Dr. Armin Born ist Diplom-Psychologe, Diplom-Pädagoge und Psychologischer Psychotherapeut.
Nach dem Studium des Lehramts an Grund- und Hauptschulen, der Pädagogik und der Psychologie bildete er zunächst als Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Würzburg zehn Jahre lang vor allem angehende Lehrer und Lehrerinnen aus.
Seit Anfang der 90er Jahre arbeitete er dann als Psychologischer Psychotherapeut in kinder- und jugendpsychiatrischen Praxen und 20 Jahre lang zusätzlich parallel als Ehe-, Familien- und Lebensberater an einer Beratungsstelle in Würzburg. Seit 2006 besteht daneben auch eine Therapietätigkeit in freier Praxis. Sein therapeutischer Hauptschwerpunkt ist die Arbeit mit Kindern mit Lernproblemen und zusätzlichen psychischen Problemen und die Arbeit mit AD(H)S-Kindern und deren Familien.
Seit 2000 erweiterte sich sein Arbeitsfeld um Vorträge und Fortbildungen im deutschsprachigen Raum zu den Themengebieten »Effektives Lernen«, »Frühförderung« und »Lern- und Verhaltensprobleme bei AD(H)S«.
Claudia Oehler ist Diplom-Psychologin, Psychologische Psychotherapeutin und Supervisorin.
Nach dem Studium der Psychologie war sie zunächst fünf Jahre als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters an der Philipps-Universität Marburg unter Leitung von Prof. Dr. Dr. H. Remschmidt tätig. Von 1991 bis 2003 arbeitete sie dann als Verhaltenstherapeutin für Kinder, Jugendliche und Erwachsene in einer großen Kinder- und jugendpsychiatrischen Praxis mit dem Schwerpunkt der Betreuung von AD(H)S-Kindern und deren Familien. Seit 2003 ist sie als Verhaltenstherapeutin für Kinder, Jugendliche und Erwachsene in freier Praxis tätig. Seit 2000 zahlreiche Fachvorträge, Veröffentlichungen und Fortbildungsveranstaltungen insbesondere zum Thema Lernen und AD(H)S.
Weitere Publikationen des Autorenteams:
Born A., Oehler C. (2017): Lernen mit Grundschulkindern (2., überarbeitete und erweiterte Auflage). Stuttgart: Kohlhammer.
Born A., Oehler C. (2014): Kinder mit Rechenschwäche erfolgreich fördern. Ein Praxishandbuch für Eltern, Lehrer und Therapeuten (5., aktualisierte und erweiterte Auflage). Stuttgart: Kohlhammer.
Born A., Oehler C. (2011): Gemeinsam wachsen – der Elternratgeber ADHS. Verhaltensprobleme in Familie und Schule erfolgreich meistern. Stuttgart: Kohlhammer.
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Die erste bis zehnte Auflage dieses Buchs erschien unter dem Titel Lernen mit ADS-Kindern. Ein Praxishandbuch für Eltern, Lehrer und Therapeuten.
11., erweiterte und aktualisierte Auflage 2019
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ISBN 978-3-17-036531-5
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Wir freuen uns, Ihnen hiermit die elfte Auflage unseres Buches »Lernen mit ADHS-Kindern« vorlegen zu können. Seit Erscheinen der ersten Auflage im Jahre 2002 haben wir in vielen Vorträgen und Fortbildungen zahlreiche positive Rückmeldungen erhalten. Eltern, die sich angesichts der komplexen schulischen Anforderungen verunsichert fühlen, sind dankbar, einfache und hilfreiche Konzepte und Methoden für die zentralen Lernaufgaben an die Hand zu bekommen, um ihre AD(H)S-Kinder in ihrem Lernprozess effektiv unterstützen zu können.
Mit unserem Buch verfolgen wir den Ansatz, dass schulische Lernmethoden den Kindern angepasst werden sollen und nicht die Kinder den Methoden.
Unsere Methoden sind weiterhin nicht einfach »so« entwickelt worden, sondern sind zum einen in der Praxis in vielfacher Weise erprobt. Gleichzeitig sind sie zum anderen aber auch wissenschaftlich auf der Grundlage des aktuellen Forschungsstandes der Lernpsychologie und der Gehirnforschung begründbar und nachvollziehbar. Dass unser Schulsystem dagegen mit der wissenschaftlichen Absicherung der jeweiligen lernmethodischen Vorgehensweise Schwierigkeiten hat, zeigt die kritische Einschätzung des Schulpädagogen Wellenreuther: »Schulisches Lernen gleicht einem schlechtgemixten Cocktail aus Tradition und zum Zeitgeist passender Innovation. Die Berücksichtigung von Forschungsergebnissen spielt dabei eine untergeordnete Rolle« (Wellenreuther 2009, S. 52).
AD(H)S-Kinder stellen aufgrund ihrer großen Zahl und ihrer zumeist ausgeprägten Symptomatik einen besonderen Prüfstein für unser Schulsystem dar. Diese Tatsache lässt sich positiv im Sinne einer Herausforderung für unsere Schulen verstehen und aufgreifen. Kennzeichen eines guten Schulsystems und einer erfolgreichen Unterrichtspraxis sollte es sein, sich der grundsätzlichen Lerngesetzmäßigkeiten bewusst zu sein und zu versuchen, den besonderen Voraussetzungen der einzelnen Kinder in ihrer Unterschiedlichkeit gerecht zu werden. Insofern können die Verantwortlichen unseres deutschen Schulsystems und mit ihnen vor allem die Didaktiker, die die Lernpläne maßgeblich mitgestalten, von unseren AD(H)S-Kindern lernen.
In unserer konkreten Praxis begegnen wir erfreulicherweise immer mehr engagierten Lehrerinnen und Lehrern, die neue Antworten auf die Frage nach erfolgreichen Lernwegen suchen und denen effektive, für das einzelne Kind passende Methoden genauso am Herzen liegen wie uns. Gemeinsam versuchen wir, von der spezifischen Problemkonstellation der AD(H)S-Kinder ausgehend, gleichermaßen zielführende wie praktikable Lösungen zu finden, die auch den jeweiligen Einzelfällen gerecht werden.
In unseren Fortbildungskursen werden immer wieder die besonderen Schwierigkeiten der Lehrer und Lehrerinnen deutlich: Sie erleben sich zwischen den Anforderungen ihrer Lehrpläne und den immer schnelleren Themen- und Methodenwechseln einerseits und der Erkenntnis der fehlenden bzw. mangelnden Automatisierungen des Wissens ihrer Schüler in den Grundfertigkeiten andererseits zunehmend zerrissen. Insbesondere in der Arbeit mit schwächeren Schülern fühlen sie sich häufig allein gelassen und wünschen sich mehr Unterstützung, da z. B. das Thema AD(H)S in ihrer Aus- und Fortbildung immer noch zu wenig thematisiert wird.
Betroffenen Kindern und deren Eltern, aber auch Lehrerinnen und Lehrern sowie Kollegen, die mit AD(H)S-Kindern und ihren Familien arbeiten, versuchen wir immer wieder folgende neuropsychologische Sichtweise zu vermitteln: Nur die konkreten Denkvorgänge bzw. die entsprechenden neuronalen Verknüpfungen, die im Gehirn aktiviert werden, werden auch abgespeichert. Eine sichere Abspeicherung erfolgt nur durch ausreichendes Wiederholen. Deswegen gilt es, im Lernprozess immer wieder darauf zu achten, was genau im Gehirn aktiviert wird. Der Schulalltag, angeleitet vom jeweiligen Lehrplan, ist gekennzeichnet durch einen schnellen Wechsel der Lernangebote, einer kurzen Darbietungszeit und unterschiedlichen Lernwegen. Für AD(H)S-Kinder finden die notwendigen Wiederholungen oft nicht im ausreichenden Maße statt. Es wird im Gehirn der Kinder eher Verwirrung gestiftet, die einem sicheren Beherrschen entgegensteht.
Beim »Wie des Lernens« müssen wir uns immer wieder Rechenschaft darüber ablegen,
• was konkret im Gehirn des Kindes aktiviert wird,
• ob der Lernstoff möglichst einfach mit wenigen Informationseinheiten »gehirngerecht« dargeboten wird,
• und wie das unerlässliche Wiederholen durchgeführt wird.
Auf diesen Vorüberlegungen aufbauend ist es möglich und auch notwendig, eine spezifische Feinabstimmung der Lernmethoden für das jeweilige Kind vorzunehmen.
Wir möchten immer wieder betonen, wie wichtig ein sicheres Beherrschen der Grundfertigkeiten für die Kinder ist, um Frustrationen zu vermeiden. Wenn diese anwachsen, kommt es zur Vermeidung der Auseinandersetzung mit den Lerninhalten und damit letztendlich über viele Defizite zu einer Beeinträchtigung der Schullaufbahn.
Für unsere AD(H)S-Kinder ist erfreulich, dass es immer häufiger gelingt, Vereinbarungen zwischen Eltern und Lehrerinnen und Lehrern dahingehend zu treffen, dass Hausaufgaben sinnvoller werden können: So lassen sich beispielsweise Lehrer/innen vermehrt darauf ein, dass AD(H)S-Kinder nur noch einen Teil der schriftlichen Hausaufgabe erledigen, sofern sie während der restlichen Zeit gemeinsam mit ihren Eltern mit effektiven nichtschriftlichen Lernmethoden arbeiten. Sie wissen ja: »Nicht im Heft soll es stehen, sondern im Kopf des Kindes«.
Zwischenzeitlich beobachten wir eine zunehmende Kooperation insbesondere mit Lehrern in Einzelkontakten, Arbeitsgemeinschaften, Fortbildungen und »Lernwerkstätten«. Diese Form der Teamarbeit zwischen Pädagogen, Psychologen und Lehrkräften bereitet den Boden für fruchtbare wechselseitige Lernprozesse. Trotz zunehmender Belastungen im Lehrerberuf, Unzufriedenheiten mit der Ausbildungssituation und Vorgaben durch Lehrpläne erleben wir hier Bereitschaft und Engagement auch für unsere AD(H)S-Kinder. Viele Lehrerinnen und Lehrer beobachten aufmerksam die Erkenntnisse der aktuellen Gehirnforschung und bemühen sich, diese im Rahmen ihres Unterrichts angemessen zu berücksichtigen. Teilweise arbeiten sie dann auch mit unseren Lernmethoden. Lehrkräfte, die ihren Unterricht auf unsere Methoden umstellen, kommen dabei zumeist zu dem Schluss: Was für AD(H)S-Kinder taugt, taugt erst recht auch für die anderen Kinder. So werden zum Beispiel Erfolgserlebnisse für den Bereich der Rechtschreibung mit den Grundmethoden Abfotografieren und Wortbaustelle in der 2. Klasse sowie mit den Einmaleins-Kärtchen am Ende der 2. Klasse berichtet.
Eltern, die unser Buch durcharbeiten, werden sich rasch bewusst, dass wir von ihnen sehr viel verlangen. Neben der Notwendigkeit, sich die von uns vorgestellten Techniken anzueignen, benötigen sie vor allem eine hohe Einsatzbereitschaft und Konsequenz, selbige im Lernalltag mit ihren Kindern regelmäßig anzuwenden. Auch hier haben wir viele Rückmeldungen erfahren. So berichten Eltern, dass sie nach einer schwierigen Übergangszeit die neue Strukturierung des Alltags letztlich als überaus hilfreich erleben. Manche Mütter und Väter erkannten sich auch in ihren Kindern wieder. Zum Teil wurden Feststellungen getroffen wie: »Ich lerne jetzt selbst wirklich Disziplin – was sich für uns alle sehr positiv auswirkt.«
In der erweiterten und aktualisierten 11. Neuauflage haben wir wiederum sowohl den wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt eingearbeitet als auch die Weiterentwicklungen aus unserer Praxis dargelegt.
Neu ist zunächst, dass wir den Titel des Buches leicht verändert und »ADS« durch »ADHS« ersetzt haben. Damit berücksichtigen wir die Entwicklung, die seit der Erstveröffentlichung 2002 im Sprachgebrauch stattfand. Gleichzeitig wollen wir damit aber auch betonen, dass sich dieses Buch an Kinder mit AD(H)S richtet, deren Problemschwerpunkte vorrangig im Bereich der Aufmerksamkeit, im Bereich der Hyperaktivität und Impulsivität oder in beiden Bereichen gleichzeitig liegen.
Inhaltlich hinzugefügt haben wir:
• die ausführliche Begründung unserer Vorgehensweise,
• die kritische Auseinandersetzung mit Konzentrationstrainings,
• das Problematisieren der Handynutzung und des Computerspielens im Hinblick auf effektives Lernen und
• Ergänzungen im Bereich des Lesens, der Rechtschreibung und besonders im Fach Englisch.
Mit der vorliegenden Neuauflage verbinden wir weiterhin den Wunsch, Eltern, Lehrern und Therapeuten ein guter Wegbegleiter für das alltägliche Lernen mit AD(H)S-Kindern zu sein. Wie zuvor hoffen wir auf eine konstruktive Auseinandersetzung in der aktuellen Diskussion um Lernen und Bildung zum Wohle unserer AD(H)S-Kinder, aber auch aller anderen Kinder.
München und Würzburg, im Juni 2019 |
Armin Born und Claudia Oehler |
Es gibt zur Zeit kaum eine andere psychische Störung, die mehr als die Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung (ADHS) in der öffentlichen Diskussion steht. Alleine in den letzten fünf Jahren wurden über 50 Bücher zu diesem Syndrom sowie unzählige Presse- und Medienbeiträge veröffentlicht. Das große Interesse an dieser Problematik hängt mit dem Umstand zusammen, dass ADHS momentan das häufigste kinderpsychiatrische Krankheitsbild mit weit reichenden Konsequenzen für den weiteren Lebensweg der betroffenen Kinder und deren Familien ist. Die Erkrankung zählt zu den häufigsten Anlässen, weshalb Kinder und Jugendliche in kinder- und jugendpsychiatrischen sowie kinderärztlichen Praxen, Erziehungsberatungsstellen und schulpsychologischen Sprechstunden vorgestellt werden. In vielen Fällen ist es darüber hinaus gut belegt, dass das Störungsbild bis ins Erwachsenenalter weiterbesteht.
Um ADHS bei Kindern und Jugendlichen wirkungsvoll zu begegnen, ist es notwendig, dass verschiedene Berufsgruppen wie die der Ärzte, Pädagogen, Psychologen, Lehrer etc. zusammenarbeiten. Eine gelungene Kooperation setzt voraus, unterschiedliche Blickwinkel in Diagnostik und Behandlung miteinander in Einklang zu bringen.
Besonders die pharmakologische Behandlung der betroffenen Kinder und Jugendlichen wird in der Öffentlichkeit, aber auch in Teilen der medizinischen und psychologischen Fachwelt äußerst kontrovers und auch emotional diskutiert. Ausgelöst wurde dies u. a. durch rapide gestiegene Verordnungszahlen in Deutschland. In die Kritik geraten sind hier eine zum Teil unzureichende Diagnostik sowie die nicht ausreichende Überprüfung der Medikamenteneffekte und eine fehlende individuelle Dosiseinstellung und -anpassung. Auch mangelt es häufig an der Einbindung der medikamentösen Behandlung in ein multimodales Behandlungskonzept, wie es die Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie fordern.
Wenn Eltern betroffener Kinder die Praxis des Kinder- und Jugendpsychiaters aufsuchen, sind es in der Regel zwei Hauptproblembereiche, die ihnen und den Kindern das Leben schwer machen. Zum einen sind es Verhaltensprobleme, die oft bereits im Kindergarten durch eine ausgeprägte motorische Unruhe, Dominanzstreben, eine geringe Frustrationstoleranz, der Unfähigkeit richtig zu spielen und vielen Auseinandersetzungen deutlich werden. Diese Verhaltensprobleme setzen sich dann in der Schule zumeist durch die Unruhe und den Ärger fort, den die Kinder in das Klassenzimmer tragen. Mit Gleichaltrigen und den Geschwistern gibt es viele Schwierigkeiten. Eltern sind oft verzweifelt, Mütter fühlen sich zum Teil völlig überfordert.
Zum anderen sind es Lern- und Leistungsprobleme, die Eltern und Kinder verzweifeln lassen. Trotz normaler Intelligenz mehren sich bereits zu Beginn der Grundschulzeit Misserfolge und Frustrationen – Leistungsdefizite in den Grundfertigkeiten Lesen, Schreiben und Rechnen entstehen. Es ist die besondere Ausgangslage der Kinder wie die begrenzte Kapazität ihres Kurzzeitgedächtnisses, ihre kurze Aufmerksamkeitsspanne, ihre geringe Motivation für »langweilige Lerninhalte«, ihre niedrige Frustrationstoleranz, ihre hohe Impulsivität sowie ihre graphomotorischen Probleme, die schulische Misserfolge, Vermeidungsverhalten und in deren Folge große Lerndefizite entstehen lassen.
Die Kernsymptomatik des ADHS führt sehr häufig zu Lern- und Leistungsproblemen im schulischen Bereich. Unserer Erfahrung nach können diese Schwierigkeiten ihrerseits die Grundsymptomatik wiederum verstärken. Das Kind wird im Unterricht oder bei den Hausaufgaben noch unkonzentrierter und unruhiger, das soziale Verhalten aufgrund der erlebten Misserfolge noch auffälliger. Werden wir als Kinder- und Jugendpsychiater mit diesen Problemen konfrontiert, suchen wir nach geeigneten Ansatzpunkten zur Verbesserung der Symptomatik. Unser primäres Handwerkszeug ist jedoch kein pädagogisches, sondern ein ärztliches. Bei massiven Beeinträchtigungen gilt es, medikamentös zu behandeln. Ist eine Verschlechterung jedoch durch Lern- und Leistungsprobleme mit verursacht, ist die alleinige Erhöhung der Medikamentendosis kritisch zu beurteilen. Hier ist eine Behandlung im Rahmen eines multimodalen Gesamtkonzeptes gefordert.
Begründet wird diese Forderung nicht zuletzt durch die Ergebnisse der MTA-Studie. Es handelt sich hier um die größte Behandlungsstudie zu diesem Krankheitsbild, bei der in den USA unterschiedliche Behandlungsmethoden hinsichtlich ihrer Effektivität miteinander verglichen wurden. Die Ergebnisse weisen darauf hin, dass die signifikant effektivste Behandlungsmethode die Kombination von genau kontrollierter medikamentöser und verhaltenstherapeutischer Behandlung ist.
Bemerkenswert ist, dass im Vergleich zu einer rein pharmakologischen Behandlung bei der Kombinationstherapie im Durchschnitt eine geringere Dosierung erforderlich war, um hinsichtlich einer Symptomverbesserung die »optimale Wirkung« zu erreichen. Während bei der medikamentösen Behandlung durchschnittlich 38,1 mg Methylphenidat eingesetzt werden musste, erniedrigte sich die Tagesdosis bei der Kombinationstherapie auf 31,1 mg.
An dieser Stelle ist auf ein sehr effektives Modell hinzuweisen, in dessen Rahmen wir als Kinder- und Jugendpsychiater in der ambulanten Praxis tätig sein können. Es handelt sich um die Sozialpsychiatrie-Verordnung. Die Sozialpsychiatrie-Verordnung (gültig seit dem 1. Juli 1994) dient der Förderung und Vernetzung der ambulanten kinder- und jugendpsychiatrischen Tätigkeit und insbesondere der interdisziplinären Zusammenarbeit verschiedener Berufsgruppen (Diplom-Psychologen, Diplom-Pädagogen, Heilpädagogen, Sozialpädagogen etc.) unter Leitung des niedergelassenen Kinder- und Jugendpsychiaters. Die Kooperation mit den verschiedenen Professionen – so auch mit den Lehrern unserer ADHS-Kinder – setzt voraus, dass wir als Kinder- und Jugendpsychiater Wissen darüber erwerben, welche Maßnahmen auf welchem Gebiet für die betroffenen Kinder und Jugendlichen grundsätzlich von Nutzen sind. Eine effiziente Kooperation mit Schule und Eltern ist beispielsweise ohne ein entsprechendes Hintergrundwissen über Lernprozesse und effiziente Lernwege schwer möglich.
Durch die langjährige enge Zusammenarbeit mit Kolleginnen und Kollegen anderer Berufsgruppen haben wir als Kinder- und Jugendpsychiater(in) im Laufe der Jahre gelernt, unseren Blickwinkel zu erweitern und ADHS-Kinder und ihre Familien ganzheitlich zu betrachten. Dieser Prozess ist nicht ohne Auswirkung auf unsere Behandlungskonzeption der Lern- und Leistungsprobleme von Kindern und Jugendlichen mit ADHS geblieben: Diese sollte sich stets durch eine multimodale Vorgehensweise kennzeichnen.
Hier haben wir von den Autoren des vorliegenden Buches viel lernen und erfahren dürfen. Wir haben Verständnis darüber erworben, wie Lernprozesse im Allgemeinen und im Besonderen bei ADHS-Kindern ablaufen. Uns wurde in genauer Weise bewusst, mit welchen Schwierigkeiten an welchen besonderen Stellen ADHS-Kinder beim Lernen zu kämpfen haben. Vor allem waren es die konkreten Vorgehensweisen und ausgezeichneten Lerntipps und Materialien der Autoren, von deren großen Nutzen wir uns in der praktischen Arbeit immer wieder neu überzeugen konnten. Sie haben unseren »ärztlichen Handwerkskoffer« durch pädagogische und psychologische Gedanken und Strategien enorm erweitert und unsere tägliche Praxisarbeit damit entscheidend bereichert.
Das ADHS ist mit erheblichen individuellen Belastungen der Kinder und ihrer Eltern verbunden. Das ADHS ist jedoch darüber hinaus ebenso mit großen gesamtgesellschaftlichen Gesundheitskosten verknüpft. Es ist deshalb konsequent und erfreulich, dass die Autoren im Folgenden immer wieder auf die Ressourcen und Möglichkeiten der Eltern hinweisen, gemeinsam mit ihren betroffenen Kindern deren Lern- und Leistungsprobleme zu bewältigen.
Eltern, die ihre Kinder unterstützen möchten, werden in diesem Buch viele Wege finden, die sie für und mit ihren Kindern gewinnbringend einsetzen können. Gemeinsame Erfolge sind auf diese Weise vorprogrammiert.
Wir wünschen dem vorliegenden Buch, das unseres Erachtens eine wichtige Lücke der zahlreichen, vorrangig auf den Umgang mit Verhaltensproblemen ausgerichteten Elternratgebern schließt, guten Erfolg.
Petra Kreienkamp
Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie
Dr. med. Klaus-Ulrich Oehler
Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie,
Neurologie und Psychiatrie
Dieses Buch beschäftigt sich mit AD(H)S-Kindern und ihren Lern- und Leistungsproblemen. Aus unserer langjährigen praktischen Tätigkeit mit diesen Kindern und ihren Eltern möchten wir möglichst einfache und effektive Wege aufzeigen, um aus dem oft bestehenden Teufelskreis Lernstörungen auszusteigen. Aufgrund ihrer besonderen Voraussetzungen leidet ein Großteil der AD(H)S-Kinder unter Lernproblemen. Gängige Lernmethoden in unseren Schulen passen oft nicht zu den Besonderheiten der AD(H)S-Kinder, so dass schnell schulische Defizite und psychische Folgeprobleme entstehen.
Dies gilt insbesondere für das Erlernen der Grundfertigkeiten im Rechnen, Schreiben und Lesen. In den Basisfertigkeiten entstehen oft sehr frühzeitig, manchmal bereits in der ersten Grundschulklasse Lücken. Nachfolgender Lernstoff kann nicht mehr beherrscht werden, da das »Fundament« wackelig ist. Dies ist dann häufig der Beginn von Teufelskreisen, in deren Folge Kinder ihre Defizite wahrnehmen und ihre Motivation und ihr Selbstwertgefühl zu sinken beginnen. In der wissenschaftlichen Literatur wird das gemeinsame Auftreten von Lese-/Rechtschreibschwächen und -störungen oder von Rechenschwächen und -störungen mit einer Aufmerksamkeitsproblematik häufig beschrieben. Auch wissen wir, dass durch die Leistungsprobleme und die erlebten ständigen Misserfolge emotionale Störungen und frühe Verhaltensauffälligkeiten entstehen, die wiederum den weiteren Lebensweg maßgeblich, und zwar in ungünstiger Weise, mit beeinflussen können.
Mit diesem Buch möchten wir dazu beitragen, Eltern, Lehrern sowie anderen Personen, die täglich mit AD(H)S-Kindern zu tun haben, Hilfen für einen frühzeitigen »Ausstieg« aus dem Teufelskreis Lernstörungen anzubieten.
Wir haben uns nun in der vorliegenden 11. Auflage entschieden, in diesem Buch die Bezeichnung ADS (Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom) durch den Begriff AD(H)S Aufmerksamkeitsdefizit-(Hyperaktivitäts)-Störung zu ersetzen. Die Kinder, für die dieses Buch geschrieben worden ist, sind die gleichen geblieben. Als das Buch in der ersten Auflage vor 20 Jahren veröffentlicht wurde, war ADS der gebräuchlichere Begriff. Inzwischen ist er jedoch in den Hintergrund getreten und AD(H)S bzw. ADHS ist der Terminus, der fast ausschließlich benutzt wird. Unter diesem Oberbegriff werden drei Subtypen, bzw. wie es aktuell das Amerikanische Diagnostische und Statistische Manual (DSM-5) bezeichnet, »Erscheinungsformen« zusammengefasst.
Jenseits der wissenschaftlichen Begrifflichkeit: Welche Kinder sind aber nun gemeint?
In den beiden international gebräuchlichen Klassifikationssystemen, ICD-10 und dem aktuellen DSM-5, werden übereinstimmend die drei Symptombereiche Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität genannt und in fast gleicher Weise operationalisiert. Das jeweilige Ausmaß der Ausprägungen in den drei Symptombereichen bestimmt den jeweiligen Typus des Störungsbildes.
Der vorwiegend unaufmerksame Typus ohne ausgeprägte Hyperaktivität und Impulsivität wird im DSM-5 als » vorwiegend unaufmerksame Erscheinungsform« definiert (Banaschewski, Döpfner 2014, S. 288). Im ICD-10 wurde diese Unterform als »einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung« bezeichnet. Aktuell (2019) wurde im ICD-10-GM, Version 2019, sogar der neue Begriff »Aufmerksamkeitsstörung« (F98.80) eingeführt, »um die Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyperaktivität mit Beginn in der Kindheit und Jugend spezifisch abbilden zu können« (Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information 2018, S. 5). Diese Kinder fallen weniger durch impulsives, ungesteuertes Verhalten und den damit verbundenen Sekundärproblemen auf, sondern mehr durch Aufmerksamkeitsprobleme und den dadurch bedingten Lern- und Leistungsproblemen. Unaufmerksame Kinder machen häufig Flüchtigkeitsfehler, können ihre Aufmerksamkeit nicht lange aufrechterhalten, scheinen oft nicht zuzuhören, haben Schwierigkeiten, ihre Aufgaben und Aktivitäten zu organisieren, vermeiden dann auch oft geistige Anstrengungen, verlieren häufiger etwas, lassen sich leicht ablenken und sind bei Alltagstätigkeiten vergesslicher als andere Kinder. Dies führt oft zu stundenlangen Hausaufgaben, die so entstehenden Lern- und Leistungsprobleme führen zudem häufig zu weiteren Problemen im emotionalen Bereich, zu vermehrten Ängsten und Stimmungsschwankungen sowie Schuldgefühlen.
Als zweiten Typus führt das DSM V die » vorwiegend hyperaktiv-impulsive Erscheinungsform« an, bei der zwar auch Aufmerksamkeitsprobleme (vgl. s. o.) vorliegen, aber die hyperaktive und impulsive Symptomatik im Vordergrund stehen. Auffällig sind mangelhaft regulierte und wenig reflektierte Aktivitäten, durch geringfügigen Anlass auslösbare, überschießende Gefühlsreaktionen und eine geringe Frustrationstoleranz. Diese Kinder »sind oft achtlos und impulsiv, neigen zu Unfällen und werden oft bestraft, weil sie eher aus Unachtsamkeit als vorsätzlich Regeln verletzen. Ihre Beziehung zu Erwachsenen ist oft von einer Distanzstörung und einem Mangel an normaler Vorsicht und Zurückhaltung geprägt. Bei anderen Kindern sind sie unbeliebt und können isoliert sein« (Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information 2018, S. 217).
Wenn sowohl Symptome von Unaufmerksamkeit als auch von Impulsivität/Hyperaktivität vorliegen, bezeichnet das DSM-5 dies als » kombinierte Erscheinungsform«.
Um diesen drei Erscheinungsformen gleichermaßen gerecht zu werden, benutzen wir in diesem Buch die Abkürzung AD(H)S.
Die Feststellung eines AD(H)S sollte in sehr verantwortungsvoller Weise vorgenommen werden. Deswegen sollte die Diagnostik des Störungsbildes AD(H)S auf umfassende Weise erfolgen und nur von Kinder- und Jugendpsychiatern in Zusammenarbeit mit Psychologen oder besonders ausgebildeten Kinderärzten durchgeführt werden.
Zu einer aussagekräftigen Diagnostik gehört eine neurologische Untersuchung (einschließlich EEG), die Überprüfung der Fein- und Grobmotorik, die Erhebung der Anamnese und der störungsspezifischen Entwicklung des Kindes, eine umfassende Leistungsdiagnostik mit Überprüfung der intellektuellen Möglichkeiten sowie der Feststellung von eventuellen Teilleistungsstörungen. Eine testpsychologische Erfassung der emotionalen Situation des Kindes sowie ausreichende Kenntnis über die familiäre Situation, Erziehungskompetenzen der Eltern und Erhebung des schulischen Werdeganges der Kinder sind ebenso unabdingbar.
Mit diesem Buch möchten wir neben den Eltern besonders auch die Lehrer ansprechen.
Lehrer sind mit immer mehr »Problemkindern« in ihrem Schulalltag konfrontiert. Das Studium bereitete sie jedoch in Bezug auf die Problematik von AD(H)S-Kindern nicht einmal auf den pädagogischen Umgang mit deren vielfältigen Verhaltensproblemen vor. Ihre spezifischen Lernprobleme waren erst recht nicht Gegenstand der Lehrerausbildung. Somit bekommen Lehrer in ihrer Berufswirklichkeit viel aufgebürdet. Sie erleben sich oft »eingeklemmt« zwischen Lehrplänen und Lehrplanänderungen, der Begutachtung durch ihre Schulräte, der Konfrontation und Auseinandersetzung mit unterschiedlichsten Standpunkten der Eltern ihrer Schulkinder sowie der Erfüllung ihrer tagtäglichen Arbeit. Nun ist auch noch die PISA-Studie in aller Munde, eine nicht beneidenswerte Situation für die Schule.
Mit diesem Buch möchten wir alle Personengruppen, die mit AD(H)S-Kindern umgehen, auf die Problematik Lernstörungen aufmerksam machen und erste Lösungsschritte aufzeigen, sowie zu deren Weiterentwicklung anregen.
Lehrern, Therapeuten und Pädagogen möchten wir den Blick für die Gefahrenstellen beim Lernen mit AD(H)S-Kindern schärfen. Die von uns dargestellten und erprobten Lerntipps sind als Beispiele zu verstehen, wie die notwendigen Grundprinzipien beim Lernen mit AD(H)S-Kindern umgesetzt werden können.
Die von uns entwickelten Lernmethoden beinhalten alle gerade in der Anfangszeit interaktive Momente, d. h. sie werden gemeinsam von Eltern und Kindern durchgeführt. AD(H)S-Kinder können schlecht alleine lernen – dies ist eine Erfahrung, die insbesondere die Mütter bestätigen können. Lässt man AD(H)S-Kinder mit der Lern- oder Hausaufgabensituation alleine, passiert in der Regel relativ wenig. Um erfolgreich zu sein, müssen Lerntipps diese mangelnde Steuerungs- und Strukturierungsfähigkeit von AD(H)S-Kindern berücksichtigen und natürlich auch mithelfen, motivatonale Anreize durch die Interaktion zwischen Eltern und Kindern zu schaffen.
Wir verstehen unsere Lernhilfen für AD(H)S-Kinder als einen ersten Schritt. Ziel bleibt die Weiterentwicklung angemessener Lernmethoden (unter der Prämisse »weniger ist mehr«). Selbstverständlich sollten bei der Auswahl der Methoden immer das einzelne Kind und dessen Notwendigkeiten betrachtet werden.
Wir möchten zur Weiterentwicklung von Lernmethoden innerhalb des von uns aufgezeigten Rahmens anregen, möchten aber stets kritisch hinterfragen, ob bei den jeweiligen Lernmethoden, die ja Mittel zum Zweck, d. h. zum Behalten von neuem Lernstoff sein sollen, dieser auch tatsächlich behalten wird. Analysieren wir gängige schulische und auch bei anderen Kindern bewährte Lernmethoden, so müssen wir gerade bei AD(H)S-Kindern immer wieder fragen, ob das Ziel, nämlich das Behalten, erreicht wird.
Mit diesem Buch möchten wir die Notwendigkeit der Kooperation aller mit AD(H)S-Kindern Betrauten unterstreichen.
Unser Praxisalltag zeigt uns, dass es ohne die Zusammenarbeit zwischen Eltern, Lehrern und Therapeuten nicht geht:
• Lehrer und Lehrerinnen möchten in ihrer Arbeit erfolgreich sein,
• unsere AD(H)S-Kinder möchten in der Schule besser werden,
• Eltern machen sich Gedanken über die Entwicklung ihrer Kinder und sind oftmals bereit, viel zu investieren und sich zu engagieren.
Uns geht es darum, gerade in Zeiten zunehmend begrenzter Gelder im Gesundheitssystem, im Alltag die Ressourcen aller Beteiligten besser zu nutzen: Dies betrifft die Zeit, Energie und Motivation des betroffenen Kindes, die Bereitschaft der Eltern und das Bemühen der Lehrkräfte.
Die verstärkte Kooperation von Schule und Elternhaus wird nun auch als Reaktion auf die PISA-Studie beispielsweise vom Bayerischen Staatsministerium für Unterricht und Kultus im Rahmen der zentralen Eckpunkte der Bildungsoffensive Bayern gefordert. Es wird in Übereinstimmung mit unserer Sichtweise auf die herausragende Bedeutung der Grundschule für die Vermittlung »eines festen Fundamentes« in den Grundlagenfächern hingewiesen. Unserer Beobachtung nach sind die Erfahrungen der Kinder im Umgang mit den Grundfertigkeiten in Deutsch und Mathematik prägend für ihr Selbstkonzept, damit auch prägend im Hinblick auf den Erwerb von Fähigkeiten, die letztendlich die Bewältigung von komplexeren Aufgabenstellungen im weiteren schulischen und beruflichen Werdegang ermöglichen.
Auch mit als Reaktion auf die PISA-Studie wird von kultuspolitischer Seite häufig ein »neuer« Begriff von Bildung propagiert. Dabei wird Bildung als das Vermögen verstanden, Lernen selbst steuern und Probleme selbst lösen zu können und nicht vorgegebene Lösungen zu wiederholen. Hierbei sollte jedoch bedacht werden, dass Kinder, bevor sie forschend und kreativ lernen und Probleme lösen können, zunächst einmal ihr Handwerkszeug, die Grundfertigkeiten, beherrschen müssen. Das Fundament im Sinne verlässlicher Basiskenntnisse und Kompetenzen im Bereich Deutsch, Mathematik und der Naturwissenschaften muss zuvor in solider Weise gefestigt worden sein.
AD(H)S-Kinder stellen eine große Herausforderung an die pädagogische Kompetenz der Lehrkräfte dar. Die besonderen Lernvoraussetzungen der AD(H)S-Kinder könnten Anlass zur Reflexion über Lernmethoden sein. Diese Reflexion wiederum schärft die pädagogische Kompetenz. Wenn es gelingt, AD(H)S-Kinder zu Erfolgen zu führen, dann sicherlich erst recht nicht betroffene Kinder. Dies dürfte sowohl für einen angemessenen Umgang mit Auffälligkeiten und Defiziten im Verhaltensbereich, als auch im Lernbereich gelten.
Eltern, Lehrer, Psychologen und Ärzte benötigen ein fundiertes Hintergrundwissen zum Thema Lernen, wenn sie AD(H)S-Kindern helfen möchten, da die Auswirkungen der Lernstörungen für den weiteren Lebensweg mindestens genauso ernst zu nehmen sind wie die Auswirkungen von Verhaltensstörungen.
Mit diesem Buch möchten wir den genannten Personengruppen eine Richtung, einen Rahmen vorgeben, auf welche Weise Lernen mit dem AD(H)S-Kind gestaltet werden kann. Ihrer eigenen Kreativität sind jedoch, wenn sie vor dem Hintergrund dieser Vorgaben reflektiert wird, keine Grenzen gesetzt. Mit den von uns aufgezeichneten Wegen haben wir viele gute Erfahrungen mit betroffenen Kindern und deren Eltern gemacht. Selbstverständlich ist es im Einzelfall immer auszuprobieren, ob bestimmte Maßnahmen für das einzelne Kind passen und taugen. Führen sie zu Erfolgen, lohnt es sich, den gleichen Weg in konsequenter Weise weiter fortzuführen. Taugen sie nicht, gilt es Neues auszuprobieren und nicht nach dem Motto »mehr desselben« zu verfahren – d. h., was nicht funktioniert, sollte auch beiseitegelegt werden.
Ist schulisches Lernen erfolgreich, ist das toll! Dann nämlich taugt es. Sind jedoch Leistungsschwächen im bzw. durch schulisches Lernen entstanden, sollte man möglichst schnell die Lernmethoden und Vorgehensweisen überdenken, die zu entsprechenden Defiziten geführt haben. Dies sollte stets vor dem Hintergrund des Wissens über die AD(H)S-Symptomatik, d. h. der besonderen Voraussetzungen dieser Kinder geschehen. Dann gilt es neue Wege und Verfahren auszuprobieren, jedoch nicht wahllos. Neue Lernmethoden sollten stets auf der Grundlage der speziellen Möglichkeiten aber auch Grenzen der AD(H)S-Kinder sowie den grundsätzlichen Voraussetzungen beim Einprägeprozess ausgewählt werden.
Möglicherweise haben sie als Eltern, als Lehrer, als Psychologen oder Kinder- und Jugendpsychiater unterschiedliche Interessen, wenn sie dieses Buch lesen. Aus diesem Grunde haben wir uns bemüht, die mehr praxisorientierten Teile, d. h. die konkreten Lerntipps, die besonders für die Eltern interessant sind, am Seitenrand blau zu unterlegen. Ausführliche und zum Teil anspruchsvolle Erklärungsmodelle zu den einzelnen Fertigkeiten im Bereich Lesen, Schreiben, Rechnen sowie Überblicksdarstellungen zum aktuellen Wissensstand der entsprechenden Themen dürften besonders für Lehrer, Psychologen, Ärzte und Heilpädagogen interessant sein. Diese Teile haben wir weiß belassen.
Teil 1 liefert Ihnen theoretische und praktische Grundlagen zu den besonderen Voraussetzungen der AD(H)S-Kinder im Hinblick auf schulisches Lernen sowie Basiswissen zum Thema Informationsaufnahme, Vergessen und Behalten.
In Teil 2 finden Sie allgemeinere günstige Lerntipps für AD(H)S-Kinder, methodische Grundprinzipien, mögliche Hilfestellungen durch die Eltern, sowie Hinweise zur Lernsituation von AD(H)S-Kindern im Rahmen eines reformpädagogisch orientierten Unterrichts.
Teil 3 geht auf die Grundlagenfächer Rechnen, Lesen, Rechtschreibung, Aufsatzschreiben, die Lernfächer sowie das Fach Englisch ein. Zu jedem Fach liefern wir Ihnen hier aktuelles grundlegendes Hintergrundwissen sowie störungsspezifische Erklärungsmodelle, die dem neuesten Forschungsstand entsprechen. An die jeweils theoretischen Vorspanne schließen sich konkrete Lernhilfen für das jeweilige Fach an, die wir mithilfe von Abbildungen möglichst anschaulich dargestellt haben. Sie müssen also nicht das ganze Buch von vorne bis hinten studieren, sondern können bei Bedarf direkt zu den einzelnen für Sie relevanten Fächern übergehen und sich hier gezielte Anregungen heraussuchen. Zusätzlich haben wir in unserem Inhaltsverzeichnis die praxisbezogenen Abschnitte mit den allgemeinen Tipps zum Lernen und den konkreten Übungsmöglichkeiten blau unterlegt.
An dieser Stelle möchten wir den AD(H)S-Kindern und ihren Eltern danken, die wir nun seit circa 25 Jahren in Einzelgesprächen und in Trainingsgruppen betreuen. Von »unseren« AD(H)S-Kindern, aber auch von unseren eigenen Kindern Anja und Tommy sowie Johanna und Philipp, durften wir viel lernen.
Aufgrund der Möglichkeit, sie intensiv begleiten, beobachten, mit ihnen Neues ausprobieren zu können und sich über Erfolge und kleine Fortschritte gemeinsam freuen zu dürfen, ist ein fruchtbarer hoffnungsvoller Weg entstanden, der die Chancen erhöht, das Leben gut meistern zu können.
Unser Dank gilt ebenso den Lehrerinnen und Lehrern, mit denen eine erfolgreiche Zusammenarbeit gelang.
Etwa drei bis fünf Prozent aller Kinder in Deutschland sind von AD(H)S betroffen. Dies sind ein bis zwei Kinder in jeder Schulklasse. Neben den bekannten Verhaltensproblemen führt die Kernsymptomatik des AD(H)S – nämlich die Aufmerksamkeitsbeeinträchtigung, die erhöhte Impulsivität sowie die Hyperaktivitätsstörung – bei den Kindern auch zu erheblichen Lern- und Leistungsproblemen.
Genauso wie die Verhaltensprobleme, sind es ebenso die Lern- und Leistungsprobleme, die den weiteren Lebensweg des Kindes in entscheidender Weise mitbestimmen. AD(H)S-Kinder zeigen niedrigere Bildungsabschlüsse als nicht betroffene Gleichaltrige, brechen häufiger Lehrstellen ab und weisen Teilleistungsstörungen auf. Auch Leistungsprobleme führen zu psychischen Problemen im Kindes- und Jugendalter, die sich dann bis ins Erwachsenenalter fortsetzen und dort verfestigen können. Die Entwicklung kann folgendermaßen zusammengefasst werden:
AD(H)S führt häufig zu Leistungsproblemen
• Leistungsprobleme führen mittel- bzw. langfristig häufig zu psychischen Problemen bzw. Verhaltensauffälligkeiten
• AD(H)S, Leistungsprobleme und psychische Probleme führen oft zu einer ausgeprägten Beeinträchtigung des Lebens- und Berufsweges
• Beeinträchtigungen des Lebens- und Berufsweges führen häufig zu psychischen Problemen
Max besucht die Jahrgangsstufe 1 der Grundschule. In seinem Zeugnis ist folgendes zu lesen: »Max ist ein sehr aufgeweckter Schüler, der jedoch noch immer nicht in der Lage ist, dem Unterrichtsgeschehen gleichbleibend aufmerksam zu folgen. So meldete er sich nur selten, beschäftigte sich dafür aber ständig mit anderen Dingen, spielte, trieb Unfug und störte die Mitschüler in ihrer Konzentration. Wenn er einmal mitdachte, rief er seine Ergebnisse einfach in die Klasse […] Max beherrscht den Zehnerübergang noch nicht. Er bleibt auf Anschauungsmaterial angewiesen. Hier müsste mehr häusliche Übung erfolgen. Insgesamt müsste sich Max deutlich besser an die Regeln im Schulalltag, insbesondere auch auf dem Pausenhof und beim Sport, halten […] Max hat das Klassenziel gerade noch erreicht.«
Benjamin besucht die 2. Klasse der Grundschule. Benjamin ist verträumt, schaut in der Schule ständig in der Gegend herum, ist in seinem Arbeitstempo langsamer als die anderen Kinder und hat zudem noch eine sehr schlechte Schrift. Benjamins Lehrerin hat Zweifel, ob er das Klassenziel erreichen wird. Da Benjamin vermutlich »einfach unbegabt ist«, wird demnächst eine Testung zu Vorbereitung eines Schulwechsels in die Diagnose-Förderklasse bzw. Schule zur individuellen Lernförderung durchgeführt.
Florian besucht die 2. Klasse der Grundschule. Das Schuljahr ist fast zu Ende. Florian hat in der Schule jede Menge Probleme, Florians Mutter wird häufig zur Lehrerin zitiert, da Florian im Unterricht stört, spielt, oft in Auseinandersetzungen verwickelt ist und insgesamt sehr unruhig und impulsiv ist. Ein besonderes Problem ist das Lesen. Florian vermeidet sämtliche Leseanforderungen zuhause, während seine Klassenkameraden bereits Bücher verschlingen. Seine Mutter möchte gerne mit ihm Lesen üben, dies ist jedoch für alle Beteiligten eine Qual und mit viel Protest und Tränen verbunden. So findet das Üben nur gelegentlich statt. Seine Mutter berichtet, dass Florian sich von Anfang an beim Lesenlernen sehr schwergetan habe. So sei ihr aufgefallen, dass er manchmal Wörter gelesen habe, die überhaupt nicht im Text gestanden hätten. Endungen oder Silben habe er häufig weggelassen. Jetzt sei sein Lesen sehr holprig, viele Wörter müsste er sich noch Buchstabe für Buchstabe erlesen, die Betonung sei sehr schlecht. Nun bekommt Florian auch Schwierigkeiten mit den ersten kleinen Textaufgaben, da er zu langsam liest. An freiwilliges Lesen ist überhaupt nicht zu denken. Florians Lehrerin beruhigt in diesem Punkt die Mutter: »Das wird schon, der Knoten wird schon noch platzen…«.
Katrin besucht die 3. Klasse der Grundschule