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© dieser Auflage: März 2019

Sina Blackwood

Coverbild: unerwartete Begegnung / Unterwasserkampf

© Kay Elzner

Umschlaggestaltung: Sina Blackwood

Layout: Sina Blackwood

Die Personen und Namen in diesem Buch sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit heute lebenden Personen sind rein zufällig und
nicht beabsichtigt.

Herstellung und Verlag:
BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 9783749411504

Die Erbschaft

Peter ließ das Auto vor dem Zaun stehen, hinter dem sich wundervolle Stockrosen in den Himmel reckten. Sein Urgroßvater, der bekannte Meeresbiologe Prof. Dr. Dr. Bernd Neuberg, hatte in seinem Testament verfügt, dass er genau am heutigen Tag hier erscheinen sollte. Punkt zwölf Uhr würde sich der Tresor, in dessen altem Arbeitszimmer, für genau eine viertel Stunde öffnen lassen.

Nimm dir ein einziges Stück heraus, von dem du glaubst, dass du es haben musst, und schließe sofort die Panzertür, hatte wörtlich in dem Papier gestanden. Seufzend öffnete Peter die Gartenpforte und trat in den Hof. Er wusste nicht einmal, wer das Haus nun bewohnte, nur, dass er es auch ohne die Anwesenheit der Eigentümer am heutigen Tag betreten durfte. Vorsichtshalber klingelte er, dann noch einmal. Stille. Langsam drückte er die Klinke herunter und öffnete mit zwiespältigen Gefühlen die Tür. Er zog den Plan des Häuschens aus der Tasche, um bloß nicht versehentlich den falschen Raum zu betreten.

„Hallo! Ist jemand zu Hause?“, rief er, ohne eine Antwort zu erhalten.

Ein kurzer Blick auf die Uhr – er hatte noch genau fünf Minuten, bis das Wunder geschehen sollte. Rasch schlüpfte er in das Zimmer und suchte den Panzerschrank. Im hinteren Teil des großen Büros fand er ihn schließlich. Gerade noch rechtzeitig, um das Knacken zu hören, mit dem der Mechanismus die Sperre freigab. Peter zog die gepanzerte Tür auf und überflog rasch den Inhalt des Faches. Neben mehreren Schmuckschatullen standen zwei dicke Ordner. Peter kippte den Ersten leicht an, um von oben hineinsehen zu können. Offensichtlich enthielt er Rechnungen und so schob er ihn zurück, um sofort den Zweiten zu begutachten. Er umfasste unzählige handgeschriebene Seiten. Rasch zog er ihn heraus und verriegelte den Tresor.

„Eine gute Wahl“, sagte eine leise Frauenstimme hinter ihm.

Peter kreiselte erschreckt herum und hätte fast noch die Mappe fallen lassen. Aus dem Halbdunkel des kleinen Hausflurs taxierten ihn zwei große faszinierend dunkelblaue Augen in einem schmalen mit langen goldblonden Locken umrahmten Gesicht. Erst auf den zweiten Blick begriff er, dass die junge Frau im Rollstuhl saß.

„Pe… Peter Neuberg“, stotterte er verwirrt und trat einen Schritt auf die Fremde zu.

„Ich bin Sina“, entgegnete sie lächelnd und bat ihn ins Wohnzimmer.

„Gehört das Haus Ihren Eltern?“, fragte Peter vorsichtig.

„Nein. Es gehört mir. Ich habe es vor einigen Jahren von meiner Mutter geerbt.“

„Dann sind Sie auch eine Neuberg?“

Die junge Frau lächelte seltsam und schenkte ihm noch einmal Kaffee nach. „Nein, ich bin eine Wilson. Meine Mutter war aber früher mit Ihrem Urgroßvater, Bernd Neuberg, verheiratet.“

„Jetzt verstehe ich gar nichts mehr“, murmelte Peter. „Ihre Mutter mit meinem Urgroßvater?“

„Exakt.“ In Sinas Mundwinkeln saß ein kaum merkliches Schmunzeln. „Übrigens, hätten Sie sich vorhin für die andere Mappe entschieden, dann hätten wir jetzt die Konstellation, dass ich dieses Haus verlassen müsste, weil es Ihnen gehören würde. Hätten Sie eine der Schmuckschatullen genommen, dann wären Sie steinreich.“

„Und mit dieser Mappe?“, fragte Peter verständnislos.

„Stehen Ihnen unter Umständen verrückte Zeiten ins Haus. Aber ich glaube, Sie sind der Typ, um damit fertig zu werden.“

„Verzeihen Sie, ich kann Ihnen nicht ganz folgen. Ist wohl etwas zu viel Aufregung gewesen. Ich bin, mit nur eine halben Stunde Pause, von München bis hierher durchgefahren und dann der Schreck, als Sie mich plötzlich ansprachen…“

„Ich richte Ihnen ein Gästezimmer her, Sie ruhen sich gründlich aus und heute Abend reden wir weiter“, schlug Sina vor.

Peter nickte. „Dafür wäre ich Ihnen unendlich dankbar. Mir fallen in der Tat fast die Augen zu.“

„Fahren Sie das Auto am besten vor die Garage.“ Sie reichte ihm den Schlüssel für das große Tor über den Tisch.

Er parkte das Auto am angegebenen Platz, verriegelte das Schloss wieder und ein paar Minuten später lag er bereits in festem Schlaf im Obergeschoss. Sein Gepäck steckte noch im Kofferraum, nur den Ordner mit den Handschriften hatte er mit hinauf genommen.

Sina zog sich in den großen Ledersessel am Kamin zurück, um ein wenig zu lesen. Peter schien wirklich völlig fertig zu sein, denn er schlief fast drei Stunden durch, um anschließend mit einem regelrecht verlegenen Lächeln wieder zu erscheinen. „Tut mir leid, dass Sie meinetwegen zusätzliche Arbeit haben“, murmelte er.

„Wollen Sie nicht gleich hier übernachten oder fehlt Ihnen dann der Luxus eines Hotels?“ Sina brachte ein Tablett mit Gebäck herein.

Peter schüttelte amüsiert den Kopf. „So, wie Sie mich verwöhnen, wird mir das Hotel ganz bestimmt nicht fehlen.“

„Freut mich zu hören“, lachte Sina. „Es ist oft recht einsam und ziemlich selten, dass sich jemand hierher verirrt, mit dem es sich lohnt, mehr als zwei Worte zu wechseln.“

Peter hob den Kopf. „Sie wohnen hier ganz allein?!“

Nicken.

„Keine Freunde?“

„Alle sehr weit weg. Zu den Leuten im Ort habe ich nur wenige Kontakte. Für dringende Arbeiten, die ich nicht selber erledigen kann, beauftrage ich die entsprechenden Firmen.“

Solch eine hübsche Frau und keinen starken Mann an ihrer Seite – ich fasse es nicht, dachte Peter erstaunt.

„Vorsicht, ich kann Gedanken lesen, sollte ich Ihnen fairerweise verraten“, schmunzelte Sina.

„Tatsächlich?“ Peter schüttelte den Kopf. „Woran habe ich gedacht?“

Sina seufzte und verdrehte gespielt komisch die Augen, ehe sie wörtlich den Satz wiederholte.

„Das gibt es doch nicht!!!“ Peter sprang auf, um sich sofort wieder, aber fast in Zeitlupentempo, zu setzen.

Die dunkelblauen Augen seines Gegenübers verloren ein wenig ihren Glanz. „Ich fürchte, nun ist Ihnen die Lust an meiner Gesellschaft ebenfalls vergangen.“

Peter schüttelte den Kopf. „Ganz im Gegenteil! Ich finde diese Gabe nur schier unglaublich. Keiner kann Sie belügen und betrügen, weil Sie sofort wissen, ob Wort und Wille übereinstimmen.“

Sina schluckte. „Das kann manchmal verdammt hart sein.“

Wie gern würde ich ihr ein paar tröstende Worte sagen. Nur welche? Peter schaute in der Tat ratlos aus.

„Ich werde es überleben“, lächelte Sina und stellte das Geschirr auf das Tablett.

Ehe sie reagieren konnte, trug es Peter in die Küche und sortierte es in den Spüler ein. „Hätten Sie Lust, mich an den Strand zu begleiten?“, fragte er. „Ich war noch nie an der Ostsee.“

„Gern!“ Sina hatte auch nichts dagegen, dass er an schwierigen Stellen ihren Rollstuhl schob, selbst wenn sie diese durchaus selbst bewältigen konnte. Sie zeigte ihm ein paar große Donnerkeile im Wasser. Peter zog die Schuhe aus, krempelte die Hosenbeine nach oben und balancierte auf den glattgeschliffenen Steinen zu den begehrten Fundstücken.

Natürlich hatte er nicht daran gedacht, dass hin und wieder etwas größere Wellen heranrollten, und wurde auch prompt eingewässert. Doch, statt sich zu ärgern, kam er fröhlich lachend zurück.

„So sieht es aus, wenn Landratten das erste Mal ans Meer kommen!“ Er setzte sich auf einen großen Felsbrocken neben Sinas Rollstuhl. „Es ist schön hier.“

„Ja, das ist es“, bekräftigte die junge Frau lächelnd und überflog die Wasseroberfläche, die, wie mit tausenden Diamantsplittern übersät, in der Sonne funkelte. „Manchmal fahre ich mit dem Boot raus und schwimme ein wenig“, erzählte sie leise.

Peter schaute sie überrascht an. „Ganz allein? Und das funktioniert?“

„Es muss. Ich habe ja niemanden, der mir helfen könnte.“

„Ich verstehe das alles nicht“, überlegte Peter laut. „Gibt es einen ernsthaften Grund, warum man sich von Ihnen fern hält. So schlimm kann es doch nicht sein, mit einer behinderten Frau zusammenzuleben.“

Sina seufzte. „Zum einen will ich keine Kontakte, zum anderen hält man mich wohl hier für eine Hexe, wegen meiner Gedankenleserei. Vielleicht will ich ja auch gerade deswegen lieber allein leben.“ Sie winkte ab.

„Was sollte denn Ihr Traumpartner mindestens für Eigenschaften haben?“, fragte Peter blinzelnd.

„Nun, Sie würden ihm schon sehr nahe kommen“, erwiderte Sina nach einem langen prüfenden Blick.

Peter wurde rot. „Im Ernst?“

„Zumindest sagen mir das der erste und der zweite Eindruck“, erwiderte Sina. „Ihre Frau hat sicher das große Los gezogen.“

„Ich bin Single.“ Peter hob entschuldigend die Hände.

Sina musterte ihn irritiert. „Warum denn das?“

„Keine Ahnung – zu feige, die richtige Frau anzusprechen, nicht toll genug, nicht reich genug oder so.“ Peter wirkte etwas deprimiert.

„Kommen Sie!“, lachte Sina. „Machen wir zwei Beziehungsuntauglichen uns einen schönen Abend in der Grillecke.“ Sie lenkte ihren Rolli zum Weg zurück.

Peter schob sie bis hinauf und wunderte sich, wie sie diese Steigung überhaupt jemals allein schaffen konnte. Am Haus angekommen, lud er gleich seine Reisetasche aus.

„Bringen Sie die nasse Wäsche mit runter, ich setze dann eine Waschmaschine an, da ist sie morgen wieder trocken!“, rief Sina hinterher.

Peter schüttelte den Kopf. Diese Frau! Hatte es sicher nicht leicht hier und steckte voller überschäumender Energie. Als er zurückkam, trug er Jeans und ein kurzärmeliges Hemd. Sina nahm ihm die feuchte Kleidung ab, schaute auf das Pflegeetikett und steckte alles in die Waschtrommel.

„Schon wieder haben Sie meinetwegen zusätzliche Arbeit“, stellte Peter resigniert fest. „Kann ich es irgendwie gut machen?“

„Vielleicht damit, dass wir zum Du übergehen?“, schlug Sina vor.

Peter nickte regelrecht begeistert. Er half ihr, den Grill anzuheizen.

„Ach du Schreck! Isst du überhaupt Fisch?“, rief sie plötzlich. „Ich hab nämlich nichts anderes da, außer Gemüse in allen Varianten!“

„Ja, natürlich“, beeilte er sich, zu versichern. „Außerdem wird gegessen, was der Gastgeber auf den Tisch bringt.“

„Brauchbare Ansichten“, schmunzelte Sina. „Ich muss noch ein paar frische Kräuter aus dem Garten holen.“

„Darf ich mitkommen?“

„Aber immer.“ Sie fuhr die kleine Rampe neben dem Pool hinunter und führte ihn zu den Kräuterbeeten.

Er staunte. „Das hältst du alles allein in Ordnung?“

„So gut es eben geht.“ Sina bremste ihren Rolli genau auf dem breiten Weg zwischen den Beeten, um an die begehrten Kräuter heranzukommen. Peter nahm ihr wortlos die Schere ab, reichte ihr die abgeschnittenen Stängel und zupfte noch ein paar Blätter vom Salbei, denn den mochte er auf dem Fisch auch sehr.

„Aha, Küchenprofi“, staunte Sina. „Ich glaube, es könnte ein lustiger Abend werden.“

„Bleib nur hier, ich gehe sie abwaschen.“ Er eilte in die Küche und brachte auf dem Rückweg noch Wiegemesser und Schneidbrett mit. Sina bedachte ihn mit einem dankbaren Blick, der ihm tief unter die Haut ging. Der Fisch, den sie zubereitete, steigerte sein Wohlbefinden gleich noch um ein paar Grad.

Wie gern würde ich noch ein paar Tage bleiben.

Dann tu es doch.

Peter riss die Augen auf. Er hatte gerade deutlich Worte gehört, obwohl Sina die Lippen geschlossen hielt. Nun lächelte sie ihn breit an.

„Du bist begabt.“

„Meine Güte! Ist das Telepathie?“

„Hmm, hmm.“ Sie wickelte den nächsten Fisch in die Folie.

„Es würde dich nicht stören, wenn ich länger bliebe?“, fragte Peter vorsichtshalber noch einmal verbal nach.

„Ganz bestimmt nicht.“ Sinas Augen strahlten bei dem Gedanken.

Als die ersten Sterne am Himmel standen, saßen beide noch immer im Garten und Sina erzählte Sagen des Landstrichs.

„Wenn ich dich so anschaue, dann träume ich auch von Meerjungfrauen“, seufzte Peter hingerissen und Sina las genau das Gleiche aus seinen Gedanken. Fast bedauernd räumte er mit ihr den Grillplatz auf.

„Morgen ist auch noch ein Tag“, tröstete ihn sie ihn und er hätte sie am liebsten einfach in die Arme genommen.

Was würde wohl geschehen, wenn er begänne, in den Handschriften zu blättern, überlegte Sina und genau wie er, hatte sie eine äußerst unruhige Nacht. Das hinderte sie aber nicht, früh mit dem Sonnenaufgang wach zu sein und das gemeinsame Frühstück vorzubereiten. Der Hauch Aftershave, als Peter eine halbe Stunde nach ihr in die Küche kam, zauberte ein verträumtes Lächeln auf ihr Gesicht. Das fröhliche Guten Morgen, erwiderte sie nur zu gern.

„Gut geschlafen?“, fragte sie.

Er hob die Schultern. „Ja und nein. Ich habe völlig wirres Zeug geträumt. Aber schön war es“, fügte er noch hinzu. Er nahm die Kaffeekanne von der Heizplatte und goss ganz selbstverständlich die Tassen voll.

Ich mag dich.

Peter bekam wieder einen Hauch Röte. „Ich hab es genau gehört“, lachte er fröhlich. „Ich müsste lügen, würde ich, wenn ich an dich denke, etwas anderes behaupten.“

„Wie lange kannst du wirklich bleiben?“, wollte Sina schließlich ganz genau wissen.

„Zwei Wochen. Mehr Urlaub habe ich leider nicht.“

„Schade, aber besser als gar nichts.“ Sie naschte mit einem Löffel Marmelade gleich aus dem Glas. „Sanddorn“, erklärte sie, auf Peters fragenden Blick. „Von den Sträuchern da draußen.“ Dann streckte sie sich genüsslich. „Soll ich dir heute ein paar Sehenswürdigkeiten in der Umgebung zeigen oder möchtest du lieber ganz in Ruhe allein die Gegend erkunden?“

„Mit dir macht es sicher mehr Spaß. Hast du denn so viel Zeit für mich?“

„Ich nehme sie mir ganz einfach. Am besten fahren wir auch gleich mit meinem Auto. Bei dem schönen Wetter empfehle ich als Erstes Kap Arkona. Wir fahren nicht bis hinauf, obwohl ich es als Behinderte dürfte, sondern wir nehmen den Arkona-Express. Du müsstest mich da allerdings hinein heben und den Rollstuhl auch. Dann kannst du die Leuchttürme besichtigen, die alten Bunker und anschließend gehen wir eine Runde.“

„Klingt schwer begeistert, ich bin dafür. Wann fahren wir los?“

„In einer dreiviertel Stunde. Ich muss täglich mehrmals Salzbäder nehmen, das dauert seine Zeit.“

„In Ordnung. In der Zwischenzeit lese ich ein wenig in meinem Erbstück. Was hast du? Du siehst plötzlich so traurig aus!“

Sina schluckte und es schien, als müsste sie Tränen zurückhalten. „Ich habe Angst, dass du dann nichts mehr mit mir zu tun haben willst.“

„Warum?“

Ihr Schulterzucken fiel regelrecht gequält aus und schürte Peters Neugier gewaltig. Noch mehr heizten wenige Augenblicke später schon die ersten Sätze auf dem Papier seine Fantasie an. Er verschlang das Niedergeschriebene förmlich. Schließlich begann er alle paar Seiten quer zu lesen, um möglichst viele Informationen auf einmal zu bekommen. Was hier geschrieben stand, schlug dem Fass glatt den Boden aus! Und langsam dämmerte ihm, welches Geschick Sina in den Rollstuhl zwang.

Sina, die wirklich Fabelhafte

Plötzlich fühlte er eine Hand auf seinem Arm. Zwei tieftraurige Augen schauten ihn an. Völlig entgegen seiner sonstigen Zurückhaltung, zog Peter Sina auf seinen Schoß und schloss sie in die Arme.

„Ich schätze, dass du deiner Mutter anatomisch gleichst und deswegen glaubst, ich könnte die Flucht ergreifen. Immerhin hast du mir gestern ziemlich viele Informationen, in Sagen verpackt, gegeben, die ich keinesfalls leichtfertig als Spinnerei abtun würde, nachdem ich hier drin gelesen habe. Gibst du mir eine Chance, mehr, als nur ein guter Freund zu werden?“ Mit dem Zeigefinger hob er Sinas Kinn an, bis er ihr in die Augen schauen konnte. Statt seines Spiegelbildes konnte er den Meeresboden sehen, was ihn endgültig von seiner Vermutung überzeugte, eine der legendären Meerjungfrauen vor sich zu haben. Alle Einwände wischte er beiseite, indem er Sina leidenschaftlich küsste. Sie kuschelte sich mit geschlossenen Augen in seine Arme.

„Na komm! Wir beide fahren jetzt nach Arkona. Wäre doch gelacht, wenn du nicht auch einen Zipfel vom Glück bekommen solltest.“

Sina schaute Peter überrascht an. Das Wissen um ein großes Geheimnis schien ihn zu beflügeln.

„Tut es auch“, lachte er. „Du hast ziemlich laut gedacht.“

Sie fiel in das Gelächter ein. „Offensichtlich haben meine Mutter und dein Urgroßvater ganz genau gewusst, warum sie dich gestern hierher bestellt haben. Ein anderer hätte sich den Schmuck gegriffen und wäre davon gedüst.“

Sina fasste nach Gürteltasche und Beutel neben der Tür.

„Ist das das Kiemen-Notfall-Set, von dem in den Texten die Rede ist?“, fragte Peter.

„Ja. Ich sehe, du bist bereits recht gut informiert.“ Sie wartete, bis er sein Auto etwas beiseite gefahren hatte, um ihres aus der Garage zu holen. „Behindertengerechter Umbau, nicht ganz preiswert, aber gut“, kommentierte sie seine neugierigen Blicke beim Einsteigen.

„Soll ich die Tore schließen?“

„Nein. Nicht nötig. Das funktioniert auch mit Fernbedienung.“ Sina drückte die entsprechenden Knöpfe. Sie fuhr langsam die schmale Zufahrt bis zur Straße hinunter, fädelte sich in den laufenden Verkehr ein und gab auf der Landstraße ordentlich Gas. Schon nach ein Paarhundert Metern entspannte sich Peter zusehends und genoss die wundervolle Landschaft. Sina erklärte markante Punkte und glänzte natürlich wieder mit den dazugehörenden Sagen aus uralter Zeit. Auf einem großen Parkplatz stellten sie das Auto ab. Sina nahm dankbar die Hilfe beim Aussteigen an, wo ihr Peter den Rollstuhl aus dem Fahrzeug und sie in Selbigen hinein hob. Statt zum Kap zu fahren, wollte Peter lieber laufen und sich etwas mehr von Putgarten anschauen, dessen alte Häuser ihm sehr gefielen.

„Dein Vorgarten ist trotzdem schöner“, stellte er schnell, zu Sinas größter Freude, fest und gleich darauf: „Oh, da drüben gibt es Eis. Möchtest du welches haben?“

„Vanille, bitte“, wünschte sie sich und wartete, bis Peter zurückkam. Er wollte ihren Rolli nicht den Tücken des holprigen Straßenpflasters aussetzen.

„Hmm, wirklich lecker.“

„Warst du schon oft hier?“ Peter schaute sich um.

„Nur ein Mal, um nicht ganz unwissend zu sein“, erzählte Sina. „Von der anderen Seite war ich schon unzählige Male hier.“

Peter verstand recht gut, was sie damit sagen wollte. „Mir fällt es ziemlich schwer, das so einfach zu verarbeiten“, gestand er. „Hoffentlich strapaziere ich deine Geduld nicht zu sehr.“

„Ganz bestimmt nicht“, versprach Sina. „Für meine Begriffe bleibst du erstaunlich gelassen.“

Inzwischen hatten sie den alten Leuchtturm erreicht.

„Schau ihn dir ganz in Ruhe an“, schlug sie vor. „Du musst auch keine Angst haben, dass ich inzwischen ausreißen könnte. Es wäre zu gefährlich, würdest du mich hoch tragen.“

„Oh, schon wieder zu laut gedacht“, kicherte Peter vergnügt, sich der Wendeltreppe zuwendend.

Sina wählte einen Platz im Schatten, um ein paar Fotos aufnehmen zu können, sobald Peter an das Geländer treten würde. Durch den Sucher erkannte sie, wie er sie seinerseits ablichtete, um wundervolle Urlaubserinnerungen zu haben. Peter drückte, kaum wieder unten, einem Touristen seine Kamera in die Hand, mit der Bitte ein oder zwei Bilder von ihm und Sina zu machen. Ehe sie noch ein Stück wanderten, kehrten sie zum Mittagessen ein. Im Vorraum der Toilette ergab sich für Sina die Gelegenheit, wenigstens für einige Minuten ihre Kiemen mit Salzwasser anzufeuchten.

„Geht es dir auch wirklich gut?“, vergewisserte sich Peter, kaum dass sie wieder da war.

„Mir geht es blendend, schon darum, weil ich seit ewigen Zeiten nicht mehr so viel Spaß hatte.“ Sie nahm seine Hand und legte sie an ihre Wange.

Er beugte sich zu ihr hinunter und hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn, wofür er mit strahlenden Augen belohnt wurde. Das glückliche Lächeln zierte den ganzen Tag über Sinas Gesicht.

Am späten Nachmittag trafen sie von ihrem Ausflug wieder zu Hause ein. Peter trug sie direkt vom Auto in ihren Lieblingssessel am Kamin, ehe er auch noch den Rollstuhl holte.

„Kommst du mit in den Pool?“, fragte Sina. „Ich hätte Lust ein paar Runden zu schwimmen.“

Peters Herz machte einen Riesensprung. Gleich würde er mit eigenen Augen ein Wunder bestaunen.

„Die Badehose kannst du getrost weglassen, die Hecke ist so hoch und dicht, dass von nebenan niemand zuschauen kann“, erklärte Sina. „Es sei denn, du genierst dich im Adamskostüm.“ Sie legte zwei Saunatücher auf die gemauerte Umrandung und begann, sich auszuziehen. Peters unverhohlenes Interesse, an dem, was ihm schon jetzt vor die Augen kam, blieb nicht unbemerkt. Allerdings wurden seine Augen wahrhaft tellergroß, als sie den bodenlangen rockähnlichen Fußsack abstreifte und tatsächlich einen kräftigen türkisen Fischschwanz mit riesiger Flosse und filigranen Anhängen entblößte.

„Fabelhaft“, hauchte Peter verzückt. Er beeilte sich, aus seiner Wäsche zu kommen, um dieses märchenhafte Geschöpf ins Wasser zu tragen, wo es sofort untertauchte und still am Grund seinen Bahnen zog. Selbstvergessen schaute er dabei zu, bis sie plötzlich auf ihn zu schwamm, sich an ihn schmiegte, wieder davon trieb und das Spiel von vorn begann. Er nahm sie in seine Arme und versank mit ihr in einen unendlich langen Kuss.

Für das, was dir gerade in den Sinn kommt, sollten wir trockeneres Territorium aufsuchen. Du würdest es nicht einmal merken, wenn du ertrinkst.

Peter nickte mechanisch, schwang sich aus dem Pool, wickelte sich in eines der Handtücher, legte das andere Sina um und ließ sich in ihr Schlafzimmer dirigieren. Mit allen Sinnen erkundete er die anregende Hügellandschaft vor seinen Augen, ließ seine Fingerspitzen über Sinas zarte Haut huschen und wunderte sich kein bisschen, als sich unvermittelt zwischen ihren elastischen Schuppen ein Muskelschlauch öffnete, den er sofort richtig als Geschlechtsöffnung identifizierte. Völlig verausgabt, nach einer überaus heftigen Vereinigung, wälzte sich Peter schließlich zur Seite, schloss Sina in die Arme und gleichzeitig die Augen.

„Ich habe nicht geahnt, dass du solch ein feuriger Draufgänger bist“, hauchte sie ihm rundum zufrieden ins Ohr.

„Ich, ehrlich gesagt, auch nicht“, staunte Peter. „Dabei ist durchaus damit zu rechnen, dass ich in Bälde zum Wiederholungstäter werde.“

Sina lachte herzlich. „Ich bitte darum!“

Ihr einen Kuss auf die Nasenspitze hauchend, erklärte Peter: „Ich hole jetzt erst einmal alles rein, was wir noch draußen haben.“

Er wickelte sich rasch das Saunatuch um, blinzelte ihr zu und lief in den Garten, um Rollstuhl und Kleidung einzusammeln.

„Ziemlich viel Aufregung für den zweiten Tag“, murmelte Sina genüsslich.

„Und du hast garantiert nicht deine Kräfte aktiviert“, antwortete Peter vom Fuß der Treppe.

„Huch!“ Die Nixe begann zu lachen. „Hast ja recht. Ich bin so gut wie unschuldig.“

Er lachte ebenfalls, als er ihr die Wäsche reichte. „Hab mir erzählen lassen, das würden Frauen immer behaupten.“

Sina zog einen lustigen Flunsch. Ihr Blick streifte zufällig das Fenster. „Was? Schon dunkel? Wie spät haben wir es denn?“

„Gleich zwanzig Uhr dreißig.“

Sina schwang sich eilends in ihren Rollstuhl, düste zum Telefon und orderte Abendbrot für zwei beim Fischgrill im nächsten Ort. „Morgen gehen wir einkaufen. Ich kann dich doch nicht permanent mit Fisch vollstopfen.“ Peter beobachtete interessiert, wie sie Teller und Besteck bereitlegte. „Magst du Krabben?“, fragte sie plötzlich.

„Hab sie noch nicht gegessen“, erwiderte er nachdenklich, glaubte aber, sich an Fernsehbilder zu erinnern, wie man diese Tiere aß.

„Na, macht nichts. Ich habe uns eine kleine Portion zum Naschen mitbestellt. Da kannst du testen, ob es etwas für dich ist. Auf alle Fälle ist da, wo ich sie geordert habe, sicher, dass sie sie ganz frisch kochen.“

„In Meerwasser, stimmt’s?“

„Richtig.“

„Ich bin zwar kein Freund davon, das Essen mühsam auspulen zu müssen, aber was nicht ist, kann ja durchaus noch werden.“

Da klingelte es auch schon, Peter nahm die Lieferung entgegen und zahlte auch gleich.

„So war das eigentlich nicht gedacht“, seufzte Sina.

Er schmunzelte. „Ich kann mich doch nicht laufend von dir aushalten lassen.“

„Der war echt gut“, kicherte sie. „Du hast den ganzen Tag bezahlt.“

„Na, da bin ich doch gut in Übung“, witzelte Peter und half ihr, die Verpackungen zu öffnen.

Sina entzündete die Kerze auf dem Tisch.

„Ich dachte, Nixen haben Angst vor Feuer!“

„Die anderen schon. Mutter und ich sind wohl die Einzigen, die an kalten Tagen auch gern am Kamin sitzen.“

„Deine Mutter lebt noch?“, stotterte Peter. „Sie muss doch schon steinalt sein. Verzeih bitte die Wortwahl.“

„Sie ist dreihundertzehn Jahre alt und dürfte noch mindestens zwanzig Jahre dranhängen, ehe es langsam dem Ende entgegen geht“, erklärte Sina.

„Drei … dreihundertzehn???“ Peter fiel vor Schreck das Besteck aus der Hand.

Sina grinste. „Ach, die Stelle hast du also noch nicht gelesen.“

Ungläubiges Kopfschütteln. Und noch mehr grinste sie, als sie sagte: „Frag ruhig, ich sehe es dir doch an Nasenspitze an, was du wissen möchtest.“

Peter rieb sich mit beiden Händen das Gesicht. „Eigentlich ist dein Alter völlig egal.“

„Aber uneigentlich möchtest du es trotzdem gerne wissen.“

„Hm.“

„Nach dem Tod deines Urgroßvaters ging meine Mutter zeitweise zurück ins Meer. Sie vermisst ihn noch heute schmerzlich. Wie auch immer – ich wurde im gleichen Jahr wie dein Vater geboren.“

Peter schüttelte ungläubig den Kopf. „Kaum vorstellbar, bei einer Frau von deinem Aussehen. Ich hätte auf fünfundzwanzig bis allerhöchstens dreißig getippt.“

Sina lächelte flüchtig. „Was hältst du davon, wenn wir nach dem Essen mit meiner Mutter sprechen und du morgen ganz in Ruhe weiter liest, um alle Zusammenhänge zu begreifen. Wenn du möchtest, fahren wir mit dem Boot raus, wo die richtige Atmosphäre herrscht, um dich auf all das einzustimmen, was dir offenbart wird.“

„Ja, ja du hast recht. Ich sollte mich ganz auf dich und mein Gefühl verlassen.“

Sina holte nach dem Essen ihren Laptop, kuschelte sich zu Peter auf das Sofa und klingelte ihre Mutter an. Die Video-Verbindung kam sofort zustande und Peter schaute zutiefst überrascht in das Gesicht einer Frau, die kaum älter als Sina zu sein schien und ihr unglaublich ähnlichsah.

„Hallo Mum“, winkte Sina in die Kamera.

„Hallo Sina“, antwortete ihre Mutter. „Peter ist noch da?“

„Sie kennen mich?“, stotterte dieser erschreckt.

„Natürlich. Immerhin bin ich deine Urgroßmutter, Adaia.“

Peter riss die Augen auf.

Sina schmunzelte. „So weit hat er noch nicht gelesen.“

Adaia atmete hörbar auf. „Ach so! Ich befürchtete soeben, er habe die andere Mappe gewählt.“

„Ich hätte es sicher nicht übers Herz gebracht, ihr das Haus wegzunehmen“, sagte Peter leise, aber sehr bestimmt. „Es ist für mich auch so schon schwer genug, zu verstehen, wie sie das hier alles mutterseelenallein meistert.“

„Du magst sie?“

„Ja, sehr. Ich war noch nie wirklich verliebt, aber das fühlt sich ganz so an.“

Sinas strahlende Augen erzählten wohl dasselbe. Dann fügte sie an: „Er fragt nicht viel und packt sofort überall zu. Außerdem hat er schneller gemerkt, was ich bin, als ich geahnt hätte.“

Adaia schmunzelte. „Aus dir klingt echte Begeisterung.“

„Hmm, in jedweder Beziehung.“

„Wirklich?“

„Kein Wunder, beim einem Mann, der telepathieren kann!“, rief Sina hellauf begeistert.

Peter, der ahnte, was noch gemeint war, wurde rot wie eine Tomate.

„Ich mag Männer, die ihre Gefühle zeigen“, erklärte Adaia erfreut. „Na, wenn ihr es wirklich miteinander aushaltet, dann kommt mich nächstes Jahr einfach mal besuchen. Gebt Bescheid und ich schicke euch das Flugzeug rüber.“ Sie schaute auf die Uhr. „Bei euch dürfte es bald Mitternacht sein. Ihr habt sicher anderes vor, als die halbe Nacht mit einer alten Frau zu schwätzen. Viel Spaß und alles Gute.“

Sina und Peter verabschiedeten sich und Adaia unterbrach die Verbindung.

„Jetzt bin ich vollends verwirrt“, flüsterte Peter. „Sie ist wirklich meine Urgroßmutter? Und wie meint sie das mit dem Flugzeug?“

„Okay, ich fange von hinten an. Sie lebt seit Jahrzehnten in Tuvalu und handelt mit Gewürzen. Das Flugzeug ist ihr Privatjet. Sie ist wirklich deine Urgroßmutter. Sie und Bernd haben ein neugeborenes Waisenkind in Tuvalu adoptiert. Aber dergestalt, dass Adaia von Beginn an, als leibliche Mutter des Kleinen galt. Nixen und Menschen können nun mal keine gemeinsamen Kinder zeugen. Also hat es ihr Großvater, der eigentlich auch nicht wirklich ihr Großvater war, so arrangiert, dass sie in einer privaten Spezialklinik in Tuvalu entbunden hat, obwohl sie gar nicht schwanger war. Ach, lies einfach tapfer weiter.“ Sie blinzelte ihm zu. „Auf nicht ganz so spektakuläre Weise bin ich zu gültigen Papieren gekommen. Dabei hat sie mich ja wirklich geboren. Nur darf eben keiner wissen, dass wir Nixen sind.“

Peter zog sie ganz fest in seine Arme. „Ich schwöre dir, dass ich euer Geheimnis immer bewahren werde.“

Sina schmiegte sich an. „Ich glaube dir.“

Nach einem ausgiebigen Salzbad und ein paar Zärtlichkeiten nach dem Gute-Nacht-Kuss, ließ Sina Peter keine andere Wahl, als den Verlockungen auf dem breiten Bett zu folgen. Sie zog ihn einfach unter die Decke und er ergab sich sofort den Waffen der Eroberin.

Den nächsten Morgen verbrachten sie kuschelnd im Bett, bis Sinas Kiemen mit Nachdruck nach Wasser verlangten. Peter trug sie eilig hinunter, bis direkt in die volle Badewanne. Er machte sich heftige Vorwürfe, weil ihr Kreislauf kurz vor dem Zusammenbruch stand.

Es ist nicht deine Schuld, hörte er ihre Stimme in seinen Gedanken. Ich bin schließlich alt genug, um zu wissen, dass ich nicht so lange auf dem Trockenen bleiben darf.

Peter seufzte, beeilte sich bei der Morgentoilette, fuhr den Treppenlift nach unten, den Rollstuhl neben die Badewanne und bereitete das Frühstück vor. Als die Nixe auftauchte, tropfte gerade der letzte Kaffee durch den Filter, die Eier standen in den Bechern und einem gemütlichen Essen nichts im Wege.

„Wie fühlst du dich?“, fragte er besorgt.

„Blendend“, blinzelte Sina und schenkte ihm ihr strahlendstes Lächeln.

Peter schaute sie forschend an. Sie schien sich tatsächlich erholt zu haben.

„Was nehmen wir dann mit?“, wollte er wissen.

„Ich kann komplett aus dem Meer leben“, erklärte Sina. „Die Hauptsache ist, dass es dir an nichts fehlt.“

„Also setze ich jetzt noch eine große Maschine Kaffee an, stecke zwei Becher neben die Thermoskanne, packe etwas Obst, ein paar belegte Brote und eine Tafel Schokolade ein“, zählte Peter auf.

„Oh, Schokolade“, hauchte Sina verzückt. Ihr war klar, dass diese Leckerei irgendwo in seiner Reisetasche stecken musste.

„Wusste ich es doch – mit Speck fängt man Mäuse und mit Schokolade kleine Meerjungfrauen“, witzelte Peter.

Sina zog spöttisch die Augenbrauen hoch. „Jungfrau ist gut.“

Peter stutzte, dann begann er gleichzeitig mit ihr zu lachen.

„Okay, okay, dann eben fabelhafte Fabelwesen.“

Familiengeschichte und Nägel mit Köpfen

Eine halbe Stunde später waren sie schon mit dem Boot unterwegs. Peter legte sich kräftig in die Riemen. Den Außenborder hatten sie zur Sicherheit trotzdem mit.

„Das ist etwas, wovon ich schon als Kind immer geträumt habe“, erzählte er. „Einmal mit einem Ruderboot ganz weit auf das Meer hinaus fahren, um die unendliche Weite erleben zu können. Ich wollte Wale und Delfine sehen, Nixen und Schätze, die vor mir noch nie ein Mensch zu Gesicht bekommen hat.“ Er blinzelte Sina zu. „Ein Teil meiner Kinderträume ist in den letzten beiden Tagen in Erfüllung gegangen.“

Sina blinzelte fröhlich zurück.

„Hier bleiben wir“, sagte sie nach einer Weile.

„Wir haben gar keinen Anker!“, rief Peter erschreckt.

Die Nixe grinste fröhlich. „Solches Zeugs hab ich nie gebraucht. Ich hab mein Boot stets wiedergefunden. Und jetzt, wo du drin sitzt, ist das noch einfacher. Du kannst es dir richtig gemütlich machen. Ich schaue immer wieder nach, ob du dich auch wirklich nicht langweilst, solange ich mich da unten austobe.“ Sie schlüpfte aus ihrer Kleidung und ließ sich über die Bordwand fallen. Ein paar Meter neben dem Boot schnellte sie aus dem Wasser, schlug Salti und tauchte pfeilschnell in die Tiefe. Peter klopfte das Herz bis zum Hals. Obwohl es hier keine Haie gab, hatte er Angst um sie.

Entspanne dich, ich bin hier zu Hause, hörte er sie wispern, zog den dicken Ordner aus dem Rucksack und legte sich splitternackt, weil hier ja sowieso keiner hinkommen würde, in die Sonne, um zu lesen. Die grandiose Geschichte um seine Urgroßeltern nahm ihn gefangen. Er erschrak regelrecht, als sich Sina von außen am Boot festhielt und dieses zum Schwanken brachte.

„Lust auf Kaffee?“, fragte er sofort.

Sie nickte, schwang sich ins Boot und nahm dankend den Becher entgegen. Peter zog die Schokolade aus dem Rucksack.

„Erstaunlich fest. Ich dachte schon, sie käme mir entgegengeflossen.“

„Dazu wird sie keine Chance mehr haben“, kicherte Sina, munter drauflos naschend. „Wie liest sich die Lektüre?“

„Das ist die ultimative Offenbarung. Ich bin jetzt bei der Hochzeit deiner Mutter mit meinem Urgroßvater angekommen. Ich kann ihn voll und ganz verstehen. Ich würde dich auch vom Fleck weg heiraten.“

Sina stellte überrascht ihren Kaffeebecher weg und musterte Peter mit großen, ungläubigen Augen, obwohl seine Gedanken haargenau das Gleiche wie sein Mund sagten.

„Das ist ein Versprechen“, bekräftigte er leise lächelnd.

Sie schmiegte sich selig an seine nackte Brust.

Peter ließ seine Fingerspitzen über ihren Rücken gleiten. „Kuscheln ist unfair, da bekomme ich doch gleich wieder Lust auf ganz andere Dinge.“

„Und was hindert dich, diese zu tun?“ Sina schenkte ihm einen Augenaufschlag, dass ihm heiß und kalt wurde.

„Nichts“, flüsterte Peter, ihr an Ort und Stelle ausgiebig beweisend, dass er genau der Richtige zum Heiraten war. „Ich bin süchtig nach dir“, ergänzte er nach zwei ganz heißen Liebesakten. „Die Entzugserscheinungen werden grausam sein, wenn ich nach dem Urlaub erst einmal nach Hause muss, um alles Weitere zu klären.“

„Daran darf ich gar nicht denken“, seufzte Sina. „Da möchte ich glatt jetzt schon in Tränen zerfließen.“

„Meine Handynummer hast du und wir werden jeden Abend skypen, damit ich sehen kann, ob es dir wirklich gut geht“, versprach Peter, sich anziehend und das Boot langsam nach Hause rudernd.

Sina schaute auf die Uhr. „Wir gehen heute Essen. Erstens haben wir noch nicht eingekauft, zweitens habe ich keine Lust auf den Bringedienst und drittens muss ich einfach wieder mal etwas anderes sehen, als immer die gleichen Wände.“

Peter lachte. „In Ordnung. Viertens wird es Zeit, dass du allen deine Beute präsentierst.“

„Das hast du gesagt!“, kicherte Sina. „Aber mit so einem tollen Hecht kann man sich überall sehen lassen.“

„Danke, für das Kompliment.“ Peter blinzelte ihr schelmisch zu.

Kaum war zu Hause die Tür ins Schloss gefallen, eilte er ins Bad, um sich ausgehfein zu machen. Der Duft seines Aftershaves hatte wie immer zur Folge, dass Sina wieder dieser verträumte Glanz in die Augen stieg.

„Du bist unersättlich“, schmunzelte Peter, der in ihren Gedanken gelesen hatte.

Sie hob gespielt komisch die Schultern. „Du bist schuld. Meervölker haben jetzt nämlich gar keine Paarungszeit.“

„Na, und wie ich mich unter diesem Gesichtspunkt schuldig bekenne!“, rief Peter erfreut. „Hoffentlich gibst du mir dafür lebenslänglich.“

„Ja und das so schnell du mir die Gelegenheit dazu bietest, dir das amtlich in die Hand zu drücken.“

„Daran soll es ganz gewiss nicht scheitern.“

Peter hielt ihr die Tür der Gaststätte auf.

Der Wirt und die Leute aus dem Ort staunten Bauklötze. „Hallo Sina! Heute mit Begleitung?“

„Hallo, alle miteinander“, grüßte Sina und auch Peter nickte in die Runde. „Gewöhnt euch schon mal an den Anblick. Das sollte in absehbarer Zeit durchaus öfter vorkommen.“

Peter drückte unbemerkt zärtlich ihre Hand unter dem Tisch.

„Sie haben sich ernsthaft entschlossen?“, wollte der Wirt von Peter wissen, als er ihnen die Getränke brachte.

„Keine Frage! Ich muss hier nur noch einen neuen Job finden.“

„Hm, wird nicht ganz leicht werden“, brummte der Wirt. „Was machen Sie denn beruflich?“

„Ich bin Zahnarzt.“

Alle rissen die Augen auf und sogar Sina schaute ihn völlig verblüfft an.

„Im Nachbarort steht eine Praxis altershalber zum Verkauf“, sagte jemand zwei Tische weiter.

Sina bat den Herrn heran. „Erzählen Sie!“

Der kratzte sich verlegen am Ohr. „Na ja. Unser alter Doc ist eigentlich schon älter als das Meer und hat nur noch ein Mal die Woche auf. Wir müssen alle meilenweit nach Bergen oder sonst wo fahren. Wäre nicht übel, wenn sich da ein junger Mann mit Elan niederließe. Mindestens die Hälfte der bisherigen Patienten würde lieber freiwillig zu einem Zugewanderten gehen, als stundenlang mit dem Auto oder Bus zu fahren. Ich wäre einer davon. Fassen Sie zu, junger Mann! Hierher will nämlich keiner und der Preis ist deshalb ganz unten.“

„Woher wissen Sie das?“ Sina zog die Augenbrauen zusammen.

Der alte Mann erwiderte ganz ruhig ihren Blick. „Ich bin sein Bruder und soll mich um den Verkauf kümmern, weil er selber nicht kann oder will oder wie auch immer.“

Er sagt die Wahrheit, hörte Peter Sinas Stimme in seinem Kopf und gleich darauf laut. „Wir werden uns morgen die Örtlichkeiten anschauen und gegebenenfalls gleich die Kaufpapiere unterschreiben.“

Peter zuckte sichtlich zusammen. Mit allem hatte er gerechnet, nur nicht mit diesem Satz. Ich habe mit Sicherheit nicht so viel auf der hohen Kante.

Du hast doch mich. Irgendwie scharren wir den Betrag schon zusammen. Darauf kannst du wetten.

„Gut, wenn es Ihnen passt, seien Sie bitte zehn Uhr da.“ Der Bruder des Zahnarztes reichte ihnen eine Visitenkarte.

Peter steckte sie dankend ein.

Hör auf, dir Sorgen zu machen. Egal, worum es geht, ich werde immer da sein, wenn du Hilfe brauchst.

Peter lächelte dankbar und hauchte Sina einen Kuss auf die Lippen. Dass sie so beinahe von allen Anwesenden die ganze Zeit beobachtet wurden, hatte er schon völlig vergessen und schrak heftig zusammen, als überall Beifall geklatscht wurde.

„Ach du Schreck!“, murmelte er, während Sina in Gelächter ausbrach.

„Nicht vergessen, morgen um zehn!“, rief ihnen der alte Mann hinterher, als sie eine Stunde später das Restaurant verließen.

„Ganz bestimmt nicht!“, entgegnete Peter lächelnd. Draußen wandte er sich an Sina: „Weißt du eigentlich, wie teuer so was werden kann?“

„Ich glaub schon. Aber willst du ewig einem anderen Herrn dienen?“

„Woher… Ach, was frage ich! Hab wieder mal zu laut gedacht.“

„Genau. Unterschreibe einfach, falls die Bausubstanz in Ordnung ist, um die Einrichtung können wir uns Stück für Stück kümmern. Erst einmal musst du hier sein. Der Rest macht mir weniger Sorgen.“

„Ich liebe dich.“ Peter beugte sich zu ihr hinunter, küsste sie und streichelte ihr Gesicht.

Sina hielt seine Hand fest. „Ich dich auch und ich bin glücklich. Komm, gehen wir nach Hause kuscheln.“

„Guter Plan! Aber bitte nicht wieder Kreislaufprobleme bekommen.“

„Versprochen.“

Sina tauchte auch sofort noch einmal in die Badewanne ab, um ihm bloß keinen Kummer zu bereiten. Er half ihr beim Abtrocknen, was schon der Beginn eines ausgiebigen Vorspiels war, um seine geliebte Nixe in Höchststimmung zu bringen.

Am nächsten Morgen gelang es ihm irgendwie, eher als Sina wach zu sein. Er schlich in die Küche, bereitete das Frühstück vor und stellte drei Rosenblüten aus dem Garten in eine Vase. Dann wedelte er mit einer Zeitung den Kaffeeduft in die erste Etage hinauf.

Ein leises Gähnen, schon klappte die Schlafzimmertür.

„Guten Morgen, mein Schatz! Frühstück ist fertig!“, rief er fröhlich.

„Hmm, es duftet. Ich beeile mich!“ Sina wechselte vom Treppenlift in den Rollstuhl und steckte diesmal nur das Gesicht ins Wasser, um die Kiemen zu befeuchten. „Ich bade nach dem Essen“, erklärte sie. Ihr knurrender Magen ließ keine Fragen offen. „Wie schön!“, freute sie sich beim Anblick der Blumen. „Ist heute ein besonderer Tag?“

„Mit dir ist jeder Tag ein besonderer Tag“, strahlte Peter. „Erst recht, wenn ich daran denke, was wir dann vorhaben.“

„Hast du etwas dagegen, wenn ich fahre?“, fragte sie. „Ich weiß nämlich auch ohne Karte und Kompass wo unser Ziel liegt.“

Lachend antwortete Peter. „Du hast doch schon lange gemerkt, dass ich nicht den großen Macher mime. Warum sollte ich also gerade heute aufs Fahren bestehen? Das ändert sicher auch nichts am Preis. Wir nehmen am besten dein Notfall-Set mit, ich möchte nach dem Termin gern noch nach Bergen, um eine überaus wichtige Besorgung zu machen.“

„Super! In der Stadt war ich schon lange nicht mehr!“, jubelte Sina, schnell ihre Utensilien zusammenpackend.

Heute zog Peter ganz geschäftsmäßig einen dunklen Anzug an.

„Du siehst gut aus“, stellte Sina erfreut fest und griff nach einem dazu passenden Kostüm. Das goldblonde Haar steckte sie hoch.

„Einfach umwerfend“, murmelte Peter bei ihrem Anblick. Mit stolz geschwellter Brust schob er ihren Rollstuhl zum Auto.

Am Zielort wurden beide schon erwartet und mit unverhohlener Neugier gemustert. Sie begrüßten das Brüderpaar und stellten sich mit Namen vor.

„Treten Sie ein, Doktor“, bat der derzeitige Inhaber der Praxis.

„Nur Diplom-Mediziner“, beeilte sich Peter, richtigzustellen.

Der andere winkte ab. „Hier sagen trotzdem alle Doktor, egal, ob man einer ist oder nicht, Hauptsache man ist Arzt.“ Er führte die potenziellen Käufer durch die Räume.

Etwas altertümlich, aber durchaus ein gutes Fundament für einen Neuanfang, erklärte Peter Sina.

Okay, dann machen wir Nägel mit Köpfen. Sie fragte nach dem Preis.

Peter erschrak, obwohl er damit durchaus gerechnet hatte. Immerhin handelte es sich um die ganze untere Etage des dreistöckigen Hauses mit komplettem Inventar und vier dazu gehörenden festen Parkplätzen. Ich habe nicht einmal die Hälfte des Betrages. Einen Kredit in dieser Höhe kann ich mir nicht leisten.

„Geben Sie mir die Papiere!“, hörte er Sina sagen und nur für ihn: Du unterschreibst jetzt.

Peter glaubte, sein Herz müsse stehen bleiben, während Sina noch einmal aufmerksam, Wort für Wort, alles durchlas, ihm den Kugelschreiber reichte und lächelnd zuschaute, wie er schwungvoll seinen Namen unter den Vertrag setzte.

„Wie möchten Sie die Zahlungen? Bar oder per Überweisung?“, fragte sie den überraschten Doktor.

„Per Überweisung auf dieses Konto.“ Er zog einen Kopfbogen aus dem Schreibtisch.

Sina nickte, tippte ein paar Befehle in ihr Handy. „Ich habe soeben, wie vereinbart, die Hälfte überwiesen. Den Restbetrag erhalten Sie in der letzten Woche des nächsten Quartals.“

„Ich glaube, wir haben alle einen Grund, den Vertragsabschluss zu feiern“, seufzte der alte Doktor zufrieden. „Kommen Sie, ich lade Sie zum Mittagessen ein.“

Drei Häuser weiter war ein gediegenes kleines Restaurant, in welches er jetzt die beiden Käufer und seinen Bruder führte. Das Essen schmeckte ausgezeichnet und schnell war eine angeregte Unterhaltung im Gange, wo sich die beiden Dentisten über lustige Begebenheiten in ihren Sprechstunden amüsierten.

„Sie sind ein netter Kerl“, schmunzelte der Doc. „Ich werde kräftig Werbung für Sie machen. Wäre doch gelacht, wenn wir nicht alle bei der Stange hielten!“