Mein Dank geht an Peter Windsheimer
für das Design sämtlicher Bilder.
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© 2019 Hohenstätten, Johannes H. von
Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 9783749415779
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Da Anion immer wieder sagte, dass manchmal okkulte Geschichten am besten irgendwelche hermetischen Probleme beleuchten, haben wir uns entschlossen, eine wirklich gute Sammlung von okkulten Geschichten und wirklich interessanten und wahren Berichten zu veröffentlichen. Vorab muss ich noch sagen, dass es leider nur sehr wenig okkulte Literatur gibt, die aussagekräftig wäre. Manch ein Buch wird zur Zeit publiziert. Aber unsere kleinen Romane, Kurzgeschichten und Tatsachenberichte würden leider untergehen, da sie großteils unbekannt sind. Sie wurden in den frühen 20igern in okkulten Zeitschriften wie „Psyche“, „Zentralblatt für Okkultismus“, „Prana“, „Weiße Fahne“ und anderen veröffentlicht und wer kann heutzutage schon behaupten, er hat sich da durchgelesen. Wohl die Wenigsten. Aus diesem Grund veröffentlichen wir alle die Geschichten, die gut, sinnreich und die wir gefunden haben. Ich hoffe, unser Leser ist mit dem 16. Band dieser Reihe der Literatur zufrieden.
Ewig und einsam wacht der Herr der Schatten in seiner Wohnstatt. Ihre Wände sind Wolken, und um sie herum und durch sie hindurch, schweben die fahlen Schatten all der Dinge vorbei, die einmal gewesen sind. Dieser endlose, gespenstische, sich drehende und bewegende Kreis wird die Prozession der toten Vergangenheit genannt. Darin ist alles genau so, wie es in der Welt des Seins gewesen ist. Es gibt keinerlei Veränderung, auch nicht im Kleinsten, denn es sind ja die Schatten dieser Welt. In jedem Moment, in dem etwas existiert, sendet es seinen Schatten in diese schemenhafte Prozession. Hier ziehen Menschen und Geschehnisse, Sorgen, Gedanken, Torheiten, Verbrechen, Freuden, Kümmernisse, Orte, Szenen, Hoffnungen und Ängste vorüber. Und all das ergibt zusammen die Fülle des Lebens mit seinem Licht und seinem Schatten. Jedes Bild in der Natur, in dem ein Schatten wohnt – und das ist überall der Fall – hat hier seine immaterielle Entsprechung. Hier sind alle Bilder zu sehen, auch die heitersten und die traurigsten. Da ist der Dämmerschein, der über einem sonnigen Kornfeld schwebt, wenn mit einer leichten Brise das dunkle Rauschen der prallen Ähren beginnt; wenn sie sich neigen und wiederaufrichten. Da ist das leichte Kräuseln auf der gläsernen Oberfläche eines sommerlichen Sees und die dunkle Tiefe, die darunter liegt und die die helle Spur des Mondlichtes nicht mehr erreichen kann. Da gibt es das Filigran von gleißendem Licht und Dunkelheit über einer herbstlichen Landstraße, wenn der Mond durch die nackten, überhängenden Zweige der Bäume scheint. Der kühle, ruhevolle Schatten unter den weit ausladenden Bäumen im Sommer ist da, wenn die Sonne auf den Bauern, der das Heu wendet, herniederbrennt und die dunklen Wolken, die über den Mond hinwandern, sein Licht verdeckend, das kalt und fahl wieder hervordringt. Das schwarze und violette Düster finden wir da, das sich im Sommer am Horizont erhebt, wenn Regen sich ankündigt und die dumpfen Tiefen und finsteren Höhlen, wo ein Wasserfall brüllend in das ausgewaschene Becken stürzt. All diese Schattenbilder und noch tausend andere, die Tag und Nacht dazukommen, bewegen sich in der Prozession unter den Dingen, die einst auf der Erde existiert haben.
Hier wird auch alles, was die Menschen tun – jeder Gedanke, ob gut oder schlecht, jeder Wunsch, jede Hoffnung, alles, was im Geheimen geschieht – abgebildet. Es wird zu einem unvergänglichen Protokoll, das nicht mehr ausgelöscht werden kann. Denn der Herr der Schatten darf jederzeit jeden, ob erwacht oder schläft, mit seiner geisterhaften Hand abrufen, um zu sehen, was aufgezeichnet ist von der toten Vergangenheit in der nebelhaften, geheimnisvollen Atmosphäre, die seine einsame Wohnstatt umgibt.
In dieser sich unaufhörlich fortbewegenden Prozession der toten Vergangenheit gibt es kaum einen Raum ohne die webenden Abbilder, und die Wolkenwände dringen bis hierher nicht vor. Hier herrscht dichte, tiefe Dunkelheit, und hinter ihr liegt eine weite, helle Welt.
Diese Finsternis wird das Tor des Schreckens genannt. Die Prozession – nun weit entfernt – nimmt von hier ihren Ausgang. Und wenn sie sich auf ihrem Weg wiederum auf die Finsternis zubewegt, verschmelzen die schattenhaften Abbilder mit dem geheimnisvollen Düster. Manchmal geht der Herr der Schatten durch die dunstigen Wände seiner Wohnung und mischt sich unter die Reihen der Prozession. Dann kann es vorkommen, dass eine Gestalt, die er mit seiner gespenstischen Hand aufgefordert hat, leisen Trittes aus dem Nebel auftaucht und bei ihm verweilt. Manchmal beruft der Herr der Schatten eine träumende Seele aus einem schlafenden Körper zu sich. Dann stehen sich das Tote und das Lebende für einen Augenblick gegenüber. Die Menschen nennen dies einen Traum von der Vergangenheit. Wenn das geschieht, treffen sich Freunde wieder oder Feinde, und die Seele des Träumers erfüllt dann eine lang entschwundene, glückliche Erinnerung, oder sie wird von der schmerzlichen Auseinandersetzung mit dem Gewissen belastet. Doch keines dieser Gespinste kann die Nebelwand durchbrechen; das kann allein der Herr der Schatten. Und keinem menschlichen Wesen ist es möglich – selbst nicht im Traum –, in die Dunkelheit einzudringen, in der die Prozession ihre Bahn zieht.
So lebt der Herr der Schatten einsam inmitten seiner Finsternis, und sein Dasein ist bevölkert von gespenstischer Vergangenheit. Die Menschen, die sich ihm nähern, gibt es schon nicht mehr; und obwohl er ihre Schatten erschafft, so wohnen sie nicht bei ihm. Seine Kinder gehen sogleich an ihren Bestimmungsort in der großen Welt, und er sieht sie nicht mehr, bis sie – wenn die Zeit abgelaufen ist – an der Prozession der toten Vergangenheit teilnehmen und so wiederum die dunstigen Mauern seines Heimes erreichen. Für ihn gibt es weder Tag noch Nacht noch irgendeine besondere Zeit im Jahr, sondern die Prozession der toten Vergangenheit zieht ewig an seiner einsamen Wohnung vorbei.
Manchmal sitzt er und grübelt, den abwesenden Blick in die Ferne gerichtet, und draußen ist eine wolkenlose Stille oder die schwarze Finsternis der Nacht. Manchmal blickt er monatelang nicht zum hohen Norden oder zum Süden, und dann regiert dort einzig die Erstarrung der arktischen Nacht. Doch wenn die träumenden Augen sich ihrer selbst wieder bewusst werden, weicht die Erstarrung den Tönen des Lebens und des Lichtes. Dann wieder kann es sein, dass der Herr der Schatten sich mit Stirnrunzeln und einem stählernen Funkeln in den Augen, das dunkle Blitze entflammen und aufleuchten lässt, energisch seiner Aufgabe zuwendet, nun entstehen in der ganzen Welt die Schatten schnell und in großen Scharen. Über der See jagt die Schwärze des Sturmes dahin. Bleiche Lichter flimmern von den Wiegen hinweg hin zu den einsamen Mooren. Sogar in den Palästen der Könige gleiten und schweben dunkle Schatten über alle Dinge, oh, selbst durch die Herzen der Könige; denn der Herr der Schatten verbreitet jetzt Schrecken, wenn er um sich sieht. Wieder und wieder verweilt er länger bei seiner Aufgabe, als ihm gestattet ist. Es scheint, als liebte er sie. Sein Herz sehnt sich nach den Geschöpfen seines Willens; und er würde so gern wenigstens einen der Schatten bei sich behalten, damit er ihm ein Begleiter wäre in seiner Einsamkeit. Aber in solchen Tagen klingt ihm stets die Stimme des Großen Allgegenwärtigen in den Ohren, die ihm befiehlt, sich zu beeilen. „Weiter, weiter“, dröhnt die mächtige Stimme. Während er ihre Worte vernimmt, entgleiten die erschaffenen Schatten seinen Händen, schweben ungesehen durch das Tor des Schreckens und verteilen sich in der großen Welt draußen, um dort ihre Rolle zu übernehmen. Wenn ein solcher Schatten, nachdem seine Zeit abgelaufen ist, in die Reihen der Prozession der toten Vergangenheit zurückkehrt, erkennt ihn der Herr der Schatten und erinnert sich seiner. Aber in seinem versteinerten Herzen findet sich kaum der Schein eines liebenden Andenkens, weil er nur das Jetzt gern haben kann, das sich jeweils seinem Griff entwendet. Oh, es ist ein einsames Leben, das der Herr der Schatten führt. In der unheimlichen, tristen, feierlichen, seltsamen, stillen Dunkelheit, die ihn umgibt, müht er sich stets allein hart um seine Aufgabe. Aber es gibt auch Freuden für ihn. Kinderschatten springen auf und sonnige Bilder, erhellt durch Liebe und Freundlichkeit. Sie zerfließen unter seiner Berührung und sind entschwunden. Vor dem Wirkungsbereich des Herrn der Schatten liegt eine Sphäre, in der es weder Licht noch Dunkelheit, weder Fröhlichkeit noch Trübsinn gibt. Was auch immer berührt wird, es zerrinnt wie kleine Sandberge bei heranrollender Flut oder wie in Wasser geschriebene Worte. Hier gehen alle Dinge vom Sein ins Nichtsein über; sie werden Teil des großen Nichts. Deshalb wird diese schreckliche Zone des Geheimnisses die Schwelle genannt. Was jemals dorthin kommt, verschwindet, und was aus dieser Zone emportaucht, ist so ausgestattet, dass es seinen Weg in der großen Welt gehen kann. Gegenüber der Schwelle ist selbst der Herr der Schatten gleich nichts, und ihre aufsaugende Kraft lässt nicht zu, dass er etwas beeinflussen oder leiten könnte. Wenn er seine Tätigkeit ausübt, so tritt aus dem unfühlbaren Nichts der Schwelle das Objekt seines Willens. Manchmal bricht der Schatten voll und frisch hervor und ist dann plötzlich in der Dunkelheit des Tores der Furcht verschwunden. Manchmal aber bildet er sich sanft und behutsam, im Näherkommen voller werdend, und verschmitzt mit dem Dunkel. So arbeitet der Herr der Schatten einsam in seinem Reich. Und um ihn, die dunstigen Wände unter sich, webt, ewig vorwärts drängend, die Prozession der toten Vergangenheit. Sturm und Ruhe, beide sind von der Schwelle ausgeschickt worden und vorübergegangen. Nun, einen stillen, versonnenen Augenblick lang, hält der Herr der Schatten inne in seiner Tätigkeit und richtet sein ganzes Sehnen so inbrünstig auf die Wesenlosigkeit der Schwelle, bis ihm von dort eine Antwort zuteil wird. Da wächst der Schatten eines Kinderfußes aus ihr heraus, wackelig auf die Welt zutapsend. Dann folgt der kleine runde Körper mit dem großen Kopf, und der Babyschatten bewegt sich vorwärts, unsicher schwankend und balancierend. Liebevoll streckt sich nach ihm sogleich die helfende Hand der Mutter aus, auf dass es nicht falle. Ein Schritt – zwei – es schwankt … und fällt. Doch der Mutter Arme sind flink, und die hilfreichen Hände ermutigen es. Das Kind wendet sich zur Mutter hin und tappt ihr in die Arme. Wieder bemüht es sich, zu laufen. Und wieder sind die aufmerksamen Mutterhände bereit. Diesmal benötigt es die Hilfe nicht. Doch nachdem der Lauf beendet ist, kehrt das Schattenkind liebend gern zu seiner Mutter Brust zurück. Noch einmal strengt es sich an und geht nun mutig und sicher seinen Weg. Jetzt kann die Mutter die Arme ruhen lassen, aber sie beben, während ihr eine Träne über die Wange rollt und ein Lächeln ihre Züge erhellt. Da wendet sich der Babyschatten ab, entfernt sich ein kleines Stück, und über das neblige Nichts, auf das die Schatten fallen, huscht der flackernde Schatten einer winzigen, winkenden Hand. Und weiter bewegt sich der Schatten der kleinen Füße sicheren Trittes auf die dunstige Finsternis des Tores der Furcht zu und entschwindet. – Der Schatten der Mutter aber bewegt sich nicht. Die Hände aufs Herz gepresst, das liebende Antlitz betend emporgewandt, rinnen große Tränen über ihre Wangen. Dann, als die kleinen Füße sich außerhalb ihres Gesichtskreises befinden, beugt ihr Kopf sich tiefer und tiefer, bis sie weinend am Boden liegt. Als der Herr der Schatten aufschaut, sieht er noch, wie die beiden Schatten blasser und blasser werden. Dann breitet sich wieder die schreckliche Wesenlosigkeit der Schwelle aus. Sogleich wandern in der Prozession der toten Vergangenheit rund um die nebligen Mauern die Schatten, die gewesen sind, auch die von Mutter und Kind.
Nun tritt aus der Schwelle tapferen, kräftigen Schrittes ein junger Mensch. Als sein Schatten auf den Dunstschleier fällt, weisen ihn sein Gewand und seine Haltung als Seemann aus. Dicht zu diesem Schatten gesellt sich ein anderer – der der Mutter. Sie ist älter und schmaler nun, aber es ist dieselbe. Die liebevollen, alten Hände ordnen gefällig das Tuch, das sie leicht geknotet um den Hals trägt. Und der Junge nimmt das Gesicht der Mutter in seine Hände und zieht es an sich, um es zu küssen. Da umfangen der Mutter Hände den Sohn, und sie verharren in enger Umarmung. Wieder und wieder küsst die Mutter ihren Sohn, und sie stehen zusammen, als ob es unmöglich sei, sich zu trennen. Doch plötzlich wendet sich der Junge ab, als ob er einen Ruf hörte, während die Mutter ihn noch fester umschlingt. Er scheint zärtlich Einwendungen zu machen, doch die liebenden Arme halten ihn fest, bis er sich mit sanfter Gewalt losreißt. Die Mutter tut einen Schritt vorwärts und streckt in einem Anfall von Herzleid zitternd die Hände aus. Der Sohn hält inne, beugt sein Knie, wischt sich die Tränen ab und schwenkt seine Kappe. Dann springt er auf, während die Mutter noch einmal auf die Knie sinkt und weint. Und so gewinnen die Schatten von Mutter und Kind im Laufe der Zeit langsam mehr und mehr an Konturen, passieren das Tor der Furcht und zirkulieren inmitten der Gespinste der Prozession der toten Vergangenheit – die Mutter stets den eilenden Fußstapfen des Sohnes in kurzem Abstand folgend.
In der nun folgenden langen Pause, in der der Herr der Schatten nachsinnt, scheint sich alles verändert zu haben. Aus der Schwelle tritt ein Nebel von der Art, wie er manchmal über der Oberfläche eines tropischen Sees liegt. Allmählich lichtet sich der Nebel und gibt den Blick frei auf den riesigen schwarzen Bug eines mächtigen Schiffes. Die Schatten der großen Segel liegen blass in der kühlen Tiefe der See, und in der reglosen Luft klatschen die Segel träge an die Masten. Lustlos lehnen Gestalten an der Takelung und warten auf Wind. Der Nebel über der See schmilzt langsam dahin, und da die dichten Schatten der Menschen vor der gleißenden Sonne Schutz suchen, indem sie sich mit ihren breiten Seemannshüten Kühlung zufächeln, ist es offensichtlich, dass die Hitze schrecklich sein muss. Nun steigt in weiter Ferne hinter dem Schiff eine schwarze Wolke, kaum größer als die Faust eines Mannes, über den Horizont herauf und nähert sich mit beängstigender Geschwindigkeit. Ebenso weit entfernt, doch vor dem Kurs, den die Wolke nimmt, erhebt sich die Kante eines Korallenriffes, das über dem gläsernen Wasser kaum zu sehen ist, doch die Meerestiefe mit seiner Masse verdunkelt. Jene an Bord sehen keines von beiden, denn sie haben unter ihren Sonnensegeln Schutz gesucht und ersehnen kühle Winde.
Immer geschwinder nähert sich die dunkle Wolke dem Schiff, schneller und schneller dahinziehend und im Herankommen schwärzer und gewaltiger werdend. Endlich scheinen jene an Bord die Gefahr zu erkennen. Hastende Schatten fliegen das Deck entlang, und an den Schatten der Leitern jagen die Schatten der Menschen hinauf. Das Klatschen der großen Segel hört auf, als diese – eines nach dem anderen – von willigen Händen eingezogen werden. Doch schneller, als Menschenhände arbeiten können, rast der Sturm heran. Über ihnen rauscht es, und Schreckliches bricht über sie herein. Tintenschwarze Finsternis, turmhohe Wellen, die mit großer Wucht brechen und auseinander spritzen, eine schäumende, sich himmelwärts bäumende See, riesige, sich in Raserei wälzende Wolken. Und mitten in diesen fliegenden, quirlenden, wütenden Schatten schwankt der Schatten des Schiffes.
Während die schwarze Finsternis alles in sich einhüllt, fegt der Schattensturm tosend durch das Tor der Furcht. Als nun der Herr der Schatten den Wirbelsturm unter den Schatten der Prozession der toten Vergangenheit toben sieht, ergreift eine Spur von Mitleid für den in die Tiefe geschleuderten braven jungen Seemann und die ängstlich daheim wartende Mutter sogar sein versteinertes Herz.
Wieder entwächst der Schwelle ein Schatten, deutlicher werdend im Näherkommen, doch sehr sehr blass zuerst. Denn hier brennt die Sonne gnadenlos hernieder, und auf dem nackten Felsen, der sich aus dem Schimmern und Glitzern der Seetiefe erhebt, ist so gut wie kein Platz für Schatten. Auf diesem einsamen Felsen steht ein junger Schiffbrüchiger, hager und abgemagert, und seine Kleidung besteht nur aus ein paar Fetzen. Seine Augen mit der Hand gegen die Sonne schützend, schaut er über das Wasser zum Horizont, wo der wolkenlose Himmel in die brennende See zu sinken scheint. Doch nichts ist zu sehen in der Ferne, und kein noch so weites Schimmern eines weißen Segels schenkt ihm einen Hoffnungsstrahl. Lange blickt er suchend, bis er sich erschöpft auf dem Felsen niederlässt und seinen Kopf eine Zeit lang verzweifelt in die Hände stützt. Als die See zurückweicht, sammelt er das Schalengetier vom Felsen, das die Flut herangespült hat. So vergeht der Tag, und es kommt die Nacht, und am tropischen Himmel hängen die Sterne wie Laternen. In der kühlen Stille der Nacht ruht der verlassene Schiffsjunge aus; er schläft und träumt. Von zu Hause träumt er, von Armen, die sich ihm liebevoll entgegenstrecken, von ausgedehnten Festessen, von grünen Feldern und im Winde wehenden Zweigen und von der Geborgenheit in der Liebe seiner Mutter. Denn der Herr der Schatten ruft während des Schlafes seine träumende Seele und zeigt ihm alle die Wohltaten, die sich in der Prozession der toten Vergangenheit unaufhörlich weiterbewegen. Auf diese Weise ermutigt er ihn, damit er nicht verzweifele und sterbe.
So gehen viele harte Tage ins Land, und der Schiffsjunge verweilt noch immer auf dem einsamen Felsen. Dann sieht er in großer Entfernung einen Hügel, der sich über das Wasser zu erheben scheint. Eines Morgens, als der sich schwärzende Himmel und die schwüle Luft einen Sturm vermuten lassen, ist der weit entfernte Berg dem Auge näher gerückt, und er überlegt, ob er nicht versuchen sollte, den Berg schwimmend zu erreichen. Soeben hat er dies beschlossen, als der Sturm aufkommt und ihn von dem einsamen Felsen herunterbläst. Mit kühnem Herzen beginnt er zu schwimmen, und genau in dem Moment, in dem ihn seine Kräfte verlassen wollen, wird er von der Wut des Sturmes auf eine Sandbank geworfen. Der Sturm rast weiter in seiner Richtung, und die Wellen, die ihn hoch oben aufs Trockene geworfen haben, können ihn nicht mehr erreichen. Nun wendet er sich landeinwärts und sucht in einer Felsenhöhle Schutz, wo er alsbald in den Schlaf sinkt. Der Herr der Schatten hat dies alles, was auf Land und auf See geschehen ist, an den Schatten in den Wolken beobachtet. Und sein steinernes Herz freut sich nun, dass die einsame Mutter vielleicht nicht vergeblich warten wird.
So verstreicht die Zeit, und viele schwere Tage müssen durchgestanden werden. Der Junge wächst zum Mann heran und lebt weiter auf der einsamen Insel. Ein Bart ist ihm gewachsen, und seine Kleidung besteht aus Blattwerk. Den ganzen Tag über, es sei denn, er ist damit beschäftigt, sich Nahrung zu suchen, schaut er von der Spitze des Berges nach einem Schiff aus. Und wenn er so steht und auf das Meer blickt, wirft die Sonne seinen Schatten auf den Felsen. Wenn dann der Abend kommt und die Sonne langsam im Meer versinkt, wird der Schatten des einsamen Seemanns länger und länger, bis er als dunkler Streifen den Hügel hinab bis zum Meeressaum reicht. Während er wartet und Ausschau hält, wird das Herz des verlassenen Mannes schwerer und schwerer. Es ist eine bedrückende Zeit, und zahllose Tage und Nächte kommen und gehen. Allmählich beginnt er, schwächer und schwächer zu werden und siecht zuletzt lange todkrank dahin. – Dann entfernen sich diese Schatten.
Die Schwelle entlässt nun den Schatten einer alten, mageren, abgehärmten Frau, die in einer einsamen Hütte, welche auf eine vorstehende Felsenklippe gebaut wurde, sitzt. Nachts brennt im Fenster eine Lampe, die den einen Verlorenen willkommen heißen und ihm den Weg zu seiner Mutter Haus zeigen soll, würde er jemals zurückkehren. Und bei der Lampe wacht die Mutter, bis sie, müde geworden, in den Schlaf sinkt. Im Schlaf ruft der Herr der Schatten ihre Seele durch eine leichte Bewegung seiner gespenstischen Hand zu sich. So steht sie bei ihm in der einsamen Wohnstatt, während um sie herum sich die Prozession der toten Vergangenheit durch die Nebelwände bewegt. Da erhebt der Herr der Schatten seine Hand und deutet auf das Bild ihres Sohnes. Doch die Augen der Mutter sind sogar behänder als die geisterhafte Hand, die all die Schatten des jagenden Sturmes heraufbeschwört. Und ehe sich die Hand noch ganz erhoben hat, sieht sie ihren Sohn unter den Schatten der Vergangenheit. Als die Mutter nun erkennt, dass er lebt und gesund ist, erfüllt sich ihr Herz mit unaussprechlicher Freude, obwohl er ein Gefangener der tropischen See ist. Doch, ach, sie ahnt nicht, dass in der schemenhaften Prozession nur die Dinge sich zeigen, die einmal gewesen sind, und dass – obwohl der verlassene Seemann vorher lebte – er jetzt, gerade in diesem Moment, im Sterben liegen oder bereits tot sein könnte. Die Mutter streckt die Hände nach ihrem Jungen aus, doch da entschwindet die Prozession ihrem Blick, und ihre Seele hat das Reich des Herrn der Schatten verlassen. Da sie nun weiß, dass ihr Sohn lebt, erfasst sie heftige Pein darüber, dass er völlig verlassen ist und sehnlichst auf Hilfe wartet. So wird das freudig erregte Herz der Mutter nun von Gram überwältigt, und sie erwacht mit einem bitteren Aufschrei. Als sie sich nun aufrichtet und hinter der erlöschenden Lampe in die Dämmerung hinausschaut, wird ihr bewusst, dass sie im Traum (Vision) ihren Sohn gesehen hat, der lebt und auf Hilfe wartet. Da beginnt ihr Herz zu glühen, denn sie fasst einen schwerwiegenden Entschluss.
Von der Schwelle fluten nun eilig viele Schatten: eine Mutter, die sich allein und raschen Schrittes zu einer entfernten Stadt begibt.
Seriöse Herren, die bestimmt, aber nicht unfreundlich, ablehnen eine Frau, die kniend und mit erhobenen Händen eine Bitte an sie richtet.
Harte Menschen, die eine bittende Mutter von ihrer Tür weisen. Eine wilde Horde böser und mitleidloser Jungen und Mädchen, die eine flüchtende Frau durch die Stadt jagen.
Ein Schatten des Kummers auf dem Herzen einer Mutter. Eine finstere Wolke der Verzweiflung, die aber den Sonnenglanz, der den Entschluss der Mutter umgibt, nicht vertreiben kann. Schwierige Tage mit den ihnen eigenen Schatten. Einsame Nächte – dunkles Wollen – Kälte – Hunger und Not; und durch all diese düsteren Schatten der eilige Schatten der rastlosen Mutterfüße.
Eine lange Reihe solcher Bilder zieht in der Prozession vorüber, bis das Herz des Herrn der Schatten zu Eis erstarrt und seine brennenden Augen wild auf all jene schauen, die dem ergebenen Herzen der Mutter Pein und Prüfung auferlegen. So fluten alle diese Schatten hinaus in einen schwarzen Dunst und verlieren sich im Dämmer des Tores der Furcht.
Ein neuer Schatten tritt aus dem Nebel. In seinem Lehnstuhl sitzt ein alter Mann. Das flackernde Kaminfeuer wirft seinen Schattenriss auf eine Wand des Raumes, wo er leise tänzelt. Man erkennt das Alter des Mannes an seinen breiten gebeugten Schultern und den Furchen, die die Jahre in sein ernstes, erhabenes Gesicht gezeichnet haben. Noch ein Schatten befindet sich im Zimmer; es ist der der Mutter. Sie steht am Tisch und erzählt ihre Geschichte. Ihre mageren Hände deuten in die Ferne, wo sie ihren Sohn als Gefangenen des menschenleeren Ozeans weiß. Der alte Mann erhebt sich. Die Begeisterung der Mutter hat ihn gerührt, und er spürt plötzlich, wie in sein Empfinden die alte Liebe, Kraft und Tapferkeit seiner Jugend zurückkehrt. Seine großen Hände ballen sich zur Faust und schlagen mit einem mächtigen Donner auf den Tisch, so, als ob sie damit ein bindendes Versprechen kundtun wollten. Da sinkt die Mutter auf ihre Knie, ergreift eine Hand des Mannes und küsst sie und steht wieder auf. Andere Männer kommen nun herein, die Anweisungen erhalten und sich eilig wieder entfernen.
Dann zeigen sich viele Schatten, deren Bewegung, Schnelligkeit und fester Zweck Leben und Hoffnung ausdrücken.
Bei Sonnenuntergang, als die Masten schon lange Schatten auf das Hafenwasser werfen, geht ein großes Schiff auf die Reise zur tropischen See. Männerschatten flitzen geschäftig die Takelage hinauf und herunter und die Decks entlang. Als die Schatten die Ankerwinde drehen, lichtet sich der Anker, und das gewaltige Schiff fährt hinaus in den Sonnenuntergang. Am Bug steht die Mutter, einer Verkörperung der Hoffnung gleich, und blickt mit sehnsüchtigen Augen zum Horizont hin.
Dann entschwindet auch dieser Schatten.
Mit weißen, vom Winde geblähten Segeln fliegt das große Schiff dahin. Und am Bug steht die Mutter, unentwegt voraus in die Ferne schauend. Stürme bedrängen das Schiff, und es flieht vor ihrer Gewalt. Doch die Mutter, die mit ausgestreckter Hand die Richtung weist, lässt sich nicht ablenken. Der Steuermann gehorcht beim Drehen des Rades ihrer Handbewegung. So schwebt dieser Schatten ebenfalls vorüber.
Die Schatten der Tage und Nächte ziehen in rascher Folge vorbei, und die Mutter sucht weiterhin nach ihrem Sohn. Alle die Aufzeichnungen dieser hoffnungsvollen Reise verschmelzen in einem fahlen, feinen, dunstigen Schatten, in dem nur eine Gestalt klar zu erkennen ist: die der spähenden Mutter auf dem Vorschiff des Schoners. Jetzt entwachsen der Schwelle die Schatten der bergigen Insel und des Schiffes, das beidreht. Am Bug kniet die Mutter, erwartungsvoll. Ein Boot wird herabgelassen, Männer springen hinein, spannungsgeladen; aber schneller als sie alle ist die Mutter. Das Boot nähert sich der Insel, und als das Wasser flach wird, gehen die Männer auf dem heißen, weißen Strand an Land.
Doch im Bug des Bootes sitzt noch die Mutter. In endlosen, angstvollen Stunden hat sie Träume gehabt, in denen ihr Sohn weit weg stand und Ausschau hielt. Sie hat ihn mit großer Freude winken gesehen, als das Schiff am Horizont erschien. Sie hat ihn wartend am Strand stehen gesehen, und dann, wie er durch die Brandung eilte, um als Erstes die liebenden Hände seiner Mutter fühlen zu können. Doch, ach, das war in ihren Träumen. Keine Gestalt mit freudig winkenden Armen steht auf der Höhe des Berges. Niemand steht sehnsuchtsvoll am Ufer oder jagt heran durch die Brandung, um sie zu umarmen. Sie fühlt ihr Herz vor Furcht kalt und frostig werden. Ist sie wirklich zu spät gekommen?
Beim Verlassen des Bootes machen die Männer ihr mit Händedrücken und freundlichen Klapsen auf die Schulter Mut. Aber sie hält sie nur zur Eile an und verweilt kniend. – Die Zeit vergeht quälend. Die Männer steigen auf den Hügel und suchen, doch den verlassenen Seemann finden sie nicht. So kehren sie langsamen, zögernden Schrittes zum Boot zurück. Die Mutter hört sie schon von weitem und erhebt sich, um ihnen entgegenzusehen. Da sie ihre Köpfe hängen lassen, wirft die Mutter in einem Anflug von Verzweiflung die Arme hoch und sinkt in Ohnmacht.
In diesem Augenblick ruft der Herr der Schatten ihren Geist zu sich und deutet auf eine bewegungslose Gestalt in der Prozession der toten Vergangenheit. Und nun fliegt der Mutter Seele schneller als das Licht zurück voll neu erwachter Freude. Sie erhebt sich vom Boden des Bootes und springt an Land, während ihr die Männer verwundert folgen. Fliegenden Fußes eilt sie am Strand entlang, die Männer ihr dicht auf den Fersen. Gegenüber einem durch Brombeerranken versteckten Eingang einer Höhle macht sie Halt und bedeutet den Männern, ohne sich umzudrehen, dass sie warten sollen. Diese bleiben zurück und sie geht hinein.
Für einen Moment breitet die Schwelle grimmige Finsternis aus; dann bietet sich dem Auge ein überaus trauriges Bild: eine düstere Höhle, ein abgehärmter Mann, am Boden liegend, und eine sich schmerzlich über den kalten Körper beugende Mutter. Sie legt ihre Hand auf die eisige Brust, doch ach, den Schlag des Herzens, das sie liebt, kann sie nicht fühlen. Mit einer wilden, herzergreifenden Gebärde wirft sie sich über den Körper ihres Sohnes und hält ihn fest, ganz fest, als ob der Griff einer Mutter unerbittlicher wäre als der des Todes.
Als der Herr der Schatten sich von diesem traurigen Bild abwendet, ist seinem steinernen Herzen die Qual bewusst, und mit bangen Augen blickt er in Richtung des Tores der Furcht, von wo Mutter und Kind kommen müssen, um sich in die stetig anschwellende Prozession der toten Vergangenheit einzureihen. – Langsam, ganz langsam zieht der Schatten des kalten Seemannskörpers heran. Aber geschwinder als das Licht sind die fliegenden Füße der Mutter. In heftiger Liebe streckt sie ihre Arme aus, und die dünnen Hände reißen den vorüberziehenden Schatten ihres Sohnes vom Tor der Furcht zurück – zum Leben – zur Freiheit – zur Liebe.
Der einsame Herr der Schatten weiß nun, dass die Arme einer Mutter mächtiger sind als der Griff des Todes.
Eine Geschichte über die Macht der „Imagination“
Auf dem großen Passagierdampfer, der um Mitternacht von New York nach Buenos Aires abgehen sollte, herrschte die übliche Geschäftigkeit und Bewegung der letzten Stunde. Gäste vom Land drängten durcheinander, um ihren Freunden das Geleit zu geben, Telegrafenboys mit schiefen Mützen schossen Namen ausrufend durch die Gesellschaftsräume, „Koffer und Blumen wurden geschleppt, Kinder liefen neugierig treppauf und treppab, während das Orchester unerschütterlich zur Deckshow spielte. Ich stand im Gespräch mit einem Bekannten etwas abseits von diesem Getümmel auf dem Promenadendeck, als neben uns zwei- oder dreimal Blitzlicht scharf aufsprühte – anscheinend war irgendein Prominenter knapp vor der Abfahrt noch rasch von Reportern interviewt und photographiert worden. Mein Freund blickte hin und lächelte. „Sie haben da einen raren Vogel“ an Bord, den Czentovic.“ Und da ich offenbar ein ziemlich verständnisloses Gesicht zu dieser Mitteilung machte, fügte er erklärend bei: „Mirko Czentovic, der Weltschachmeister. Er hat ganz Amerika von Ost nach West mit Turnierspielen abgeklappert und fährt jetzt zu neuen Triumphen nach Argentinien.“
In der Tat erinnerte ich mich nun dieses jungen Weltmeisters und sogar einiger Einzelheiten im Zusammenhang mit seiner raketenhaften Karriere –, mein Freund, ein aufmerksamerer Zeitungsleser als ich, konnte sie mit einer ganzen Reihe von Anekdoten ergänzen. Czentovic hatte sich vor etwa einem Jahr mit einem Schlage neben die bewährtesten Altmeister der Schachkunst, wie Aljechin, Capablanca, Tartakower, Lasker, Bogoljubow, gestellt; seit dem Auftreten des siebenjährigen Wunderkindes Rzecewski bei dem Schachturnier 1922 in New York hatte noch nie der Einbruch eines völlig Unbekannten in die ruhmreiche Gilde derart allgemeines Aufsehen erregt. Denn Czentovics intellektuelle Eigenschaften schienen ihm keineswegs solch eine blendende Karriere von vornherein zu weissagen. Bald sickerte das Geheimnis durch, dass dieser Schachmeister in seinem Privatleben außerstande war, in irgendeiner Sprache einen Satz ohne orthographischen Fehler zu schreiben, und wie einer seiner verärgerten Kollegen ingrimmig spottete, „seine Unbildung war auf allen Gebieten gleich universell“.
Sohn eines blutarmen südslawischen Donauschiffers, dessen winzige Barke eines Nachts von einem Getreidedampfer Überrannt wurde, war der damals Zwölfjährige nach dem Tode seines Vaters vom Pfarrer des abgelegenen Ortes aus Mitleid aufgenommen worden, und der gute Pater bemühte sich redlich, durch häusliche Nachhilfe wettzumachen, was das maulfaule, dumpfe, breitstirnige Kind in der Dorfschule nicht zu erlernen vermochte.
Aber die Anstrengungen blieben vergeblich. Mirko starrte die schon hundertmal ihm erklärten Schriftzeichen immer wieder fremd an; auch für die simpelsten Unterrichtsgegenstände fehlte seinem schwerfällig arbeitenden Gehirn jede festhaltende Kraft. Wenn er rechnen sollte, musste er noch mit vierzehn Jahren jedes Mal die Finger zu Hilfe nehmen, und ein Buch oder eine Zeitung zu lesen bedeutete für den schon halbwüchsigen Jungen noch besondere Anstrengung. Dabei konnte man Mirko keineswegs unwillig oder widerspenstig nennen. Er tat gehorsam, was man ihm gebot, holte Wasser, spaltete Holz, arbeitete mit auf dem Felde, räumte die Küche auf und erledigte verlässlich, wenn auch mit verärgernder Langsamkeit, jeden geforderten Dienst. Was den guten Pfarrer aber an dem querköpfigen Knaben am meisten verdross, war seine totale Teilnahmslosigkeit. Er tat nichts ohne besondere Aufforderung, stellte nie eine Frage, spielte nicht mit anderen Burschen und suchte von selbst keine Beschäftigung, sofern man sie nicht ausdrücklich anordnete; sobald Mirko die Verrichtungen des Haushalts erledigt hatte, saß er stur im Zimmer herum mit jenem leeren Blick, wie ihn Schafe auf der Weide haben, ohne an den Geschehnissen rings um ihn den geringsten Anteil zu nehmen. Während der Pfarrer abends, die lange Bauernpfeife schmauchend, mit dem Gendarmeriewachtmeister seine üblichen drei Schachpartien spielte, hockte der blondsträhnige Bursche stumm daneben und starrte unter seinen schweren Lidern anscheinend schläfrig und gleichgültig auf das karierte Brett.
Eines Winterabends klingelten, während die beiden Partner in ihre tägliche Partie vertieft waren, von der Dorfstraße her die Glöckchen eines Schlittens rasch und immer rascher heran. Ein Bauer, die Mütze mit Schnee überstäubt, stapfte hastig herein, seine alte Mutter läge im Sterben, und der Pfarrer möge eilen, ihr noch rechtzeitig die letzte Ölung zu erteilen. Ohne zu zögern folgte ihm der Priester. Der Gendarmeriewachtmeister, der sein Glas Bier noch nicht ausgetrunken hatte, zündete sich zum Abschied eine neue Pfeife an und bereitete sich eben vor, die schweren Schaftstiefel anzuziehen, als ihm auffiel, wie unentwegt der Blick Mirkos auf dem Schachbrett mit der angefangenen Partie haftete.
„Na, willst du sie zu Ende spielen?“, spaßte er, vollkommen überzeugt, dass der schläfrige Junge nicht einen einzigen Stein auf dem Brett richtig zu rücken verstünde. Der Knabe starrte scheu auf, nickte dann und setzte sich auf den Platz des Pfarrers. Nach vierzehn Zügen war der Gendarmeriewachtmeister geschlagen und musste zudem eingestehen, dass keineswegs ein versehentlich nachlässiger Zug seine Niederlage verschuldet habe. Die zweite Partie fiel nicht anders aus.
„Bileams Esel!“, rief erstaunt bei seiner Rückkehr der Pfarrer aus, dem weniger bibelfesten Gendarmeriewachtmeister erklärend, schon vor zweitausend Jahren hätte sich ein ähnliches Wunder ereignet, dass ein stummes Wesen plötzlich die Sprache der Weisheit gefunden habe. Trotz der vorgerückten Stunde konnte der Pfarrer sich nicht enthalten, seinen halb analphabetischen Famulus zu einem Zweikampf herauszufordern. Mirko schlug auch ihn mit Leichtigkeit. Er spielte zäh, langsam, unerschütterlich, ohne ein einziges Mal die gesenkte breite Stirn vom Brette aufzuheben. Aber er spielte mit unwiderlegbarer Sicherheit; weder der Gendarmeriewachtmeister noch der Pfarrer waren in den nächsten Tagen imstande, eine Partie gegen ihn zu gewinnen. Der Pfarrer, besser als irgend jemand befähigt, die sonstige Rückständigkeit seines Zöglings zu beurteilen, wurde nun ernstlich neugierig, wieweit diese einseitige sonderbare Begabung einer strengeren Prüfung standhalten würde. Nachdem er Mirko bei dem Dorfbarbier die struppigen strohblonden Haare hatte schneiden lassen, um ihn einigermaßen präsentabel zu machen, nahm er ihn in seinem Schlitten mit in die kleine Nachbarstadt, wo er im Café des Hauptplatzes eine Ecke mit enragierten Schachspielern wußte, denen er selbst erfahrungsgemäß nicht gewachsen war. Es erregte bei der ansässigen Runde nicht geringes Staunen, als der Pfarrer den fünfzehnjährigen strohblonden und rotbackigen Burschen in seinem nach innen getragenen Schafspelz und schweren, hohen Schaftstiefeln in das Kaffeehaus schob, wo der Junge befremdet mit scheu nieder geschlagenen Augen in einer Ecke stehenblieb, bis man ihn zu einem der Schachtische hinrief. In der ersten Partie wurde Mirko geschlagen, da er die sogenannte Sizilianische Eröffnung bei dem guten Pfarrer nie gesehen hatte. In der zweiten Partie kam er schon gegen den besten Spieler auf Remis. Von der dritten und vierten an schlug er sie alle, einen nach dem andern.
Nun ereignen sich in einer kleinen südslawischen Provinzstadt höchst selten aufregende Dinge; so wurde das erste Auftreten dieses bäuerlichen Champions für die versammelten Honoratioren unverzüglich zur Sensation. Einstimmig wurde beschlossen, der Wunderknabe müsste unbedingt noch bis zum nächsten Tage in der Stadt bleiben, damit man die anderen Mitglieder des Schachklubs zusammenrufen und vor allem den alten Grafen Simczic, einen Fanatiker des Schachspiels, auf seinem Schlosse verständigen könne. Der Pfarrer, der mit einem ganz neuen Stolz auf seinen Pflegling blickte, aber über seiner Entdeckerfreude doch seinen pflichtgemäßen Sonntagsgottesdienst nicht versäumen wollte, erklärte sich bereit, Mirko für eine weitere Probe zurückzulassen. Der junge Czentovic wurde auf Kosten der Schachecke im Hotel einquartiert und sah an diesem Abend zum ersten Mal ein Wasserklosett. Am folgenden Sonntagnachmittag war der Schachraum überfüllt. Mirko, unbeweglich vier Stunden vor dem Brett sitzend, besiegte, ohne ein Wort zu sprechen oder auch nur aufzuschauen, einen Spieler nach dem andern; schließlich wurde eine Simultanpartie vorgeschlagen. Es dauerte eine Welle, ehe man dem Unbelehrten begreiflich machen konnte, dass bei einer Simultanpartie er allein gegen die verschiedenen Spieler zu kämpfen hätte. Aber sobald Mirko diesen Usus begriffen, fand er sich rasch in die Aufgabe, ging mit seinen schweren, knarrenden Schuhen langsam von Tisch zu Tisch und gewann schließlich sieben von den acht Partien.
Nun begannen große Beratungen. Obwohl dieser neue Champion im strengen Sinne nicht zur Stadt gehörte, war doch der heimische Nationalstolz lebhaft entzündet. Vielleicht konnte endlich die kleine Stadt, deren Vorhandensein auf der Landkarte kaum jemand bisher wahrgenommen, zum ersten Mal sich die Ehre erwerben, einen berühmten Mann in die Welt zu schicken. Ein Agent namens Koller, sonst nur Chansonetten und Sängerinnen für das Kabarett der Garnison vermittelnd, erklärte sich bereit, sofern man den Zuschuss für ein Jahr leiste, den jungen Menschen in Wien von einem ihm bekannten ausgezeichneten kleinen Meister fachmäßig in der Schachkunst ausbilden zu lassen. Graf Simczic, dem in sechzig Jahren täglichen Schachspieles nie ein so merkwürdiger Gegner entgegengetreten war, zeichnete sofort den Betrag. Mit diesem Tage begann die erstaunliche Karriere des Schiffersohnes.
Nach einem halben Jahre beherrschte Mirko sämtliche Geheimnisse der Schachtechnik, allerdings mit einer seltsamen Einschränkung, die später in den Fachkreisen viel beobachtet und bespöttelt wurde. Denn Czentovic brachte es nie dazu, auch nur eine einzige Schachpartie auswendig – oder wie man fachgemäß sagt: blind – zu spielen. Ihm fehlte vollkommen die Fähigkeit, das Schlachtfeld in den unbegrenzten Raum der Phantasie zu stellen. Er musste immer das schwarz-weiße Karree mit den vierundsechzig Feldern und zweiunddreißig Figuren handgreiflich vor sich haben; noch zur Zeit seines Weltruhmes führte er ständig ein zusammenlegbares Taschenschach mit sich, um, wenn er eine Meisterpartie rekonstruieren oder ein Problem für sich lösen wollte, sich die Stellung optisch vor Augen zu führen. Dieser an sich unbeträchtliche Defekt verriet einen Mangel an imaginativer Kraft und wurde in dem engen Kreise ebenso lebhaft diskutiert, wie wenn unter Musikern ein hervorragender Virtuose oder Dirigent sich unfähig gezeigt hätte, ohne aufgeschlagene Partitur zu spielen oder zu dirigieren. Aber diese merkwürdige Eigenheit verzögerte keineswegs Mirkos stupenden Aufstieg. Mit siebzehn Jahren hatte er schon ein Dutzend Schachpreise gewonnen, mit achtzehn sich die ungarische Meisterschaft, mit zwanzig endlich die Weltmeisterschaft erobert. Die verwegensten Champions, jeder einzelne an intellektueller Begabung, an Phantasie und Kühnheit ihm unermeßlich überlegen, erlagen ebenso seiner zähen und kalten Logik wie Napoleon dem schwerfälligen Kutusow, wie Hannibal dem Fabius Cunctator, von dem Livius berichtet, dass er gleichfalls in seiner Kindheit derart auffällige Züge von Phlegma und Imbezillität gezeigt habe. So geschah es, dass in die illustre Galerie der Schachmeister, die in ihren Reihen die verschiedensten Typen intellektueller Überlegenheit vereinigt, Philosophen, Mathematiker, kalkulierende, imaginierende und oft schöpferische Naturen, zum ersten Mal ein völliger Outsider der geistigen Welt einbrach, ein schwerer, maulfauler Bauernbursche, aus dem auch nur ein einziges publizistisch brauchbares Wort herauszulocken selbst den gerissensten Journalisten nie gelang. Freilich, was Czentovic den Zeitungen an geschliffenen Sentenzen vorenthielt, ersetzte er bald reichlich durch Anekdoten über seine Person. Denn rettungslos wurde mit der Sekunde, da er vom Schachbrette aufstand, wo er Meister ohnegleichen war, Czentovic zu einer grotesken und beinahe komischen Figur; trotz seines feierlichen schwarzen Anzuges, seiner pompösen Krawatte mit der etwas aufdringlichen Perlennadel und seiner mühsam manikürten Finger blieb er in seinem Gehaben und seinen Manieren derselbe beschränkte Bauernjunge, der im Dorf die Stube des Pfarrers gefegt. Ungeschickt und geradezu schamlos plump suchte er zum Gaudium und zum Ärger seiner Fachkollegen aus seiner Begabung und seinem Ruhm mit einer kleinlichen und sogar oft ordinären Habgier herauszuholen, was an Geld herauszuholen war. Er reiste von Stadt zu Stadt, immer in den billigsten Hotels wohnend, er spielte in den kläglichsten Vereinen, sofern man ihm sein Honorar bewilligte, er ließ sich abbilden auf Seifenreklamen und verkaufte sogar, ohne auf den Spott seiner Konkurrenten zu achten, die genau wussten, dass er nicht imstande war, drei Sätze richtig zu schreiben, seinen Namen für eine Philosophie des Schachs, die in Wirklichkeit ein kleiner galizischer Student für den geschäftstüchtigen Verleger geschrieben. Wie allen zähen Naturen fehlte ihm jeder Sinn für das Lächerliche; seit seinem Siege im Weltturnier hielt er sich für den wichtigsten Mann der Welt, und das Bewußtsein, all diese gescheiten, Intellektuellen, blendenden Sprecher und Schreiber auf ihrem eigenen Feld geschlagen zu haben, und vor allem die handgreifliche Tatsache, mehr als sie zu verdienen, verwandelte die ursprüngliche Unsicherheit in einen kalten und meist plump zur Schau getragenen Stolz.
„Aber wie sollte ein so rascher Ruhm nicht einen so leeren Kopf beduseln?“, schloß mein Freund, der mir gerade einige klassische Proben von Czentovics kindischer Präpotenz anvertraut hatte. „Wie sollte ein einundzwanzigjähriger Bauernbursche aus dem Banat nicht den Eitelkeitskoller kriegen, wenn er plötzlich mit ein bißchen Figurenherumschieben auf einem Holzbrett in einer Woche mehr verdient als sein ganzes Dorf daheim mit Holzfällen und den bittersten Abrackereien in einem ganzen Jahr? Und dann, ist es nicht eigentlich verflucht leicht, sich für einen großen Menschen zu halten, wenn man nicht mit der leisesten Ahnung belastet ist, dass ein Rembrandt, ein Beethoven, ein Dante, ein Napoleon je gelebt haben? Dieser Bursche weiß in seinem vermauerten Gehirn nur das eine, dass er seit Monaten nicht eine einzige Schachpartie verloren hat, und da er eben nicht ahnt, dass es außer Schach und Geld noch andere Werte auf unserer Erde gibt, hat er allen Grund, von sich begeistert zu sein.“
Diese Mitteilungen meines Freundes verfehlten nicht, meine besondere Neugierde zu erregen. Alle Arten von monomanischen, in eine einzige Idee verschossenen Menschen haben mich zeitlebens angereizt, denn je mehr sich einer begrenzt, um so mehr ist er andererseits dem Unendlichen nahe; gerade solche scheinbar Weltabseitigen bauen in ihrer besonderen Materie sich termitenhaft eine merkwürdige und durchaus einmalige Abbreviatur der Welt. So machte ich aus meiner Absicht, dieses sonderbare Spezimen intellektueller Eingleisigkeit auf der zwölftägigen Fahrt bis Rio näher unter die Lupe zu nehmen, kein Hehl.
Jedoch: „Da werden Sie wenig Glück haben“, warnte mein Freund. „Soviel ich weiß, ist es noch keinem gelungen, aus Czentovic das geringste an psychologischem Material herauszuholen. Hinter all seiner abgründigen Beschränktheit verbirgt dieser gerissene Bauer die große Klugheit, sich keine Blößen zu geben, und zwar dank der simplen Technik, dass er außer mit Landsleuten seiner eigenen Sphäre, die er sich in kleinen Gasthäusern zusammensucht, jedes Gespräch vermeidet. Wo er einen gebildeten Menschen spürt, kriecht er in sein Schneckenhaus; so kann niemand sich rühmen, je ein dummes Wort von ihm gehört oder die angeblich unbegrenzte Tiefe seiner Unbildung ausgemessen zu haben.“ Mein Freund sollte in der Tat recht behalten. Während der ersten Tage der Reise erwies es sich als vollkommen unmöglich, an Czentovic ohne grobe Zudringlichkeit, die schließlich nicht meine Sache ist, heranzukommen. Manchmal schritt er zwar über das Promenadendeck, aber dann immer die Hände auf dem Rücken verschränkt mit jener stolz in sich versenkten Haltung, wie Napoleon auf dem bekannten Bilde; außerdem erledigte er immer so eilig und stoßhaft seine peripatetische Deckrunde, dass man ihm hätte im Trab nachlaufen müssen, um ihn ansprechen zu können. In den Gesellschaftsräumen wiederum, in der Bar, im Rauchzimmer zeigte er sich niemals; wie mir der Steward auf vertrauliche Erkundigung hin mitteilte, verbrachte er den Großteil des Tages in seiner Kabine, um auf einem mächtigen Brett Schachpartien einzuüben oder zu rekapitulieren.
Nach drei Tagen begann ich mich tatsächlich zu ärgern, dass seine zähe Abwehrtechnik geschickter war als mein Wille, an ihn heranzukommen. Ich hatte in meinem Leben noch nie Gelegenheit gehabt, die persönliche Bekanntschaft eines Schachmeisters zu machen, und je mehr ich mich jetzt bemühte, mir einen solchen Typus zu personifizieren, um so unvorstellbarer schien mir eine Gehirntätigkeit, die ein ganzes Leben lang ausschließlich um einen Raum von vierundsechzig schwarzen und weißen Feldern rotiert. Ich wusste wohl aus eigener Erfahrung um die geheimnisvolle Attraktion des königlichen Spiels, dieses einzigen unter allen Spielen, die der Mensch ersonnen, das sich souverän jeder Tyrannis des Zufalls entzieht und seine Siegespalmen einzig dem Geist oder vielmehr einer bestimmten Form geistiger Begabung zuteilt. Aber macht man sich nicht bereits einer beleidigenden Einschränkung schuldig, indem man Schach ein Spiel nennt? Ist es nicht auch eine Wissenschaft, eine Kunst, schwebend zwischen diesen Kategorien wie der Sarg Mohammeds zwischen Himmel und Erde, eine einmalige Bindung aller Gegensatzpaare; uralt und doch ewig neu, mechanisch in der Anlage und doch nur wirksam durch Phantasie, begrenzt