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Eberhard Schlömmer | Dennis Sandig

PROGRAMMDESIGN
IM FUNCTIONAL TRAINING

Eberhard Schlömmer | Dennis Sandig

PROGRAMMDESIGN
IM FUNCTIONAL TRAINING

Erkenne deine Stärken und Schwächen, erstelle deinen individuellen Trainingsplan und steigere deine sportliche Leistung

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen:

info@rivaverlag.de

Wichtige Hinweise

Dieses Buch ist für Lernzwecke gedacht. Es stellt keinen Ersatz für eine individuelle medizinische Beratung dar und sollte auch nicht als solcher benutzt werden. Wenn Sie medizinischen Rat einholen wollen, konsultieren Sie bitte einen qualifizierten Arzt. Der Verlag und die Autoren haften für keine nachteiligen Auswirkungen, die in einem direkten oder indirekten Zusammenhang mit den Informationen stehen, die in diesem Buch enthalten sind.

Ausschließlich zum Zweck der besseren Lesbarkeit wurde auf eine genderspezifische Schreibweise sowie eine Mehrfachbezeichnung verzichtet. Alle personenbezogenen Bezeichnungen sind somit geschlechtsneutral zu verstehen.

Originalausgabe

1. Auflage 2021

© 2021 by riva Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Türkenstraße 89

80799 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Redaktion: Katharina Brinkmann, Susanne Schneider, Susan Mücke

Umschlaggestaltung: Sonja Vallant

Umschlagabbildungen: Nils Schwarz

Fotos: sämtliche Fotos im Innenteil von Nils Schwarz, www.nilsschwarz.com, außer:

Jan Papenfuß: 239 u.; Shutterstock/epixproductions: 26; Shutterstock/Excellent Dream: 27; Shutterstock/hartphotography: 25; Shutterstock/MDGRPHCS: 45; Shutterstock/stihii: 43; Simone Hoermann: 239.

Satz: Daniel Förster, Belgern

Druck: Firmengruppe APPL, aprinta Druck, Wemding

ISBN Print 978-3-86883-729-2

ISBN E-Book (PDF) 978-3-95971-569-0

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-95971-570-6

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.rivaverlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de

INHALT

Vorwort

1 Funktionell trainieren

Was ist funktionelles Training?

Warum funktionell trainieren?

2 Evolution und Bewegung

Der Mensch passt sich an

Das funktionelle Ur-Trainingskonzept

Die ersten Meilensteine der Bewegung

3 Prinzipien des funktionellen Trainings

Bewegungen trainieren

Der Joint-by-Joint-Ansatz

Die Mobilität verbessern

Die Stabilität und Kraft aufbauen

4 Screening und Testing

Testen und planen

Der 6x5-Selbsttest

Auswertung der Ergebnisse

5 Sessiondesign – die P.A.P.R.-Methode

Neue Weichenstellungen im Session- und Programmdesign

Zyklisierung versus Periodisierung

Programme gestalten mit der P.A.P.R-Methode

6 P.A.P.R. in der Praxis

Preparation

Bewegungsvorbereitende Übungen für mehr Bewegungsspielraum

Selbstmassage

Mobilitätsübungen

Activation

Von der Isolation zur Integration

Phase 1 – die lokale Aktivierung

Phase 2 – die globale Aktivierung

Phase 3 – die dynamische Aktivierung

Power

Regeneration

Aktive versus passive Regeneration

Übungsregister

Über die Autoren

VORWORT

Jedes neue Fachbuch zum Thema »Functional Training« weckt beim Leser wieder die Hoffnung auf eine Beantwortung vielleicht noch offener Fragen, auf Anreize für neue Denkansätze, natürlich neue Übungen und auch Erkenntnisse. Die Erwartungshaltung ist also groß und wir, Dennis Sandig und Eberhard Schlömmer, hoffen, dieser in unserem besten Ermessen entsprechen zu können, und laden dich auf eine Reise in die Welt des Functional Training ein. Unsere Erfahrung und der Austausch mit anderen Experten in den Bereichen Training und Therapie haben uns gezeigt, dass Functional Training deutlich mehr ist als eine Aneinanderreihung von funktionellen Übungen. Ebenso schwer ist es, Functional Training klar und einfach zu definieren.

Eine allgemein anerkannte Definition von Functional Training, auf die sich alle Experten geeinigt haben, ist bis zum heutigen Zeitpunkt nicht existent und vielleicht braucht es diese auch nicht. An dieser Tatsache siehst du bereits, dass Functional Training weitaus komplexer ist, als viele denken.

»Wer stark, gesund und jung bleiben will,
sei mäßig, übe den Körper, atme reine Luft und
heile sein Weh eher durch Fasten als durch Medikamente.«

Hippokrates von Kos (460 bis etwa 377 v. Chr.), griechischer Arzt

In der Wissenschaft gibt es hinreichend Erkenntnisse zu den positiven Auswirkungen von Bewegung und Training auf die Gesundheit. Längst ist auch bekannt, dass sich die physiologischen Folgen eines stark vom Sitzen geprägten Arbeitsalltags nicht durch dreimal 30 Minuten Laufen oder zweimal allgemeines Fitnesstraining pro Woche wegtrainieren lassen. Wer weniger als drei Stunden pro Tag sitzt, kann seine Lebenserwartung sogar um zwei Jahre erhöhen! Dieses Forschungsergebnis des Pennington Biomedical Research Center aus dem Jahr 2012 wurde durch viele andere Beobachtungs- und Vergleichsstudien in den USA und Australien untermauert. Viele Krankenkassen und andere Gesundheitsorganisationen in Deutschland warnen seit Jahren vor den Folgen des ausdauernden Sitzens. Bewegung und Training als Medizin, ja – aber bitte richtig!

Korrekt angewendet sind Bewegungs- und Trainingsprogramme eine effektive Methode, um weitverbreiteten Zivilisationskrankheiten entgegenzuwirken, die mit unserer Sesshaftigkeit einhergehen. Der Mensch lebt besser und gesünder, wenn er sich häufig und auf vielfältige Weise bewegt. Bewegungsmangel hingegen gilt als Auslöser einer Vielzahl von Erkrankungen. Man kann behaupten, dass ausreichend Bewegung für den Menschen zu einer ihm entsprechenden, gleichsam artgerechten Lebensweise gehört.

Der sich bewegende Mensch leidet also weniger. Gerade in einer Zeit, in der Smartphones und Armbanduhren zu Fitnesstrackern und Motivationshilfen werden, muss es doch einen Weg geben, die Menschen in Schwung zu bringen. Dabei geht es nicht unbedingt um Sport oder Training. Jede Bewegung und jede Belastung fordern unseren Körper dazu heraus, zu reagieren und sich anzupassen. Bewegen wir uns wenig bis gar nicht, sind hingegen Einschränkungen vieler Körpersysteme feststellbar. Die Fähigkeit, Fett zu verbrennen, sinkt, Faszien und fasziale Strukturen »verkleben« und »vertrocknen«, Gelenke werden steifer und das Gehen fällt zunehmend schwerer.

Ausdauer, Kraft und Beweglichkeit sind grundlegende Fähigkeiten, die helfen, die eigene Lebensqualität bis ins hohe Alter zu erhalten. Viele ältere Menschen fühlen sich in ihrem Alltag aufgrund von Einschränkungen in der Mobilität und Stabilität bereits beim An- und Ausziehen, Tragen der Einkaufstüten, Treppensteigen und vielem mehr behindert. Wer seinen Körper hingegen frühzeitig wichtigen funktionellen Trainingsbelastungen aussetzt, wird bis ins hohe Alter davon profitieren. Es geht beim Training eben nicht immer darum, gut auszusehen, sondern sich das Leben zu erleichtern und die Gesundheit und die grundlegenden Funktionen des Körpers zu fördern und zu bewahren.

Dieses Buch ist ein Leitfaden, um die komplexe Bandbreite körperlicher Anpassung zu erkennen, die passenden Übungen für jeden Trainierenden zu ermitteln und auf dieser Basis ein individuelles Trainingsprogramm zusammenzustellen, das zu ihm passt wie ein persönlicher Fingerabdruck.

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FUNKTIONELL TRAINIEREN

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In den letzten Jahren hat sich Functional Training international etabliert. Auch in Deutschland ist das funktionelle Training ein fester Bestandteil in zahlreichen Fitnessstudios und bei vielen Trainern geworden. Grund dafür ist die Vielfalt dieser Trainingsform. Ob vom Zirkeltraining über »Functional Zones« in Studios, Outdoortraining, CrossFit bis zum Athletiktraining in verschiedenen Sportarten – funktionelles Training ist angekommen in der Trainingswelt.

Es gibt eine große Bandbreite an Inhalten und Trainingsübungen mit und ohne Geräte, die gerne dem Functional Training zugeordnet werden. Doch was genau macht das »Funktionelle« im Training aus? Wie wird Training wirklich funktionell? Sind spezielle Trainingsinhalte oder besondere Geräte entscheidend und, wenn ja, welche? Um unsere Trainingsphilosophie von anderen Ideen und Definitionen abzugrenzen, wollen wir zunächst zeigen, wie sich funktionelles und konventionelles Trainieren voneinander unterscheiden.

WAS IST FUNKTIONELLES TRAINING?

Es gibt aktuell eine ganze Bandbreite von Angeboten, Methoden und Trainingsformen, die den Begriff »functional« oder »funktionell« verwenden. Aber nicht überall, wo »functional« oder »funktionell« draufsteht, ist auch Funktionelles drin.

Um hier von Beginn an etwas Klarheit zu schaffen, werden vorab ein paar Begrifflichkeiten genauer beleuchtet und definiert.

Funktion, Funktionalität und Dysfunktion

Funktion

Im kausalen Zusammenhang ist der Zweck (= die Funktion) das Ergebnis von Ursache und Wirkung, also eine »Um zu«-Bedingung. Allgemein gesprochen ist es eine Aufgabe, Tätigkeit oder Handlung, die in einem größeren Zusammenhang zu erfüllen ist. Hier einige Beispiele:

Funktionalität

Die Funktionalität ist in Bezug auf den menschlichen Körper und die menschliche Bewegung vorwiegend geprägt durch Gebrauchs- und Alltagstauglichkeit. Die Gebrauchstauglichkeit stellt dabei die Mindestanforderung dar, dass ein System (der menschliche Körper, das Muskelsystem, das Organsystem) uneingeschränkt und schmerzfrei arbeitet und den Mindeststandard an Beweglichkeit und Stabilität erfüllt.

Dysfunktion

Eine Dysfunktion beschreibt eine Funktionsstörung. Auch hier gilt der kausale Zusammenhang von Ursache und Wirkung. Eine Dysfunktion kann zum Beispiel eine Limitierung im aktiven und/oder passiven Bewegungsapparat sein, die wiederum zu Kompensationen, etwa zu Ausgleichsbewegungen, in anderen Strukturen und Funktionsbereichen führt.

Beispiel: Ist die Bewegung im Knie eingeschränkt, sodass das Knie in der Funktion des Gehens nicht gestreckt werden kann, führt das zu Kompensationsbewegungen im Sprunggelenk und in der Hüfte.

Funktional versus funktionell

Die beiden Adjektive werden häufig synonym verwendet. In der Nutzung sollte jedoch darauf geachtet werden, dass »funktional« auf die Funktion bezogen ist und »funktionell« eine normale, ungestörte Funktion beschreibt.

Die Grundidee des Konzepts besteht darin, dass die Auswahl der Trainingsinhalte zweckgebunden und individuell erfolgt, also keinem standardisierten One-fits-all-Ansatz folgt, sich nicht auf isolierte Muskelaktionen und Herz-Kreislauf-Training beschränkt. Trainingsziele – ebenso wie persönliche Schwachstellen – werden bereits bei der Zusammenstellung der Übungsauswahl berücksichtigt. So fördert und fordert das funktionelle Training, basierend auf fundamentalen Bewegungsmustern, konditionelle und koordinative Fähigkeiten wie Mobilität, Stabilität, Gleichgewicht, allgemeine Athletik, Kraft und Schnelligkeit. Der Einsatzzweck reicht dabei von der Rehabilitation bis hin zum Leistungssport.

Functional Training in kinetischen Muskelketten, das heißt das Training von Bewegungen und nicht von einzelnen Muskeln, hat zum Ziel, dass die richtigen Muskeln bei ihrem späteren Einsatz im Alltag oder Sport zum richtigen Zeitpunkt das Richtige tun. Ohne die richtige Kraftentfaltung zum richtigen Zeitpunkt wird man weder einen Wasserkasten gefahrlos hochheben noch Robert Harting den Diskus auf weltmeisterliche Weiten bringen. Freizeit- und Leistungssportler profitieren also gleichermaßen von funktionellen Trainingsprogrammen. Trainingserfolge in Bezug auf Fitness und Leistungsentwicklung stellen sich jedoch nur ein, wenn die Trainingsinhalte zielgerichtet ausgewählt und trainiert wurden. Über Erfolg und Misserfolg des Trainings entscheidet die Auswahl der richtigen Übungen, die auf die Voraussetzungen des Trainierenden abgestimmt ist. Sie bildet die Basis der Trainingsanpassungen.

Extrinsische versus intrinsische Funktionen

Functional Training ist generell alles, was dazu dient, den Kunden oder Athleten in einen gesunden und leistungsbereiten Status zu bringen, ausgehend von einer körperlichen Mindestanforderung, dem individuellen Anforderungsprofil und dem jeweiligen Ziel. Ob eine Übung funktionell ist, ist nicht primär von der Übung abhängig, sondern vor allem von der Person, die sie ausführt. Daher sollte zwischen zwei Funktionsebenen unterschieden werden.

Extrinsische Funktionen

Beispiel: Person A und Person B führen beide eine Kniebeuge mit einer Kettlebell vor der Brust aus, den sogenannten Goblet Squat. Beide führen damit ein fundamentales Bewegungsmuster aus: die Kniebeuge.

Extrinsisch und aus alltags- und gebrauchstauglicher Sicht (Funktionalität) betrachtet, ist die tiefe Kniebeuge ein erstrebenswertes Bewegungsmuster, das sich jeder funktional und funktionell bis ins hohe Alter erhalten sollte.

Intrinsische Funktionen

Beispiel: Die oben genannte Übung kann für Person A funktionell sein, für Person B aber nicht, da die Person nicht über ausreichend Beweglichkeit im Hüftgelenk verfügt und sich mit Kompensationsbewegungen bei der Ausführung einem höheren Risiko aussetzt, sich zu verletzen oder Gelenke unphysiologischer zu beanspruchen, ohne dass ihr das bewusst ist. Während Person A alle Voraussetzungen für die korrekte Ausführung der gleichen Übung erfüllt, muss die Bewertung für Person B anders ausfallen.

Jeder Mensch ist ein Individuum

Training wirkt individuell. Selbst im Gruppensport wie im Fußball können die Voraussetzungen für ein Athletiktraining grundverschieden sein.

Während bei jüngeren Spielern die Verletzungsrate eher gering ist, haben die erfahreneren Spieler eventuell bereits verschiedene Vorverletzungen. Mit dauerhaft identischen Trainingsprogrammen zu arbeiten, kann schnell dazu führen, dass die jüngeren Spieler unterfordert und die Älteren überfordert werden. Jede Verletzung und jeder Schaden in einer anatomischen Struktur muss im Training berücksichtigt werden – sei es aus präventiven Gründen, um das Risiko einer Wiederverletzung zu verringern, oder zum Zweck der Regeneration, um die volle Belastbarkeit wiederherzustellen.

DER PERSÖNLICHE FINGERABDRUCK

Eine Übung, die für eine Person funktionell ist, muss für eine andere Person nicht automatisch auch funktionell sein. Hier unterscheiden sich gute Trainer von sehr guten Trainern. Funktionelle Übungen sollten so individuell gewählt werden wie der persönliche Fingerabdruck eines jeden Sportlers.

Man muss die Frage nach der Funktionalität immer auf den einzelnen Sportler, seine körperlichen Voraussetzungen und auch seine persönlichen Ziele beziehen. Beispielsweise kann eine Verletzung im Bereich des Knies, etwa ein Riss des vorderen Kreuzbands, spezielle Trainingsformen notwendig machen. Wenn der mediale Anteil des Oberschenkelstreckers stark an Kraft eingebüßt hat, ist es mitunter sinnvoll, diesen in der medizinischen Trainingstherapie zeitweise gesondert zu aktivieren. Bei einem Patienten in der Rehabilitation sind andere Maßstäbe für ein funktionelles Vorgehen anzusetzen als bei einem Leistungssportler. Hier ist es nicht angebracht, koordinativ anspruchsvolle Übungen oder komplexe Bewegungsabläufe zu bevorzugen, wenn es um die Betrachtung der Funktionalität geht. Hinzu kommt, dass das Trainingsziel unbedingt zu berücksichtigen ist. Kraftgewinn und Koordinationsverbesserung sind unterschiedliche Zielstellungen, die unterschiedlicher Trainingsmethoden bedürfen.

WARUM FUNKTIONELL TRAINIEREN?

Functional Training fordert und fördert umfassendere Bewegungen und nicht einzelne Muskelgruppen. Komplexe, mehrgelenkige Bewegungen und das koordinierte Zusammenspiel großer Muskelgruppen stehen im Mittelpunkt, damit die natürlichen Bewegungsmuster des Körpers angesprochen werden und sich daraus Kraft, Koordination, Stabilität und Mobilität weiterentwickeln können.

Asymmetrien erkennen

Wenn in grundlegenden Bewegungsmustern, wie dem Gehen, Dysfunktionen vorhanden sind, ist es wahrscheinlich, dass man sowohl im Training als auch im Alltag um diese Probleme herum trainiert oder ihnen ausweicht. Asymmetrien sind eine der Hauptursachen für Verletzungen und Überlastungssyndrome. Je stärker diese ausgeprägt sind, desto mehr Korrektur benötigen sie. Hier ein einfacher Test, um die eigene Schulter auf ein Ungleichgewicht zu prüfen:

  1. Komme in einen aufrechten Stand mit geschlossenen Füßen und strecke beide Arme zur Seite aus. Führe die rechte Faust von oben und die linke Faust von unten hinter dem Rücken zueinander.

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  2. Anschließend führst du die Übung auf der anderen Seite aus und vergleichst beide Seiten miteinander.

Dieser Test dient der Überprüfung deiner Mobilität im oberen Rücken und im Schultergürtel, ebenso gibt er Hinweise über die motorische Kontrolle beider Schulterblätter und die Symmetrie von links und rechts.

Wie auf den beiden Bildern oben unschwer zu erkennen ist, gibt es einen Unterschied zwischen links und rechts. Je nachdem, wie stark die Asymmetrie ausfällt, kann es im Training zu erhöhten Abnutzungserscheinungen und Überbeanspruchungen kommen. Extrinsisch betrachtet sind Klimmzüge, Rudern, Liegestütz und Überkopfdrücken tolle funktionelle Übungen. Solltest du aber bei diesem Schultermobilitätstest mit einer gravierenden Asymmetrie abgeschlossen haben, raten wir dir zunächst von intensiven Druck- und Zugbewegungen ab. Bringe deine Mobilität und Stabilität (intrinsische Voraussetzungen) im Schultergürtel und oberen Rücken auf ein gutes funktionelles symmetrisches Level und du wirst von Druck- und Zugbewegungen deutlich mehr profitieren.

Das Zusammenspiel von Körper, Gehirn und Muskeln

Jede Bewegung hat ihren Ursprung im Gehirn und Rückenmark und nicht in den Muskeln. Muskeln sind grundsätzlich ein suspektes Gewebe. Das Gehirn möchte stets Bewegung mit der höchsten motorischen Qualität erzeugen und nimmt dabei sensorisch die schmerzhafte oder unsichere Bewegung wahr, sucht aber Wege, diesen Schmerz oder eine Unsicherheit zu umgehen. Es entsteht ein sogenanntes Kompensationsmuster. Die Bewegungsabläufe verändern sich. Man beginnt zum Beispiel zu humpeln, wenn das linke Knie schmerzt. Automatisch wird die rechte Beinseite mehr belastet als die andere. Wenn der Rücken schmerzt, bückt man sich automatisch anders nach vorne als ohne Schmerzen. Das passiert in der Tat automatisch und unbewusst. Diese Reaktion des Körpers ist eine natürliche und durchaus sinnvolle Anpassung an im System auftretenden Schmerz. Das Kompensationsmuster bleibt oft noch über Monate oder Jahre bestehen, obwohl die Verletzung bereits abgeklungen und der Patient schmerzfrei ist. Das zeigt, dass der Körper, das Gehirn und die einzelnen Muskeln zusammenarbeiten, um das beste Ergebnis zu erzielen – was im Fall von akutem Schmerz bedeutet, die verletzte Struktur zu entlasten und dem neuen, schmerzfreien Kompensationsmuster zu folgen.

Innervation

»What fires together, wires together.« Mit dieser Regel beschrieb der Psychologe Donald O. Hebb die Situation, dass Nervenzellen, die dasselbe Motoneuron als Ursprung haben, bei Erregung auch gemeinsam Impulse weitergeben, zum Beispiel an Muskelfasern. Je häufiger also Neuron A und B gemeinsam in Aktion treten, desto eher werden beide auch aufeinander reagieren. So fallen Übungen, die immer wieder geübt werden, zunehmend leichter, weil das Zusammenspiel beständig optimiert wird. Diese Tatsache bildet eine wichtige Grundlage und ein Argument für komplexe Bewegungsaufgaben im Vergleich zu isolierten Übungsformen.

Ursachenforschung als Basis für gute Bewegungsqualität

Oft ist es angenehmer und es geht schneller, das Symptom zu behandeln, als auf Ursachenforschung zu gehen. Zu komplex sind für viele die vielfältigen Faktoren bei der Entstehung von Einschränkungen, Verkürzungen, Verspannungen und Schmerzen. Genau diese Entstehungsgeschichte von Problemen und ihr Zusammenhang mit Bewegung und den grundlegenden Bewegungsmustern bildet die Grundlage des Functional Training – die Suche nach der Schwachstelle im System und die Frage, welche Ursache für die Probleme verantwortlich gemacht werden kann. Über die Jahre entwickelte sich das System rund um Analyse und Korrekturstrategie beständig weiter und gehört heute zu den wichtigsten Grundlagen im Functional Training. Egal, ob wir mit Menschen arbeiten, die eine Bikinifigur erreichen wollen, oder ob es um sportliche Ziele geht – wenn ein Sportler oder Patient Schwachstellen in grundlegenden Bewegungsmustern aufweist, werden diese dem Erreichen des Zieles im Weg stehen. Je besser ein Bewegungsmuster funktioniert, desto positiver wirkt sich das auf den Kalorienverbrauch, die Anpassung, Regeneration und Kraftentwicklung aus.

Nur wenn Grundbewegungen und -übungen frei von gravierenden Asymmetrien, Limitierungen und Dysfunktionen sind, können wir intensiver und physiologischer trainieren. Arbeitet man in der Praxis regelmäßig mit einem standardisierten Analysesystem, wie beispielsweise dem Functional Movement Screen (FMS), erkennt man schnell, dass bestimmte Probleme bei den »untersuchten« Menschen gehäuft auftreten. Menschen, die vorwiegend sitzend arbeiten, weisen beispielsweise sehr häufig eine fehlerhafte Ansteuerung der Hüftstreckmuskulatur auf. Die Schlüsselinhalte unserer Trainingsprogramme sind stets auf die jeweils bestehenden Problematiken ausgerichtet. Dabei gibt es je nach Leistungslevel die Möglichkeit, etwas isolierter vorzugehen oder die Übungen etwas freier zu gestalten. Erfolgreiches Training lebt davon, den Ausgangszustand eines Sportlers oder Patienten genau erkennen, bewerten und einstufen zu können. Functional Training liefert hierzu wichtige Tools, welche Trainer und Therapeuten dabei unterstützen, Trainings- oder Rehaprogramme optimal auf einen Sportler hin auszurichten und den Erfolg der Arbeit zu überprüfen.

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EVOLUTION UND BEWEGUNG

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Um eines der Grundprinzipien des funktionellen Trainings zu verstehen, blicken wir in die Vergangenheit. Im Laufe der Evolution haben sich unser heutiges Aussehen und unsere Bewegungsmuster herausgebildet.

Die Urahnen der Menschen begannen die Erde zu erobern, als sich die Abstammungslinien der Menschenaffen und der heutigen Menschen vor fünf bis sieben Millionen Jahren in Afrika trennten. Eine Art »beherrscht« heute die Erde: der Homo sapiens. Ein Meilenstein in der Evolution war die Entwicklung von der Fortbewegung auf allen vieren hin zum aufrechten Gang. Dieser Anpassungsprozess, der vermutlich durch veränderte Lebensbedingungen bedingt war, verursachte zahlreiche anatomische Veränderungen von Kopf bis Fuß.

DER MENSCH PASST SICH AN

Wichtig für uns ist der zentrale Aspekt der anatomischen Anpassungsfähigkeit auf äußere Reize und Stressoren, sowohl biomechanisch, physiologisch als auch neurologisch. Das sogenannte »SAID Principle« (Specific Adaptation to Imposed Demands) bedeutet übersetzt, dass sich unser Körper spezifisch an die gestellten Heraus- und Anforderungen anpasst. Dieses Prinzip zieht sich wie ein roter Faden durch unsere Evolutionsgeschichte und gilt auch für unser Training. Wir passen uns unserer Umgebung und den uns gestellten Anforderungen an, und das sowohl im positiven als auch im negativen Sinne. Das SAID-Prinzip untermauert, dass die Adaptionen spezifisch für die Bewegungen sind, die regelmäßig ausgeführt und trainiert werden. Isolierte Bewegungen hingegen, die wiederholt trainiert werden, haben daher keinen bis nur einen minimalen Transfer auf funktionelle Aufgaben. Wenn jedoch grundlegende Bewegungsfähigkeiten oder -kompetenzen abwechslungsreich trainiert werden, ist ein hoher Transfer zur Verbesserung der Ansteuerung, Biomechanik, sportlichen Leistung sowie zur Minimierung von Verletzungen gegeben. Bewegungsvielfalt und -differenzierung in einem herausfordernden Umfeld sind hier der Schlüssel.