Morbus est judicium in pravo pertinax.

Krank wird, wer sich auf falsche Urteile versteift.

Seneca

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie, detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

© 2019 Michael Depner

Herstellung und Verlag:

BoD - Books on Demand GmbH Norderstedt

ISBN: 9783749472222

Inhalt

  1. Abnorme Gewohnheiten (Störung der Impulskontrolle)
  2. ADHS / Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung
  3. Angststörungen
  4. Anpassungsstörung
  5. Autismus
  6. Bipolare Störung
  7. Borderline-Syndrom
  8. Bore-out-Syndrom
  9. Burn-out-Syndrom / Psychosomatischer Erschöpfungszustand
  10. Delir
  11. Demenz
  12. Depersonalisation / Derealisation
  13. Depression
  14. Dissoziative Störungen
  15. Essstörungen
  16. Generalisierte Angststörung
  17. Helfersyndrom
  18. Hypochondrische Störung
  19. Manie
  20. Messie-Syndrom / Pathologisches Horten
  21. Multiple Persönlichkeit / Dissoziative Identitätsstörung
  22. Neurose
  23. Panikstörung
  24. Persönlichkeitsstörungen
  25. Posttraumatische Belastungsstörung / PTBS
  26. Psychische Normalität
  27. Psychose
  28. Sadomasochismus
  29. Schizoaffektive Störung
  30. Schizophrenie
  31. Schlafstörungen
  32. Seelische Gesundheit
  33. Sexuelle Störungen
  34. Somatoforme Störungen
  35. Soziale Phobie
  36. Sucht
  37. Wahn
  38. Zwangsstörungen

Vorwort

Seele und Gesundheit ist der Titel einer Webseite, die sich mit den Ursachen, Erscheinungsformen und Heilungsmöglichkeiten seelischer Erkrankungen befasst. Der vorliegende Band ist der Beginn einer Buchreihe, die die Erkenntnisse und Sichtweisen, die auf der entsprechenden Webseite (https://www.seele-und-gesundheit.de/) dargestellt werden, ins Printmedium überträgt.

Band 1 trägt den Titel Diagnosen. Die Gliederung folgt dabei nicht der schulmedizinischen Klassifikation der psychiatrischen Krankheiten, wie sie zum Beispiel von der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD) vorgegeben wird. Vielmehr werden die beschriebenen Zustände und Krankheitsbilder alphabetisch aufgelistet. Das trägt dem Konzept von Seele und Gesundheit Rechnung. Weder Webseite noch Buchreihe verfolgen vorrangig das Ziel, rein akademisch distanziertes Wissens zu vermitteln, wie es etwa ein Student der Psychiatrie zu erlernen hätte. Obwohl Seele und Gesundheit auch das bietet, wendet sich das Projekt darüber hinaus ausdrücklich auch an jeden interessierten Laien, der sich eingehend mit den Fragestellungen der Psychiatrie befassen möchte.

Kaum jemand glaubt heute noch, dass psychiatrische Probleme bloß Außenseiter der Gesellschaft treffen. Depressionen, Ängste, Zwangserscheinungen, Süchte, Ess- und Schlafstörungen sind weit verbreitet. Die meisten Menschen erfahren entsprechendes irgendwann im Laufe ihres Lebens am eigenen Leibe; oder sie kennen Bezugspersonen, die mit dem einen oder anderen Problem behaftet sind. Außerdem hat jeder eine Persönlichkeit, deren Dynamik Parallelen zu den Varianten der akzentuierten Persönlichkeiten aufweist, die die Psychiatrie als sogenannte Persönlichkeitsstörungen beschreibt und deren Charakteristika zu besonderen Beziehungsproblemen führen können.

Zum Konzept von Seele und Gesundheit gehört es daher, den Leser über die Wissensvermittlung hinaus bei seiner persönlichen Entwicklung zu unterstützen. Dabei soll die Lektüre ebenso anregend wie vergnüglich sein. Zum Stil der Buchreihe gehört ein besonderes Bemühen um Verständlichkeit, auch dann, wenn die besprochenen Sachverhalte komplex erscheinen.

Die Sichtweisen von Seele und Gesundheit basieren auf einem besonderen Strukturmodell des Menschen in der Wirklichkeit. Dieses Modell wird in den nachfolgenden Bänden eingehend beschrieben. Es ermöglicht ein vertieftes Verständnis psychiatrischer Zusammenhänge. Für die Texte, die zum Band 1 der Buchreihe zusammengefasst sind, ist es notwendig und hinreichend, den folgenden Überblick vorauszuschicken.

Begriff Was benennt er?
Ich Das, was sich gleichsetzt...
... mit dem, was es wahrnimmt, mit dem, was es zu sein glaubt oder mit dem, was es sein will.
Das, was das Selbstbild zu sich selbst erklärt.
Ego Die Rolle, die das Ich gegenüber anderen spielen will.
Das, was glaubt, von der Welt getrennt zu sein.
Das, was der eigenen Person einseitig Vorteile verschaffen will.
Vorsatz der individuellen Parteilichkeit.
Relatives Selbst Der eigene Körper und das, was das Ich unmittelbar wahrnehmen kann: Gefühle, Gedanken, Impulse.
Inhalt, Struktur und Dynamik der eigenen Person; persönliche Interessen und Zielsetzungen.
Absolutes
Selbst
Das, was wahrnimmt und entscheidet. Das, was wahr ist und wahrmacht. Potenzial, sich als Subjekt in die Person zu erstrecken.
Wesen der Wirklichkeit. Das, was sich selbst erschafft.
Wirklichkeit Gemeinsamer Nenner aller wirksamen Kräfte und Formen. Inhalt der Wirklichkeit ist alles, was unterschieden werden kann, ihr Wesen, was nicht zu unterscheiden ist.

Auch das Konzept des sogenannten Psychologischen Grundkonflikts spielt bei der Darstellung eine große Rolle. Darunter versteht man den Konflikt, der beim Versuch entstehen kann, die zwei seelischen Grundbedürfnisse zu erfüllen:

  1. das Bedürfnis nach Zugehörigkeit
  2. das Bedürfnis nach Selbstbestimmung

Oft sind bei der Erfüllung beider Bedürfnisse nur Kompromisse möglich.

Hattingen, Mai 2019

1. Abnorme Gewohnheiten (Störung der Impulskontrolle)

Es mag sein, dass es eine abnorme Gewohnheit ist, den Nagel des linken Ringfingers zwei Zentimeter lang werden zu lassen. Da dadurch aber kein nennenswerter Schaden entsteht, würdigt die ICD eine solche Gewohnheit keines Blickes.

Nicht jede Marotte wird so berühmt, dass die Psychiatrie ihr einen Namen gibt. Zu Recht! Denn formal gesehen sind Marotten zwar abnorme Gewohnheiten, es fehlt Ihnen aber die Macht, ein Leben aus der Bahn zu werfen.

Definition

Unter der Überschrift Abnorme Gewohnheiten bzw. Störungen der Impulskontrolle fasst die Internationale Klassifikation der Krankheiten (ICD-10) eine Reihe seelischer Störungen zusammen, die durch neurotische Verhaltensweisen gekennzeichnet sind. Dabei kommt es zu vernunftwidrigen Handlungen, die der Kranke nur schwer unterdrücken kann.

Gemeinsames Merkmal abnormer Gewohnheiten ist, dass die Handlungen entweder dem Kranken selbst oder dem Umfeld schaden.

Störung der Impulskontrolle oder krankhafte Impulsbildung

Der Begriff Störung der Impulskontrolle greift zu kurz... und führt sogar in die Irre.

Ist der Impuls, Feuer zu legen, triebhaft zu stehlen, sein Geld an Automaten zu verplempern oder solange an der Haut herumzuknibbeln, bis das Blut fließt, denn normal? Und ist daher nur derjenige krank, dem es misslingt, solche Impulse unter Kontrolle zu halten, während der Gesunde es schafft, die Nachbarscheune nicht anzustecken, obwohl es ihn dazu ständig in den Fingern juckt?

So ist es gottlob nicht. Das Leben wäre erst recht eine Strapaze, müsste man bei jedem Gang durchs Kaufhaus aufpassen, dass man nicht straffällig wird oder lockten Spielkasinos gar jeden Passanten wie Sirenen griechische Seefahrer an.

Um Gottes willen! Wo kämen wir hin, würden rund um die Spielkasinos Passanten pulkweise an Laternenpfosten gekettet, damit sie dem Gesang einarmiger Banditen widerstehen. Und welcher Passant erreichte noch den Arbeitsplatz, hinge er mit seinen Leidensgenossen am Pfosten fest? Die Politik tut manches, um das Land in den Abgrund zu führen, aber Kasinos zuzulassen, deren Anblick bei jedermann Impulse auslöst, die Lichtmasten aus der Verankerung zu reißen drohen, würde selbst sie nicht wagen.

So stimmt es wohl: Dem manifest Kranken misslingt es nur allzu leicht, die Problemimpulse in Schach zu halten. Sein eigentliches Problem liegt aber tiefer: darin dass sie überhaupt entstehen.

Gewohntes und Ungewöhnliches

Auch der Begriff Gewohnheit überzeugt nicht jeden. Eine Gewohnheit ist eine Verhaltensroutine, die sich aus pragmatischen Gründen einschleift. Man sagt: Wir sind es gewohnt, gegen 18 Uhr zu essen. Man hat sich an ein Muster gewöhnt, das dem Leben Struktur gibt. Kann man aber mit gleichem Recht sagen: Der Kleptomane hat sich an den Diebstahl für ihn nutzloser Gegenstände gewöhnt? Oder gar: Ich bin es gewöhnt, Feuer zu legen... so wie man sich an Arbeitsbedingungen gewöhnt haben mag? Sich an etwas gewöhnt zu haben, heißt: Es sind dabei wenig Affekte im Spiel. Genau das ist bei abnormen Gewohnheiten aber anders. So heißt es, die pyromane Tat sei mit wachsender innerer Spannung und starker Erregung verbunden. Der Pyromane erlebt eher Ungewöhnliches.

Einteilung

Klassifiziert werden vier konkrete Syndrome mit jeweils spezifischer Verhaltensstörung. Darüber hinaus gibt es die Kategorie der Sonstigen Störungen. Dazu nennt die Klassifikation eine Störung mit intermittierend (lateinisch inter = dazwischen und mittere = schicken), also gelegentlich auftretender Reizbarkeit. In der Praxis wird man bei diesem Symptom an eine bipolare affektive Störung oder an eine emotional instabile Persönlichkeitsstörung denken.

Zu den sonstigen abnormen Gewohnheiten kann auch das Nägelkauen (Onychophagie) und das Hautknibbeln (Dermatillomanie, Skin Picking Disorder) gerechnet werden. Die ICD-Klassifikation geht hier einen anderen Weg. Sie ordnet Nägelkauen, Nasebohren (Rhinotillexomanie) und Daumenlutschen gemeinsam mit exzessiver Masturbation und einer sogenannten Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyperaktivität "anderen Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in Kindheit und Jugend" (ICD: F98) zu; wobei sie bezüglich einer Abgrenzung der Aufmerksamkeitsstörung zur ADS schweigt.

Abnorme Gewohnheiten und Störungen der Impulskontrolle gemäß ICD-10-Klassifikation der WHO

Name ICD
Pathologisches Spielen F63.0
Pathologische Brandstiftung (Pyromanie) F63.1
Pathologisches Stehlen (Kleptomanie) F63.2
Pathologisches Haareausreißen (Trichotillomanie) F63.3
Sonstige Störungen der Impulskontrolle (z.B. Hautknibbeln) F63.8
Intermittierend explosibles Verhalten F63.81

Verhaltens- und emotionale Störungen

Sonstige Verhaltens- und emotionale Störung mit Beginn in Kindheit und
Jugend (z.B. Nägelkauen, Nasebohren, Daumenlutschen)
F98.8
Pathologisches Spielen (Spielsucht)

Dynamik und emotionale Symptome des Glücksspiels zeigen große Ähnlichkeit mit denen der stoffgebundenen Süchte. In der psychiatrischen Praxis hat es sich daher durchgesetzt, das Pathologische Glücksspiel als Suchterkrankung aufzufassen; obwohl der Vergleich hinkt. Zur Dynamik der stoffgebundenen Sucht gehört eine Wechselwirkung zwischen der psychotropen Substanz und dem Organismus, auf dessen Strukturen sie trifft.

Unter einer psychotropen Substanz versteht man einen Wirkstoff mit spezifischen Wirkungen auf Realitätswahrnehmung, Denken und Fühlen; sowie gegebenenfalls auf das Verhalten. Der Begriff enthält die griechische Wurzel trepo (τρεπω) = wenden, umwandeln. Ein Synonym ist: psychoaktive Substanz. Diese Interaktion spielt bei der Entstehung stoffgebundener Süchte eine große Rolle. Sie bahnt und festigt den Prozess. Bei der Spielsucht fehlt sie.

Zwang oder Gewohnheit

Zwangshandlungen und abnorme Gewohnheiten dienen der Verdrängung unangenehmer Gefühle. Darin sind sie gleich. Die abnorme Gewohnheit benutzt der Kranke aber nur um unangenehme Gefühle durch angenehmere zu ersetzen. Er hat keine Theorie, wozu sein Handeln sonst noch gut ist. Der Zwangskranke hat spezifische Befürchtungen.

Wenn ich nicht noch einmal kontrolliere, ob der Ofen aus ist, könnte das Haus abbrennen.

Er meint, dass etwas Schlimmes passiert, wenn er seinem Impuls nicht folgt. Er handelt, um bestimmte Zwecke zu bewirken.

Pathologische Brandstiftung (Pyromanie)

Von den Taten pathologischer Brandstifter erfährt man aus den Medien. Charakteristisch ist, dass den pathologischen Brandstifter der Impuls zu seinen Taten immer wieder überkommt. Ihm geht es um die Brandstiftung an sich, ohne dass er das Feuer aus sonstigen Gründen legt; zum Beispiel aus Rache, um die Versicherung zu betrügen, aus wahnhaften Impulsen heraus oder politisch motiviert. Nicht jeder psychisch Kranke, der Feuer legt, leidet unter Pyromanie. Brandstiftung kommt auch im Zusammenhang mit anderen psychischen Erkrankungen vor; zum Beispiel:

Jenseits der Pyromanie bleibt die Brandstiftung psychisch Kranker sporadisch, während sie bei der Pathologischen Brandstiftung zu einem Verhaltensmuster wird.

Pathologisches Stehlen (Kleptomanie)

Das Motiv des Kleptomanen liegt nicht in konkreter Bereicherung. Wie bei allen Störungen der Impulskontrolle geht es auch hier um den Abbau emotionaler Spannungen. Daher stiehlt der Kleptomane im Gegensatz zum gewöhnlichen Kriminellen auch nicht gezielt. Der Kriminelle stiehlt Sachen selektiv, Sachen, die er selbst gebrauchen oder lukrativ verhökern kann. Der Kleptomane wählt das Diebesgut weder nach persönlicher Brauchbarkeit noch nach Wert. Hat er gestohlen, hortet er die Sachen, verschenkt sie oder er wirft sie einfach weg. Ihm geht es nicht um das, was er stehlen kann, sondern darum, dass er stehlen kann. Der Akt ist keine ökonomische Maßnahme, sondern ein psychisches Regulativ.

Trichotillomanie

Bei der Trichotillomanie handelt es sich um den heftigen Drang, sich Haare auszureißen. Der Bezeichnung enthält die griechischen Begriffe thrix (θριξ) = Haar und tillein (τιλλειν) = ziehen.

Auftreten

Von der Erkrankung werden deutlich mehr Frauen als Männer betroffen. Man schätzt die Häufigkeit auf 1-2%. Meist beginnt das problematische Verhalten in der Kindheit (6.-8. oder 11.-12. Lebensjahr) und hält ein ganzes Leben lang an. Allerdings treten die Symptome phasenweise in den Hintergrund, oder sie verstärken sich bei Stress und emotionaler Belastung.

Symptome und diagnostische Kriterien

Begleiterkrankungen und Abgrenzung

Oft wird die Trichotillomanie von anderen Störungen begleitet. Zu nennen sind vor allem Angststörungen, Depressionen, Essstörungen, Zwangs- oder Ticstörungen. Tics sind spontane Bewegungen oder Lautäußerungen (Grunzen, Räuspern, Schnalzen), die der Betroffene meist nur kurzzeitig zurückhalten kann. Unterdrückt er den Tic, entsteht ein unangenehmes Spannungsgefühl.

Als Folge der Trichotillomanie sind Haut- und Zahnfleischentzündungen zu befürchten. Als seltene Komplikation kann sich nach dem Verschlucken großer Haarmengen (Trichophagie) im Magen-Darm-Trakt ein Haarknäuel (Trichobezoar) bilden, der zum Darmverschluss führt.

In Abgrenzung zur Trichotillomanie, bei der Haare ausgerissen werden, benennt die ICD ein nicht-selbstschädigendes Haarezupfen als stereotype Bewegungsstörung (F98.4).

Nägelkauen (Onychophagie)

Im Gegensatz zu den übrigen abnormen Verhaltensmustern ist das Nägelkauen wenig spektakulär, aber umso weiter verbreitet. Vor allem bei jungen Menschen tritt es als vorübergehende Begleiterscheinung am Übergang in das Erwachsenenleben auf. Aber es kann auch ein ganzes Leben lang betrieben werden.

Wenn oben davon die Rede war, dass abnorme Gewohnheiten ein ganzes Leben aus der Bahn werfen können, so gilt das beim Nägelkauen nur in Ausnahmefällen. Meist wächst es sich aus, oder es führt ein Dasein am Rande des Lebensvollzugs ohne dramatische Folgen.

Nägelkauen ist fast immer schambesetzt. Kaum jemand zeigt gerne das unschöne Bild abgenagter Fingernägel vor. Dadurch kann eine Entwicklung in Gang kommen, die ein Leben dann doch überschattet. Sich schämen heißt sprachgeschichtlich sich verstecken. Wird das Schamgefühl des Nagelbeißers übermächtig, versteckt er sich womöglich so konsequent vor dem Blick der anderen, dass er im Leben den Platz nicht findet, den er mit ungekürzter Kralle erobern könnte.

Ein animalisches Vermächtnis

Nägel sind eigentlich nicht dazu da, gekürzt zu werden, abnormerweise mit den Schneidezähnen, kultivierterweise mit der Nagelschere. Nägel sind dazu da, nachzuwachsen. Und wozu? Na, weil sie in einer Welt der Konkurrenz und Übergriffigkeiten als Waffe dienen. Schon Ihr Urgroßvater hätte auf dem Affenfelsen keine Chance gegen Bonzo gehabt, als der sich mit dreisten Pfoten an Ihrer Urgroßmutter Cheetah vergreifen wollte. Zum Glück hatte sich Ihr Urgroßvater nicht die Krallen abgebissen. Bonzo war zu guter Letzt eines Besseren belehrt, gründete unter Einsatz einer sublimativen Abwehrstrategie eine Philosophenschule und nannte sich fortan Aristoteles (griechisch aristos [αριστος] = Bester und telos [τελος] = Ende).

Man kann sich also fragen, ob das Nägelkauen nicht als symbolische Selbstbeschneidung verstanden werden kann, das zögerlichen Temperamenten dazu dient, sich die Werkzeuge zum gefürchteten Kampf um den Platz an der Sonne vorsorglich selbst aus der Hand zu nehmen.

Intermittierend explosibles Verhalten

Als intermittierend explosibles bzw. explosives Verhalten werden wiederholte Zustände von überschießender Reizbarkeit und Gewaltbereitschaft bezeichnet, in deren Rahmen sich Aggression gegen Personen oder Gegenstände entlädt. Die Anlässe erscheinen dabei meist geringfügig. Nicht selten kommt es zu Polizeieinsätzen oder Delinquenz.

Unklar ist, ob die beschriebenen Symptome nicht ebenso gut als Ausdruck einer emotional-instabilen Persönlichkeit von impulsiven Typ aufgefasst werden können, oder aber als gereizt maniforme Bilder bei Bipolarer Störung.

Innerseelische Prozesse

So unterschiedlich abnorme Gewohnheiten auch sein mögen, der innerseelische Mechanismus, der zum problematischen Verhalten führt, ist bei allen Störungen im Grundsatz gleich. Dem Fehlverhalten geht eine unangenehme Anspannung voraus, die durch die abnorme Tat wieder nachlässt. Somit lässt sich die Gewohnheit als Abwehrmechanismus verstehen. Sie dient dazu, unangenehme Selbstwahrnehmungen zu unterdrücken, indem sie die Aufmerksamkeit vom Selbst weg und hin zur Tat oder deren Folgen lenkt.

Durch die Verdrängung unliebsamer Wahrnehmungen wird die seelische Entwicklung gestört. Dadurch steigt die Spannung, was den verstärkten Einsatz des Abwehrverhaltens auf den Plan ruft. So kommt es zu einer Dynamik sich wechselseitig verstärkender Bedingungen. Während der Mechanismus der innerseelischen Dynamik im Grundsatz gleich ist, sind die individuellen Ausgestaltungen und die hintergründigen Motive ebenso unterschiedlich wie facettenreich. Bei der Therapie müssen sie im Einzelnen verstanden werden.

Rolle des Grundkonflikts

Beim Pathologischen Stehlen und der Pathologischen Brandstiftung, aber auch beim Glücksspiel können ungelöste Zugehörigkeits-Autonomie-Konflikte im Hintergrund erkennbar sein. Stehlen, Brandstiften und die Teilnahme am scheinbar so sinnlosen Glücksspiel können als Versuche des Kranken gedeutet werden, eine Überanpassung an die Erwartungen des Umfelds durch Taten auszugleichen, die kaum je auf Zustimmung stoßen. Indem er das Verpönte tut, erzwingt der Täter ein Stück Selbstbestimmung.

Allerdings sind die Verhältnisse kaum je so einfach, wie es diese Deutung unterstellt. Auch das Bedürfnis nach Zugehörigkeit kann durch abnorme Taten pathologisch befriedigt werden:

Narzisstische Komponente

Oben haben wir bereits bezweifelt, dass der Begriff Gewohnheit zur Bezeichnung für Pyro- und Kleptomanie geeignet ist. Während das Gewohnte gerade deshalb so heißt, weil es gewöhnlich ist, sticht der kriminelle Akt aus dem Gewöhnlichen heraus. Indem er Feuer legt, durchbricht der Pyromane die Banalität der Gewöhnlichkeit, was ihm ein Gefühl intensiver Lebendigkeit verschafft. Es verleiht seinem Dasein eine Bedeutung, die es im Rahmen tatsächlicher Gewohnheiten nicht hat.

Es ist somit denkbar, dass Klepto- und Pyromanie auch narzisstischen Motiven dienen. Das Prickeln ihres abenteuerlichen Tuns hebt die Täter aus der gefühlten Bedeutungsarmut des tatsächlich Gewohnten heraus. Zweifellos wird es auf so manchen Brandstifter großen Eindruck machen, wenn die Folgen seiner ungewöhnlichen Tat in der Abendschau zur Sprache kommen. Wenn auch inkognito, er wird von Tausenden beachtet.

Lösungsstrategien

Achtsamkeitstraining

Kognitiv-verhaltenstherapeutisch

Erkennen von Auslösesituationen und emotionalen Frühwarnzeichen

Tiefenpsychologisch

Erforschen der psychologischen Zusammenhänge zwischen unspezifischer Anspannung, verdrängten Selbstanteilen und symbolischer Bedeutung der abnormen Handlung

Bei der Behandlung der abnormen Gewohnheiten kommen medikamentöse und psychotherapeutische Methoden zum Einsatz.

Eine spezifische Medikation gibt es nicht. Da Impulskontrollstörungen oft mit Depressionen einhergehen, hat der Einsatz von Antidepressiva aus der Gruppe der SSRI (Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer) eine gewisse Verbreitung gefunden. Lithium, Neuroleptika und Naltrexon sind nur in Einzelfällen wirksam.

Im Vordergrund stehen psychotherapeutische Maßnahmen. Dabei kommt dem Training der Achtsamkeit und der Bearbeitung innerseelischer Konflikte eine zentrale Bedeutung zu. Es gilt, irreführende Vorstellungen über die Wirklichkeit und die eigene Rolle im Leben aufzudecken, die hinter dem periodischen Auftreten jener Spannungsgefühle stehen, die schließlich durch das problematische Verhalten entladen werden.

Konkurrierende Handlungen

Was könnte ich stattdessen tun?

Weitere Bausteine sind das Erlernen konkurrierender Handlungen und allgemeiner Entspannungstechniken. Zu den allgemeinen Entspannungstechniken gehören Atemübungen, das Autogene Training und die Progressive Muskelrelaxation nach Jacobsen.

Das Erlernen konkurrierender Handlungen (Habit Reversal Training) dient der Bereitstellung sinnvoller Verhaltensalternativen. Diese lenken den krankhaften Impuls in weniger schädliche oder gar nützliche Taten um. Eine solche Umlenkung problematischer Impulse nennt die Psychoanalyse Sublimation.

2. ADHS / Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung

Rauchen in der Schwangerschaft verdoppelt das Risiko des Kindes, an einer ADHS zu erkranken.

Was man schnell erreichen kann, ist unwichtig.

Die Welt ist nur ein Splitter ihrer selbst.

Machen Sie sich die Ziele bewusst, unter deren Herrschaft Sie stehen. Wer zu vielen Meistern zeitgleich dient, stellt keinen davon zufrieden. Freiheit besteht darin, die Herrschaft aller Meister abzuschütteln.

Flüchtigkeitsfehler entstehen, weil man zu schnell am Ziel sein will. Man tut nicht, was für das Erreichen des Ziels notwendig ist, sondern flüchtet durch kopfloses Tun aus einem Jetzt, das man für ungenügend hält.

Symptome

Das Kernsymptom der ADHS ist die mangelnde Einbindung der psychischen Präsenz in den Ereigniszusammenhang des Hier-und-Jetzt. Statt dem Hier-und-Jetzt jene Beachtung zu schenken, die Grundlage erfolgreichen Handelns ist, ist der ADHS-Erkrankte im Geiste bereits in einem Dort-und-Dann, in dem vermeintlich alles besser wird.

Dieses Dort-und-Dann ist weder ein echter Ort noch eine echte Zukunft. Es ist ein Gemenge verschwommener Vorstellungsbilder, die der Kranke von Ort und zukünftiger Zeit im Kopfe trägt. Der Erkrankte ist so vom angestrebten Resultat seines Tuns besessen, dass er in wechselnder Ausprägung vier Dinge tut:

Daraus ergeben sich gemäß DSM-IV (Diagnose-Manual der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung) drei Gruppen typischer Folgesymptome:

Aufmerksamkeitsdefizit

Bedingungen

Nicht jedes Zustandsbild, das von Konzentrationsstörungen und Antriebssteigerung geprägt ist, ist einer ADHS zuzuordnen. Vier Bedingungen sollten erfüllt sein:

  1. Das Leiden besteht seit der Kindheit.
  2. Es tritt nicht nur bei besonderem Stress auf, sondern auch bei alltäglichen Tätigkeiten.
  3. Andere Ursachen, zum Beispiel eine Überfunktion der Schilddrüse oder Substanzeinfluss, sind ausgeschlossen.
  4. Es führt zu starken Problemen in Beziehungen und Arbeitswelt.

Hyperaktivität

Impulsivität

Was mit der ADHS gemeinsam vorkommt oder mit ihr verwechselt werden kann

Überlappungen

Viele Patienten mit ADHS leiden zusätzlich unter Symptomen, die anderen Diagnosen zugeordnet werden können. Man spricht dann von einer Komorbidität, also dem gemeinsamen Auftreten mehrerer Krankheiten. Da sich die diagnostischen Merkmale psychiatrischer Krankheitsbilder oft überlappen, ist zuweilen schwer zu entscheiden, welche Erkrankung man überhaupt feststellt. Krankheitsbilder, die so ähnlich aussehen können wie eine ADHS, bezeichnet man als ihre Differenzialdiagnosen.

Weitere Komorbiditäten

Varianten

Nicht alle Betroffenen leiden unter der gleichen Mischung an Symptomen. Man unterscheidet drei Varianten:

  1. Vorwiegend Aufmerksamkeitsstörung
  2. Vorwiegend hyperaktiv und impulsiv
  3. Mischtyp

Grundsätzlich gilt: Hyperaktiv-impulsive Bilder sind bei Kindern häufiger. Bleibt die Störung bis ins Erwachsenenalter bestehen, geht die Impulsivität oft zurück. Die Störung der Aufmerksamkeit tritt in den Vordergrund. Bei Vorliegen eines deutlichen Aufmerksamkeitsdefizits ohne wesentliche Hyperaktivität spricht man von einer ADS (Aufmerksamkeitsdefizitstörung).

Diagnostik

Im Regelfall ist es nicht schwer, die Symptomatik einer ADHS zu erkennen. Ein begründeter Anfangsverdacht besteht, wenn in einem oder mehreren der oben genannten Symptomfelder spontan deutliche Auffälligkeiten berichtet werden, die bis in die Kindheit zurückreichen. Eine systematische Abfrage weiterer Symptome kann den Verdacht untermauern.

Zur weiteren Objektivierung liegen umfangreiche Fragebögen vor, die die gleichen Symptomgruppen abdecken:

... zur Diagnostik beim Erwachsenen.

... zur rückblickenden Erfassung der ADHS im Kindesalter.

Ursachen

Vermutlich ist die ADHS keine einheitliche Erkrankung, sondern eine Gruppe von Störungen mit ähnlichen Symptomen. Zwillingsstudien belegen, dass anlagebedingte Faktoren eine große Rolle spielen. Mindestens ebenso groß ist der Einfluss familiärer Konflikte, elterlicher Verhaltensauffälligkeiten und auseinanderbrechender Kleinfamilien. Untersuchungen zufolge steigt das Risiko, eine ADHS zu entwickeln, durch psychosoziale Belastungen in der Kindheit und Kommunikationsstörungen von Seiten der Eltern auf das Vielfache an.

Zivilisationskrankheit

Die Figur des Zappelphillip aus dem Kinderbuch Struwwelpeter gilt als Paradebeispiel eines Jungen mit ADHS. Offensichtlich gab es das Phänomen schon früher. Immer wieder ist jedoch zu hören, dass die Zahl der Betroffenen zunimmt. Ist die ADHS also eine Modediagnose? Wahrscheinlich nicht!

Menschen, denen es schwerfiel, sich stillsitzend auf eine Sache zu konzentrieren, gab es immer. Früher fielen sie aber weniger auf; denn früher gab es für motorisch aktive Menschen mehr zu tun. Man rackerte sich auf dem Feld ab, schleppte die Einkäufe zu Fuß nach Hause, schwang in der Schmiede den Hammer und wer im Winter nicht frieren wollte, musste die Kohlen eigenhändig in den Keller schippen; oder sogar Holz hacken. Die lebhafte Motorik hatte viel zu tun. Sie tobte sich an den physikalischen Widrigkeiten des Daseins aus.

Heute werden physikalische Widrigkeiten von Motoren beseitigt. Stattdessen nehmen komplex-zivilisatorische Widrigkeiten überhand, und fast jeder wird durch die Umstände dazu angehalten, aufmerksame Kopfarbeit zu leisten. Um im Leben seinen Platz zu finden, reicht eine Handvoll Volksschuljahre nicht mehr aus. Außer im Sport gibt es wenig, was man motorisch erreichen kann. Umso mehr muss man sich in einer zunehmend komplizierten Welt selbst organisieren. Da fällt es auf, wenn man so etwas nicht gut kann.

Gegensätzliche Muster

Im Spektrum der Verhaltensmöglichkeiten ist ein Gegenpol zum ADHS-Muster erkennbar: Anankasmus. Die anankastische Persönlichkeit überspringt beim Handeln keine Details, sondern beachtet sie so eingehend, dass sie kaum noch von der Stelle kommt. Statt Impulsen bedenkenlos zu folgen, haftet sie dermaßen an dem, was ihre Aufmerksamkeit gebunden hat, dass spontane Impulse im Ansatz ersticken. Auch bei der Impulsivität macht die Dosis das Gift. Zu viel führt ins Chaos, zu wenig zu Stillstand.

Häufigkeit und Verlauf

In der Regel beginnt die Erkrankung in der frühen Kindheit oder spätestens im Jugendalter. Etwa 4-5 % der Kinder sind betroffen. Ging man früher davon aus, dass sich die ADHS grundsätzlich auswächst, weisen neue Untersuchungen darauf hin, dass bei knapp der Hälfte Symptome bis ins Erwachsenenalter bestehen bleiben. Allerdings schwächen sie sich oft ab.

Psychosoziale Prozesse

Den drei Symptomgruppen der ADHS (Aufmerksamkeitsstörung, Hyperaktivität und Impulsivität), liegt ein gemeinsames Kernsymptom zugrunde: Die mangelhafte Orientierung der individuellen Verhaltenssteuerung am situativen Ereigniszusammenhang.

Vermutlich ist der Ausgangspunkt des Krankheitsgeschehens eine genetisch bedingte Normvariante des individuellen Grundmusters der Wahrnehmungs- und Handlungsbereitschaft. ADHS-gefährdete Kinder gehen meist rasch auf das zu, was ihre Aufmerksamkeit erregt und lassen ebenso rasch davon ab, falls etwas Neues im Blickfeld auftaucht. Zunächst ist dieses Muster bloß ein Experiment der Natur, womit sie untersucht, ob rasch entschlossenes Handeln trotz flüchtiger Wahrnehmung bei der Eroberung der Welt nicht mehr Erfolg als durchdachte Planung verspricht.

Erst beim Aufeinandertreffen dieses Grundmusters mit dem jeweiligen Kommunikationsklima des Umfelds und dessen wirtschaftlichen Strukturen entscheidet sich, ob sich daraus eine handlungsorientierte Persönlichkeit mit impressionistischem Wahrnehmungsstil entwickelt oder ein Mensch, der sich psychosozial schlecht integriert.

Vom Scheitern zum Erfolgsdruck

Hinter dem Mangel an Aufmerksamkeit steht der Hunger nach Beachtung. Auf dem Weg zu Erfolg und Anerkennung hat es der Kranke eilig. Je mehr er sich beeilt, desto öfter stolpert er. Je öfter er stolpert, desto langsamer kommt er voran. Je langsamer er vorankommt, desto mehr beeilt er sich, den Rückstand aufzuholen. Auf der Jagd nach dem Glück bleibt keine Zeit, sich auf das Hier-und-Jetzt zu besinnen.

Maßgeblich beteiligt an der pathologischen Entgleisung sind der Psychologische Grundkonflikt und die Selbstwertregulation. Ein impulsives Kind konzentriert seine Aufmerksamkeit kürzer als andere auf die Gegenwart, in der sich jene Details befinden, deren Beachtung ihm eine erfolgreiche Teilnahme am Gemeinschaftsleben erleichtern würde. Wie Hans-guck-in-die-Luft ist es im Geiste nicht mehr da, wo Probleme zu lösen sind, sondern dort, wo man die Lösung der Probleme bereits feiert oder wo ein neuer Reiz rasche Begeisterung verspricht.

Dementsprechend macht es bei der Erledigung von Aufgaben Flüchtigkeitsfehler oder es bricht den Versuch, zeitraubende Projekte zu Ende zu bringen, vorzeitig ab, da ihm die Geduld fehlt, sich an einer komplizierten Aufgabe abzumühen. Wenn Erfolg auf sich warten lässt, fängt es lieber etwas Neues an. Wegen der Eile und Beiläufigkeit, mit der es Aufgaben lösen will, kommt das häufiger als bei achtsamen Kindern vor.

Kärrnerarbeit

Die Arbeit des Kärrners ist die Arbeit des Karrenziehers. Bevor gebaut wird, zieht der Kärrner Karren mit Baustoffen herbei. Wird Richtfest gefeiert, ist der Kärrner vergessen. Kärrnerarbeit geschieht abseits des Beachteten. Das ist nicht verlockend.

Fatales Zusammenspiel

Die Anlage zur Unaufmerksamkeit kann sich mit einem narzisstischen Abwehrmuster verquicken. Es gibt Jugendliche, die ihren Flüchtigkeitsfehlern und der Erwartung des Umfelds, bei der Erledigung ihrer Aufgaben achtsam zu sein, mit Hochmut begegnen. Damit wehren sie Selbstwertzweifel ab. Sorgfältige Arbeit im Detail gilt ihnen als belanglose Pflicht für Kleingeister, die ein Mensch, der so hochfliegende Pläne wie sie selber hat, am besten von sich weist, um sich gar nicht erst mit Petitessen aufzuhalten. Wozu soll ein zukünftiger Stararchitekt etwas über Statik wissen? Darum können sich doch Subalterne kümmern!

Auch Ikarus wäre nicht abgestürzt, hätte er bei der Planung seiner Flugmanöver den Regeln der Wirklichkeit mehr Achtsamkeit geschenkt.

Je mehr Aufgaben schlecht oder gar nicht gelöst werden, desto weniger Lob und umso mehr Kritik bekommt das Kind. Da mangelnde Bestätigung und wachsende Kritik die Angst vor dem Verlust der Zugehörigkeit schüren, wächst der Drang, möglichst rasch Erfolge vorzuweisen. Je kopfloser es aber dem Erfolg entgegendrängt, desto unachtsamer wird es, desto weniger Geduld hat es zuzuhören, desto impulsiver platzt es mit Antworten heraus, desto weniger will es die Kärrnerarbeit des Organisatorischen bewältigen und desto mehr unterbricht und stört es andere.

Da ein solches Kind selbst einem hartgesottenen Umfeld oft mehr Geduld abverlangt, als das Umfeld bereit ist zu geben, wird der Riss zwischen ihm und dem Kontext größer. Je größer der Riss wird, desto unbehaglicher empfindet das Kind die Gegenwart. So entsteht ein psychologischer Teufelskreis: Beim Versuch, möglichst bald in einem Kontext eingebettet zu sein, in dem es so, wie es ist, empfangen wird, setzt es sich über den Kontext hinweg und provoziert damit dessen Widerstand.

Flucht vor bedrückender Wirklichkeit

Nicht jeder Teufelskreis fängt mit der Verhaltensproblematik des Kindes an. Oft ist das Kind zunächst bloß lebhaft. Viele Kinder werden aber in familiäre Felder hineingeboren, deren Strukturen nur wenig Geborgenheit bieten.

Die Eltern sind zerstritten und vom Alltag überfordert. Der Vater trinkt und ist arbeitslos. Das Wohnzimmer wird von einem Bildschirm beherrscht, durch den sich Doku-Soaps und Actionknaller in den Raum ergießen. Wiederholt trennen sich die Eltern oder ein neuer Partner zieht ein. Die Mutter kommt aus der Klinik zurück. An der Haustür klingelt das Jugendamt. Vor dem Fenster rauscht Dauerverkehr. In der Nachbarschaft lebt ein Prekariat, das keine Ahnung davon hat, wie es je zu einer integrierten Gemeinschaft zusammenfinden soll.

Die ADHS des Kindes ist hier als Fluchtversuch zu verstehen.

Der Fluchtversuch scheitert. Er trägt dazu bei, das Knäuel familiärer Probleme zu vergrößern.

Aufmerksamkeitsdefizite

Es ist kein Zufall, dass Aufmerksamkeit im Namen der ADHS benannt wird. Es ist aber nicht so, dass die Rolle der Aufmerksamkeit sich darin erschöpft, beim kindlichen Umgang mit dem Hier-und-Jetzt zu fehlen. Das zeigt die oben beschriebene Dynamik. Neben dem Mangel an Aufmerksamkeit beim Kind taucht das Thema zusätzlich unter zwei weiteren Aspekten auf, die sich pathogen mit dem ersten verquicken: