergang hatte bereits begonnen, blutrotes Licht färbte den Boden unter ihren Füßen und zeichnete ihren Schatten schwarz und scharf auf den Beton. Neben dem Regierungssitz war das Center das einzige Gebäude, das hoch genug war, um den Anblick dieses Naturschauspiels zu ermöglichen.

Ein passender Umstand, und ironisch zugleich. Sowohl die Regierung als auch die Wissenschaftler sahen sich erhaben über die Gesetze der Menschheit und der Natur. Doch das N4 war mehr als das. Es war der Ursprung künstlichen Lebens. Das Ende alles Natürlichen.

Tare sah hinab auf den gelblichen Smog, unter dem Noryak sich verbarg. Die Stadt erstickte sich selbst, und das nicht nur in Schmutz und Abgasen. Sie presste das Leben aus sich heraus, vernichtete dabei gleichermaßen Menschen und Menschlichkeit. Die unfüllbare Leere, die sich in Tare ausgebreitet hatte, war nur einer der unzähligen Beweise dafür. Sie legte die Hand auf ihren Bauch, in dem bis vor kurzem noch ein Leben herangewachsen war. Aber ein einzelnes Leben hatte seinen Wert verloren in dieser Welt, in der der Mensch sich selbst zum Gott erhoben hatte.

Tare lehnte sich über die Brüstung. Spürte, wie sich das Metall kalt und unnachgiebig in ihren Körper drückte. Immer weiter beugte sie sich vor, bis sie sie zwischen dem Zug der Schwerkraft und dem Widerstand der Brüstung balancierte, und beobachtete die Wirbel, die sich unaufhörlich in den Smogwolken bildeten, nur um sich gleich darauf wieder aufzulösen. So vergänglich war der Traum des Daseins – noch ehe etwas richtig entstehen konnte, wurde es bereits vernichtet.

Tropfen fielen in die Tiefe. Tare sah ihnen hinterher. Da erst wurde ihr bewusst, dass es ihre Tränen waren, die sich einen Weg aus ihrer geschundenen Seele und ihrem verletzten Körper bahnten.

Nur ein kleiner Eingriff. So schnell vorbei.

Keine bleibenden Schäden, hatte ihr Vater versprochen. Mero hatte ihre Hand gehalten und ihr zugeflüstert, sie würden sich bald ein richtiges Kind machen lassen können. Gespart hätte er schon für die Optimierung.

Nur ein kleiner Eingriff, und ein Leben war ausgelöscht. Ein Leben, das sie in sich getragen hatte. Das sie hätte beschützen müssen. Das man ihr ohne zu fragen gegeben und dann einfach wieder genommen hatte.

Unbewusst strich Tare erneut über ihren Unterleib, während sie die zweite Hand um das Metall der Brüstung schloss und die Absperrung erklomm.

Die Sonne versank im Nebel der Stadt. Sie würde niemals unten ankommen. Auch das Sonnenlicht hatten die Menschen verloren, wie so viele Dinge, die Freude schaffen konnten. Selbst hier oben hatte es eine schmutzige Färbung – bis zum Boden konnten die Sonnenstrahlen nicht vordringen. Graues Zwielicht war alles, was dort unten geblieben war.

Hier oben tarnte der Smog seinen langsam siechenden Tod als weiche Wolken. Angeblich hatten die Priester vor langer Zeit den Menschen weisgemacht, dass Verstorbene von solchen Wolken aus auf ihre Hinterbliebenen herabschauten. Heutzutage erzählten sie nur noch, dass der Tod alles Leid von einem nahm, und das glaubte Tare ihnen sogar.

Trotzdem war der Gedanke tröstlich, dass ihr Kind nicht in einer Petrischale zersetzt worden war, sondern irgendwo auf sie wartete. Ihr verziehen hatte.

Als der letzte Sonnenstrahl in der Stadt verschwunden war, schloss Tare die Augen und atmete noch einmal tief durch. Dann tat sie einen Schritt ins Leere.

Den Schritt zu ihrem Kind.

1. Kapitel

 

Das Kloster

 

Nahezu lautlos huschten die Novizen durch die verwinkelten Gänge der Abtei. An der Ecke zur Eingangshalle hielten sie inne, lugten vorsichtig um den Mauervorsprung. Ihre Gesichter waren angespannt. Niemand durfte sie erwischen, Meister Serus Strafen waren unerbittlich.

Doch die Neugier war größer als die Angst vor einem schmerzenden Rücken. Das Leben im Kloster war nicht gerade von Abwechslung geprägt, und auf dem kühlen Steinboden der Eingangshalle drängten sich in diesem Moment sieben Neuankömmlinge zur Ausmusterung.

Meister Seru persönlich schritt die Reihe mit eisiger Miene ab. Er war nicht nur für die Leitung des Klosters verantwortlich, sondern auch für die Ausbildung der Novizen, und er nahm seine Aufgaben ernst. Sehr ernst. Eine dünne Rute aus biegsamem Kunststoff klopfte bei jedem seiner bedächtigen Schritte leicht gegen seinen Schenkel. Am Ende der Reihe angekommen, wandte er sich abrupt dem ersten Kind zu.

Der Junge war genauso verschmutzt und zerzaust wie die anderen Kinder. Er konnte nicht älter als sechs oder sieben Jahre alt sein, und die plötzliche Aufmerksamkeit des Meisters ließ ihn erschrocken zusammenzucken. Seru legte die Rute unter das Kinn des Kindes und drückte seinen Kopf nach oben, um das Gesicht zu inspizieren. Sofort begann die Lippe des Jungen zu beben.

Aber von Tränen ließ Seru sich nicht beeindrucken. Mit geübtem Blick prüfte er das Kind auf Krankheiten, Gebrechen und Ungezieferbefall, ehe er mit einem Nicken sein Einverständnis gab und sich dem nächsten Kandidaten zuwandte – einem schmächtigen Bürschchen, das ständig blinzelte. Hier genügte ein kurzer Blick und ein Kopfschütteln, und die verhüllte Gestalt, die bisher in den Schatten gestanden hatte, nahm den Jungen an der Schulter. Der Verhüllte zog den Burschen aus der Reihe, während Seru sich bereits dem nächsten widmete.

Der vierte Junge wurde ebenfalls aus der Reihe genommen. Als Seru beim sechsten Kind angelangte, hob er eine Augenbraue. Über sein abgehärmtes Gesicht flackerte kurz ein Hauch von Interesse, das jedoch sofort von tiefer Missbilligung verdrängt wurde.

»Wie ist dein Name?«, fragte er.

Das überraschte Kind hörte auf zu schniefen und starrte ihn aus rotgeweinten Augen an. Auch der Priester, der die Neulinge auf der Straße aufgelesen und hereingebracht hatte, schnappte hörbar nach Luft. Der Meister sprach bei solchen Gelegenheiten eigentlich nie. Wenn er es tat, bedeutete es meist nichts Gutes.

Nur der Verhüllte schwieg unbeeindruckt weiter.

»Was ist, Kind? Kannst du nicht reden? Wie dein Name ist, habe ich gefragt!«

Die Rute schlug klatschend auf den Boden. In ihrem Versteck schraken die Novizen zusammen, in Erinnerung an den Schmerz, den dieser Laut mit sich brachte.

»Aaa…«

Ein erneutes Klatschen. Die Augen des Kindes zuckten hilflos zwischen der Rute und dem kalten Blick des Meisters hin und her.

»A-Ariat, Herr!«, stieß es hervor, erleichtert, die gewünschte Antwort herausgepresst zu haben.

Serus bisher steinerne Züge verzogen sich zu einem Grinsen, das keineswegs beruhigend wirkte. Eher machte es den Anschein, als würde er gleich den Mund öffnen, um das Häufchen Elend vor sich in einem Stück zu verschlingen.

»Ramin.«

Obwohl die Stimme des Meisters völlig ruhig blieb, erstarrte der angesprochene Priester augenblicklich. Vielleicht auch gerade deshalb.

»Meister Seru?«

»Du bist doch ein gebildeter Mann, nicht wahr?«

»Meister?«

»Antworte!« Diesmal traf die Rute nicht Stein, sondern den Schenkel des Priesters.

Ramins Verwirrung wich Unsicherheit. Er wusste nicht, worauf Seru hinaus wollte, doch egal, welche Antwort er geben würde, es konnte nur die falsche sein. »Ich … Ich habe die Lehren des Glaubens mein Leben lang studiert, Meister.«

»Und in den Lehren hast du keinen Anhaltspunkt darüber gefunden, wie man ein Mädchen von einem Burschen unterscheidet?«

Schreck weitete Ramins Augen, als er seinen Fehler erkannte. Schnell kämpfte er den Drang nieder, das Kind noch einmal anzusehen. Er wagte es nicht, die Augen von Seru zu nehmen. »Nein, Meister.« Das Zittern in seiner Stimme konnte er nicht so leicht bezwingen.

Die Rute zog eine Spur aus glühendem Schmerz durch sein Gesicht. Ramin fühlte warmes Blut an seiner Wange hinab fließen, aber er untersagte sich jede Reaktion.

Ohne den Blick von seinem Priester zu nehmen, sprach Seru den Verhüllten an. »Nimm sie mit.«

»Und der letzte Junge?« Die Worte des Verhüllten klangen tief und kratzend, wie sprödes Holz, das bei jeder Benutzung zu brechen drohte.

Serus Augen verweilten für einen kurzen Moment auf dem vor Erschöpfung weinenden Kind. Dem Aussehen nach war es noch keine vier Jahre alt.

Er würde sich gut formen lassen.

»Lass ihn hier.«

Ohne ein weiteres Wort wandte sich der Meister um und verließ den Raum.

Die Novizen wären in ihrer Eile beinahe gestürzt, als sie sich im letzten Augenblick in Sicherheit brachten.

 

Atlan

 

»Los, beeil dich! Ich habe keine Lust, deinetwegen das Abendessen zu verpassen.« Lorios Stimme hallte durch die endlosen Reihen der Vorratsregale. Zwischen Konserven und Flaschen stapelten sich hier unzählige Packungen mit Trockennahrung, aus denen sie die Bestandteile für das nächste Mittagessen zusammengesucht hatten.

Bis Atlan das kleine, in schwarzes Plastik gebundene Buch in die Hände gefallen war, das er bis eben noch fasziniert mit Augen und Fingern erforschte hatte. Jetzt ließ er seinen Fund erschrocken in der Tasche seiner Robe verschwinden. Hastig hob er seine Kiste wieder auf. Gerade noch rechtzeitig, denn schon hatte Lorio den Gang erreicht und musterte ihn verärgert.

»Was stehst du denn da herum? Komm endlich!«

Atlan nickte demütig und beeilte sich, seinem Bruder zu den Aufzügen zu folgen.

Lorio war ein Jahr vor ihm in der Abtei aufgenommen worden. Er war nur vier Jahre älter als Altan und zählte damit immer noch zu den jüngeren Novizen, doch Atlan war ihm bedingungslos ergeben. Was zum einen daher rührte, dass Lorio ihm als älterer Bruder zugeteilt worden war, der ihm das Leben im Kloster nahebringen sollte und für sein Verhalten verantwortlich gemacht wurde. Zum anderen war Lorio für ihn das, was einem Freund am nächsten kam – der Einzige, den er hatte.

Also nahm Atlan die gelegentlichen Demütigungen geduldig hin.

Der Staub, den sie bei ihrer Suche aufgewirbelt hatten, hing immer noch in der Luft. Unter den Leuchtröhren sah Atlan einzelne Partikel tanzen. Weit aufdringlicher war allerdings das Kitzeln, das er in der Nase spürte.

Seine Hände hielten weiterhin die Kiste umklammert, deshalb versuchte Atlan verstohlen, das Gesicht an seinem Ärmel zu reiben, um sich Linderung zu verschaffen. Dann bemerkte er den mahnenden Blick, den Lorio ihm zuwarf, und ließ den Arm wieder sinken.

Trotzig wackelte er mit der Nase, bis der Aufzug eintraf und seine Türen öffnete.

 

Am späten Abend schleppte Atlan sich endlich in das Zimmer, das er mit drei Brüdern teilte. Das kleine Buch hatte er bereits völlig vergessen. Der Tag war anstrengend gewesen, wie die meisten Tage im Kloster, und er wollte nur noch schlafen. Ohne sich die Mühe zu machen, sich aus der Novizenrobe zu wickeln und in ein Schlafgewand zu schlüpfen, plumpste er auf sein Bett.

Aus dem erleichterten Seufzer, den er angesichts seiner müden Beine hatte ausstoßen wollen, wurde jedoch ein Stöhnen, als sich die harte Kante des Buchs unsanft in seine Seite bohrte. Überrascht tastete er in seine Tasche und zog den fremden Gegenstand hervor.

Sobald er ihn erkannte, warf er ihn erschrocken von sich. Seine Fingerspitzen kribbelten, als hätte er sich an dem unscheinbaren Plastik verbrannt. Was hatte er getan? Er konnte sich nicht erinnern, das Buch eingesteckt zu haben. Und doch war es unleugbar hier. Oh, das bedeutete Ärger!

Bücher waren wertvoll. Etwas, das er nur aus Erzählungen kannte. Seit Jahrzehnten waren sie nicht mehr in Gebrauch, und wer auch immer dieses Exemplar auf dem Speicher versteckt hatte, würde sein Verschwinden sicher bald bemerken.

Aber er war kein Dieb, es war nur ein Missverständnis! Er würde es einfach bei der nächsten Gelegenheit zurückbringen. Niemand würde jemals davon erfahren. Am besten gleich morgen. Je schneller er das Buch wieder loswurde, desto besser.

Ein Grund mehr, sämtliche Eindrücke davon gierig in sich aufzusaugen, solange es hier war.

Vorsichtig hob er das Buch hoch und schlug es auf. Seine Finger zittern, als er Seite um Seite umblätterte. Sacht strich er über die fremdartigen Symbole, die das Papier in engen Reihen füllten. Schließlich blieb sein Blick an einer Zeichnung hängen. Eine junge Frau mit schmerzverzerrtem Gesicht, die den leblosen Körper eines bärtigen Mannes in ihrem Schoß hielt; sein Körper geschunden und nackt bis auf ein Lendentuch und den Dornenkranz in seinem Haar.

Verwundert zeichnete Atlan die Züge der Frau nach. Obwohl sie offensichtlich Qualen litt, strahlte sie eine tröstliche Ruhe aus.

Eine vergessene Erinnerung rührte sich in ihm. Mütterliche Wärme, Arme, die ihn schützend umfassten. Es war ein derart intensives, lange vermisstes Gefühl, dass ihm die Erinnerung daran Tränen in die Augen trieb. Er kannte dieses Bild. Dieses Gefühl. Wie war das möglich? Seit er denken konnte, gab es für ihn nur den Alltag im Kloster. Eine Mutter hatte er nie gehabt. Doch dieses Bild …

Als vor der Tür das leise Rascheln zu hören war, das seine Zimmergenossen ankündigte, zögerte Atlan keine Sekunde lang. Entschlossen schob er das kleine Buch unter sein Kissen.

Dann war er eben ein Dieb. Er hatte in den vergilbten Seiten einen Schatz entdeckt, der weit über ihren materiellen Wert hinausging.

 

Es kostete ihn acht Tage, in denen er jede Pause zwischen seinen Aufgaben nutzte, um das Kloster systematisch nach der Abbildung aus dem Buch zu durchsuchen. Mehr als einmal erschien er deswegen zu spät zum Unterricht oder der ihm zugeteilten Arbeit und musste die Strafe ertragen, doch er gab nicht auf. Und es hatte sich gelohnt.

Das verblasste Wandbild unter der Kellertreppe strahlte nichts von der magischen Stimmung aus, die die Zeichnung im Buch besaß. Aber Atlan befriedigte allein Tatsache, dass er es gefunden hatte. Es war, als wäre er dadurch in ein Geheimnis eingeweiht worden, dessen Tiefe er noch nicht zur Gänze erfasste.

Aus dem Augenwinkel bemerkte er eine Bewegung. Schuldbewusst zuckte er zusammen, als er die schwarze Robe eines Priesters erkannte, doch Ramin gesellte sich nur in seiner stillen Art zu ihm. So, als wäre nichts Ungewöhnliches an dem untätigen Herumstehen eines Novizen, obwohl es mitten am Tag war.

Eine Weile betrachteten sie gemeinsam den bunten Farbdruck. Dann brach der Priester das Schweigen.

»Früher«, erklärte er, »glaubten die Menschen, Gott hätte einen Sohn gezeugt und ihn auf die Erde geschickt, um unter den Sterblichen zu leben.«

Staunend musterte Atlan erneut die leblosen Züge des Mannes, die von aufgemaltem Blut entstellt waren. »Das ist Gottes Sohn?«

Ramin nickte. »Und seine Mutter.«

Ein kalter Knoten ballte sich irgendwo tief in Atlan zusammen. »Was ist mit ihm geschehen?«, flüsterte er, von plötzlicher Ehrfurcht gepackt.

»Er wurde hingerichtet. Von den Menschen, die er hätte erlösen sollen.« Ramin sah auf seinen Novizen herab. Als er den entsetzten Ausdruck auf Atlans Gesicht sah, fügte er hinzu: »Es ist nur eine Geschichte, Atlan. Und sie ist alt und vergessen. Gott hatte keinen Sohn. Er ist ein Schöpfer, kein Vater. Nur eine Geschichte, nichts weiter.«

Der Priester wandte sich zum Gehen, doch Atlan hielt ihn zurück. »Ramin! Wenn es nur eine Geschichte ist … Warum ist dann dieses Bild hier?«

»Als Erinnerung, mein Junge. Denn wenn der Mensch vergisst, woher er kommt … dann wird selbst ein Gott sterblich.«

 

In dieser Nacht kam der Traum zum ersten Mal.

Die Mutter des Gottessohns war bei ihm, ihr schönes Gesicht nicht länger von Schmerz verzerrt, sondern gütig und warm. Sie hielt seine Hand und führte ihn durch dunkle, enge Gassen. Eine düstere Bedrohung ging von diesem Ort aus. Aber mit ihr an seiner Seite fühlte er keine Angst. Nur kindliche Freude beschleunigte seine Schritte.

Sie gelangten in eine Sackgasse. Atlan sah sich um, doch er konnte keinen Ausweg erkennen. Bis sie auf einen schmalen Durchlass deutete, der in der Dunkelheit kaum auszumachen war. Er zögerte, eingeschüchtert von der Schwärze, die dahinter lauerte. Trotz ihrer warmen Hand, die seine umfasst hielt, fühlte er die Kälte, die aus dem Loch in der Mauer kroch.

»Was ist das?«, fragte er. »Wohin führst du mich?«

Ihre Antwort sollte ihn auch Jahre später noch schweißgebadet aus dem Schlaf schrecken: »Nach Hause.«

 

Niove

 

»Was ist drin?« Sie prüfte die kleine, kunstvoll verpackte Schachtel mit einem zweifelnden Blick aus ihren tiefgrünen Augen, ehe sie mit der gesamten Kraft einer Sechsjährigen daran rüttelte.

Nioves Vater stieß einen entsetzten Schrei aus, doch Erran war schneller. Mit Leichtigkeit entwand er seiner Schwester das Geschenk und hob es über seinen Kopf.

Halbherzig versuchte Niove, danach zu greifen, aber ihre Brüder hatten schon zu oft Späße auf diese Art mit ihr getrieben. In dem einen Jahr, das sie inzwischen bei ihrer Familie verbracht hatte, hatte sie gelernt, dass sie auf diese Weise nicht an das Gewünschte herankommen würde. Also griff sie ohne zu Zögern zur erfolgversprechendsten Methode: Ihre Augen begannen, feucht zu schimmern, und ihre Unterlippe bebte.

Langsam senkte Erran die Arme mit der verlockenden Schachtel herab, hob sie aber wieder höher, als Niove hochsprang und danach haschte. Sofort hörte sie auf zu hüpfen. Erste Tränen rollten über ihre Wangen.

Erran ging in die Knie, um sein Gesicht auf gleiche Höhe mit ihrem zu bringen, die Schachtel sicher unter den Arm geklemmt. »Nicht schütteln, hörst du?«

Sie nickte eifrig, und als er ihr behutsam das Geschenk reichte, nahm sie es mit begeisterter Miene entgegen. Wenn man so vorsichtig sein musste, war es sicher etwas ganz Besonderes.

Ihr Bruder deutete auf die Schleife und erklärte: »Hier, siehst du? Du musst das Band aufmachen. Einfach hier ziehen.«

Folgsam zog sie an dem besagten Stück Stoff und beobachtete, wie die aufwendig gebundene Schleife in sich zusammensank und sich löste. Neugierig hob sie den Deckel ab und begutachtete den Inhalt. Ein kleines, flauschiges Knäuel lag in einer Ecke der Kiste.

Niove schnaubte enttäuscht. Wegen eines Stofftiers hätten sie nun wirklich nicht so einen Aufstand veranstalten müssen. Sie wollte sich gerade abwenden, als zwei spitze Dreiecke aus der weißen Fellkugel auftauchten. Ihnen folgten zwei blaue Augen und eine rosafarbene Nase.

Verzückt starrte Niove auf das Ding in der Schachtel. Sie streckte die Hand aus, um es auf Kinderart zu erforschen, doch das weiße Etwas stieß ein leises Maunzen aus, als sie die Finger in seine Seite stupste. Nach einem Roboter sah das nicht aus, und es fühlte sich auch anders an. Warm und weich.

Mit einem Stirnrunzeln sah sie von Vater zu Bruder und wieder zurück auf das kleine Unbekannte. Ihr Vater ließ sich ächzend neben ihr auf dem Boden nieder.

»Das ist ein Kätzchen«, erklärte er, als wäre das allein Erklärung genug. Er nahm ihre Hand und strich damit leicht über den kleinen Körper, der sich jetzt flink und agil in seinem Behältnis umherbewegte.

Die feinen Haare kitzelten an ihrer Handfläche, und Niove kicherte vergnügt. Das kleine Ding kam zum Stillstand, schloss die Augen und gab ein rollendes Geräusch von sich.

»Siehst du?«, ermutigte Erran sie. »Das gefällt ihr, sie schnurrt.«

Das gleichmäßige Vibrieren, das in der winzigen Brust entstand, konnte Niove in ihren Fingern spüren. Sie grinste ihrem Bruder zu. Das Wegnehmen der Schachtel war verziehen.

»Willst du ihr nicht einen Namen geben?«, fragte ihr Vater. »Es ist ein Mädchen.«

Niove dachte angestrengt nach. Namen finden war eine schwierige Angelegenheit. Wie dumm, dass sie nicht aussuchen durfte, was das Kätzchen sein sollte. Aber ihr Vater bestand darauf, dass es kein Junge sein durfte.

Schließlich kam ihr eine Idee. Sie bewegte den Namen einige Male im Kopf hin und her, bis sie von seinem Klang überzeugt war.

»Mari!«, verkündete sie mit einem zufriedenen Nicken.

»Mari?« Ihr Vater zog die Augenbrauen zusammen, was üblicherweise hieß, dass er mit etwas unzufrieden war. Erran dagegen lachte nur.

»Lass sie, es klingt doch nett.« Mit einem Zwinkern setzte er das neugetaufte Lebewesen in Nioves Hände und erklärte ihr, wie sie es halten durfte.

Als ihr Bruder Zarail abends nach Hause kam, präsentierte sie ihm Mari dennoch mit dem Kopf nach unten – was zum Erstaunen aller nichts an der Hingabe änderte, mit der das Kätzchen seiner neuen Besitzerin fortan auf Schritt und Tritt folgte.

 

Atlan

 

»Nein, doch nicht so!« Ramins Stimme schwankte zwischen Belustigung und Ungeduld.

»Sieh her, das E besteht nur aus drei waagrechten Strichen, nicht aus so vielen, wie gerade noch Platz finden. Das N ist falsch herum, und was soll das überhaupt für ein Buchstabe sein?«

Zerknirscht nahm Atlan den Zettel wieder entgegen, auf dem Ramin beinahe mehr Passagen durchgestrichen hatte, als überhaupt vorhanden gewesen waren.

Seit ihrem Gespräch über den alten Glauben unterrichtete der Priester ihn heimlich in den verlorenen Lehren. Da Atlan seine täglichen Aufgaben jedoch nicht vernachlässigen durfte, musste er sich dazu in den Nachtstunden aus dem Zimmer schleichen, immer in der Angst, von seinen Mitbrüdern entlarvt zu werden.

Seit zwei Wochen unterzog sich Lorio allerdings zusätzlichen Meditationen und Lehrstunden, um sich gemeinsam mit einigen Gleichaltrigen auf seine Adeptenprüfung vorzubereiten. Die so erhaltene Freizeit konnte Atlan für ein intensiveres Studium des schwarzen Buches nutzen.

Aber all sein Eifer kam nicht gegen die Ungeduld seiner Jugend an.

»Wozu soll ich lernen, etwas zu schreiben, das ohnehin keiner lesen kann?«, brummte er missmutig. Gleich darauf zog er den Kopf zwischen die Schultern, um dem halbherzigen Klaps zu entgehen, zu dem Ramin ansetzte.

»Wozu willst du etwas lesen können, wenn du es nicht wiedergeben kannst? Abgesehen davon ist es dasselbe Handwerk. Ohne das eine wirst du das andere nie richtig beherrschen, also konzentrier dich.«

Seufzend wandte Atlan sich wieder dem Buch zu. Mittlerweile konnte er auch die verschlungenen Lettern entziffern, die den Einband prägten. »Das Neue Testament«, las er darauf. Was daran neu sein sollte, war ihm allerdings unklar. Doch die Predigten des Füreinanders, der Hoffnung und der Nächstenliebe schienen ihm das fehlende Gegenstück zu dem Schöpfer zu sein, der sich von seinem Werk abgewandt hatte.

Leider wusste Atlan nicht, an wen er sich mit diesen Gedanken hätte wenden können. Seine immer häufigere Zurückgezogenheit hatte ihn seinen Mitbrüdern entfremdet. Ramin war froh, unterrichten zu können und dabei auch noch einen so wissbegierigen Schüler gefunden zu haben, doch die alten Geschichten waren für ihn eben nur das – Geschichten.

Und Seru … Sollte Meister Seru jemals herausfinden, dass er nicht nur etwas aus dem Speicher entwendet hatte – ob wertvoll oder nicht war für jemanden wie den Abt nur indirekt von Bedeutung –, sondern auch noch eine falsche Glaubenslehre erforschte und dafür sogar einem Priester die Zeit stahl …

Allein der Gedanke ließ Atlan erschaudern. Gut möglich, dass Seru ihn dafür totschlug. Oder schlimmer noch: ihn zum Krüppel machte. Er hatte schon Gerüchte gehört von ehemaligen Novizen, die nach einem Vergehen spurlos verschwunden waren. Von manchen hieß es dann, der Verhüllte hätte sie mitgenommen.

Wohin der Verhüllte die Jungen brachte, die Serus Ansprüchen nicht genügten, wusste niemand. Das Kloster war von allen Seiten von Hochhäusern umschlossen. Aus welchem Fenster man auch blickte, man sah nichts als Stadt. Unten Straßen und Müll, darüber endlose, graue Mauern, die ein paar Stockwerke oberhalb des Klosters im Smog verschwanden. Es war kaum vorstellbar, dass dort draußen tatsächlich Menschen lebten.

Die Priester behaupteten, dass die Vergangenheit der Novizen endete, sobald sie in der Abtei aufgenommen wurden. Ihre Herkunft war das Kloster. Das änderte jedoch nichts an dem Wissen, dass sie alle einmal von außerhalb hierher gebracht worden waren. Manche der älteren Novizen erinnerten sich sogar noch an ihr Leben davor. Atlan nicht. Jedenfalls nicht, solange er wach war.

Er hatte keine logische Erklärung dafür, aber er war überzeugt, dass das Verständnis der vergessenen Glaubenslehre ein wichtiger Schritt war, um seine eigene verlorene Vergangenheit zu finden.

Atlan nahm er seinen Mut zusammen. »Ramin? Du hast einmal gesagt, man darf nicht vergessen, woher man stammt. Ich … Ich habe Träume. Träume von einem Zuhause, vor meiner Aufnahme im Kloster.«

Der Priester sah ihn eine Weile wortlos an, dann seufzte er schwer. »Halte diese Träume in Ehren. Nutze sie, um zu lernen, welche Art Mensch du bist und sein kannst. Aber sprich mit niemandem darüber, hast du verstanden?« Er wartete Atlans Nicken ab, ehe er das Thema wechselte. »Wir sollten Schluss machen, es ist schon spät. Wir wollen doch nicht, dass du morgen verschläfst.«

»Ja, Ramin.« Folgsam sammelte Atlan seine Sachen zusammen, während der Priester die Zettel mit seinem Gekrakel darauf vernichtete. Sie durften keine Beweise zurücklassen.

Atlan schlich durch die Gänge des nächtlich stillen Klosters. Zurück in seinem Zimmer schlüpfte er unter seine Decke, ohne das leise Schnarchen seiner Brüder zu unterbrechen. Das Buch verschwand in seiner Matratze, nur eine kaum merkliche Ausbeulung verriet sein Geheimnis. Er wechselte häufig das Versteck, um nichts zu riskieren. Aber in der kargen Schlafzelle stark waren die Möglichkeiten begrenzt.

Vielleicht war es an der Zeit, seine Vorsichtsmaßnahmen zu verstärken. Er durfte niemandem trauen. Viele wären nur allzu bereit, einen Bruder zu verraten, um sich eine bessere Position zu verschaffen. Sollte es hart auf hart kommen, war er nicht einmal sicher, ob Ramin nicht ebenfalls ihr gemeinsames Geheimnis verraten würde, nur um sich selbst zu schützen.

Atlan schloss die Augen und träumte von einer Zukunft, in der es keinen Meister Seru mehr gab. In der das Kloster nicht von Angst beherrscht wurde und der Schöpfer die Gebete seiner Gläubigen wieder hören konnte.

 

Wie die Adeptenprüfung ablief, erfuhren die Novizen nicht. Lorio und die anderen Prüflinge wurden in die Abgeschiedenheit der dafür vorgesehenen Kellerräume der Abtei gebracht, wo sie die Wandlung zum Adepten durchlebten. Wer drei Tage später diese Räume verließ, galt nach den Regeln des Klosters nicht mehr als Kind. Das blaue Gewand der Adepten machte junge Männer aus ihnen, die sich als bereit erwiesen hatten, neue Aufgaben im Kloster zu übernehmen.

Entsprechend verhielten sie sich den Novizen gegenüber. Von ihren Pflichten gegenüber ihren jüngeren Brüdern waren die Adepten entbunden, stattdessen wurden ihnen neue Aufgaben zugeteilt. Unter anderem auch die beneidetste Veränderung, die die Prüfung mit sich brachte: Adepten wurden auf Besorgungsgänge in die Stadt mitgenommen.

Seit ihrer Aufnahme im Kloster hatten sie das Gelände der Abtei nicht mehr verlassen. Das Kloster war eine nahezu autonome Organisation. Ärzte, Lehrer … Das gesamte Personal bestand ausschließlich aus hier ausgebildeten Priestern. Nur Vorräte mussten von außerhalb besorgt werden – und natürlich Novizen.

Die Adepten sahen und taten daher Dinge, die den Jüngeren untersagt waren. Sie kannten Geschichten von außerhalb. Da sie immer nur einzeln losgeschickt wurden, hatte jeder seine eigenen Erlebnisse zu berichten, mit denen er die anderen zu übertrumpfen und beeindrucken versuchte.

Während sich die älteren Novizen und Adepten am meisten für jene Episoden begeisterten, in denen weibliche Passanten vorkamen, denen man im Geiste nachsehen konnte, waren es besonders die glaubwürdigeren Geschichten über alltägliche Begegnungen, die Atlan faszinierten.

An diesem Tag war es Kirret, der im Speisesaal seine Geschichte zum Besten gab, wo er ungeteilte Aufmerksamkeit genoss. Üblicherweise war Kirret ein unbeliebter Erzähler. Seine langsame Art hatte ihn nicht nur im Studium hinterherhinken lassen, sie verweigerte ihm auch die Kreativität, seinen Geschichten die geforderte Würze zu geben. Heute jedoch war die Wahrheit spannender als jede Fantasie.

»Die Metro war also gesperrt. Überall standen Leute von der Exekutive, und es war ein Tumult, das könnt ihr euch nicht vorstellen! Sie standen da mit Blaulicht, damit man nicht hinunter konnte. Aber da hätte mich nichts auf der Welt hinuntergebracht, das sage ich euch! Aus dem Aufgang kamen nämlich dicke, schwarze Rauchschwaden. Und der Gestank! Wir konnten kaum atmen, dabei standen wir doch ganz auf der anderen Seite!«

Kirret griff nach seinem Glas, als wollte er den Effekt seiner Worte nachhallen lassen. Nur das Zittern seiner Hand verriet, dass es vielleicht doch die Angst war, die ihm den Mund hatte trocken werden lassen.

»Peron hat nachgefragt, was da los ist«, fuhr er fort. »Sie haben behauptet, ein Zug wäre entgleist und hätte den Bahnsteig getroffen. Aber eines kann ich euch sagen: dieser Qualm und dazu dieser beißende Geruch … Kein Ort der Welt kann das hervorbringen!«

»Was denkst du, was es war?«, fragte jemand flüsternd.

»Es war das Tor zur Hölle!«, hauchte Kirret. »Das war der Gestank von Menschen, die in Feuer leiden. Und glaubt mir, diesen Geruch kenne ich.«

Niemand wagte es, ihm zu widersprechen. Kirret war einer der wenigen echten Waisen im Kloster. Seine Eltern hatten ihn nicht abgegeben – sie waren bei einem Brand ums Leben gekommen.

Er musste sich einige Male räuspern, ehe er weitererzählen konnte. »Wir sind zu Fuß weiter. Ich wäre am liebsten auf der Stelle umgekehrt, aber wir mussten ja immer noch die Lebensmittel besorgen. Weil wir wegen der gesperrten Metro nicht so weit weg konnten, hat Peron mich in einen Laden geführt, in dem ich noch nie war, obwohl er eigentlich viel näher am Kloster liegt. Aber es ist offensichtlich, warum wir dort sonst nicht einkaufen. Der Grund dafür ist …«

Kirret ließ mehrere Sekunden verstreichen. Er genoss die gespannten Blicke seines Publikums, ehe er zum Höhepunkt seiner Geschichte kam.

»Der Händler dort … Das war ein Klon!«

Aufgeregte Stimmen murmelten durcheinander. Niemand wollte den Helden des Tages in Frage stellen, aber glauben konnten sie es noch viel weniger.

Schließlich sprach Lorio den Gedanken aus, der allen auf der Zunge lag. »Das hast du doch erfunden! Woher willst du denn bitte wissen, dass das ein Klon war? Er wird ja wohl kaum ein Schild um den Hals getragen haben.«

Kirret machte Anstalten, beleidigt das Gesicht zu verziehen, doch das Erlebte saß ihm offensichtlich noch zu tief in den Knochen. Also suchte er nach dem besten Weg, ihnen das unheimliche Gefühl zu beschreiben, das ihn beim Anblick des Klons beschlichen hatte. »Kein Mensch kann so kalt sein«, erklärte er. »Da war nichts, nicht das kleinste Gefühl in seinem Gesicht. Er war höflich, aber völlig unbeteiligt. Es war, als hätte er kein Leben in sich gehabt.«

Ohne hinzusehen, griff Kirret nach der Suppenschüssel seines Sitznachbarn und begann, in der Brühe herumzurühren.

»Wenn ich so darüber nachdenke … Ich denke, es war besser, dass er so kalt war. Hätte er gelächelt … ich glaube, dann wäre ich schreiend davongelaufen.«

Atlan schluckte. Im Kloster waren sie alle täglich der Willkür von Meister Seru und einigen anderen Ausbildnern ausgeliefert. Eine bloße Begegnung sollte Kirret eigentlich nicht mehr schockieren.

Klone mussten grauenerregende Zeitgenossen sein.

 

Niove

 

Grübelnd bewegte Niove die Finger durch die Luft. Ihre Gesten ließen einen Urwald auf dem Monitor der Fensterscheibe entstehen; zwischen den Bäumen tummelten sich bunte Fische. Die Datenträger, die ihr Vater ihr als Lehrmaterial gebracht hatte, lagen unbeachtet auf dem Tisch. Mari hatte ihr Hinterteil darauf platziert und begleitete Nioves leises Summen mit einem enthusiastischen Schnurrmarathon.

Zwei Tage zuvor hatte Niove ihren letzten Privatlehrer vergrault. Was nicht daran lag, dass sie uninteressiert gewesen wäre, und auch an angemessener Erziehung mangelte es ihr nicht. Sie sah nur wenig Sinn in den Dingen, die man ihr beizubringen versuchte. Und die Fragen, die sie stattdessen stellte, konnten ihre Lehrer nie beantworten.

Zugegeben, sie war auch der Meinung, dass ihr Respekt sich Menschen gegenüber in Grenzen halten durfte, die sie als geistig unterlegen betrachtete und die dennoch glaubten, sie bevormunden zu können. Eine Auffassung, die sich nur zum Teil durch die Arroganz der Pubertät entschuldigen ließ.

Sie wusste, dass ihre Optimierung auf Intellekt ausgelegt war, was das Leben für sie allerdings nicht gerade vereinfachte. Sie war das Beste aus den Genen ihres Vaters – gemischt mit ausgewählten fremden Genen, die als passende Ergänzung angesehen worden waren. Dabei war wohl ihr Äußeres etwas zu sehr in den Hintergrund geraten. Natürlich war sie nicht unansehnlich – kein optimierter Mensch war das. Aber wenn sie an die Klone dachte, die auf Vaters Gästelisten standen, wusste sie, dass sie auf diesem Gebiet niemals mit ihnen konkurrieren konnte.

Gedankenverloren strich sie über Maris weichen Kopf, was die Intensität des Schnurrens noch um einige Dezibel steigerte.

Niove beneidete ihre Brüder. Auch sie waren selbstverständlich optimiert, ihr Vater war schon früh ein Sponsor der Gentechnik gewesen. Doch im Gegensatz zu ihr waren sie nicht künstlich erschaffen worden. Sie waren ein manipulierter Genmix aus ihrem Vater und seiner verstorbenen Frau, waren mit einer Mutter aufgewachsen. Oft fragte Niove sich insgeheim, wie das sein mochte – eine Mutter zu haben. Eine Natürliche, die noch uneingeschränkt fühlen konnte. So wie Niove es tat.

Manchmal wurde sie zwar geradezu erdrückt von all der Aufmerksamkeit, die ihr Vater, Erran und Zarail ihr entgegenbrachten, doch sie wusste nicht, wie viel davon tatsächlich auf Liebe beruhte – und wie viel nur auf familiärer Verpflichtung. Sie wurde verwöhnt und verhätschelt, aber es war eben nicht das Gleiche.

Ihre Brüder waren Vorläufer der Neuen Generation – die Gefühlswelt, die Niove oft zu beherrschen drohte, war ihnen zum großen Teil fremd. Vor allem Zarail tat ihr leid, denn außer Ehrgeiz schien ihm nicht viel an Emotion geblieben zu sein. Liebe wohl am allerwenigsten.

Ein Klopfen an der Tür riss sie aus ihren Tagträumen. Der Dschungel im Fenster hatte mittlerweile eine ungesunde orange Farbe angenommen und war nun zusätzlich von grellgrünen Schmetterlingen bevölkert.

Erran steckte den Kopf herein und erfasste die Lage mit einem Blick.

»Na, nicht spannend genug?«, fragte er mit einem Nicken in Richtung der Datenträger. Ihr missmutiges Brummen nahm er als Einladung, sich neben Niove zu setzen. »Vater wird schon einen neuen Lehrer für dich finden.«

»Das ist es doch nicht.«

Mari entwand sich Nioves streichelnden Händen und rieb ihren Kopf freudig an dem neuen Schmuseopfer. Frustriert schlang Niove die Arme um ihre Knie, während Erran geduldig wartete, bis sie bereit war, fortzufahren.

»Sie geben über kurz oder lange doch sowieso alle auf. Warum kann ich nicht eine normale Schule besuchen?«

»Denkst du, du würdest dich dort wohler fühlen?« Es lag ernsthaftes Interesse in seiner Frage.

Niove dachte einen Moment darüber nach, dann zuckte sie mit den Schultern. »Es muss doch auch Einrichtungen für Leute wie mich geben. Andere in meinem Alter …«

Ihre Stimme verlor sich. Sie hatte nie viel Kontakt zu Gleichaltrigen gehabt, was zum Teil daran lag, dass sie das Haus ihres Vaters kaum verließ – es war groß genug, um sich nicht eingeengt zu fühlen. Der Gedanke, Tag für Tag mit anderen in ihrem Alter zu verbringen, war aufregend und beängstigend zugleich. Sie zuckte noch einmal mit den Schultern und fügte mit einem Blick zu ihrem Bruder hinzu: »Ich könnte es versuchen?«

Er nickte ihr aufmunternd zu. »Und bevor du hier vor Langeweile Mari eine Glatze streichelst – warum fragst du morgen nicht Zarail, ob er dich ins Labor mitnimmt?«

»Im Ernst?« Sofort flackerte die Begeisterung in Nioves Augen auf. »Meinst du, ich darf mit?«

Erran zwinkerte ihr zu. »Ich bin sicher, du kannst ihn überzeugen.«

Damit setzte er seiner Schwester die protestierende Katze wieder auf den Schoß.

 

Als Zarail am nächsten Morgen aufstand, saß Niove bereits fertig angezogen am Tisch. Sie hatte die Küche so programmiert, dass das Frühstück serviert wurde, gerade als Zarail eintrat.

Ihr Bruder zog die Augenbrauen hoch und warf einen Blick auf die Uhr an seinem Handgelenk. »In Ordnung. Verrate es mir – habe ich verschlafen oder bloß Geburtstag?« Als sich Nioves Mundwinkel verräterisch in Richtung ihrer Ohren bewegten, erriet er, dass er mit beiden Varianten falsch gelegen hatte. »Ach komm, nicht schon wieder. Was denkst du, was meine Kollegen sagen, wenn ich ständig meine kleine Schwester ins Büro mitbringe?«

»Wenn du diskutierst, wird nur dein Frühstück kalt. Du weißt, dass ich gewinne.« Fröhlich nahm Niove einen Schluck ihres Proteingetränks, ehe sie fortfuhr. »Außerdem schienen deine Kollegen«, dieses Wort erhielt eine besondere Betonung, von der sie beide wussten, dass sie auf eine gewisse Dame in Zarails Nachbarabteilung bezogen war, »beim letzten Mal alles andere als unerfreut, als ich den Fehler in ihrer Gleichung behoben habe und sie sich dadurch zwei Wochen Arbeit erspart haben.«

Obwohl er ruhig blieb, verrieten seine Worte Nioves Sieg. »Das war kein Fehler, nur eine anders gewählte Variable. Sie hätte genauso zum Ziel geführt.«

»In zwei Wochen.«

Niove war nicht sicher, ob es ihr Beharren auf dieser Kleinigkeit oder ihr Kichern war, das das kurze zornige Aufblitzen in Zarails Augen verursachte, aber seine Reaktion ließ sie innerlich triumphieren. Ihr Vater war zu alt, um so geneckt zu werden, Erran zu nachsichtig, um ihr böse zu sein. Zarail dagegen war eine Herausforderung.

Aber selbst er hatte eine Schwachstelle, an der sie immer Erfolg hatte: sein Stolz. Es war sicher nicht leicht, von seiner zehnjährigen Schwester auf dem Gebiet der eigenen Optimierung übertrumpft zu werden.

Das Kind in ihr drängte danach, noch einmal nachzusetzen. Aber wenn sie ihm auch noch auf die Nase band, dass selbst Irela ihre Lösung eleganter gefunden hatte, würde er sie wahrscheinlich wirklich zu Hause lassen.

Also hob sie sich dieses Detail für die nächste Diskussion auf.

 

Das N4-Center war eines der wenigen Gebäude, das auch von der Oberschicht nur durch den Außeneingang im Erdgeschoss betreten werden durfte. Auf eine Verbindung zu den umliegenden Gebäuden, wie es sonst eigentlich üblich war, hatte man aus Sicherheitsgründen verzichtet. So wurden Besucher und Angestellte gleichermaßen auf die Straße verwiesen, wo sie der ungefilterten, stinkenden Luft und dem Schmutz von Noryak ausgesetzt waren.

Und natürlich dem imposanten Eindruck, den das Center vom Boden aus machte.

Das Center ragte vor ihnen auf wie ein gigantisches Mahnmal. Trotz der zahlreichen in den Beton eingebetteten Fenster wirkte die Oberfläche des Gebäudes wie aus einem Guss, als könnte kein Staubkörnchen Halt daran finden. Für welche Projektionen die Fenster an den einzelnen Arbeitsplätzen genutzt wurden, war von der Außenseite her natürlich nicht sichtbar, aber Niove wusste, dass nicht alle davon rein geschäftlich waren. Nachrichtensendungen oder Hologramme von Angehörigen waren keine Seltenheit.

Nur etwa die Hälfte des gewaltigen Turms war sichtbar, dann verschwand er in dem dichten Nebel, den der Smog dort oben bildete. Angeblich konnte man in den obersten Stockwerken sogar die Sonne sehen – leider lag Zarails Arbeitsbereich weit darunter. Von seinem Büro aus bot sich kein Ausblick, den Niove nicht auch im Haus ihres Vaters erleben konnte, sollte ihr das Verlangen nach eintönigem Hochhausgewirr und blinkenden Leuchtreklamen stehen.

Ganz oben, über dem Nebel, lag das Herz des Gebäudes. Ein Hochsicherheitstrakt, der ausschließlich für die Erschaffung der Neuen Generation vorgesehen war. Zarail hatte keinen Zugang dorthin, und somit auch sie nicht. Ohne ihren Bruder wurde sie nirgendwo hineingelassen, egal wie viele Leute sie namentlich im Center kannte.

Sobald sie durch die äußeren Sicherheitstüren des Centers traten, erfasste der Scanner die Mikrochips in ihren Nacken. Ein leises Piepen ertönte, als er Zarail und sie identifizierte, und die inneren Türen schwangen auf. Niove folgte ihrem Bruder durch die große, nüchtern gehaltene Eingangshalle zu den zahlreichen Aufzügen, die sich am Ende der Halle aneinanderreihten.

Die Kabine schoss in den siebenundzwanzigsten Stock hoch, mit einer Geschwindigkeit, die ihr eine leichte Übelkeit verursachte. Sie bemühte sich, ihr Unwohlsein nicht zu zeigen. Zarail stand wie immer mit versteinerter Miene neben ihr. Und wie immer fragte sie sich, ob er den Druck im Magen nie gespürt hatte – oder ob er einfach gelernt hatte, seinen Körper unter Kontrolle zu halten. Was dominierte: seine Gene oder der eiserne Wille?

Niove war erleichtert, als der Aufzug nach wenigen Sekunden anhielt und sie aus der Kabine in das Großraumbüro treten konnte, das den gesamten Stock einnahm. Doch kaum hatte sie einen Fuß in die Etage gesetzt, blieb sie abrupt stehen. In der Abteilung herrschte völliges Chaos.

Für gewöhnlich wirkten die Labore weiß und steril. Ein Eindruck, der nun von wild umherlaufenden Wissenschaftlern zunichtegemacht wurde – und von einem großen, unansehnlichen Fleck mitten auf dem zentral stehenden Besprechungstisch.

Die Tür des Aufzugs hatte sich noch nicht hinter ihr und Zarail geschlossen, als sie bereits in den Mittelpunkt der hektischen Aufmerksamkeit gerieten. Wobei es eigentlich das kleine braune, unidentifizierte Flugobjekt war, dem die ganze Aufregung galt. Das jedoch schoss gezielt auf sie zu, machte einen Satz – und kam direkt auf Nioves Schulter zum Stillstand.

Irritiert versuchte Niove, das seltsame Etwas abzuschütteln. Doch es war zu flink. Es kroch in die Haare, die ihr offen über die Schultern fielen, und verharrte in diesem improvisierten Versteck.

Die Forscher, offenbar erleichtert, dass sich der Grund ihrer Aufregung vorerst nicht weiterbewegte, blieben schnaufend stehen.

Bokan, Zarails Stellvertreter, deutete auf Niove. Aber er war noch nicht genügend zu Atem gekommen, um sich verbal zu äußern. Ihr Bruder dagegen griff vorsichtig in ihr Haar. Mit einer geübten Bewegung brachte er ein kleines Geschöpf zum Vorschein, das ihn zutraulich ansah und nichts dagegen zu haben schien, in seiner lockeren Faust festgehalten zu werden.

»Was soll das denn sein?«, entfuhr es Niove. Es sah fast aus wie einer der Vögel aus ihrem Dschungelprogramm, aber es war farblich vollkommen unscheinbar und von gedrungener Statur.

»Ein Spatz«, erklärte Zarail. »Früher waren sie in den Städten überall zu finden, aber seit die Insektenpopulation nahezu verschwunden ist, findet man sie kaum noch. Dieser hier ist ein Klon.« Er strich mit einer Sanftheit über den winzigen Kopf, die Niove ihm nicht zugetraut hätte. Im Gegenzug erhielt er ein glückliches Fiepen. »Das ist Karill. Er hat die Intellektgene eines Menschen bekommen. Und sein Käfig sollte eigentlich ausbruchssicher sein.« Die letzten Worte galten Bokan, der schuldbewusst die Schultern hob.

»Er hat um Futter gebettelt. Dann ist er wie der Blitz herausgeschossen. Das Gitter war gerade einmal einen Spalt weit geöffnet!«

Murrend öffnete Zarail die Faust, und Karill hopste unbeschwert zurück auf Nioves Kopf, von wo er seinen Verfolgern frech zufiepte. »Wenigstens zeigt es uns, dass der Versuch erfolgreich war.«

»Wozu benötigt man einen Spatz mit dem Intellekt eines Menschen?« Obwohl Niove ihre Frage durchaus berechtigt fand, zog sie damit die entrüsteten Blicke der Wissenschaftler auf sich.

Zarails Antwort war entsprechend spitz, wahrscheinlich, um sich für die Niederlage am Morgen zu revanchieren. »Niemand benötigt einen Spatz mit dem Intellekt eines Menschen.« Er bedachte Karill mit einem kurzen Blick. Der Spatz hopste herum und wandte ihm betont den Rücken zu. Unbeeindruckt fuhr Zarail fort: »Aber der Erfolg, tierische mit menschlichen Eigenschaften zu kreuzen … Was für Möglichkeiten uns damit offenstehen, ist unvorstellbar!«Nun brach doch der Genetiker in ihm durch, seine Stimme wurde vor Erregung lauter und zittrig. »Ein Mensch mit den scharfen Sinnen einer Eule, eines Hundes. Mit Kiemen, um endlich neue Lebensräume in den Meeren zu bevölkern. Regenerierende Organe. Nachwachsende Gliedmaßen. Die Unabhängigkeit von Sauerstoff!«

Er führte Niove zu den anderen Experimenten. Sie konnte keines der armseligen Tiere benennen, aber ihr Herz schmerzte bei dem traurigen Anblick, den die gefangenen Kreaturen boten.

Die Forscher jedoch waren in ihrem Element – und froh darüber, eine Zuhörerin zu haben, der sie ihre Arbeit uneingeschränkt präsentieren konnten.

»Wenn wir die Tiergene erst einmal erfolgreich in unsere Systeme integriert haben«, ergänzte Bokan und winkte in Richtung mehrerer Tanks, in denen verschiedene Arten von Algen ihr Dasein fristeten, »dann stehen uns die Tore der Gentechnik endlich vollends offen. Pflanzen, Bakterien, Einzeller – die Möglichkeiten sind unendlich!«

Schweigend und mit verborgenem Unbehagen beobachtete Niove das sanfte, unschuldig wirkende Wogen der Algen. Ja – die Möglichkeiten waren unendlich.