Teil 1
Einführung
»Ich schwöre, Apollon den Arzt und Asklepios und Hygieia und Panakeia und alle Götter und Göttinnen zu Zeugen anrufend, dass ich nach bestem Vermögen und Urteil diesen Eid und diese Verpflichtung erfüllen werde: den, der mich diese Kunst lehrte, meinen Eltern gleich zu achten, mit ihm den Lebensunterhalt zu teilen und ihn, wenn er Not leidet, mitzuversorgen; seine Nachkommen meinen Brüdern gleichzustellen und, wenn sie es wünschen, sie diese Kunst zu lehren ohne Entgelt und ohne Vertrag; Ratschlag und Vorlesung und alle übrige Belehrung meinen und meines Lehrers Söhnen mitzuteilen, wie auch den Schülern, die nach ärztlichem Brauch durch den Vertrag gebunden und durch den Eid verpflichtet sind, sonst aber niemandem. Meine Verordnungen werde ich treffen zu Nutz und Frommen der Kranken, nach bestem Vermögen und Urteil; ich werde sie bewahren vor Schaden und willkürlichem Unrecht. Ich werde niemandem, auch nicht auf seine Bitte hin, ein tödliches Gift verabreichen oder auch nur dazu raten. Auch werde ich nie einer Frau ein Abtreibungsmittel geben. Heilig und rein werde ich mein Leben und meine Kunst bewahren. Auch werde ich den Blasenstein nicht operieren, sondern es denen überlassen, deren Gewerbe dies ist. Welche Häuser ich betreten werde, ich will zu Nutz und Frommen der Kranken eintreten, mich enthalten jedes willkürlichen Unrechtes und jeder anderen Schädigung, auch aller Werke der Wollust an den Leibern von Frauen und Männern, Freien und Sklaven. Was ich bei der Behandlung sehe oder höre oder auch außerhalb der Behandlung im Leben der Menschen, werde ich, soweit man es nicht ausplaudern darf, verschweigen und solches als ein Geheimnis betrachten. Wenn ich nun diesen Eid erfülle und nicht verletze, möge mir im Leben und in der Kunst Erfolg zuteil werden und Ruhm bei allen Menschen bis in ewige Zeiten; wenn ich ihn übertrete und meineidig werde, das Gegenteil.«
Den Namen Josef Mengele kennen viele, von den Menschenversuchen der KZ-Ärzte haben die meisten in der Schule gehört. Nur die Wenigsten können aber mit den Namen Mitscherlich und Mielke etwas anfangen - waren die etwa auch gewissenlose Mediziner? Und was beim Nürnberger Prozess passierte, weiß ebenfalls kaum einer. Ausgerechnet Medizinstudenten - diejenigen, die künftig als Ärzte in Deutschland arbeiten werden - wissen nur wenig über das dunkelste Kapitel der deutschen Medizingeschichte: den Nationalsozialismus. Das hat eine Studie namens ASAMANS (Asking Students about Medicine and National Socialism) an der Humboldt-Universität Berlin ergeben. Über dreihundert Medizinstudenten befragten der Arzt Peter Langkafel sowie die beiden Studenten Timo Drewes und Sebastian Müller nach ihrem Wissen, aber auch nach ihrem Interesse am Thema Medizin im Nationalsozialismus. Neunzig Prozent der Befragten wussten zum Beispiel nicht, dass es sich bei Alexander Mitscherlich und Fred Mielke eben nicht um Nazi-Ärzte, sondern um die Beobachter des Nürnberger Prozesses handelt, die später die Dokumentation "Medizin ohne Menschlichkeit" verfassten. "Bemerkenswert ist, dass die großen Wissenslücken nicht auf mangelndes Interesse der Studenten zurückzuführen sind", sagt Langkafel. Fast alle gaben an, dass sie mehr über das Thema wissen wollen und die Auseinandersetzung damit für ihren späteren Arztberuf wichtig finden.
Der Nachholbedarf ist groß: Laut der Berliner Umfrage weiß kaum ein Medizinstudent, dass sich die deutsche Ärzteschaft weit mehr als die Durchschnittsbevölkerung nationalsozialistisch organisiert hatte. Leicht entsteht der Eindruck, die medizinischen Verbrechen im Nationalsozialismus seien nur von einigen wenigen gewissenlosen Ärzten begangen worden, die sich von der NS-Ideologie verführen hatten lassen. Dabei wurde Hitlers Machtergreifung von vielen freudig begrüßt: 45% aller Ärzte traten nach 1933 in die NSDAP ein. Im gleichen Jahr gingen die beiden größten ärztlichen Standesorganisationen, der Hartmannbund und der Deutsche Ärztevereinsbund, mit dem Nationalsozialistischen Deutschen Ärztebund (NSDÄB) ein Bündnis ein. "Viele deutsche Ärzte haben sich im Ersten Weltkrieg bereits an energisches ,Durchgreifen' und Missachtung der Patientenrechte gewöhnt, schon lange vor 1933 den späteren nationalsozialistischen Herrschern bereitwillig, ja begeistert angedient", schreibt der Arzt und Medizinhistoriker Till Bastian in seinem Buch "Furchtbare Ärzte".2
Zwar gab es einige, die sich im Widerstand gegen Hitler engagierten und dafür mit dem Leben bezahlten: Hans Scholl und andere Mitglieder der Münchner Widerstandsgruppe "Weiße Rose" studierten Medizin, auch im Hamburger Widerstand beteiligten sich Ärzte. Dennoch schlossen sich nur ein paar Dutzend organisierten Gruppen an. Öffentlichen Widerstand leisteten Mediziner jedoch nur in Ausnahmefällen. Viele unterstützten das Nazi-Regime bis zuletzt und gaben nach dem Krieg vor, immer schon dagegen gewesen zu sein - wie zum Beispiel der berühmte Chirurg Ferdinand Sauerbruch. Der Chefarzt der Berliner Charité protestierte im privaten Kreis gegen Euthanasie und Antisemitismus, zählte jedoch Hitler und Goebbels zu seinen Patienten und stellte sich dem System als Generalarzt der Wehrmacht zur Verfügung.
Ein Grundpfeiler der nationalsozialistischen Ideologie - die Rassenhygiene - wurde von deutschen Ärzten aus den Ideen des Sozialdarwinismus (survival of the fittest) und der Eugenik mit- und weiterentwickelt. Das Ziel der Rassenhygiene war die "Erhaltung und Fortpflanzung der biologischen Rasse unter den günstigsten Bedingungen", die "Verbesserung" des Volksbestands durch die Mittel der "Auslese" und "Ausmerze". Rassenhygiene wurde Pflichtfach an den Universitäten, Fächer wie Eugenik und Wehrmedizin ersetzten traditionelle Gebiete wie Infektionslehre und Physiologie. Dazu wurde das in der Nazi-Zeit äußerst beliebte Medizinstudium - Medizinstudenten mussten nicht als Soldaten an der Front kämpfen - wegen des hohen Ärztebedarfs in den Kriegsgebieten immer stärker auf schließlich vier Jahre verkürzt. Dieses System brachte schlecht ausgebildeten Nachwuchs hervor: Plötzlich sollten die Jungärzte verletzte Soldaten operieren, obwohl ihnen Grundkenntnisse im Fach Chirurgie fehlten. Dafür kannten sie sich in "Erbbiologie" bestens aus.
Auch viele Ärzte, die schon vor der Machtübernahme praktiziert hatten, übernahmen diese Ideologien kritiklos. 1934 trat das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses in Kraft. Darin wurde die Zwangssterilisierung von Menschen mit Schwachsinn, Schizophrenie, Fallsucht, erblicher Blindheit und Taubheit, körperlichen Missbildungen oder schwerem Alkoholismus beschlossen. Etwa 350.000 Menschen wurden unfruchtbar gemacht - von ganz normalen Medizinern an ganz normalen Krankenhäusern wie der I. Universitätsfrauenklinik München: 1.345 Frauen wurden dort zwangssterilisiert. Auch am Massenmord an behinderten und geisteskranken Männern und Frauen beteiligten sich "ganz normale Ärzte". Hitler bezweckte damit "das Ausmerzen nutzloser Esser", die in Irrenhäusern verwahrt für das Reich von "keinem Nutzen" mehr waren. Organisiert wurde die "Vernichtung lebensunwerten Lebens" unter dem Namen "Aktion T4" von der Berliner Zentrale Tiergartenstraße 4: Deutsche Ordinarien für Psychiatrie und Nervenheilkunde erhielten Meldeformulare für ihre Patienten. Danach wurde beschlossen, wer in den insgesamt sechs Tötungsanstalten umkommen sollte.
Im Januar 1940 fand die erste Massentötung - offiziell "Desinfektion" genannt - in Brandenburg statt. Die Behinderten wurden mit Kohlenmonoxidgas in einer als Duschraum getarnten Gaskammer umgebracht. Die Ärzte in den Behindertenheimen, Pflegeanstalten und Nervenkliniken machten mit, obwohl sie das Schicksal ihrer Patienten zumindest ahnen konnten und die Teilnahme freiwillig war: So boykottierte der Göttinger Nervenarzt Gottfried Ewald die T4-Aktion und blieb trotzdem unbehelligt. Im August 1941 wurde T4 abrupt beendet. Einerseits waren protestierende Stimmen aus der Bevölkerung rund um die Anstalten laut geworden, andererseits erschien Hitler wohl die "Endlösung der Judenfrage" und der Feldzug gegen die Sowjetunion wichtiger. Dennoch wurden die Tötungsaktionen in einer zweiten, unsystematischen Phase fortgesetzt, der "wilden Euthanasie": Nun brachten Ärzte in fast allen deutschen Anstalten Patienten durch überdosierte Betäubungsmittel um oder ließen sie langsam verhungern.
Jeder Medizinstudent kennt die Henle-Schleife, den Auerbach-Plexus, den Edinger-Kern und die Herxheimer-Reaktion, aber kaum einer weiß, dass diese Begriffe nach jüdischen Ärzten benannt worden sind. Sie hatten Ende des 19. Jahrhunderts die deutsche Medizin mit ihren Forschungsergebnissen berühmt gemacht. Das Nazi-Regime nahm darauf keine Rücksicht: Juden sollten aus der Medizin ebenso vertrieben werden wie aus jedem anderen Bereich. Unter den 520.000 Juden, die bei der Machtergreifung Hitlers im Januar 1933 im deutschen Reichsgebiet lebten, befanden sich rund 8.000 Ärzte. Viele deutsche Ärzte zeigten im Umgang mit ihren jüdischen Berufskollegen Hass und Neid: "Kein Beruf ist so verjudet wie der ärztliche", stellte der NS-DÄB 1933 fest: "Die jüdischen ,Kollegen' verfälschten den ärztlichen Ehrbegriff und untergruben arteigene Ethik und Moral. Ihnen verdanken wir, dass händlerischer Geist und unwürdige geschäftliche Einstellung sich immer mehr in unseren Reihen breit machten..." Auf Propaganda folgten Taten: Im April 1933 wurden alle nicht-arischen Ärzte von der Privatliquidation ausgeschlossen, fünf Jahre später auch von den staatlichen Ersatzkassen. Verbeamtete jüdische Ärzte wurden mit wenigen Ausnahmen in den sofortigen Ruhestand versetzt. Dazu kam der von der SA reichsweit organisierte "Judenboykott": 1938 - im Jahr der Reichskristallnacht - gab es noch etwas mehr als 3.000 jüdische Ärzte.
Nur wenige deutsche Mediziner setzten sich für ihre jüdischen Kollegen ein - obwohl das durchaus möglich gewesen wäre. Karl Bonhoeffer, Direktor der Nervenklinik an der Berliner Charité, verlängerte die Verträge seiner jüdischen Mitarbeiter, soweit die Gesetze ihm Spielraum ließen. Als er ihre Entlassung nicht mehr verhindern konnte, verschaffte er ihnen Arbeitsstellen im Ausland. Für mindestens zwei Ärzte und ihre Familien war sein Einsatz lebensrettend. Ein Viertel aller jüdischen Ärzte kam im Holocaust ums Leben, 10 Prozent begingen Selbstmord. Schon 1933 war mehr als die Hälfte der jüdischen Mediziner emigriert. Viele fanden in den USA eine neue Heimat, andere in Palästina. Nur fünf Prozent kehrten nach 1945 nach Deutschland zurück: Die alte Heimat hatte keine Anstalten gemacht, sie zurückzuholen.
Ihren extremsten Ausdruck fand die "Medizin ohne Menschlichkeit" in den Experimenten an Menschen, die in den meisten Konzentrationslagern (KZ) durchgeführt wurden. Die eigentliche Aufgabe der KZ-Lagerärzte war die Versorgung der SS-Mannschaften, nicht die der Häftlinge. Wenn diese überhaupt behandelt wurden, dann von mitinhaftierten Ärzten. An den KZ-Insassen waren die Lagerärzte aber dennoch interessiert: Sie dienten ihnen als "Material" für Experimente. Häufig standen hinter den Menschenversuchen ganz konkrete wirtschaftliche oder militärische Interessen. Für die Nazis war Überlegenheit im Luftkrieg wichtig, deshalb mussten sie wissen, wie der menschliche Körper in großen Höhen oder nach einem Absturz in kaltes Wasser reagiert. Im KZ Dachau missbrauchte der Arzt Sigmund Rascher Häftlinge zu Versuchen in einer Unterdruckkammer: Er beobachtete von außen den Verlauf der Höhenkrankheit bis zum Tod des Häftlings und sezierte ihn dann. Mindestens 80 Männer starben vor seinen Augen, während er akribisch ihr Leiden dokumentierte.
Auch die Fleckfieber-Versuche im KZ Buchenwald dienten militärischen Interessen: Um rasch einen Impfstoff gegen Fleckfieber zu finden, infizierte der Lagerarzt Erwin Ding-Schuler rund 450 Häftlinge künstlich mit Fleckfieber, viele von ihnen starben. Auch Impfstoffe gegen Gelbfieber, Diphtherie, Typhus, Cholera und Malaria wurden von gewissenlosen KZ-Ärzten an Lagerinsassen ausprobiert. Ihr Tod wurde bewusst einkalkuliert. Im KZ Natzweiler suchte der Straßburger Anatom August Hirt nach einem Gegenmittel für die im Ersten Weltkrieg gefürchteten chemischen Kampfstoffe Lost (Senfgas) und Phosgen. Ein Häftling, der Aufseher im KZ-Krankenrevier war, sagte im Nürnberger Prozess dazu aus: "Die Gefangenen ... kamen nackt in das Labor herein ... Sie bekamen ... einen Tropfen dieser Flüssigkeit auf den Oberarm geschmiert ... Nach ungefähr zehn Stunden ... stellten sich Brandwunden ein, ... am ganzen Körper ... Das waren kolossale Schmerzen, sodass es kaum noch auszuhalten war, sich in der Nähe der Kranken aufzuhalten ... Ungefähr am fünften Tag hatten wir die ersten Toten."
Ihren traurigen Höhepunkt fanden die Menschenversuche in Josef Mengeles Zwillingsstudien im Vernichtungslager Auschwitz. Mengele war "Experte" auf dem Gebiet der Vererbungsforschung. Im Interesse seiner Rassenhygiene-Ideologie erforschte er, welche Merkmale erblich und welche äußerlich bedingt sind. Die Körper der Zwillingspaare wurden vermessen, geröntgt, fotografiert; Abdrücke von Händen, Füßen und Gebiss wurden erstellt. Aber so "harmlos" blieb es nicht: Mengele operierte ohne Narkose, um die Schmerzempfindlichkeit vergleichen zu können. Er gab Bluttransfusionen und infizierte künstlich mit Krankheitserregern, um die Blutserum-Reaktionen von Zwillingspaaren zu studieren. Dann erfolgte die Sektion. Um die inneren Organe der Zwillinge zu vergleichen, tötete Mengele die Kinder zur selben Zeit, indem er ihnen Chloroform ins Herz injizierte. Alles wurde sorgfältig dokumentiert.
Was passierte mit den Ärzten, die all diese Verbrechen begangen hatten? 1946 und 1947 standen die Menschenversuche im Nürnberger Ärzteprozess zur Verhandlung. Nur zwanzig Ärzte waren angeklagt - alle plädierten auf "nicht schuldig". Karl Gebhardt, oberster SS-Arzt, sagte aus: "So hat mir... das Dritte Reich ... auf ärztlichem Gebiet eine große Chance gegeben. Ich habe sie genutzt." Gebhardt wurde zum Tode verurteilt und hingerichtet, ebenso wie sechs andere Ärzte. Neun erhielten Haftstrafen, fünf davon lebenslänglich. Sieben wurden freigesprochen. Dem Urteilsspruch wurde der Nürnberger Codex vorangestellt: eine Erklärung, die als Selbstverpflichtung für Wissenschaftler zum Einhalten von ethischen Normen bei Experimenten an Menschen gilt.
Der Großteil der Ärzte, die in KZs, Kliniken und Heilanstalten Verbrechen gegen die Menschlichkeit beging, kam jedoch ohne adäquate Bestrafung davon. Manche - wie Josef Mengele, der bis zu seinem Tod 1979 unerkannt in Brasilien lebte - setzten sich rechtzeitig ins Ausland ab. Andere erhielten milde Urteile. 1956 waren alle im Nürnberger Prozess verhängten Freiheitsstrafen wieder aufgehoben. Auch später kam es noch zu Verfahren gegen einzelne Ärzte wie Ullrich, Bumke, Endruweit und Borm, die nachweislich an Vergasungen von behinderten Menschen beteiligt waren. Prozesse in den 60er- und 70er-Jahren endeten mit Freisprüchen, weil es den Angeklagten an "Bewusstsein der Rechtswidrigkeit ihrer Taten" gemangelt habe oder wegen "Verhandlungsunfähigkeit".
Viele dieser Ärzte führten ihre Praxen bis in die Neunzigerjahre weiter oder setzten ihre Karriere ungebrochen fort. So auch Mengeles Chef Othmar Freiherr von Verschuer, der seit 1942 das Kaiser-Wilhelm-Institut für Menschliche Erblehre in Berlin leitete. Mengele hatte ihm regelmäßig Blutproben, Augenpaare und andere Körperteile von Häftlingen geschickt. 1951 wurde Verschuer Professor für Genetik in Münster, 1952 Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Anthropologie, 1954 Dekan der Medizinischen Fakultät; im gleichen Jahr veröffentlichte er sein Werk "Genetik des Menschen", das Wissen enthält, für das Menschen sterben mussten. Auch viele Zeichnungen im berühmten Atlas "Topografische Anatomie des Menschen" des Wiener Anatomen Eduard Pernkopf entstanden anhand von Präparaten, die von Opfern des Nazi-Regimes stammten. Pernkopf wurde nach dem Krieg verhaftet, aber nie angeklagt; später durfte er an seinem Buch weiterarbeiten. Selbst in den Auflagen der Nachkriegszeit finden sich noch Hakenkreuze und SS-Runen in den Unterschriften der Zeichner.
Der Nürnberger Prozess hätte die Chance zu einer selbstkritischen Bestandsaufnahme in der deutschen Ärzteschaft eröffnen können. Diese Chance wurde in beiden deutschen Staaten verspielt. Als die Prozessbeobachter - der Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich und der Medizinstudent Fred Mielke - 1947 ihre Dokumentation "Medizin ohne Menschlichkeit"3 herausbrachten, prallten sie bereits gegen eine Mauer des Schweigens. Eine selbstkritische Überprüfung der eigenen Vergangenheit wurde abgelehnt. Eine adäquate Aufarbeitung der medizinischen Verbrechen im Dritten Reich fand nicht statt. Die etablierte Ärzteschaft tat sich schwer mit einer offenen und ehrlichen Vergangenheitsbewältigung: Als der junge deutsche Arzt Hartmut Hanauske-Abel in der Fachzeitschrift ,The Lancet' 1986 Material über die Vergangenheit der deutschen Ärzte veröffentlichte, wurde er dafür vom höchsten deutschen Ärztefunktionär Karsten Vilmar persönlich angegriffen und verlor seine Arbeitsstelle. Drei Präsidenten der Bundesärztekammer nach 1945 waren Mitglieder in der SA oder SS gewesen. 1993 wollte sich einer von ihnen - Hans Joachim Sewering - zum Präsident des Weltärztebundes wählen lassen. Protest aus dem Ausland verhinderte jedoch seine Wahl, da er 1943 die Euthanasie-Ermordung eines 14-jährigen Mädchens mitverschuldet hatte.
Im nationalsozialistischen totalitären Staat wurde, wie in allen anderen gesellschaftlichen und alltäglichen Bereichen, die Medizin und das Gesundheitswesen gleichgeschaltet und mit nationalsozialistischer Ideologie infiltriert. Ausgangspunkt für die Veränderung in der Medizin im NS-Staat war ein neues, rassenideologisch begründetes Menschenbild, das Menschen nach ihrer vermeintlichen „Werthaftigkeit“ einteilte. Daraus ergaben sich Konsequenzen zur Inklusion und Exklusion bestimmter Personengruppen. Maßgebend war nicht das Individuum, sondern der Erhalt und Dienst an der „Volksgemeinschaft“, dem „Volkskörper“, für dessen Behandlung die Medizin gebraucht und missbraucht wurde.
1 https://www.thieme.de/viamedici/arzt-im-beruf-aerztliches-handeln-1561/a/aerzte-imdritten-reich-4456.htm
2 Till Bastian Furchtbare Ärzte. Medizinische Verbrechen im Dritten Reich. beck'sche reihe 1113, München 2001, ISBN 3-406-44800-3
3 Alexander Mitscherlich und Fred Mielke (Hrsg.), Medizin ohne Menschlichkeit. Dokumente des Nürnberger Ärzteprozesses; Neuauflage von Wissenschaft ohne Menschlichkeit im Fischer Taschenbuchverlag, Frankfurt 1960, ISBN 3-596-22003-3;
Die Entwicklung der Bevölkerung und einhergehende Reaktionen auf sich verändernde Bedingungen in der Gesellschaft beschäftigt Wissenschaftler_innen und Philosoph_innen seit jeher. Der Blick auf den Wert eines einzelnen Individuums in einer Nation und die Betrachtung des gesellschaftlichen Fortschritts wurde ab dem 19. Jahrhundert aufgrund des rasanten Bevölkerungswachstums und der Industrialisierung im Rahmen der ökonomischen und naturwissenschaftlichen Forschung neu fokussiert.
Im vorangegangenen Absolutismus war aus einer wachsenden Bevölkerung eine wachsende wirtschaftliche Leistungsfähigkeit abgeleitet worden. Der britische Sozialphilosoph Malthus widersprach dieser Ansicht jedoch in seinem 1798 erschienenen „Essay on the Principle of Population“5. Dem exponentiellen Bevölkerungswachstum stehe ein nur linearer Anstieg der Nahrungsmittelproduktion gegenüber. Aus der Bevölkerungsüberproduktion resultiere eine Verelendung der Menschen durch Unterversorgung und Mangelernährung. Eine Lösung dieser ungleichen Entwicklung sei in der Marktwirtschaft nicht gegeben (malthusian crisis).
Bedeutenden Aufschwung erfuhr im 19. Jahrhundert neben der Diskussion der veränderten Ökonomie die Biowissenschaft, die sich von der Dominanz der anderen Naturwissenschaften und der früheren Naturlehre zum „Gottesbeweis“ emanzipierte. Der französische Botaniker und Zoologe Lamarck stellte in seiner Evolutionstheorie die These auf, dass Individuen erworbene positive Eigenschaften auf ihre Nachkommen vererben (Lamarckismus). Lamarck ging von der Existenz von Urzuständen jeder Art aus, die sich im Laufe der Zeit an die Umwelt anpassen und dadurch weiterentwickeln.
Die Annahme, dass Arten einem Wandel unterliegen, sollte die Grundlage für die Evolutionstheorie des britischen Naturwissenschaftlers Darwin bilden. Er verband in seiner Evolutionstheorie die Überlegungen von Malthus zu der problematischen Bevölkerungsexplosion und die Theorie von Lamarck zu der Veränderlichkeit der Arten. Dazu fügte er die Selektion der Individuen durch den Konkurrenzkampf unter den Nachkommen um Nahrung, Ressourcen und das Überleben („struggle for life“). In dem Werk „On the Origin of Species by Means of Natural Selection“(1859) beschreibt Darwin seine Theorie der Entwicklung der Arten, bei der durch das Überleben des am besten Angepassten („survival of the fittest“) eine Auslese stattfindet. Diese als Darwinismus bezeichnete Theorie wurde in Gegenüberstellung zum Lamarckismus über die wissenschaftliche Rezeption hinaus in der Gesellschaft diskutiert und als sozialwissenschaftliche Theorie (Sozialdarwinismus) auf die menschliche Population übertragen.
In der Folge ergaben sich vielfältige Auseinandersetzungen mit den neuen Theorien. Diese äußerten sich in Diskussionen, neuen Lehrmeinungen und weiteren Forschungen und entwickelten sich in unterstützende oder gegensätzliche Richtungen. Spezifisch für das ausgehende 19. Jahrhundert und die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts ist der Biologismus, der den Versuch beschreibt, individuelles und gesellschaftliches Verhalten auf biologische Gesetzmäßigkeiten zurückzuführen. Ein Teil dieser Überlegungen umfasste die Rassenanthropologie, die den Begriff der „Rasse“ benutzte, um eine Einteilung auch der Menschen nach bestimmten äußeren Merkmalen zu vollziehen. Abgesehen von einer subjektiven Betrachtung von empirischen Merkmalen wurden auch individuelle Merkmale und Eigenschaften wie Charakter, Verhalten und Fähigkeiten bestimmten Rassen zugeordnet. Unzureichend wurde darüber hinaus die Abgrenzung des biologischen Terminus „Rasse“ und des Begriffes „Volk“ vollzogen. Dabei muss zwischen der biologischen, heutzutage in der Zoologie anhand genetischer Faktoren erklärbaren Einteilung von Tierarten einerseits und einer Gruppierung von Menschen, die als „Volk“ in einem gemeinsamen Sprach- und Kulturraum eine verbindende Identität besitzen, andererseits unterschieden werden.
In der Rassenanthropologie entwickelten sich neben der Abgrenzung verschiedener Rassen auch rassistische Ansichten, nach denen die Rassen als bestimmendes Merkmal eines Menschen geltend seien und eine Wertung und Ungleichheit der Rassen beinhalten. Als weitere Komponente wurden rassenantisemitische Überzeugungen laut, die sich auf traditionell christlichem Antijudaismus gründeten und durch eine pseudowissenschaftliche Grundlage einer Rassentheorie ergänzt wurden. Insgesamt ergab sich im Rassenantisemitismus ein Konglomerat mit rassistischen, antisemitischen, sozialdarwinistischen und nationalistischen Bestandteilen. Rassismus hatte auch weitere, verbreitete Ausprägungen als Antislawismus, Antikommunismus, Antiziganismus (gegen Sinti und Roma und alle „nicht sesshaften“ Menschen) und als Diskriminierung von Homosexuellen.
Bereits 1855 hatte der französische Schriftsteller und Diplomat Gobineau in seinem Werk „Versuch über die Ungleichheit der Menschenracen“ die Existenz einer „Urrasse“ und abgeleiteten „Sekundärrassen“, die „weiße“, „schwarze“ und „gelbe“ Rasse, vertreten. Seiner Ansicht nach sei die weiße „Rasse“ den anderen überlegen und innerhalb dieser die der „arischen Rasse“ zugehörige „germanische Rasse“ die Wertvollste. Dieser rassistischen Theorie zufolge führe Rassenmischung zur Degeneration. Ursprünglich aus der medizinischen Begrifflichkeit entlehnt beschreibt der Begriff „Degeneration“ im 19. Jahrhundert eine kulturpessimistische Sicht auf die Gesellschaft: der Verfall der Sitten und Werte, die veränderte Lebenswelt der Menschen, Verstädterung und Industrialisierung seien Ursachen einer – wortwörtlichen und übertragenen – Erkrankung der Gesellschaft, die zu ihrem Niedergang führe. Erscheinungen der Degeneration (oder „Entartung“) seien beispielsweise Alkoholismus, Homosexualität und Verbrechen.
Um die Jahrhundertwende war die Betrachtung rassentheoretischer Ansichten modern und gesellschaftsfähig, vor allem begann eine vermehrte Diskussion über die Konsequenzen aus den gewonnenen Erkenntnissen. Als bedeutende Entwicklung ist die Formulierung rassenhygienischer Eingriffe in die Bevölkerung festzuhalten. Unter Rassenhygiene oder auch Eugenik fällt die „Menschenzüchtung“ zum Erhalt und Ausbilden rassisch-biologisch „wertvoller“ Menschen. Bezüglich der Umsetzung wird quantitative von qualitativer Eugenik, also die Steigerung der (relativen) Anzahl der „wertvollen“ Menschen gegenüber dem Grad der Ausprägung positiver Eigenschaften, und zwischen positiver und negativer Eugenik unterschieden, bei der die Maßnahmen zur Förderung der biologischen Elite gegenüber der Vernichtung „lebensunwerten“ Lebens abgegrenzt werden. Am 22.Juni 1905 wurde in Berlin die „Deutsche Gesellschaft für Rassenhygiene“ gegründet und damit Rassenhygiene der medizinischen Forschung unterstellt und wissenschaftlich anerkannt. Als Entgegnung auf die Probleme der Zeit und die Angst vor der Degeneration der Gesellschaft wurden Antworten und praktische Hinweise erwartet. Ausdruck der politisch-gesellschaftlichen Relevanz ist ein im Juli 1914 verfasster erster Entwurf für eine gesetzliche Regelung von Sterilisation und Abtreibung bei medizinischer Indikation.
Der Erste Weltkrieg markierte ein einschneidendes Erlebnis in dem Alltag der Bevölkerung. In dem Stellungskrieg an der Front gab es hohe Verlustzahlen. Vor allem die körperlichen und geistigen Folgen und Spätfolgen durch den Kriegsdienst waren immens. Durch neue Waffen und Kriegstechniken war die Zahl der Verletzten größer als zuvor, gleichzeitig konnte die Überlebensrate durch medizinische Fortschritte und verbesserte Versorgung an der Front gesteigert werden. In den 1920er-Jahren wurde unter dem Einfluss der Erfahrungen des Krieges die Diskussion um den Wert eines Lebens unter den neuen Aspekten und Bedingungen weitergeführt. Der Umgang mit den körperlich und geistig Versehrten des Krieges im Alltag der Nachkriegszeit in der Weimarer Republik war von Verdrängung geprägt, die eine Eingliederung der Betroffenen erschwerte. Zudem war in der Gesellschaft keine ausreichende soziale Unterstützung für die Opfer gegeben. In dem Empfinden der Bevölkerung stand der Niedergang der Gesellschaft durch den Kriegsverlust und den Geburtenrückgang nach dem Krieg im Zusammenwirken mit der Wirtschaftskrise und der Inflation bevor. Auf dieser Grundlage wurde die Umsetzung von rassenhygienischen Maßnahmen quer durch alle politischen Lager auch in anderen europäischen Staaten erneut diskutiert. 1927 erfolgte durch die Gründung des „Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik“ die Institutionalisierung der Rassenhygiene in der deutschen Gesellschaft und Wissenschaft.
Ein weiterer Aspekt umfasste der „Euthanasiediskurs“. Der griechische Begriff euthanasia bedeutet wörtlich „schöner Tod“ und beschreibt ursprünglich die als „ars moriendi“ bezeichnete „Kunst des Sterbens“, unter der ein Tod ohne vorherige Krankheit und Leidenszeit verstanden wird. Der Begriff „Euthanasie“ im Sinne einer Sterbehilfe mit dem selbst gestalteten Eingriff in den Sterbeprozess auch zur Verkürzung von Leiden wurde erst ab dem 19. Jahrhundert verwendet. In der Auseinandersetzung um Rassenhygiene und den Lebenswert wurde in den Fachwissenschaften und in der literarischen Behandlung der Thematik Euthanasie angebracht; Sterbehilfe war aber nach der geltenden juristischen Lage rechtswidrig. Offiziell wurden dieses Verbot der Tötung auf Verlangen in Frage gestellt, inoffiziell wurde darüber hinaus die Rechtfertigung der Tötung ohne Einverständnis im Zusammenhang der Wertschätzung kranker Menschen überdacht. Der Schriftsteller Niels Henrik Thorald beschreibt in einer Programmschrift die Verschiedenheit der Menschen in Abhängigkeit zu ihrem „Wertfaktor“ für die Gesellschaft und zieht aus der finanziellen Belastung durch behinderte und kranke Menschen die Konsequenz, dass sie „ins Jenseits befördert werden [sollten]“. Es gab aber auch Gegenstimmen: der Arzt Hans Brennecke wies auf die unter wissenschaftlichen Argumenten verschleierte Motivation des Materialismus hin.
Vor der Machtübernahme durch Hitler und die NSDAP gab es kein dezidiert nationalsozialistisches Gesundheitsprogramm. Hitler vertrat völkisch rassistische Vorstellungen und beschrieb in seiner programmatischen Schrift „Mein Kampf“ zum Aspekt der „Rasse“ die negativen Auswirkungen einer Rassenmischung für das deutsche Volk und dachte bereits über Mittel zur positiven und negativen Rassenhygiene nach. In den Vordergrund wurden die Betrachtung des „Volkskörpers“, Bemühungen zur Steigerung der „Qualität des Volkskörpers“ und rassenideologische Ansichten gestellt.
Mit der Machtübernahme 1933 wurden die gesundheitspolitischen Vorstellungen ausgearbeitet und konkretisiert. Die nationalsozialistische Gesundheitspolitik ging einerseits einher mit der Gleichschaltung und „Arisierung“ der Gesellschaft, darüber hinaus wurde über die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ negative Eugenik und über Geburtenförderung, Leistungsmedizin und Auslese von Eliten positive Eugenik betrieben. Die medizinische Forschung, besonders beeinflusst durch die Einrichtung von Konzentrationslagern, und die Entwicklung der Medizin unter dem Einfluss des Zweiten Weltkrieges sind weitere Aspekte, die in die Betrachtung eingeschlossen werden müssen.
Die Ärzteschaft war 1933 von einem hohen Anteil jüdischer Ärzt(innen) geprägt. Im Vergleich zu dem gesamten Bevölkerungsanteil jüdischer Bürgerinnen in Deutschland von 0,9 Prozent waren 17 Prozent der Ärzt(innen) jüdischen Glaubens oder Herkunft. Jüdische Ärzt(innen) waren hinsichtlich ihrer wissenschaftlichen und auch politischen Einstellung liberaler und moderner eingestellt als ihre Kolleginnen. Dem gegenüber stand eine größere Gruppe konservativer Ärzteschaft, für die sich die NSDAP als Vertreter stilisierte. Bereits im August 1929 war der „Nationalsozialistische Deutsche Ärztebund“ (NSDÄB) als Zusammenschluss gegen traditionelle Ärztebünde gegründet worden. In dem Blatt „Ziel und Weg“ wurden konservative, antijüdische Ärzt(innen) gezielt angesprochen. Für die NSDAP war der Zugang zur ärztlichen Berufsgemeinschaft von großer Bedeutung, da die Ärzt(innen) direkten Zugang zu wichtigen, intimen Informationen über ihre Patient(innen) hatten. Indem sich die Nationalsozialisten die Unterstützung durch die konservative Ärzteschaft sicherten, konnten sie gezielt breiten Einfluss auf die Gesundheitssituation in Deutschland nehmen. Durch die antisemitische und antimodernistische Einstellung vieler Ärzte fiel das Einwirken über den Ärztebund und weitere propagandistische Maßnahmen auf fruchtbaren Boden und bildete die Grundlage für den hohen Anteil an NSDAP-Mitgliedern in der Ärzteschaft und die Instrumentalisierung der Ärzte für die Umsetzung nationalsozialistischer Gesundheitspolitik.
Verankert wurden die Vorhaben der Nationalsozialist_innen in der Schaffung neuer Institutionen. Zur Erb- und Rassenpflege wurden das „Hauptamt für Volksgesundheit“ (HAVG) gegründet, das sich vor allem mit (propagandistischen) Maßnahmen zur positiven Eugenik befasste. Dem „Rassenpolitische Amt“ (RPA) oblag offiziell die Organisation der negativen Eugenik. Da die beiden Institutionen neben dem öffentlichen Gesundheitswesen mit dem Reichsgesundheitsamt existierten, gab es in der Koordination der Aufgabenbereiche wiederholt Irritationen, die auf die verzweigte und sich überschneidende Organisation und unklar abgegrenzte Verantwortungsbereiche zurückzuführen waren. Häufig wurden vor allem propagandistische Aufgaben von dem „Hauptamt für Volksgesundheit“ und dem „Rassenpolitischen Amt“ wahrgenommen, während ausführende Tätigkeiten von anderen speziellen Stellen, beispielsweise der SS, übernommen wurden.
Die Vertreibung jüdischer Ärzte setzte mit der Machtübernahme sofort sowohl offiziell betrieben als auch durch unterschwellige Diskriminierung ein. Antisemitische Einstellungen wurden durch eine sexualisierte Form noch in ihrem Ausmaß erweitert, indem jüdischen männlichen Ärzten Übergriffe an „deutschen Frauen“ unterstellt wurden. In dem nationalsozialistischen Blatt „Der Stürmer“ und auch durch das Blatt „Ziel und Weg“ des NSDÄB wurde Hetze gegen die jüdische Ärzteschaft betrieben. Bereits im Februar 1933 gab es an medizinischen Fakultäten Proteste gegen jüdische Studierende; am 01. April desselben Jahres gab es einen Boykott durch die SS und die SA, bei dem jüdische Ärzte und Anwälte an ihrer Berufsausübung gehindert wurden und der deutschen Bevölkerung von dem Besuch jüdischer Ärzte abgeraten wurde. Durch das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 07. April 1933 wurden neben politischen Gegner_innen des nationalsozialistischen Systems auch jüdische Ärzte aus ihrem Beruf vertrieben. Allgemein ergab sich durch die Verdrängung ungewollter Ärzte und den personellen Wechsel eine Umkehr (beziehungsweise Rückkehr) von einem karitativen, gleichwertigen Bemühen um einzelne Patient_innen hin zu einer entindividualisierten medizinischen Betrachtung des gesamten „Volkskörpers“. Über die praktizierenden Ärzte hinaus wurde auch in der Ausbildung des medizinischen Nachwuchses an den Universitäten und Hochschulen jüdische Studierende durch das „Gesetz gegen die Überfüllung der deutschen Schulen und Hochschulen“ vom 25. April 1933 ausgeschlossen. An den Universitäten kam es darüber hinaus zu erheblichen Veränderungen; vor allem in der medizinischen Forschung wurden ganze Forschungsgruppen und -abteilungen durch die Entlassungen der jüdischen Mitarbeiter_innen zerstört.
Die Ausschaltung jüdischer Ärzte wurde bereits durch die 1933 erlassenen Gesetze so weit umgesetzt, dass die „Nürnberger Gesetze“ von 1935 keine weiteren Auswirkungen auf die Beschäftigung jüdischer Mediziner in Krankenhäusern und Kliniken hatten. Jedoch stellten sie für niedergelassene Ärzt in eigenen Praxen durch das Beschäftigungsverbot von nicht-jüdischen Angestellten eine weitreichende Einschränkung dar. Schließlich wurde in einer Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom Juli 1938 jüdischen Ärzt_innen die Approbation entzogen; 1939 wurden auch die Zulassungen jüdischer Zahnärzte, Tierärzte und Apotheker ungültig.
In dem Zeitraum von 1933 bis 1938 wurden von insgesamt rund 52.000 Ärzte in Deutschland ungefähr 9.000 jüdische Ärzte von ihrer Berufsausübung ausgeschlossen. Nur in der Versorgung der jüdischen Bevölkerung waren wenige Ärzte weiterhin aktiv. Wer nicht emigrierte, musste die nationalsozialistischen Verfolgung erleiden.
Mit dem Überfall der Sowjetunion begannen die Deportationen auch deutscher Bürger jüdischen Glaubens in Konzentrations- und Vernichtungslager, unter ihnen auch die jüdischen Ärzte , die in Deutschland trotz Berufsverbot geblieben waren.
Die Diskussion um die negative Eugenik in der Hinsicht einer „Bewertung“ von körperlich oder geistig behinderten oder kranken Erwachsenen und Kindern war bereits vor 1933 – wie oben beschrieben – in der Öffentlichkeit und den Wissenschaften geführt worden. Betrachtete Faktoren waren neben der qualitativen „Verbesserung des Volkskörpers“ vor allem die finanzielle Belastung durch die sich ergebende medizinische und soziale Versorgung, die im Zuge der Weltwirtschaftskrise ab 1929 an Bedeutung zunahm. In „Mein Kampf“ beschrieb Hitler die „Absonderung“ Erbkranker als „unglückliche Maßnahme für die Betroffenen, aber Segen für die Mit- und Nachwelt“. In der Verhinderung der Weitergabe von Erbkrankheiten wurde nach Ansicht der Nationalsozialist_innen die „Volksgemeinschaft“ dauerhaft „gebessert“.
Die nationalsozialistische Politik griff die Idee der negativen Eugenik auf und setzte sie radikal um. Am 25. Juli 1933 wurde das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ verabschiedet und trat mit dem Jahreswechsel 1933/1934 in Kraft. Es folgte in wesentlichen Aspekten und Formulierungen einem Entwurf für ein preußisches „Sterilisationsgesetz“ vom Juli 1932, in dem die Sterilisation nur unter freiwilliger Zustimmung des Betroffenen erwogen worden war. Darüber hinaus wurde im „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ von 1933 auch gegen den Willen der Betroffenen Sterilisationen legalisiert. Die Erlaubnis für einen Eingriff war bei verschiedenen Indikatoren gegeben: „bei angeborenem Schwachsinn, Schizophrenie, zirkulärem (manisch-depressivem) Irresein, erblicher Fallsucht, erblichem Veitstanz (Huntingtonsche Cholera), erblicher Blindheit, erblicher Taubheit, schwerer erblicher körperlicher Missbildung, schwerem Alkoholismus“. Die Entscheidung über die Durchführung einer Sterilisation oblag eigens eingerichteten „Erbgesundheitsgerichten“, die den Oberlandesgerichten angegliedert wurden. Dabei oblag die Entscheidung einem Gremium aus jeweils einem Mitglied des Oberlandesgerichtes, einem/einer Arzt/Ärztin und einem/einer weiteren Arzt/Ärztin, „der [/die] mit der Erbgesundheitslehre besonders vertraut“ sein sollte. Das weist darauf hin, dass dieses Amt mit denjenigen Ärzt_innen betraut werden konnte, die ideologiekonform und zuverlässig entschieden. Zudem war die Entscheidung „entgültig“, das hieß nicht anfechtbar.
Im ersten Jahr der Umsetzung des Gesetzes wurden rund 84.000 Anträge auf Sterilisationen gestellt. Von diesen wurden ungefähr 62.000 Anträge von den Erbgesundheitsgerichten zugelassen und die Hälfte in der Praxis umgesetzt. Diese Zahl stieg in den folgenden Jahren an, insgesamt wurden zwischen 1933 und 1945 Schätzungen zufolge rund 400.000 Menschen sterilisiert, dabei starben mehrere tausend Menschen, insbesondere Frauen, an Komplikationen bei oder infolge der Operationen. Auch begingen einige vor dem Eingriff Suizid. Einspruch gegen den Antrag auf die Zwangssterilisation erwirkte einen Aufschub der Umsetzung, hatte aber dauerhaft keinen Erfolg. In der Folge wurden die Bestimmungen noch verschärft und neben „Erbkranken“ auch Angehörige von Minderheiten wie Sinti und Roma Zwangssterilisationen unterzogen.
In der Folge der Zwangssterilisationen ist die Vernichtung von Menschenleben, die von den Nationalsozialist_innen als „lebensunwert“ angesehen wurden, als Radikalisierung der vorangegangenen Taten zu sehen. Das verachtende Menschenbild der Ideologie des Nationalsozialismus gipfelte in diesen Morden an unschuldigen Menschen. Ab Oktober 1939 wurden mehr als 200.000 Psychiatriepatient_innen und Insassen von Krankenlagern, darüber hinaus auch den gesellschaftlichen Normen und Vorstellungen (vermeintlich) zuwiderhandelnde Menschen erfasst und ermordet.
Parallel zur Planung eines „Euthanasie-Gesetzes“ ab dem Sommer 1939 wurden über Meldebögen der gesundheitliche Zustand von Psychiatriepatient_innen und Kranken systematisch erfasst. Letztendlich wurde kein Gesetz zur Legalisierung der Morde verabschiedet. Als Basis für die Aktionen diente eine Ermächtigung zum Töten von Hitler vom Oktober 1939, die aber weder als gesetzliche Bestimmung noch als Befehl auszulegen war. Mit der offenen Formulierung konnte sich Hitler scheinbar aus der Verantwortung ziehen – die Verantwortung für die Taten müssen jedoch alle Personen übernehmen, die in Organisation, Planung und Umsetzung der Morde beteiligt waren. Die beteiligten Ärzt_innen sahen sich jedoch vielfach als Umsetzer_innen von fortschrittlichen und modernen Ansichten in der Praxis der „Irrenhäuser“.
Die Mordaktionen wurden in verschiedenen Wellen und unter unterschiedlicher Leitung durchgeführt. Man differenziert zwischen den Morden an Kindern, der „Aktion T4“, der „Aktion Sonderbehandlung 14f13“, den Morden an Kranken und anderen Bevölkerungsgruppen in besetzten Gebieten und der „Aktion Reinhardt“.
Die „Aktion T4“, benannt nach dem Sitz der zentralen Leitung in der Tiergartenstraße 4 in Berlin, kann in verschiedene Phasen unterteilt werden. Nach Beginn der systematischen Erfassung durch Meldebögen wurde im August 1939 auch eine Meldepflicht für Missbildungen bei Kindern eingeführt. Diese bildete die Grundlage für die Ermordung behinderter Kinder ab Ende September 1939. 100.000 Kinder wurden erfasst, davon 20.000 Kinder hinsichtlich ihrer Erkrankung genauer beurteilt und über ungefähr 5.000 das Todesurteil gefällt. Sie wurden in „Kinderfachabteilungen“ verlegt und dort vor allem durch Giftinjektionen umgebracht. Die Leichen der Opfer wurden zum Teil noch zu wissenschaftlichen Zwecken verwendet.
Zur Jahreswende 1939/1940 trat die Aktion mit der Ermordung auch von Erwachsenen in eine neue Phase ein. Über die Gutachterkommission wurden die erfassten Daten bearbeitet. Von rund 280.000 Meldebögen ausgehend wurden 70.000 Menschen zu Tode verurteilt. Die Morde wurden sowohl mittels Giftinjektionen als auch durch Vergasung in Gaskammern durchgeführt. Die Orte der Mordaktionen waren in ganz Deutschland und Österreich verteilt: in Hadamar bei Limburg (an der Lahn, Hessen), in Grafeneck bei Reutlingen (Baden-Württemberg), in Hartheim bei Linz (Österreich), in Sonnenstein bei Pirna (Sachsen) und Bernburg bei Magdeburg (Sachsen-Anhalt). Obwohl die Verantwortlichen versuchten, die Aktionen geheim zu halten, drangen Informationen an die Öffentlichkeit und so erfolgten ab Juli 1940 erste Proteste, vor allem aus den Kirchen heraus. Mit steigender Kritik und Protest wurden die „Aktion T4“ – vorerst – nicht mehr haltbar und im August 1941 eingestellt. Schon ein Jahr später wurde die Ermordung Erwachsener zunächst in Hadamar unter höchster Geheimhaltung wieder aufgenommen. Durch eine Meldepflicht für Patient_innen psychiatrischer Einrichtungen konnten die systematischen Massenmorde weiterhin geplant und umgesetzt werden, wenn auch unkoordinierter und „ineffizienter“ als zuvor.
Die „Aktion Sonderbehandlung 14f13“ stand in Verbindung mit der „Aktion T4“, insofern das Personal und die Einrichtungen der „Euthanasie“-Aktion genutzt wurde, um geistig beeinträchtigte und kranke Insassen der Konzentrations- und Arbeitslager umzubringen. Der Mord folgte dem unmittelbaren Befehl des SS-Reichsführers Himmler, der in einem Geheimbefehl an den Kommandanten des Lagers Buchenwald (bei Weimar, Thüringen) die Tötung aller „schwachsinniger und verkrüppelter“ Häftlinge verordnete. Auch in anderen Lagern wurde auf Überbelegung, Unterversorgung und steigende Zahl der Krankheitsfälle mit dem Abtransport von aussortierten Menschen in nahe T4-Anstalten reagiert, in denen die Opfer umgebracht wurden.
Auch in besetzten Gebieten wurden Behinderte und Kranke ermordet. Direkt bei Kriegsbeginn wurden Anstaltsinsassen in Polen ermordet, ab September 1942 wurden auch in sowjetischen Gebieten Morde an geistig Behinderten verübt. Die Besonderheit an den Morden im besetzten Polen war der zusätzliche Einbezug der sogenannten „politischen Intelligenz“, also den Bevölkerungsgruppen, die das Land und die Gesellschaft in der Politik und Justiz, in der Wirtschaft, in der Bildung und anderen essentiellen Bereichen beeinflussten. So starben in dem ersten Jahr nach dem Überfall auf Polen im September 1939 schätzungsweise 10.000 bis 15.000 Patient_innen von „Irrenhäusern“ und darüber hinaus noch 80.000 Ärzte, Lehrer Juristen, Staatsbeamte, Apotheker, Geistliche und Gutsbesitzer. Nach Einstellung von offiziellen „Euthanasie“-Aktionen im Altreich wurde das Personal der Tötungsanstalten beispielsweise nach Polen verlegt und war dort an der Ermordung beteiligt.
Durch die „Aktion T4“ wurden schätzungsweise 80.000 Menschen bis zur offiziellen Einstellung im August 1941 ermordet, der „Aktion 14f13“ fielen weitere rund 10.000 Menschen zum Opfer. Die Opferzahlen der vergleichsweise unkoordinierten „Euthanasie“-Aktionen nach der offiziellen Einstellung der Aktionen und in den besetzten Gebieten lassen sich schwer einschätzen.
Neben den Morden an Kranken, Behinderten oder Menschen, die unter diesen Kategorien aus den unterschiedlichsten Gründen eingestuft wurden, gab es noch vielfältige weitere Mordaktionen. Das größte Ausmaß hatte die Deportation und Ermordung der jüdischen Bevölkerung, darüber hinaus der Mord an Sinti und Roma, die Verfolgung Homosexueller, politischer Gegner und allen weiteren Gruppen, denen durch die nationalsozialistische Ideologie die Existenzberechtigung abgesprochen wurde.
Über die offiziellen geplanten Mordaktionen hinaus fielen im Zuge der Konzentration und Segregation kranker oder behinderter Menschen viele der schlechten Versorgung zum Opfer. Besonders im Zweiten Weltkrieg wurde billigend in Kauf genommen, dass Menschen aufgrund der Unterversorgung mit Nahrungsmitteln verhungerten.
Kennzeichnend für die schnelle Verbreitung und Integration des nationalsozialistischen Gedankenguts an den medizinischen Fakultäten der deutschen Hochschulen war das „Bekenntnis der Professoren an den deutschen Universitäten und Hochschulen zu Adolf Hitler und dem nationalsozialistischen Staat“ im November 1933 am Vorabend der Reichstagswahl. Gleichzeitig wurde damit die politische Unterstützung und die Unterordnung der Wissenschaft unter die nationalsozialistische Ideologie signalisiert. Die medizinische Wissenschaft wurde wie alle anderen Bereiche der Forschung und Lehre an deutschen Hochschulen und Universitäten gleichgeschaltet und der nationalsozialistischen Führung unterworfen – oder die Entscheidungshoheit und Autorität durch das Bekenntnis einiger führender Professoren bereitwillig dem Regime übertragen. Infolgedessen wurden jüdischen Wissenschaftler_innen und politische Gegner des Regimes teilweise auf Betreiben der eigenen Fakultätsangehörigen und Mitarbeiter_innen aus ihrem Beruf vertrieben oder in den Ruhestand versetzt. Von folgenreicher Bedeutung war die der Übernahme des Führerprinzips und nationalsozialistischer Ideologien geschuldete Abhängigkeit der Wissenschaft und Forschung von politischen Einflüssen und die Unterordnung aller moralisch-ethischer Bedenken unter die Weisung der Autoritäten.
Innerhalb der Forschungsbetätigung lässt sich in der Zeit von 1933 bis 1945 ein Nebeneinander vieler wissenschaftlicher Disziplinen erkennen, das trotz der nicht im besonderen Maße ausgeprägten staatlichen Lenkung eine intensivierte Betrachtung der Forschungsfelder mit Kontakt zu nationalsozialistisch-rassenideologischen sowie militärischen Bereichen zeigt. Das betraf vor allem die Vererbungswissenschaften, Leistungsphysiologie und Infektiologie. Verantwortlich für die wissenschaftliche Forschung war das „Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung“, ab 1937 war der „Reichsforschungsrat“ zentrales Gremium zur Koordination der Forschung.